DELTER - Frank Lauenroth - E-Book

DELTER E-Book

Frank Lauenroth

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Beschreibung

Wahrscheinlichkeitsüberschreitungen, hilfsbereite Symbionten, zeitreisende Satelliten, motivierte Insektoiden, clevere Hauptgerichte und nicht zuletzt ... Alienzombieroboterviecher! In Frank Lauenroths Geschichten ist für jeden etwas dabei. Wer wie der Autor das Golden Age der Science Fiction liebt, erliest hier spannende Variationen vertrauter Ideen, neue Plots und jede Menge überraschende Wendungen. Vorhang auf für DELTER und seine intergalaktische Bande! [Mit einer Vorbemerkung von ERIK SIMON.]

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Seitenzahl: 302

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Frank Lauenroth

DELTER

Science-Fiction-Storys

AndroSF 216

Frank Lauenroth

DELTER

Science-Fiction-Storys

AndroSF 216

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: April 2025

p.machinery Michael Haitel

Die Urheberrechtsinhaber behalten sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist ausgeschlossen.

Titelbild: Lothar Bauer, geringfügig bearbeitet von Frank Lauenroth

Vignetten: Gloria Manderfeld

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: Schaltungsdienst Lange oHG, Berlin

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 448 9

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 697 1

Tradition und Experiment

Eine Vorbemerkung von Erik Simon

Die deutschsprachige Science-Fiction hält sich erstaunlich wacker, wenn man bedenkt, dass es ihr nicht gut geht: Sie leidet ja schon seit Längerem an Übergewicht und Herzschwäche. Die großen, traditionellen SF-Verlage bringen von deutschen Autoren[1] nur noch Romane heraus, und zwar ziemlich wenige. Unter den zahlreichen, kaum noch zu überblickenden SF-Büchern, die in halbprofessionellen oder rein fannischen Kleinverlagen und immer häufiger im Selbstverlag erscheinen, finden sich durchaus Erzählungsbände und sogar Anthologien; den Ton geben aber auch hier die Romane an (vermutlich verkaufen sie sich auch besser), und unter diesen wieder jene, die mich an Übergewicht und Fettsucht denken ließen: die potenziell endlosen Romanzyklen, die im professionellen Bereich ihr Vorbild bei Perry Rhodan & Co. haben. Da passiert etwas, dann passiert noch etwas, und im nächsten Band wieder etwas. Es sind praktisch immer Abenteuergeschichten, ein Abenteuer folgt auf das andere, jedes für sich wird irgendwie bestanden und kann interessant sein oder auch nicht, aber niemand weiß, was das Ganze soll, was es erkundet, verhandelt oder exemplifiziert; man kommt sich vor wie bei einer daily soap.

Das Herz der Science-Fiction aber ist die Erzählung. Sie hat das Gesicht der SF geprägt, als diese sich in den amerikanischen Magazinen der Dreißiger- bis Sechzigerjahre – Amazing Stories (später Analog), The Magazine of Fantasy and Science Fiction, Galaxy, um nur die berühmtesten zu nennen – zu einem Genre konsolidierte. Hier hat sich die SF weiterentwickelt und diversifiziert, in den Magazingeschichten ist das SF-Universum mit seinen Verzweigungen und Spielarten ausgeformt, von ihnen sind damals auch die Romane geprägt worden. (Viele Romane jener Zeit, sogenannte fix-ups, sind ja aus Episoden zusammengesetzt, die zunächst separat als Erzählungen in den Zeitschriften erschienen.) Eine Zeit lang blühte hierzulande diese angloamerikanische Story-Tradition (in der DDR z. T. über sowjetische Vorbilder vermittelt), nämlich in den professionellen SF-Verlagen in Ost und West, als dort noch Erzählungsbände und Anthologien erschienen. Jetzt ist sie keineswegs verschwunden, aber doch seltener geworden; relativ oft findet man einerseits Geschichten in derselben Abenteuertradition wie bei den Romanen – der Held hat ein Problem und löst es schließlich –, andererseits ambitioniertere Texte, deren Ehrgeiz manchmal auf originelle literarische Gestaltung zielt, oft aber auch nur auf die Illustration und Affirmation gerade angesagter moralischer Standpunkte.

Die sozusagen klassische Machart, die eine einzelne SF-Idee ins Bild setzt und ihre Konsequenzen erforscht, oft in Form einer Pointengeschichte, ist selten geworden. Doch auch hierzulande pflegen sie etliche Autoren noch, und wie sich die geneigte Leserin, der geneigte Leser nach der langen Vorrede schon denken können, halte ich Frank Lauenroth für einen dieser Unverdrossenen.

Nicht, dass die im vorliegenden Band gesammelten Erzählungen alle nach demselben Muster gestrickt wären – das waren die Storys der Klassiker ja auch nicht. Sauber und schnörkellos im Sinne der Tradition aufgebaut ist beispielsweise »Goldene Zeiten«. Auch viele andere Erzählungen sind hier um so eine SF-Idee herum gebaut, darunter komplexere Texte wie »Syms«; nicht alle zielen auf eine Pointe, aber auch in den anderen Fällen geht die Geschichte anders aus, als man es gemeinhin erwartet. Das ist einer der charakteristischen Unterschiede zum einfachen SF-Abenteuer, welches ja ebenfalls auf einer – hoffentlich originellen – SF-Idee gründet. An »Touchdown« ist bemerkenswert, dass nicht das typisch SF-mäßige Motiv, sondern nur die Haltung des Protagonisten zu einer unerwarteten und schön indirekt präsentierten Pointe führt.

Bei den ersten vier Erzählungen von Frank Lauenroth, die ich gelesen habe (nicht durchweg die ältesten, im vorliegenden Band sind sie alle enthalten), habe ich ihre Machart irgendwo zwischen Robert Sheckley und Shin’ichi Hoshi verortet. Letzterer, ein japanischer Autor, ist besonders typisch für handwerklich gut gemachte formula stories (und dabei amerikanischer als viele Amerikaner), ersterer ist mir wahrscheinlich eingefallen, weil ich diesen Autor bewundert habe und immer noch bewundere. Sheckley ist ein Meister des ironisch gebrochenen SF-Abenteuers, welches von den Helden recht und schlecht bestanden wird, aber das Happy End gerät dann doch oft sehr zwiespältig. Bei Frank Lauenroth fällt es eher ganz aus.

Statt an Sheckley könnte man auch an Henry Kuttner und Catherine L. Moore denken, an Fredric Brown, William Tenn, Eric Frank Russell – und allerlei andere, die den jüngeren SF-Autoren hierzulande kaum noch bekannt zu sein scheinen. Sie alle repräsentieren natürlich nicht ein und dieselbe Art von klassischer SF-Geschichte, sozusagen den Urtypus, sondern zahlreiche Variationen. Soweit deutsche SF-Autoren heute noch in dieser Tradition stehen (und schreiben), kommt es hin und wieder vor, dass sie das Fahrrad neu erfinden; davor sind so gute und erfolgreiche Schriftsteller wie Andreas Eschbach nicht gefeit, und Frank Lauenroth ist es ebenso wenig. Aber immerhin: auch seine Fahrräder funktionieren. Erstaunlich gut funktionieren sie in zwei, drei Geschichten, wo er seinem Spieltrieb freien Lauf lässt. Die Geschichte vom Digger und dem Lukudur ist, falls man eine »Botschaft« sucht, völlig nutzlos, aber sie kombiniert in perfekter Weise eine ausgefallene SF-Idee, die man erst gegen Ende versteht, lebhafte Dialoge zwischen merkwürdigen Aliens und eine Pointe, die anders als in den Geschichten traditioneller Machart aus dem Nichts (nun ja: aus einer anderen Dimension) kommt und trotzdem passt. Die Atmosphäre der Ausgangssituation erinnert an den späteren Sheckley mit seinen psychedelisch-grotesken Anwandlungen, die Pointe hat ein strukturelles Gegenstück in einer Erzählung von Fredric Brown; doch das Ganze ist original Lauenroth.

Auch ganz unironische Sujets in der Tradition des SF-Abenteuers enden bei Frank Lauenroth meist untypisch, und die SF-Idee liefert mitunter nicht nur die Handlung, sondern auch einprägsame Bilder wie in »Am Ende des Regenbogens«. Was bei diesem Autor – jedenfalls im vorliegenden Band – ganz fehlt, ist jene besonders in Deutschland anzutreffende Art Geschichte, die in SF-Verfremdung über ein in den Medien gerade angesagtes Thema moralisiert.[2] In einigen seiner Geschichten steht tatsächlich das Durchspielen der SF-Idee im Vordergrund, so etwa in »Nur der Tod ist sicher«, aber wie den Protagonisten dabei zumute ist, kommt durchaus ins Bild, bemerkenswerterweise sogar (um nicht zu sagen: besonders) dann, wenn diese Protagonisten gar keine Menschen sind. In solchen Erzählungen – ein schönes Beispiel ist die Titelgeschichte – geht Frank Lauenroth über die klassischen Muster hinaus, am weitesten in den mit Lara Möller verfassten »Deleted Scenes«, einer ganz pointenlosen und trotzdem beeindruckenden Geschichte, die an Bradbury denken lässt. Die Dichte der Erzählungen jenes Klassikers erreichen die beiden Koautoren freilich nicht, aber wem von uns gelingt das schon?

Dies ist eine Vorbemerkung, keine Rezension. Ich erwähne also nicht jede einzelne Erzählung, und angeführt habe ich Beispiele, die meine Aussagen verdeutlichen mögen – keine Liste der Erzählungen, die mir am besten gefallen haben. Die behalte ich für mich, und Sie müssen selbst herausfinden, welche von den Lauenrothschen Experimenten Sie besonders gelungen finden. Aber was heißt »Sie müssen« – Sie können es, die Geschichten sind unterschiedlich genug, und just das dürfte ihre Stärke sein.

[1] Weibliche Autoren wären, wenn sie denn in den großen Verlagen vorkämen, der Einfachheit halber subsumiert, österreichische auch.

[2]Ich bin sehr für Geschichten, die die moralischen Aspekte eines Problems analysieren oder überhaupt erst einmal darauf hinweisen. 1991 haben die Steinmüllers das Verhältnis der Deutschen zu massenhaft hereinströmenden Klimamigranten erkundet, Wolfgang Jeschke hat 2001 von den übers Mittelmeer kommenden Flüchtlingen geschrieben. Als sie dann wirklich kamen, hatten andere deutsche SF-Autoren jeglichen Geschlechts dazu nicht mehr mitzuteilen als wohlfeile Betroffenheit.

Höchster Einsatz auf Robina 8

»Valent, es ist nicht notwendig, dass Sie nachts Überstunden schieben. Sie sind ja gerade einmal drei Tage hier.«

»Keine Überstunden mehr. Sehr wohl, Protektor.«

»Sehen Sie mir zu und lernen Sie. Das genügt vollauf.«

Er nickte eifrig.

»Ich gewähre nicht jedem diese Chance. Das sollten Sie wissen«, sagte Zevron, der Protektor von Robina 8, einer der zwölf verbliebenen Casino-Raumstationen in den Außenquadranten.

»Sie sind neu im Geschäft, Valent. Sie dürfen mir Fragen stellen.« Zevron schob seine hünenhafte Gestalt vor die Überwachungshologramme.

»Ich habe eine Frage, Protektor.«

»Nur zu!«

»Wie hoch war der höchste jemals hier erzielte Gewinn?«

Zevron überlegte. »Hier … zwei Millionen. Auf Robina 2 soll mal einer acht Komma vier Millionen gewonnen haben.«

»Mehr geht nicht?«

»Mehr geht schon. Es ist nur, wie so häufig bei Glücksspielen, extrem unwahrscheinlich.«

»Wie viele Credits könnte man theoretisch gewinnen?«

»Hundertzehn Millionen wären die Obergrenze. Die Glücksspielgilde hat verfügt, dass dieser Maximalbetrag immer im Auszahlungsautomaten vorrätig sein muss.«

»Der Automat am Casino-Ausgang?«, fragte Valent, während er unbewusst an sein Armband griff.

»Eben jener. Der ist übrigens nicht zu knacken. Ein Derengit-Tresor mit Wänden doppelter Dichte. Dreifach gesicherte Software. Nur die fälschungssicheren Jetons werden in Credits getauscht. Nicht einmal ich kenne den Zugangscode.«

»Robina hat wohl an alles gedacht?«

»Ich denke schon«, antwortete Zevron und grinste.

Sie befanden sich im Herzen der Station, im Überwachungszentrum.

Natürlich gab es auf dieser Raumstation eine Brücke. So wie auf jedem im All befindlichen flugfähigen Objekt ausreichender Größe. Doch diese Station existierte nicht, um durch den Kosmos zu gondeln, sondern um den Casino-Gästen möglichst viele Credits aus der Tasche zu ziehen.

Robina 8 schwebte in einer Umlaufbahn um den Stern NCY-IX 4352, unterhalb der habitablen Zone. Hier sah man die nahe Sonne in einer faszinierenden Größe. Die Nähe zum Stern sorgte außerdem dafür, dass die Stromversorgung der Station gesichert war … für die nächsten hundertfünfzig Millionen Jahre.

Alle Robina-Stationen befanden sich in Sonnennähe. Auf einer Sternenkarte hätte man von Station 1 über 2 und 3 und alle anderen einen Zickzackkurs einzeichnen können. Im Überlichtflug war jede aktive Station in weniger als zwei Wochen erreichbar. Einzig zwischen Robina 9 und 11 klaffte ein Loch von vier Wochen Überlichtflug.

Die Fenster im Casinobereich von Station 8 zeigten den Feuerball zwar helligkeitsreduziert, doch das Schauspiel der Protuberanzen ließen sich die wenigsten Gäste entgehen. Zumindest anfänglich. Manche Spieler hatten sich hier auf Jahre eingemietet und verloren irgendwann die Lust an den allgegenwärtigen Sonnenströmen.

Das orangefarbene Licht flutete die der Sonne zugewandten Säle.

Es war Nachsaison. Auf der Galerie saßen die üblichen Zocker. Beobachter, die lieber die Spiele aus der Ferne verfolgten, als selber an einem der Tische Platz zu nehmen. Sie setzten auf die Spieler, nicht auf das Blatt. Manche setzten gar nicht. Immerhin bestellten sie Getränke.

Die großen Spieleevents der mittleren Sonnenphase waren vorüber, die Gewinne eingefahren, der Schnitt längst gemacht. Das Robina-Konsortium schrieb schwarze Zahlen. Genug, um den Angestellten zum Ende der Saison einen Bonus in Aussicht zu stellen.

Damit es so blieb, brauchte es wache Köpfe. Meist waren es Menschen, die das Geschäft verstanden – und im Zweifelsfall keine Skrupel kannten, den Fortbestand des Unternehmens zu sichern. Die Eignung anderer Spezies hielt sich in eng definierten Grenzen.

»Als Sie sich bewarben, habe ich in Ihnen etwas gesehen, das man unbedingt für diesen Job braucht«, sagte Zevron.

Valent schmunzelte. »Sie meinen Unnachgiebigkeit? Durchsetzungsvermögen? Biss?«

»Sie schmeicheln sich, Valent. Ich sah Ausdauer.«

»Sie sagten, ich solle fragen.«

Zevron brauchte einen Moment, um diese Scharfzüngigkeit zu verdauen. Für solcherlei Frechheiten hatte er bereits Menschen an ihren Zehen aufhängen lassen. Oder im Fall einer nicht humanoiden Spezies an etwas Vergleichbarem.

Valent war jedoch der Einzige, der ihm geeignet erschien, ihn einmal als Protektor zu beerben. Bei rund achtzig Bewerbern glich der Mann damit einem Juwel in einer riesigen Schale von Glaskugeln.

Valent grinste. »Vergeben Sie mir, Protektor. Ich bin mit der Zunge manchmal ein wenig zu schnell. Vielleicht liegt es an meiner Ausbildung, damals, auf Clarion Fünf, als ich …«

Zevron hörte ihm bereits nicht mehr zu. Eines der Überwachungshologramme nahm seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Er ging um das Hologramm herum, beäugte jede noch so kleine Bewegung und vergrößerte Details durch eine knappe Geste.

Valent verstummte und blickte ebenfalls auf das dreidimensionale Abbild des Geschehens im unteren Spielsaal.

Das Hologramm zeigte ein Yakuzz-Spiel.

Am Tisch, auf einem der kostenlos verfügbaren Grav-Pads, schwebte ein kleines Mädchen. Es mochte vielleicht zwölf Standardjahre alt sein. Hinter ihm stand ein Betreuer. Das war üblich. Bis zum vierzehnten Jahr benötigte man für das Glücksspiel einen Beistand.

Die Altersgrenze fürs Glücksspiel war nach der Durchsetzung der Genreform rasch dem neuen Erwachsenenstatus angepasst worden. Demnach waren Menschen mit vierzehn volljährig. Forzianische Schleimgrabbler sogar mit sieben. Letztere sprachen besonders auf die Genonifizierung an. Allerdings besuchten Schleimgrabbler Robina 8 selten. Ihr Kodex erlaubte Glücksspiel erst im hohen Alter, welches sie selten erreichten, da sie als Kopfgeldjäger arbeiteten.

Dem Mädchen gegenüber schwebte der Croupier. In dem Saal gab es sieben Tische. An diesem bediente Orloff, der dienstälteste und erfahrenste.

Das Robina-Konsortium hatte vor ein paar Sonnenumläufen versucht, die Croupiers durch Maschinen zu ersetzen. Als daraufhin die Besucherzahlen einbrachen, wurde die Entscheidung zurückgenommen. Das Vorhaben, die guten alten Jetons durch aufladbare Jet-Cards zu ersetzen, wurde daraufhin bereits im Vorfeld verworfen.

Über dem Yakuzz-Tisch hing eine Anzeige, die den Wert des im Spiel befindlichen Potts anzeigte. Zevron musste zweimal hinsehen, um es zu glauben. Vierundachtzig Millionen Credits!

Das Mädchen spielte allein gegen die Bank.

Zugleich erkannte er ein Detail, dass ihn ein wenig beruhigte.

»Sehen Sie das Kind dort am Yakuzz-Tisch?«, fragte Zevron.

Valent nickte.

»Das Spiel liegt bereits weit über dem Durchschnitt. Doch offensichtlich ist das Mädchen blank.«

»Blank, Sir?«

»Sie hat keine Jetons mehr. Alle Credits verbraucht. Der Croupier hat bereits den Countdown gestartet. Das Kind hat fünf Minuten, um den Einsatz von zwei Millionen zu bringen.«

»Es sieht nicht so aus, als würde es sich deswegen große Sorgen machen, Sir.«

Zevron zoomte in das Hologramm hinein. Das Mädchen saß ruhig da. Der Betreuer bewegte sich ebenfalls nicht.

»Sie haben recht, Valent. Eigenartig.«

Der Countdown zeigte noch vier Minuten und zwanzig Sekunden.

Zevron sah im Zoom, wie das Mädchen die Hände gegeneinanderdrückte. »Betet das Mädchen?«

Eine ältere Dame ging am Tisch vorbei. Zevron erinnerte sich an sie. Sie saß meist am Fenster, blickte hinaus auf die Sonne und spielte in Gedanken versunken mit ihrem Armband, trank selten und spielte kaum.

Die Dame hatte den Hologrammbereich inzwischen verlassen. Das Mädchen wartete. Noch drei Minuten fünfzig.

»Sie wissen, wie Yakuzz funktioniert?«, fragte der Protektor.

»Nicht im Detail«, erwiderte Valent.

»Yakuzz wird mit sieben elektronischen Karten gespielt. Diese wechseln ihr Blatt jedes Mal, wenn man die Karte in die Hand nimmt. Dabei verschieben sich auch Kartenwerte von einem Spieler zum anderen. Wer eben viel besaß, kann im nächsten Moment einen Haufen Dreck in den Fingern halten. Oder umgekehrt. Das macht das Spiel unberechenbar und damit für Zocker attraktiv. Nur die Robina-Stationen besitzen eine Yakuzz-Lizenz. Die Tische sind durch mehrere Systeme gesichert, die zweimal im Standardjahr überprüft werden. Man kann Yakuzz nicht manipulieren.«

Zwei Minuten zehn.

Die alte Dame kam zurück und sprach mit dem Mädchen.

Zevron schaute wie gebannt auf das Hologramm.

»Was tut die Alte da?«, fragte Valent.

Der Protektor vergrößerte den Holo-Ausschnitt ein weiteres Mal. »Sie gibt der Kleinen Jetons!«

Der Croupier stoppte den Countdown.

Zevron fasste sich an den Kopf. »Das kann nicht wahr sein! Seit wann verschenken Spieler Jetons an Spieler?«

»Vielleicht hat das Mädchen der Lady einen Anteil am Gewinn versprochen?«, mutmaßte Valent. »Bevor es nichts gewinnt, tritt es lieber einen Teil des Geldes ab.«

Zevron nickte. »Ja, wahrscheinlich.«

In dem Moment ging die alte Dame.

»Was ist jetzt?«, fragte Zevron. »Ich würde an ihrer Stelle abwarten, wie das Spiel ausgeht.«

»Ich auch«, stimmte Valent zu. Er versuchte, der Dame auf den Überwachungshologrammen zu folgen.

Zevrons Blick klebte am Yakuzz-Tisch.

»Sie hat die zwei Millionen gebracht. Die letzte Runde. Wenn das Mädchen das bessere Blatt hat, gewinnt es hundertzwei Millionen.«

Dem Protektor trat der Schweiß auf die Stirn.

Zevron ließ sich die Blätter von Bank und Mädchen übertragen.

Die Bank, also der Croupier als Vertreter des Casinos, hatte beinahe das höchstmögliche Blatt: zwei pächnidische Kampf-Toys, drei forzianische Schleimgrabbler, einen Karenadier und einen Händler. Würde beim nächsten Mal der Händler durch einen Raumschiffkapitän ersetzt, wäre es Yakuzz, das unschlagbare Blatt.

Das Mädchen hatte … einen Haufen Dreck. Von jedem Planeten einen Stein, keine Sammlung, keine Farbe, nichts.

Wie konnte das Mädchen hoffen …?

Das Spiellevel!

Zevron blickte wieder auf die Anzeige im Hologramm. Das Spiel lief auf Level 7. Ohne Begrenzungen. Ohne Garantiekarten. Mit der nächsten Aufnahme der Karten würde sich jeder Kartenwert wieder ändern!

Er ließ sich die bisherigen Blattwechsel zeigen. Die Bank lag in jeder Runde vorn. Dennoch erhöhte das Mädchen weiter und weiter. Bis zur finalen, siebten Runde.

Dem Protektor schwante Böses.

Valent warf einen Seitenblick auf die Holo-Übertragung des Casino-Ausgangs. Am Auszahlungsautomaten tauchte die alte Dame auf. Sie tauschte ihre restlichen Jetons gegen Credits. Gute, alte, handliche Credits.

Sie nahm ihr Geld und verließ das Casino. Sie würde ihr Raumschiff besteigen und Robina 8 verlassen.

Valent wandte sich wieder Zevron und dem Hologramm zu.

Das Aufdecken des finalen Blatts.

Orloff, der Croupier, begann.

Die erste Karte: ein Schleimgrabbler.

Nun das Mädchen. Ebenfalls ein Schleimgrabbler.

Orloffs Blatt bekam einen pächnidischen Kampf-Toy hinzu.

»Soweit, so gut«, sagte Zevron leise.

Das Mädchen deckte einen zweiten Schleimgrabbler auf. Damit hatte es bereits jetzt bessere Karten als in allen Runden zuvor.

Orloff wendete Karte 3. Eine 68.

»Verdammt«, fluchte Zevron.

Das Mädchen bekam eine Vier.

»Gut«, kommentierte Zevron laut. »Wir liegen zwar hinten, aber noch ist nichts verloren.«

Nun war wieder Orloff dran. Diesmal war es eine 86.

»Sehr gut!«, entfuhr es Zevron. »Jetzt eine Eins dazu und wir haben die Narrenhand.«

Valent interessierte sich nicht für das Blatt der Bank. Er wartete auf die vierte Karte des Mädchens.

»Ein Karenadier.« Zevron kaute auf den Lippen. »Nicht gut, gar nicht gut. Wenn das Mädchen einen Kapitän bekommt, hat es eine Notbesatzung.«

»Und das bedeutet?«

»Die Notbesatzung schlägt die Narrenhand.«

»Oh.«

Karte Nummer fünf stand an.

Orloff deckte einen Schleimgrabbler auf.

»Ha!«, entfuhr es dem Protektor.

Das Mädchen bekam eine Eins.

Zevron erschien verzweifelt. »Es gibt eine einzige Eins im gesamten Spiel. Das war’s mit der Narrenhand. Moment, was haben wir? Zwei Grabbler, einen Toy, eine 68 und eine 86. Wir haben noch zwei Chancen. Die nächste Karte entscheidet!«

Orloffs Karte war ein weiterer Grabbler.

»Gut. Nicht überragend, aber gut.«

Das Mädchen deckte einen zweiten Karenadier auf. Valent sah auch am Handgelenk des Mädchens ein Armband.

»Das ist nichts. Es sei denn«, räumte Zevron ein, »das Mädchen bekommt mit der letzten Karte eine Zwei.«

»Lassen Sie mich raten. Davon gibt es nur zwei im gesamten Spiel?«

Zevron nickte, den Blick fest auf das Hologramm gerichtet.

Die finale Karte.

Orloff begann. Ein vierter Grabbler.

»Ja!« Zevron ballte die Faust. »Vier Grabbler und ein Toy sind eine Jägereinheit.«

»Und die zwei anderen Karten?«

»… sind egal.«

Das Mädchen war dran.

Die alles entscheidende Karte war eine … Zwei.

»Nein!« Zevron sackte förmlich in sich zusammen, wirkte plötzlich ganz klein. »Hundertzwei Millionen! Das darf nicht wahr sein!«

Der Zocker auf der Galerie jubelte.

Valent lächelte. Der Zocker nannte sich Quarrl. Sie waren sich am Morgen begegnet. Hatten sich zugenickt und waren jeder ihres Weges gegangen. Valent hatte an Quarrls Handgelenk ein Armband bemerkt. Eines, das auch die alte Dame und das Mädchen trugen. Er hätte dem Protektor von seiner Beobachtung berichten können. Valent beschloss jedoch, es für sich zu behalten.

Zevron hatte den ersten Schock mittlerweile verdaut.

»Valent, bitten Sie das Mädchen in mein Büro. Ich möchte ihm zu gerne persönlich gratulieren.«

Sein Blick verhieß eher körperliche Züchtigung als ein freundliches Händeschütteln.

Der Protektor stampfte davon.

Valent nickte und ging zur Spielhalle hinunter.

Das Mädchen und sein Betreuer tauschten die erspielten Jetons bei Orloff in wenige Jetons höherer Wertigkeit um. Sie besaßen nun ein handliches Päckchen, das sich leicht in einer Tasche verstauen ließ.

»Meinen herzlichen Glückwunsch, junge Dame«, begrüßte Valent das Mädchen. »Darf ich Sie und Ihren Begleiter in das Büro des Protektors einladen?«

»Sie dürfen.« Das kleine Mädchen gab sich damenhaft. »Manacor, kommst du?« Der große Mann nickte.

Sie betraten die Hover-Plattform, die zur Galerie hinauf führte. Von dort war es nicht weit bis zum Büro des Protektors. Zevron kam sogleich auf das Mädchen zu. Den Betreuer ignorierte er.

»Ich darf dir zu deinem unglaublichen Glück gratulieren!«

»Dankeschön«, antwortete das Mädchen mit glockenheller Stimme.

Zevron setzte ein schmales Lächeln auf. »Wie hast du das nur geschafft?«

»Ich habe einfach weitergespielt. Immer weiter.«

»Das war nicht leicht, oder? Wir haben dich ein wenig beobachtet. Vor der letzten Runde hattest du keine Jetons mehr, um mitzugehen.«

»Ja!«, antwortete das Mädchen und nickte heftig. »Da kam diese freundliche ältere Dame und half mir mit ihrem Geld aus. Ihr Name ist Dermada.«

»Das war in der Tat sehr freundlich«, quetschte Zevron zwischen den Zähnen hervor. »Hat Dermada dafür etwas von dir verlangt?«

»Es war ein Kredit. Glücklicherweise bin ich nun in der Lage, ihr das Geld zurückzugeben.«

»Ja, das bist du wohl. – Hast du deinen Polypass dabei? Bei Gewinnen dieser Größenordnung muss natürlich alles seine Richtigkeit haben. Du verstehst das sicher?«

Das Mädchen nickte. »Manacor, bist du bitte so freundlich?«

Der große Mann zog drei Karten aus seiner Ärmeltasche.

Zevron schaute kurz darauf und hielt sie Valent hin. Zwei Polypässe und eine Zulassungskarte, die bewies, dass Manacor der beglaubigte Betreuer des Mädchens war. Die Kleine hieß Dribana und war laut Pass dreizehn Jahre alt.

»Alles korrekt, Protektor«, sagte Valent und sah, dass unter Manacors Ärmel ein schmales Armband hervorlugte.

Zevron knurrte. »Das ist noch auf keiner der zwölf Robina-Stationen vorgekommen!«, sagte er leise.

»Waren es nicht einmal dreizehn Stationen?«, fragte Dribana mit unschuldigem Gesichtsausdruck.

»Oh ja, es waren dreizehn.« Zevrons Miene verfinsterte sich. »Robina 10. Ein betrübliches Kapitel. Das haben wir alles diesen Multimorphen zu verdanken.«

»Was sind denn Multimorde?«

»Multimorphe. Formwandler. Der Abschaum der Galaxie.«

»Oh. Sind sie böse?«

Zevron ließ sich zu einem schiefen Grinsen hinreißen. »Sie sind anders. Veränderlich. Unberechenbar.«

Dribana sah den Protektor an, als erwarte sie ein bisschen mehr als Begründung.

»Sie haben die Station zerstört!«, antwortete Zevron. »Damals.«

»Mit Waffen?« Dribana besaß große, wunderschöne Augen.

»Weil sie da waren! Einfach da!«

Valent räusperte sich. »Entschuldigung, Protektor. Ich kenne die Geschichte ebenso wenig.«

Zevron knurrte erneut. »Die Multimorphen mussten unbedingt auf Robina 10 für ihre Rechte demonstrieren. In der Hauptsaison. Mitten in den Holoübertragungen der Yakuzz-Meisterschaften.«

»Wofür haben sie demonstriert?«, fragte Valent.

»Gleichstellung.« Zevron rotzte das Wort verächtlich hinaus.

Valent verbiss sich die Frage, ob die Multimorphen das nicht verdient hätten. »Was passierte dann?«, fragte er stattdessen.

»Sie tauchten mitten im Finale auf«, begann Zevron. »Stürmten in den Raum, zeigten Holo-Plakate. Es waren unglaublich viele. Der Sicherheitsdienst versuchte, das zu unterbinden. Dabei löste sich ein Schuss. Danach brach Panik aus. Am Ende explodierte die halbe Station. Es gab insgesamt 417 Tote. Alles deren Schuld!«

Manacor streckte sich ein wenig. Nun überragte er sogar Zevron.

Der Protektor räusperte sich. »Die Multimorphen wurden daraufhin vom Planetenrat verbannt. Meines Wissens fristen sie ein kärgliches Dasein in den äußeren Außenregionen. Irgendwo am Arsch der Galaxie. Zu Recht!«

»Ich hörte davon, dass die Multimorphen Tüftler und Erfinder waren«, sagte Manacor, der bislang geschwiegen hatte.

»Das hörte ich auch«, gab Zevron brummig zu. »Doch das gibt ihnen nicht das Recht …«

Dribana sah Zevron an, als erwarte sie weitere Details. Doch der Protektor schwieg. Er schaute über das Mädchen hinweg zu Manacor.

Der Betreuer hielt Zevrons Blick stand.

Sie hörten ein feines Klingeln.

»Das ist ein stiller Alarm. Valent, schauen Sie nach, was los ist.«

Valent ging in den Überwachungsraum zurück. Auf einem der Hologramme sah er den Zocker randalieren. Quarrl.

Sofort griff er zur Com-Verbindung.

»Protektor. Ich befürchte, das erfordert Ihre Anwesenheit.«

»Ich komme.«

Valent hörte das Stampfen schwerer Schritte auf der Galerie und die Stimme des Protektors. »Also, geht auf euer Zimmer, trinkt, habt Spaß, spielt und … verliert.«

Kurz darauf betrat Zevron den Raum. Er nickte in Richtung des Überwachungshologramms. »Was ist da los?«

»Dieser Zocker schreit und wirft mit Gegenständen. Zwei von der Sicherheit haben ihn in eine Ecke getrieben.«

»Hat er eine Waffe?«

Valent vergrößerte das Hologramm.

»Sieht nicht danach aus.«

Zevron schüttelte den Kopf. »Die sollen ihn festnehmen und rausschmeißen. Sofort! Seine Jetons werden einbehalten. Hat er die Kaution hinterlegt?«

Valent musste das nicht überprüfen. Ohne eine Kaution durfte kein Gast eine Robina-Station betreten. Er nickte dem Protektor zu.

»Wird ebenfalls einbehalten«, bestimmte Zevron. »Raus mit ihm. Er darf nie wieder eine unserer Stationen besuchen.«

»Sehr wohl, Protektor.« Valent erteilte der Sicherheit dementsprechende Instruktionen. Sie verfolgten es im Hologramm.

Die Sicherheitsleute zückten ihre Stromstöcke.

Quarrl lief davon. Er rannte Haken schlagend zwischen die Spieltische und erreichte die Galerie, ehe die schwerfälligen Beamten auch nur die ersten drei Tische umkurvt hatten.

Zevron knurrte wie ein derwanischer Reißwurm.

»Lassen Sie ihn laufen. Irgendwann wird er wieder hervorkommen. Dann fliegt er raus.«

Valent nickte nur. Er blickte wie gebannt auf die Überwachungshologramme.

Auf Flur 3 sahen sie, dass das Mädchen und sein Betreuer Zimmer Nummer 386 betraten.

»Sie reisen nicht ab?«, fragte Valent.

»Noch nicht.«

»Aber das Geld ist weg?«

»Ich mache mir keine Sorgen«, sagte Zevron. »Das Mädchen wird wieder spielen und verlieren. Hier ist noch nie jemand mit hundertzwei Millionen hinaus spaziert. Es ginge gar nicht. Spätestens beim Jetontausch würde der Alarm losgehen.«

»Wozu ein Alarm?«, fragte Valent. »Ein Gewinn ist ein Gewinn, oder nicht?«

»Bevor ein Gewinner einer so hohen Summe Robina verlassen könnte, würde das Konsortium ihm eine Beteiligung vorschlagen. Hundert Millionen gegen fünf Prozent der Anteile an Robina.«

»Ist das fair?«

»Gott bewahre. Natürlich nicht!«

Valent stutzte.

»Jede Station hat Rücklagen von hundertzehn Millionen Credits«, erklärte Zevron. »Es gibt zwölf Stationen. Zwölf mal fünf sind sechzig Prozent.«

»Aber über die Zeit? Es könnte immer wieder jemand so viel gewinnen«, gab Valent zu bedenken.

»Das Mädchen hatte extremes Glück. Bislang lag der Maximalgewinn bei acht Komma vier Millionen. Dabei gibt es die Stationen bereits seit vierzehn Standardjahren. Wir müssen also nichts befürchten.«

Valent blickte zu den Überwachungshologrammen hinüber.

Die Spielhalle war nahezu verwaist. Der Zocker war fort. Das Mädchen und sein Begleiter befanden sich auf dem Zimmer. Die Alte war … Valent ließ die Holo-Aufzeichnung des Check-outs rückwärts laufen. Bei der alten Dame hielt er die Aufnahme an.

Er vergrößerte das Hologramm. Über dem Auszahlungsautomaten sah er die Anzeige des von der Frau getauschten Geldwertes. Hundert Millionen Credits.

»Protektor? Das hier sollten Sie sehen!«

Fassungslos starrte Zevron auf die Projektion. »Wie konnte die Alte mit hundert Millionen durch den Check-out gelangen?«, stieß er hervor. »Normalerweise gibt es einen Alarm. Warum ging der Alarm nicht los?«.

»Wie geht das überhaupt? Das Mädchen gewinnt hundertzwei und die Alte geht mit hundert raus.«

Zevron fasste sich an die Stirn. »Die ganze Station verfügt lediglich über hundertzehn Millionen Rücklagen.«

Der große Mann wirkte zusehends kleiner. Sein Blick war erschöpft, müde.

»Zwei Millionen Differenz«, sagte Valent.

»Was?«, fragte Zevron, mit den Gedanken wohl weit entfernt.

»Zwei Millionen Differenz«, wiederholte Valent.

Zevron kniff die Augen zusammen. Überlegte.

»Die zwei Millionen, die die Alte dem Mädchen gegeben hat. Aber das hieße ja, dass die Alte ursprünglich auch hundertzwei Millionen besessen hätte.«

»Eben«, sagte Valent.

»Sie meinen, die haben die Jetons irgendwie übergeben? Die Alte hat die Station verlassen, bevor das Mädchen das Geld gewonnen hat. Wie soll das gehen?«

Valent zuckte mit den Schultern.

»Wo ist das Mädchen?«, wollte der Protektor wissen.

»Auf seinem Zimmer, nehme ich an.«

»Welches Zimmer hat es?«

Valent überprüfte die Liste. »386.«

»Zeigen Sie mir die Überwachung von Flur 3. Jetzt. Machen Sie, machen Sie!«

Flur 3 war leer.

»Lassen Sie die Aufzeichnung zurücklaufen.«

Valent tat wie befohlen. Erneut sahen sie, wie Dribana und Manacor gemeinsam das Zimmer betraten. Diesmal achtete Zevron auf ein wichtiges Detail. Manacor trug die Jetons!

»Sie haben sie noch!«

»Hatten«, verbesserte Valent.

»Danach kam keiner mehr raus. Das konnten wir eben sehen. Folglich sind sie noch drin und die Jetons mit ihnen.«

»Und doch hat die alte Dame …«

»Wir gehen da jetzt hin«, unterbrach Zevron ihn.

Der Protektor stürmte aus dem Zimmer. Valent eilte ihm hinterher.

»Ich will sie sehen«, erklärte Zevron, während er durch die Gänge hastete. »Ich will die Jetons sehen!«

Flur 3. Zimmer 386.

Sie standen vor der Tür. Zevron hämmerte dagegen. Gleichzeitig zog er seinen Masterkey aus der Brusttasche.

»Sir, wird den Spielern nicht beim Betreten der Station absolute Privatsphäre zugesichert?«

»Privatsphäre, papperlapapp! Nicht in dieser Situation!«, polterte Zevron. Die Türverriegelung öffnete sich. Der Protektor war mit einem Satz im Zimmer.

»Hallo, ist jemand da?«

Das Zimmer war leer.

»Niemand hier«, sagte Valent.

Zevron bedachte ihn mit einem genervten Blick. »Aber wo sind sie?«, fragte er. Gleichzeitig sah er im Bad nach, öffnete sämtliche Schränke. Das Mädchen und sein Betreuer waren verschwunden.

»Die Aufzeichnung zeigt, wie sie hineingehen, aber nicht, wie sie das Zimmer verlassen. Dennoch ist es leer. Können die sich unsichtbar machen?«

Zevron sah sich ein letztes Mal um.

»Zurück zum Überwachungsraum!«, befahl er und stürmte die Gänge entlang.

Valent folgte ihm. Als er den Überwachungsraum erreichte, machte sich Zevron bereits an der Aufzeichnung von Flur 3 zu schaffen. Er ließ die Aufzeichnung zurücklaufen.

Sie sahen im Hologramm, wie ein Mann das Zimmer betrat. Es war nicht Manacor.

»Wer ist das denn? Moment …«

»Quarrl, der Zocker!«

»Der eben randaliert hat? Da hat er sich versteckt? Das wird immer mysteriöser. Irgendwas ist hier faul, Valent!«

Zevron stoppte den schnellen Rücklauf der Holo-Aufzeichung von Flur 3.

»Wir müssen noch mal in das Zimmer. Drei gehen rein, keiner kommt raus. Es muss einen geheimen Ausgang geben. Die können sich nicht alle in Luft aufgelöst haben.«

»Ich würde die Aufzeichnung weiter zurücklaufen lassen. Wer weiß, wer da noch alles reingegangen ist?«

»Sie haben recht.« Zevron stierte auf die Aufzeichnung.

Die Tür von Zimmer 386 öffnete sich erneut.

»Da!«, rief er. »Die Alte! Ich werd’ verrückt. Die Alte verlässt das Zimmer. Wie kommt die in das Zimmer des Mädchens?«

Er stoppte das Hologramm.

Die alte Dame blieb mit einer Tasche in der Hand im Flur 3 stehen.

Zevron schloss die Augen.

»Die stecken alle unter einer Decke!«

»Sie sagten selbst, dass man Yakuzz nicht manipulieren kann. Selbst wenn sie sich ein Zimmer geteilt haben, was wäre dabei?«

»Sehen Sie das denn nicht? Das riecht förmlich nach Betrug. Da!« Zevron zeigte auf die Tasche der Alten. »Da sind die Jetons drin!«

»Sie hat sie eingelöst und mit dem Geld die Station verlassen.«

»Ja … ja …« Zevron schüttelte den Kopf. Dann drehte er die holografische Aufzeichnung abermals zurück. Es dauerte eine ganze Weile. Doch Zevron beschleunigte den Rücklauf nicht. Er wollte kein Detail verpassen.

Die Tür von Zimmer 386 öffnete sich erneut. Quarrl, Dribana und Manacor traten gemeinsam auf den Flur hinaus.

Zevron stoppte die Aufzeichnung und suchte Valents Blick.

»Protektor?«, fragte der.

»Was meinen Sie dazu?«

»Sie kommen raus. Das dürfte heute früh gewesen sein. Vor dem Spiel.«

»Aber…« Zevron verlor langsam die Geduld. »Sie kommen gemeinsam aus dem Zimmer.«

»Offensichtlich haben sie es sich geteilt. Die Zimmer sind hier nicht ganz billig.«

»Papperlapapp. Die vier Personen haben irgendwie zusammengearbeitet.«

»Das mag sein. Die Frage ist, ob sie betrogen haben. Und danach sieht es nicht aus.«

Zevron kochte.

Valent erwartete den Ausbruch des Protektors jede Sekunde. Doch der atmete dreimal tief ein und aus.

»Gut. Ich weiß nicht, wie sie es gemacht haben, aber Sie haben recht. Das Geld ist weg. Hundert Millionen Credits sind ein herber Verlust. Doch das Robina-Konsortium hat in Summe eins Komma drei Milliarden Rücklagen. Na ja, nun noch eins Komma zwei. Was wir heute verloren haben, werden die anderen Stationen auffangen.«

Zevrons Miene verfinsterte sich. Der Gedanke an das Konsortium führte ihm wohl vor Augen, dass er den Verlust verantworten musste. »Ich bin immer noch der Meinung, dass die vier irgendeinen Trick ausgeführt haben. Warnen Sie die anderen Stationen. Ich will nicht, dass …!«

Er verstummte.

Ein rot blinkendes Licht an der Nachrichtenkonsole zeugte von einer als Wichtig eingestuften Meldung.

Als Valent einen Blick auf das Display warf, erkannte er, dass es mehrere Meldungen waren.

»Sir!«

»Ja, was ist?«

»Wir bekommen gerade Warnungen von den anderen Robina-Stationen. Der Trick, er wurde dort ebenso …«

Zevron stieß ihn fort vom Display. Er las Meldung für Meldung. Wieder und wieder.

»Jede verdammte Station. Und zeitgleich … natürlich«, hauchte er.

Zevron war am Boden zerstört.

Valent sah es mit einiger Belustigung. Der große Protektor, geschlagen von einem kleinen Mädchen.

Das sagte Valent natürlich nicht.

Auch nicht, dass er während seiner nächtlichen Überstunden den Auszahlungsautomaten manipuliert und das Limit gelöscht hatte. So gab es keinen Alarm. Die alte Dame konnte unbehelligt mit dem Geld hinaus spazieren, sich in ihr Raumschiff setzen und die Station verlassen.

Das beste aber war: Es gab keinen Trick!

Man musste es einfach nur immer wieder versuchen.

Versuchen, verlieren, scheitern. Und zurückspringen. Es erneut versuchen.

Das Chronofact war der Schlüssel zu allem. Dass er den Zeitreiseapparat erfunden hatte, würde zum Segen für alle Multimorphen werden. Erst dieses kleine, unscheinbare Armband machte es möglich, seine Mission zeitgleich auf allen zwölf Robina-Stationen durchzuführen. So konnte keine Station die anderen warnen.

Mit Robina 8 war er fertig.

Er musste nur noch in den unbeobachteten Raum 202 gehen, sich in den Zocker Quarrl verwandeln und in der Zeit zurückspringen. Zum heutigen Nachmittag.

Quarrl würde in Zimmer 386 gehen und zum Mädchen Dribana werden … und zum Nachmittag zurückspringen … zum Betreuer Manacor … zurück … zur alten Dame Dermuda. Als Dermuda hatte er Robina 8 verlassen.

Hätte es – wie so oft zuvor – nicht funktioniert …

Dermuda wäre zurückgesprungen und hätte sich in Valent verwandelt.

Drei Tage zurück. Eine neu initiierte Schleife, ein neuer Versuch. Nur dann nahm das Chronofact den vorherigen Versuch zurück, tilgte ihn aus der Zeit, stellte seine Anwesenheit auf Robina 8 wieder auf null.

Eine lokale Beeinflussung der vom Chronofakt um die Station gelegten Zeitblase.

Alles würde in der Ausgangsposition sein, bereit für ein neues, gleiches, altes Spiel Yakuzz.

Zevron ahnte so wenig wie die anderen Protektoren, dass er – Valent – zugleich das Mädchen, Betreuer, Zocker und die alte Dame war.

Doch so stark das Hochgefühl des Erfolgs auch war, so sehr er es genoss, den jeweiligen Protektor an der Nase herumzuführen … Valent war froh, nur noch drei Stationen vor sich zu haben.

Auch auf Robina 9 würde er zuerst wieder zurück zu dem Zeitpunkt springen, der ihm drei Tage gab, um sein Spiel Yakuzz dort zu gewinnen. Valent würde sich wieder beim Protektor einschmeicheln, ihn dazu bringen, ihn als seinen Praktikanten einzustellen. Oder er würde irgendeinen anderen Job annehmen, der ihn an die Kontrollen gelangen lassen würde. Und in einer nächtlichen Überstunde …

Er wusste, er würde überall gewinnen.

Irgendwann.

Heute.

Nur der Tod ist sicher

Die Zeiten hatten sich geändert.

Herbert schaute auf sein Lebensindexkontrolldisplay an seinem Handgelenk – kurz Likod genannt – und sah eine 29,9. Er war sich sicher, vorhin dort noch eine 30,0 erblickt zu haben. Nicht einmal das Blinken, welches eine Veränderung ankündigte, hatte er bemerkt. Nun, ein Verlust von 0,1 erschien ihm nicht besorgniserregend. Manchmal hatte er sogar Nachkommastellen zurückgewonnen. Allerdings erinnerte er sich auch, ganze Ziffern vor dem Komma verloren zu haben, damals, bei seinem letzten Herzinfarkt.

Meistens tat sich wochenlang nichts im Display. Dennoch hatte er die Anzeige nahezu ständig im Blick. »Verdammtes schweres Ding!«, verfluchte Herbert leise den Likod und massierte dabei unbewusst seine schmerzende linke Schulter. »Verdammte neue Zeit!«

Wehmütig dachte Herbert Borgwald an die Jahre mit Barbara zurück. Er kniete mit gesenktem Haupt vor ihrem Grab. Dreimal hatte er seine Frau bereits umbetten lassen müssen. Die Friedhöfe schlossen reihenweise. Es wurde immer schwerer, eine auf Jahre sichere Ruhestätte zu finden. Es gab zu wenig Land und zu viele Menschen. Fast war es verständlich, dass die Toten den Lebenden nicht den Platz streitig machen sollten.

Schlimmer noch: Das Ansehen vor dem Alter sank! Einem Sechzigjährigen standen nur zwei Drittel des Raumes zu, die ein Dreißigjähriger für sich beanspruchen durfte. Barbara musste diese Entwicklung zum Glück nicht mehr miterleben. »Parasitäres Gesindel« hatte sie all jene genannt, die auf Kosten anderer lebten … Barbara war immer sehr direkt gewesen. Auch das hatte er an ihr geliebt.