Delphi - Clare Pollard - E-Book
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Delphi E-Book

Clare Pollard

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Beschreibung

»Ein kluger, warmer und witziger Roman.« The Guardian

Eine herzzerreißend nahbare, blitzgescheite und komische Momentaufnahme einer brüchigen Zeit: Mitten im Londoner Lockdown findet die Ich-Erzählerin Zuspruch in der Welt der Weissagungen, der antiken Orakel, der Tarotkarten und Teeblätter. Aber je weiter sie in die Zukunft blickt, desto mehr verliert sie den Anschluss an die Gegenwart und an die Menschen, die ihr nahestehen. »Delphi« ist zugleich das tragikomische Porträt einer Frau, die sich und ihre Familie zurückerobern muss. 

»Clare Pollard destilliert das schwer Fassbare unserer Gegenwart.« THE NEW YORK TIMES   

»Auch Bücher sind Zeugen unseres Lebens und unserer Zeit. Die einen streben nach dem Universellen, die anderen nach dem Gegenwärtigen: ›Delphi‹ spannt einen Bogen zwischen beidem.« THE OBSERVER

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Seitenzahl: 208

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Über das Buch

London, 2020: Während sich die Erzählerin durch den Lockdown schreibt, kriselt ihre Ehe mit Jason, und zu ihrem zehnjährigen Sohn Xander dringt sie kaum noch durch. Jason flüchtet sich in Arbeit, Xander in Videospiele. Was der Erzählerin bleibt, ist die Welt der Weissagung: Sie beschäftigt sich mit Orakeln aus der Antike, Tarotkarten und dem Lesen von Teeblättern. Aber je weiter sie in die Zukunft blickt, desto mehr übersieht sie, was ihr in ihrem eigenen Leben bevorsteht: Manchmal verlieren wir fast alle Gewissheiten – und mit ihnen die Menschen, die uns nahestehen. »Delphi« erzählt auf tragikomische Weise von einer herausfordernden Zeit und von einer ungewöhnlichen Frau, die mit allen Mitteln um sich selbst und um ihre Lieben kämpft.

Über Clare Pollard

Clare Pollard ist eine vielfach ausgezeichnete Autorin, Lyrikerin und Dramatikerin aus London. Sie hat fünf Gedichtbände verfasst und ist Herausgeberin der Zeitschrift Modern Poetry in Translation. »Delphi« ist ihr erster Roman. 

Anke Caroline Burger, geboren 1964 in Darmstadt, lebt heute in Berlin und in Zürich. Sie übersetzt Bücher u. a. von Ottessa Moshfegh, Adam Johnson, Tanya Tagaq, Jon McGregor und Candice Fox.

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Clare Pollard

Delphi

Roman

Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Zitat

Theomantie: Weissagung durch Vorhersage der Zukunft

Theia Mania: Weissagung aus göttlichem Wahnsinn

Hieroskopie: Weissagung aus Eingeweiden

Rhapsodomantie: Weissagung aus Dichtung

Genethialogie: Weissagung aus dem Geburtsdatum

Tarotmantie: Weissagung aus dem Tarot

Ovomantie: Weissagung aus dem Eierorakel

Ophthalmomantie: Weissagung aus den Augen

Stichomantie: Weissagung durch willkürlich ausgewählte Textzeilen

Fructomantie: Weissagung aus Obst

Emonomantie: Weissagung aus Insekten

Katoptromantie: Weissagung aus Spiegeln

Anthomantie: Weissagung aus Blumen

Ololygmantie: Weissagung aus Hundegeheul

Augurium: Weissagung aus dem Vogelflug

Pyromantie: Weissagung aus dem Feuer

Videomantie: Weissagung aus digitalen Medien

Hämatomantie: Wahrsagung aus Blut

Retrodiktion: Im Nachhinein verfasste Weissagungen

Chiromantie: Weissagung durch Handlesen

Zoomantie: Weissagung aus Tierverhalten

Oneiromantie: Weissagung aus der Deutung von Träumen

Causimantie: Weissagung aus dem Verbrennen von Gegenständen

Hydatomantie: Weissagung aus Regenwasser

Oinomantie: Weissagung aus Wein

Phrenologie: Weissagung aus Hirnarealen

Magischer Blick: Weissagung aus der Kristallkugel

Urticariaomantie: Weissagung durch Jucken

Schematomantie: Weissagung aus dem Gesicht

Selenomantie: Weissagung aus dem Mond

Thrien: Weissagung aus Kieselsteinen

Alphitomantie: Weissagung aus Gerste

Gyromantie: Weissagung aus Schwindelgefühl

Papyromantie: Weissagung aus Papiergeld

Cybermantie: Weissagung aus dem Datennetz

Gastromantie: Weissagung aus Kehllauten

Shufflemantie: Weissagung aus einem digitalen Mediaplayer

Kleromantie: Weissagung aus Zufallszahlen

Ceneromantie: Weissagung aus der Asche eines rituellen Feuers

Nephomantie: Weissagung aus Wolken

Aeromantie: Weissagung aus Luftbeobachtung

Cyclicomantie: Weissagung aus dem Schwenken von Wasser in einem Glas

Nekromantie: Weissagung aus dem Gespräch mit Toten

Googlemantie: Weissagung durch Fremde

Osteomantie: Weissagung aus Knochen

Ophiomantie: Weissagung aus Schlangen

Tasseografie: Lesen in Teeblättern oder Kaffeesatz

Astrologie: Die Befragung der Himmelskörper

Anthropomantie: Weissagung aus dem Menschenopfer

Psephomantie: Weissagung aus Steinchen oder Losen

Pilimantie: Weissagung aus dem menschlichen Haar

Lampadomantie: Weissagung aus der Flamme

Anthroposkopie: Weissagung aus der äußeren Erscheinung

Chresmomantie: Weissagung aus den irren Worten wahnsinniger Männer

Brontomantie: Weissagung aus dem Donner

Auramantie: Weissagung aus der Aura

Mikromantie: Weissagung aus kleinen Gegenständen

Dendromantie: Weissagung aus Bäumen

Drimimantie: Weissagung aus Körperflüssigkeiten

Phobomantie: Weissagung aus Angstgefühlen

Ichnomantie: Weissagung aus Fußabdrücken

Moromantie: Weissagung aus Torheit

Batrachomantie: Weissagung aus Fröschen

Aichmomantie: Weissagung aus scharfen Gegenständen

Daktylomantie: Weissagung aus den Bewegungen menschlicher Finger

DANKSAGUNGEN

DANKSAGUNG DER ÜBERSETZERIN

ZITIERTE QUELLEN

Impressum

Für Hannah

Kassandra: [Schrei] [Schrei] [Schrei] [Schrei]

Anne Carson

Theomantie: Weissagung durch Vorhersage der Zukunft

Ich habe die Nase voll von der Zukunft. Die Zukunft steht mir bis hier. Sie soll mir vom Hals bleiben, ich will nichts mit ihr zu tun haben.

Mit so viel Zukunft war früher niemand konfrontiert. Ich meine, soweit die Menschen sich die Zukunft vorstellen konnten, war sie der Vergangenheit sehr ähnlich: Ernte, Herbstanfang, Schnee, erste Knospen an den Bäumen. Die Menschen wurden älter und starben, aber der Kreislauf begann immer wieder von vorn. Jetzt müssen wir mit einer ständig steigenden Flut an Zukunft leben, die über alles drüber schwappt, Städte und Landstriche mit sich reißt, und dann sind wir schon da, und es ist Zukunft – die Dystopie aus Überwachungsstaat, Videoanrufen, VR‑Brillen, dank Globalisierung weltweiten Viruspandemien, 24‑Stunden-Nachrichten, KI, Artensterben, Genveränderung, Zusammenbruch der Zivilisation usw. usf.

Und so kommt es, dass ich mich unglaublicherweise spät an einem Winterabend in der Küche wiederfinde, wo ich meinem Mann schrill ins Gesicht zische: Ich weiß nicht mal, ob unser Sohn überhaupt lang genug lebt, um erwachsen zu werden.

Etwas kann wahr sein, auch wenn es sich melodramatisch anhört.

In Delphi sprachen die Götter durch ein Orakel. Delphi liegt in Griechenland, am Hang des Parnass. Der Sage zufolge versuchte Zeus, die Mitte von Gaia – griechische Erdgöttin, Mutter Erde – zu bestimmen, ließ zwei Adler an den Enden der Welt losfliegen, und sie trafen sich in Delphi. Der Punkt, an dem sich ihre Flugbahnen von Westen und Osten kommend kreuzten, wurde zu Gaias Nabel ernannt, manchmal auch als »Omphalos« bezeichnet – Mittelpunkt der Welt.

Delphi war also ursprünglich ein Gaia gewidmetes Heiligtum, aber dann tötete Apollon den Drachen Python (vom Verb pythō, »verwesen«) und stahl ihm sein Land. Um diesen Raub zu legimitieren, wurde ein Apollontempel über dem tiefen, gezackten Spalt errichtet, in den er die sterbende geflügelte Schlange geworfen hatte. An genau dieser Stelle saß später die Pythia, die ihren Namen vom Verwesungsgestank des Drachen erhielt – das berühmte Orakel von Delphi. Der Sitte nach war die Priesterin eine ältere, arme Frau, was wir heutzutage als »in den besten Jahren« bezeichnen würden. Eine Frau, die ein normales Leben geführt hatte, aber bereit war, sich von Mann und Kindern loszusagen. Um ein unbeschriebenes Blatt zu werden, ein Instrument, ein Medium.

Vor dem Orakelspruch bedurfte es eines Omens: Ein Oberpriester besprengte eine junge Ziege mit eiskaltem Wasser. Blieb sie ruhig, fiel das Orakel an diesem Tag aus, und die Ratsuchenden mussten einen Monat später wiederkommen. Zuckte die Ziege zusammen, wurde sie als Opfertier geschlachtet und auf dem Altar verbrannt. Der aufsteigende Rauch zeigte an, dass das Orakel im Einsatz war.

Danach fastete die Pythia und nahm ein Bad in einer Quelle, um kultisch rein zu werden. Wahrscheinlich wurden zur Reinigung auch Lorbeerblätter verbrannt oder von ihr gekaut. In einen violetten Schleier gehüllt, wurde sie in das dunkle Höhlenheiligtum geführt und auf einen goldenen Dreifuß über dem Spalt im Boden gesetzt. Ob sie Herzklopfen hatte? Ob sie Angst hatte? Die Räumlichkeiten waren niedrig und dunkel, und die Pythia zitterte, wenn die Verwesungsgerüche des Drachen aufstiegen. Die süßlich riechenden, berauschenden Dämpfe versetzten sie in Trancezustände, in der ihr die Gliedmaßen nicht länger gehorchten.

Ihre Stunde war gekommen, wenn sie über dem Abgrund saß. Apollon bewegte ihren Kiefer, den dicken Zungenklumpen, und sprach durch ihren Mund – mit brüllender Männerstimme wütete und bellte sie.

Der Historiker und Schriftsteller Plutarch schrieb die Ekstasen des Orakels von Delphi dem pneuma zu, dem Atem aus dem Felsspalt. Plutarch berichtete, die heilige Seherin habe wie ein Segelschiff im Sturm ausgesehen.

Vermutlich waren es die Dämpfe aus dem Untergrund, die betäubend auf sie wirkten – Äthan, Methan und Äthen, ein schweres, über den Boden kriechendes Betäubungsmittel. Und dann geschah das Wunder: die Zukunft ergoss sich aus ihrem Mund …

Theia Mania: Weissagung aus göttlichem Wahnsinn

Der Philosoph Thomas Hobbes vertritt die These, der zwanghafte Wunsch, in die Zukunft zu blicken, entstamme unserer Angst vor Tod, Armut oder andersgeartetem Unheil: Die Angst nage an uns wie der Adler an Prometheus’ Leber.

Ich bin mir da nicht so sicher. Teenager zum Beispiel verschlingen Zeitschriften über Stars und Promis, weil sie die Zukunft herbeisehnen. Wenn wir jung sind, besuchen wir die Handleserin und wollen hören, dass wir starke Männer mit dunklen Locken und viel Geld finden werden – wir wollen uns ausmalen, dass Liebe, Abenteuer und ein guter Beruf auf uns warten, wenn wir erwachsen sind. Prophezeiungen sind eine Art des Träumens, mit denen wir die Zukunft ein bisschen näher rücken lassen. So empfand ich zumindest früher meine Träume. Ich führte ein Traumtagebuch, am Bett hatte ich ein Wörterbuch zur Traumdeutung liegen. Ich schaffte mir Tarotkarten an und versuchte mein Glück sogar mit ein paar Zaubersprüchen, als könne ich die Zukunft auf diese Weise beeinflussen. Am einfachsten ist angeblich der Glamour-Zauber, aber meine Nase ist krumm, und ich habe Haare auf den Armen, das mit der Magie scheint bei mir also nicht sonderlich gut geklappt zu haben.

Viel weiß ich nicht über meinen Vater, aber ich weiß, dass er von sich behauptete, hellseherische Fähigkeiten zu besitzen. Haben mich Orakel deswegen immer wieder angezogen? Vielleicht liegt es mir im Blut. Mein Vater starb, als ich zwei war, ich habe also keine Erinnerungen an ihn. Angeblich war er sehr witzig – einer der Männer, die man als »Stimmungskanone« bezeichnet. Bei Partys unterhielt er die Menschheit mit Handlesen. Als er die Hand meiner Mutter las, sagte er: Du wirst mich mal heiraten. Er trank sich absichtlich zu Tode. Er wolle nicht aufhören, sagte er – er wusste, dass er sich mit der Sauferei umbringen würde, muss es in seinem Innern gespürt haben, aber er entschied sich, weiterzumachen, weil es so vorherbestimmt war. Als könne er die Götter sowieso nicht an der Nase herumführen. Eine Art Self-Fulfilling Prophecy, vermute ich, wie bei dem italienischen Astrologen Girolamo Cardano, der Selbstmord beging, um zu beweisen, dass seine Vorhersage, er würde im Alter von sechsundsiebzig Jahren sterben, stimmte.

Hellseherei lässt sich mehr oder minder in drei Kategorien unterteilen.

Retrokognition: Wissen über vergangene Ereignisse, das nicht aus Schlussfolgerungen oder Erinnerungen besteht; eine Form der »Nachhersage«.

Fernwahrnehmung: die parapsychologische Wahrnehmung aktueller Ereignisse außerhalb der natürlichen Möglichkeiten.

Präkognition: die Fähigkeit, zukünftige Ereignisse vorherzusagen.

Krösus, der König von Lydien, entsandte Boten zu sieben Orakeln. Jedes sollte am selben Tag befragt werden, was der König in diesem Augenblick gerade machte. Die Pythia in Delphi verkündete: »Ich zähle die Sandkörner am Strand, ich vermesse das Meer; ich verstehe die Tauben und höre die Stimmlosen.«

Dann gab sie zutreffend bekannt, der König koche sich gerade einen Kessel voll Lammfleisch mit Schildkröte. Diese Weissagung würde ich unter Fernwahrnehmung einordnen.

Am dringlichsten wurden Orakelsprüche jedoch für die Präkognition gesucht, trotz der Tatsache, dass die Prophezeiungen zum größten Teil als Ausdruck der göttlichen Absichten verstanden werden müssen. Berühmte Proklamationen wie »Die Liebe zum Geld wird Sparta zu Fall bringen« oder »Wenn du den Fluss überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören« lassen sich mit anderen Worten so verstehen, dass die Götter sagen: »Tu, was wir dir befehlen, sonst kriegst du es mit uns zu tun.«

Insofern handelte es sich strenggenommen eigentlich nicht um Vorhersagen. Die Orakel übermittelten vielmehr Informationen über die Pläne der Allmächtigen, die allerdings zugegebenermaßen mit einer solchen Wahrscheinlichkeit eintreten würden, dass man sie leicht mit Prophezeiungen verwechseln konnte. Es war, als würde man Männer hinter geschlossenen Türen belauschen, wie sie sich vor einer Wahl verabreden, zu hacken und zu leaken, Schwarze Frauen aufs Korn zu nehmen und mit Falschinformationen zuzuschütten, wie sie X erpressen, Y das Wahlrecht wegnehmen, und schon weiß man, dass sich ihre Wünsche bewahrheiten werden. Eine große Demokratie wird zu Fall kommen.

Sich solche Dinge anzuhören, scheint die Menschenwesen verrückt gemacht zu haben. Göttlicher Wahnsinn, von Platon als Theia Mania beschrieben. In manchen Quellen heißt es, aus dem Mund der Pythia seien in Wirklichkeit unverständliche Geräusche gekommen, die von den Priestern in Hexameter »übersetzt« wurden. Die Rädchen der Propagandamaschinerie darf man nicht außer Acht lassen. Ich als Literaturübersetzerin halte es für sehr wahrscheinlich, dass man die Bedeutung verändert hat, damit es ins Versmaß passte, ganz zu schweigen vom beabsichtigten Zweck dieser Übersetzungen. Sprache ist immer Macht. Von Platon ist auch überliefert: »Wer die Geschichten erzählt, regiert die Gesellschaft.«

Hieroskopie: Weissagung aus Eingeweiden

Ich recherchiere Zeichendeutung im antiken Griechenland für mein nächstes Buch, hoffentlich. Es soll eine altertumswissenschaftliche Abhandlung werden mit mehreren Kapiteln über den Wandel in der Darstellung Kassandras, die Bedeutung der Astrologie und so weiter. In der Wikipedia heißt es dazu: »Wegen der starken Nachfrage nach Orakelsprüchen und der eingeschränkten Arbeitszeiten der Orakel stellten diese im antiken Griechenland nicht die wichtigste Quelle der Divination dar. Diese Rolle wurde von den Sehern und Seherinnen ausgefüllt.« Die Wikipedia ist natürlich keine angemessene Quelle für akademische Aufsätze, aber die Wortwahl bringt mich zum Schmunzeln: die »eingeschränkten Arbeitszeiten der Orakel.«

Die Seher standen nicht im direkten Kontakt mit den Göttern. Nichts Monströses, Funkelndes durchströmte sie. Sie lasen einfach die Zeichen wie Aushilfselektriker, die zu einem in die Wohnung kommen, um festzustellen, was mit den Leitungen nicht stimmt. Seher waren zahlreicher und leichter zugänglich, weil sie nur eine Basisdienstleistung im Angebot hatten: Sie beantworteten Fragen nur mit Ja oder Nein. Oft mussten sie mehrere Opfertiere schlachten, bis eine eindeutige Antwort feststand.

Leberschau. Weissagung aus Eingeweiden.

In Elektra behauptet Euripides, Prometheus habe den Sterblichen die Gabe zum Lesen aus Eingeweiden geschenkt, ein Frevel, für den Zeus ihn bestrafte. Für die hiera, die Leberschau, wurde ein Schaf auf dem Platz der Zusammenkunft geschlachtet, dann stocherte der Seher im dunklen Spiegel der Schafsleber auf der Suche nach einer Antwort: Die Größe der beiden Leberlappen wurde inspiziert, nach einem Fluss oder einer Straße gesucht, einer Vertiefung oder einem Loch im glatten, zitternden Organ. Bekannt waren außerdem die Rituale der Sphagia, oft in der Nähe eines Schlachtfelds – einer jungen Geiß wurde die Kehle aufgeschlitzt, dann wurden ihre letzten, torkelnden Schritte beobachtet, die Art, wie Blut und Exkremente verspritzten.

Daraufhin kratzte sich der Seher am Kopf und sagte: Hmm, das ist knifflig. Die Frage war immer: Gewinne ich die Schlacht?

Rhapsodomantie: Weissagung aus Dichtung

Der Mann, den ich in meiner Kindheit »Dad« genannt habe, war ein schniefender Perverser namens Steve. Meine Teenagerjahre verbrachte ich mit dem Hass auf die Gegenwart: den Sportunterricht, den Katzenfuttergeruch in unserer Küche, die Scheidung meiner Mutter von Steve, meine Mutter, die sich die abartige Jerry Springer Show anschaute und dabei Unmengen von Keksen in sich reinstopfte, die Freundinnen, mit denen ich nichts gemeinsam hatte, die australischen Soaps, das unterbelichtete Denken der Jungs.

Aber in der sechsten Stunde hatten wir Latein, obwohl ich nicht auf einer Privatschule war. Mythen und Sagen hatte ich immer schon geliebt, hatte alle Claudius-Bücher von Robert Graves verschlungen. In Deutsch war ich die Beste meiner Jahrgangsstufe und galt als sprachbegabt. Wir hatten eine wunderbare Lateinlehrerin, Mrs Sykes, eine magere Kettenraucherin mit heiserer Stimme, die grundsätzlich schwarz trug. Lustvoll las sie uns Ovid und Catull vor und erzählte uns Storys von den Römern, die ihre Kleidung in Urin gewaschen und Flamingos gegessen hätten.

Irgendwie sah es so aus, als hätten die drei Parzen mir einen Glücksfaden gesponnen. Ich weiß noch, dass ich die Tarotkarten befragte, ob ich mit meiner Bewerbung für Klassische Philologie in Oxford durchkommen würde, und die Antwort war ja.

Als ich dann meinen Studienplatz am New College ergattert hatte, litt ich anfangs unter Minderwertigkeitsgefühlen, da ich so offensichtlich nicht aus einem wohlhabenden Elternhaus stammte (obendrein kam ich aus Barnsley!). Aber ich war in meiner Zukunft, und sie war so hundertprozentig anders als mein bisheriges Leben, dass ich nicht anders konnte, als sie zu genießen. Meine Hautunreinheiten verschwanden, und ich besorgte mir eine nach Rosen duftende Creme für die Oberlippe, um meine Härchen zu entfernen. Ich fühlte mich auf einmal attraktiv – in der neuen Umgebung war ich keine Streberin mehr, sondern sozusagen ein ungeschliffener Diamant! Wenn ich mit selbstzufriedenen älteren Männern Collegeport süffelte, machte es mir Spaß, sie mit meinen Arbeiterklasseallüren zu schocken, meiner Art, immer frisch von der Leber weg zu reden. Ich schlief mit Jungs und Mädchen in holzgetäfelten Zimmern, und der Hausdiener kam auf Zehenspitzen rein, um die Mülleimer auszuleeren. O witziger, unbekümmerter Mark, dessen Eltern ein Bootshaus besaßen; der deutsche Austauschstudent, der Gewichtheben machte und in meinem Mund kam; Pandora mit dem teuer gestylten Haar, das sie so wunderbar beiläufig hochsteckte, ohne auch nur in den Spiegel zu schauen …

Ich war begeistert von der Bibliothek, dem Magazin, den Leseräumen der Klassischen Philologie. Den Weidenbäumen. Von der Pimm’s-Limonade mit kleinen Obststückchen darin. Am meisten begeisterten mich die griechischen Tragödien. Das Wort »Tragödie«, τραγωδία, bedeutet »Bocksgesang«. Ich liebte die Chorpassagen, die Katharsis. Der tote Bruder, der unbegraben auf dem Schlachtfeld liegt, die langen, goldgetriebenen Brustspangen in Iokastes Kleid. Medea, die mithilfe der »Mechane« im Sonnenwagen des Helios entschwebt. Der Schrei der Kassandra: Aieeeeeee!

Im letzten Semester kam ich mit Jason zusammen, der auf eine schon fast klischeehafte Art gut aussah: kräftiges Gesicht, starkes Kinn, große Männerhände. Goldenes Haar – weil er groß war, beugte er sich in meiner Vorstellung immer über mich, und das Licht durchleuchtete sein Haar. Damals war er sportlich und muskulös, rannte und ruderte ein bisschen. Ein sanfter, freier Blick, selbstironischer Witz; außerdem wusste er immer, wo es eine Party gab. Seit Neuestem arbeitete er auch als DJ – House, UK Garage, Tanzmusik –, und ich erinnere mich noch an das intensive Kitzeln, wenn er mir ins Ohr schrie; knochenerweichende Küsse, die nach Wodka und Energy Drinks schmeckten. Wir vögelten im langen Gras am Flussufer unter dem Sternenzelt, und ich fühlte mich wie Demeter, die die Nacht mit Jason verbringt. »Ich liebe dich«, sagte er und dann meinen Namen. Ich bekam das Gefühl, alles sei vorherbestimmt.

In jenem letzten Oxfordsommer trug ich kurze Haare und ein lila Ballkleid und lief nach Sonnenaufgang barfuß nach Hause, die Füße voller Blasen von den High Heels. So viel Sekt. Jeder streichelte jeden in den ersten, reinigenden Sonnenstrahlen.

Genethialogie: Weissagung aus dem Geburtsdatum

Die Vergangenheit ist immer schöner als die Gegenwart.

Entropie ist das Fortschreiten von Ordnung zu Unordnung.

Seit dem Urknall ist alles immer nur unordentlicher geworden.

Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, innerhalb eines abgeschlossenen Systems könne die Entropie nur zunehmen. Aus diesem Grund kann sich die Zeit auch nur vorwärtsbewegen.

Alles kann nur komplizierter und beschissener werden.

Ich trinke kalt gewordenen Kaffee, klicke auf Bewusstsein könnte ein Nebeneffekt der Entropie sein, sagen Forscher: Was ist, wenn der Informationsgehalt des Gehirns durch Unordnung größer wird? Vielleicht wird uns die Zukunft ja immer klarer, je tiefer wir in sie eindringen.

Vielleicht ist das unser Fluch.

Seit Neuestem fürchte ich die Zukunft. Ich werde dieses Jahr fünfundvierzig und unterrichte seit einem Jahrzehnt Klassische Philologie in Teilzeit an einer guten Uni, ich habe mehrere preisgekrönte Romane aus dem Deutschen übersetzt, mein Name wird in den Besprechungen allerdings nur selten erwähnt. Vermutlich stehe ich auf dem Höhepunkt meiner beruflichen Laufbahn. Aber meine Jobs sind beide unterbezahlt, mit wenig Anerkennung verbunden und davon abhängig, dass ich aus Liebe zur Sache viele Stunden gratis arbeite. Als ich jung und für jeden Auftrag dankbar war, hat mir das nichts ausgemacht, aber inzwischen wird es mir immer stärker bewusst.

Tarotmantie: Weissagung aus dem Tarot

Ich versuche, dankbar zu sein für das, was ich habe.

Mein Sohn Xander ist eine der großen Segnungen meines Lebens, auch wenn er jetzt mit zehn fast nur noch beim »Gamen« ist. Die halblangen dunklen Locken klemmt er sich hinter die Ohren (er geht nicht gern zum Friseur), seine Finger tanzen rasend schnell über das Tablet. Xander leidet seit der Geburt an Ekzem und Allergien und fühlt sich unwohl in seinem Körper – ich weiß noch, dass er oft in seinem Babykörbchen lag, wie am Spieß schrie, als würde er lebendig gekocht, und mit seinen Kratzfäustlingen in die Luft boxte. Nur die Onlinewelt scheint ihm Erleichterung zu verschaffen. Aber seine Lehrerinnen sagen, er sei höflich und gut in Mathe und Kunst. Ich liebe seinen trockenen Humor und seinen sanften, braunäugigen Blick.

Momentan arbeitet Jason sehr viel, für eine Stiftung, und kümmert sich nicht um seine Gesundheit. Er hat Fett angesetzt, und sein Gesicht ist irgendwie röter geworden, die Haut gröber, das Haar lichter – aber er ist ein gutmütiger Kerl, immer gut drauf, lädt ständig Leute zum Essen ein, legt Platten auf, hat irgendetwas Schönes in Planung. Mehrmals im Jahr fahren wir nach Italien oder Ibiza und trinken Wein auf einer weiß verputzten Terrasse, schnorcheln im blassgrünen, sonnenerhellten Wasser. Wie er eine große, klebrige Garnele mit den Fingern auseinandernimmt oder sich aufs Fritto Misto stürzt und sagt: So lässt sich’s leben.

Wahrscheinlich zähle ich jetzt zur Mittelschicht, auch wenn ich mich nur ungern so bezeichne – es ärgert mich, wie die Mittelschicht in den Medien immer mit Privatschulen, Ferienhäusern, Kindermädchen, Putzfrauen gleichgesetzt wird, diesem ganzen privilegierten Scheiß, den ich mir noch nie leisten konnte, und aus meiner Familie auch niemand. Ich bin im Grunde Teil des hochqualifizierten Prekariats, das es kaum aufs britische Durchschnittseinkommen bringt. Aber wir besitzen im Gegensatz zu meinen jüngeren Kolleginnen ein eigenes Häuschen mit Gästezimmer, wir können uns Essen nach Hause bestellen und uns Wein für acht Pfund die Flasche leisten. Nachts lastet das Gewicht meines Glücks auf mir.

Besser wird es nicht mehr. Irgendwann bin ich alt und werde immer weniger. Und die Welt wird auch immer weniger. Ich habe keine Ahnung, wie lange mein Fachbereich noch besteht. Was für Jobs es überhaupt noch geben wird, wenn Xander erwachsen ist. Wie viele Urlaubsreisen ins Ausland uns noch bleiben. Wie viele Fische in dem blassgrünen Wasser dann übrig sind. Ich bin mir unsicher, was ich anstreben soll. Auf was ich mich freuen soll.

Als ich mein Deck das letzte Mal gemischt und mir ein Tarot gelegt habe, wollte ich schwanger werden, mit Xander. Ich sagte: Die letzte Karte, was kommen wird, und es war die Zehn der Kelche.

Hier, das ist es.

Unter dem Regenbogen ein Mann und eine Frau, er hat ihr den Arm um die Taille gelegt. Sie stehen in einem wunderschönen Garten: zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, tanzen vor Freude Ringelreihen.

Erfüllung, Sattheit, vollendete Herzensruhe.

Ich hatte gehofft, die Karte würde zwei Kinder bedeuten, aber das trat nicht ein. Sie war eine Fehlgeburt, meine Tochter. Aber diese Leseweise war immer zu wörtlich. Ein gutes Leben habe ich trotzdem. Vielleicht ist es besser so, kein zweites Kind zu haben, das vielleicht genauso an Hautekzem und Atemnot gelitten hätte. Bei der kleinsten Nuss macht das Herz in meiner Brust einen Sturz ins Leere. Mit der Geburt eines Kindes beginnt der Schmerz.

Dabei haben wir es doch rundherum gut: Privilegien, Garten, Zuhause, Familie. Ich müsste mit dem zufrieden sein, was ich habe. Aber ich muss immer wieder an das Ende von König Ödipus denken: »Der Erdgebor’nen preise niemand glücklich, eh er nicht, ganz von Leid unangefochten, an des Lebens Ziel gelangt.«

Warum bin ich dann so unzufrieden, will mein Glück wegwerfen, wenn ich es doch eigentlich unangefochten mit ins Grab nehmen könnte? Warum will ich eine Affäre, abhauen, meinen Job kündigen, irgendwas Drastisches?

Weil sonst nie wieder etwas passiert.

Ovomantie: Weissagung aus dem Eierorakel

Im selben Augenblick, in dem ich zum ersten Mal von dem Virus höre, weiß ich: Das hat es auf uns abgesehen. Ich spüre, wie es näherkommt. Ich fange an, jede halbe Stunde aufs Handy zu gucken. »Jetzt mach dich doch nicht verrückt«, meint Jason, als ich ihm die Nachrichten vom Fischmarkt in Wuhan vorlese. Menschen werden in China vor den Krankenhäusern abgewiesen und zum Sterben in Wohnungen gesperrt.

»Nie im Leben können wir an Ostern nach Griechenland fahren, das kannst du vergessen«, sage ich zu Jason. Die Flüge habe ich schon vor Ewigkeiten gebucht. Ich will nach Delphi, da war ich noch nie, dann eine Woche Urlaub in Galaxidi, in einer Taverne am Meer sitzen, Kaffee und Ouzo trinken.

»Jetzt übertreibst du aber.«

»Tu ich gar nicht.«

»Wie, du meinst, Reisen wird dann einfach ›verboten‹, oder was? Wie soll das denn gehen? Ich meine, wenn man das Virus nicht auf ein Land begrenzen kann, ist es doch auch egal, oder? Sobald es sich ausgebreitet hat, ist es überall, oder etwa nicht?«

»Ich vermute, der Urlaub muss offiziell abgesagt werden … die Regierung muss das Fliegen verbieten, damit wir unser Geld zurückkriegen.«

»Ja ja … das passiert auf gar keinen Fall, also reg dich wieder ab, okay?«

Eine Woche später ist das Virus in Italien, auf Skihütten, in Flugzeugen. Meine Vorahnung erweist sich sehr bald als richtig. Das ist enttäuschend, aber auch ein wenig aufregend, weil endlich etwas passiert. Eigentlich finden es alle ziemlich aufregend. Wir sind so schrecklich gelangweilt von unserem Plastikleben, jetzt verändert sich wenigstens etwas, Geschichte wird gemacht.

Die Leute stürzen sich in Panikkäufe. Die Deutschen haben ein Wort für das Anlegen von Vorräten: