Dem Tod geweiht - Gerald Hagemann - E-Book
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Dem Tod geweiht E-Book

Gerald Hagemann

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Beschreibung

Im südenglischen Badeort Brighton geht ein Serienmörder um. Davon ist nicht nur Detective Chief Inspector Dorothy Marley überzeugt. Auch die Klatschpresse hat den Killer zur Stärkung ihrer Auflagen für sich entdeckt. Zwei Frauen sind dem so genannten »Brighton-Würger« bereits zum Opfer gefallen: die wohlhabende Immobilienmaklerin Christine Gordon und eine alternde Gelegenheitsprostituierte namens Margaret Penhalligan. Beide wurden an öffentlichen Plätzen gefunden – erdrosselt und lediglich mit einem Paar Ringelsocken bekleidet. Wie die Ermittlungen ergeben, war ihnen ihr Tod zuvor schriftlich angekündigt worden – mit einem Kärtchen, wie es Pathologen an die Zehen von Leichen binden. Darauf ist sowohl die Todesart als auch der Zeitpunkt des Ablebens vermerkt. Für Dorothy Marley wird der Fall schon bald zur Bewährungsprobe für ihre Beförderung zum Superintendent. Immer wieder hat sie mit den Anfeindungen von Chief Inspector Peter Bloomfield zu kämpfen, ihres Konkurrenten um den Posten. Schließlich scheint die Situation zu eskalieren: Denn in derselben Nacht, als Dorothy zum Palace Pier gerufen wird, um eine weitere nackte Tote in Augenschein zu nehmen, hat auch ihr Bruder Robert, ein ebenso erfolgreicher wie unzufriedener Kriminalschriftsteller, eine Morddrohung erhalten ...

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Seitenzahl: 368

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Ähnliche


Gerald Hagemann

Dem Tod geweiht

Roman

Copyright der E-Book-Ausgabe © 2013 bei hey! publishing, München

Originalausgabe © 2007 bei Blanvalet / Wilhelm Goldmann Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Umschlaggestalltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-942822-29-9

Von Gerald Hagemann zuletzt bei hey! erschienen:

Mord bei Pooh Corner. Roman

www.heypublishing.com

In Erinnerung an Mama, die Königin Mutter

†2003

»Man muss die Tatsachen kennen, bevor man sie verdrehen kann.«

Mark Twain

Prolog

ERSTER TEIL

ZWEITER TEIL

DRITTER TEIL

VIERTER TEIL

Schlussbemerkung

Prolog

I

Leitartikel aus The Sun,

28. August 1983:

Höchststrafe im Fall Barnes

Heute um 14.00 Uhr fällte Lord Oberrichter Leonard Belloc im Londoner Schwurgericht Old Bailey das Urteil über den mutmaßlichen Frauenmörder Brian Barnes (23). Barnes war Ende letzten Jahres der brutalen Vergewaltigung und Ermordung der 20- jährigen Renee White aus Long Weldon, Suffolk, angeklagt und ins Londoner Untersuchungsgefängnis Pentonville überführt worden, wo er ein halbes Jahr auf seinen Prozess wartete (wir berichteten). Obgleich der Angeklagte nach wie vor seine Unschuld beteuert, spricht die Beweislast eindeutig eine andere Sprache. Nach nur zweistündiger Beratungszeit gelangten die Geschworenen zu einem einmütigen Urteil: »Schuldig im Sinne der Anklage«. Der Lord Oberrichter erklärte in seinem Schlusswort an den Angeklagten: »Sie sind von einer zwölfköpfigen Jury Ihrer Landsleute eines widerwärtigen Verbrechens für schuldig befunden worden, und ich darf sagen, dass ich an der Richtigkeit dieser Entscheidung keinerlei Zweifel habe.« Die Menschenmenge vor dem Gerichtsgebäude quittierte das Urteil der Jury (fünf Männer und sieben Frauen) mit Beifall und Jubelrufen. Barnes wird noch in dieser Woche von London ins Parkhurst-Gefängnis auf der Isle of Wight verlegt. R. Ρ D.

Artikel im Provinzblatt The Weldon & District Weekly News,

25. Juli 2000:

Mutmaßlicher Mörder aus Haft entlassen

Vor 18 Jahren ereignete sich in unserem Bezirk ein grausiges Verbrechen. Die meisten unserer Leser werden sich noch an die Einzelheiten erinnern: Das Opfer, die 20-jährige Tochter des Ehepaars White aus Long Weldon, war während eines Zeltlagers im Jahre 1982 geschändet und erdrosselt worden. Der mutmaßliche Täter, ein damals 22 Jahre alter Hilfsarbeiter in Evans' Sägewerk, wurde schnell ermittelt und zu einer Freiheitsstrafe von 25 Jahren verurteilt. Dieser Mann ist nun wieder auf freiem Fuß. Nach Angaben des örtlichen Constables kehrt er geläutert in seinen Heimatort zurück. Bürgermeister Billy Evans appelliert daher an die Bevölkerung, dem Straftäter bei der Integration ins normale Dorfleben keine Steine in den Weg zu legen. Des Weiteren kündigte er an, dem entlassenen Sträfling wieder einen Arbeitsplatz im Sägewerk zur Verfügung stellen zu wollen. Reverend Peter Cotton ließ gestern verlauten, dass er am kommenden Sonntag um 10.00 Uhr in der Gemeindekirche St. Michael's einen Willkommensgottesdienst abhalten wird. Bericht: Steven Andrews.

Kurzmeldung des Brighton Evening Argus,

Donnerstag, 27. Juli 2000:

Frauenmörder kehrt nach 18 Jahren in die Freiheit zurück

[Newport, Isle of Wight] Brian Β., vor 18 Jahren des Mordes an einer jungen Frau in Suffolk überführt, wurde am vergangenen Dienstag wegen guter Führung vorzeitig aus demΗ. M. P. Parkhurst entlassen. Während der letzten sieben Jahre hatte B. die Bibliothek der Haftanstalt geleitet und sich der Gefängnisleitung zufolge insbesondere durch vorbildliches Verhalten seinen Mitinsassen gegenüber ausgezeichnet. R. Ρ D.

II

Mittwoch, 26. Juli 2000, 22.50 Uhr.

Nach der Besuchszeit am Nachmittag hatte James entschieden, dass für ihn nun die Zeit gekommen sei zu gehen. Zeit, Abschied zu nehmen. Und als er den Computer jetzt ausschaltete, den Stuhl ordentlich unter den Schreibtisch schob und den Freizeitraum verließ, war er sehr zufrieden mit seiner Entscheidung. Sehr zufrieden und erleichtert.

Im ganzen Haus herrschte Stille, und auf dem Flur war keine Menschenseele zu sehen. Er zählte die Neonröhren an der Decke, während er den hellen Korridor entlang zum Treppenhaus ging, so wie er sie auch immer gezählt hatte, wenn er in die entgegengesetzte Richtung hinauf zu seinem Zimmer gegangen war: einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig … Zwei mehr als in der anderen Richtung, stellte er fest, als er bei der Tür anlangte. Sie war nicht verschlossen. Er stieß sie auf und trat ins Treppenhaus, wo ihm der Geruch von Bohnerwachs in die Nase stieg. Obwohl es auf allen Etagenfluren nach Bohnerwachs roch, war der Geruch hier noch einmal stärker; ein Geruch, den er mochte, der ihn an zu Hause erinnerte – an seine Mutter in ihrer Schürze, wie sie jeden Samstag auf den Knien den Boden schrubbte …, an Jenny, seine Schwester, und an den Tag vor achtzehn Jahren, als sie beide in den Schuppen hinter dem Haus gegangen waren, um das Seil zu holen … Mama hatte nicht lange leiden müssen, nicht annähernd so lange wie Daddy, vom Krebs zerfressen, nicht annähernd so lange wie er selbst. Ein heftiger Schlag auf den Kopf, das Seil am Treppengeländer festgezurrt. Ein Sturz, ein Ruck, dann war es vorbei. Sie strampelte nicht einmal.

Auf dem Weg zur Waschküche, einem riesigen weißen Raum im Keller, wo sich grün schimmernde Wäscheleinen wie Telegrafendrähte im Zickzack von einer Seite des Raumes zur anderen zogen, kam ihm niemand entgegen. James löschte alle Lichter hinter sich, als er eintrat, und schloss die Tür von innen ab.

Um an die Leine zu kommen, musste er auf einen wackligen Holzschemel steigen. Mit der rechten Hand löste er sie sehr schnell und geschickt von den beiden Haken, zwischen denen sie gespannt war, und legte sie zu einem doppelten Strang zusammen. Sein linker Arm machte ihm wie immer Schwierigkeiten, doch es gelang ihm schließlich, die beiden Enden der Wäscheleine zwischen Daumen und Zeigefinger einzuklemmen und einen Knoten hineinzuknüpfen. Er nahm die Leine noch einmal doppelt – vier Stränge würden sein Gewicht tragen, überlegte er –, formte eine Schlinge und band das andere Ende an einem Haken an der Wand fest. Dann stieg er wieder auf den Schemel, den er ganz nah an die Wand geschoben hatte, hielt die Schlinge mit den Fingern offen, schlüpfte mit dem Kopf hindurch und zog sie in seinem Nacken fest.

Er lauschte einen Moment lang, als er irgendwo in der Ferne ein Geräusch hörte. Schritte, eine Tür fiel schwer ins Schloss.

Die Stille kehrte zurück, und er stieß den Schemel beiseite. Seine Füße traten Luft. Ein krampfartiges Zucken durchlief seinen Körper – nur wenige Sekunden lang –, bis der Frieden kam.

Dann hing er still.

ERSTER TEIL

Die Briefe & der Tod

1

9. September 2000, 23.35 Uhr.

Das Fernsehbild flimmerte.

»Kein Schriftsteller lügt«, sagt Robert Marley. Er sitzt in einem bequem aussehenden roten Sessel mit hoher Lehne. Die Studiokulisse ist in Gelb gehalten, einer Farbe, die ihm zuwider ist. Sein Gesicht wird in Großaufnahme gezeigt, während er spricht. Streifen laufen über den Bildschirm. »Wir erzählen Geschichten, nichts weiter. Geschichten, die für uns in gewisser Weise die Wahrheit bedeuten.« Die Kamera schwenkt zu Edward Carson, seinem Interviewpartner.

»Sie schreiben über Verbrechen und sehen eine Wahrheit darin?« Carson setzt ein breites, einstudiertes Lächeln auf. Es ist ein hohles, desinteressiertes Lächeln – das Lächeln einer Maschine. Er spricht in die Kamera: »Ist das nicht beinahe ein Schuldeingeständnis?« Eine absichtliche Pause, gerade lange genug, um bemerkt zu werden. »Eine Frage zum Abschluss, Mr. Marley – was tun Sie, wenn Sie nicht gerade schreiben?«

Marley in Großaufnahme. »Ich schlafe, Mr. Carson«, sagt er ohne Zögern. Kameraschwenk zum Publikum, Applaus und die allmählich lauter werdende Musik des Abspanns. »Ich schlafe für immer.«

Robert Marley nahm die Fernbedienung vom Tisch und schaltete den Fernseher aus. Er hasste Auftritte vor großem Publikum. Carson & Co gehörten zu einer Welt, die er zutiefst verabscheute – einer unehrlichen Welt. Wenn er seine Geschichten schrieb, war er allein, und das war gut so. Der gesamte Schreibprozess war etwas sehr Persönliches. Es gab niemanden, der sie beide störte. Nur die Geschichte und der Autor. Es war eine Art Vertrag. Die Wichtigkeit von Lesungen und Promotionsveranstaltungen ließ sich nicht von der Hand weisen (beides war notwendig, wenn er wollte, dass die Leute seine Bücher kauften), doch lieben musste er die Publicity deshalb noch lange nicht.

Das Telefon läutete. Es war zwanzig vor zwölf.

Du lieber Gott, Mama, dachte er. Marley stand auf und ging ins Arbeitszimmer hinüber, wo das Telefon stand. Sicher hatte sie ihn in dieser verdammten Show gesehen und wollte ihm nun mitteilen, wie ungemein brillant er wieder gewesen war.

Er nahm den Hörer ab.

»Beeson & Beeson Bestattungen.« Er hatte es sich mittlerweile zur Gewohnheit gemacht, sich nach neun Uhr abends mit einem Fantasienamen zu melden. »Richard Beeson am Apparat. Was kann ich für Sie tun?«

»Du stirbst, du Schwein!«, flüsterte die Stimme am anderen Ende der Leitung.

Es war eine leise, sehr melodische Stimme, und einen grotesken Moment lang überlegte Marley, ob seine Mutter wohl in der Lage wäre, einen solchen Satz über die Lippen zu bringen. Er entschied sich dagegen.

»Was?«, war alles, was ihm als Antwort einfiel. Wäre er eine Frau gewesen, hätte er vermutlich zur Trillerpfeife gegriffen – ein Rezept gegen obszöne Anrufer. Er war sich nicht sicher, glaubte aber, seine Schwester Dorothy habe ihm einmal davon erzählt.

»Am 31.11. dieses Jahres«, sagte die Stimme. Dann knackte es in der Leitung. Ein lang gezogener Summton war zu hören.

Marley stand noch eine ganze Weile am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer, starrte den Hörer an und horchte auf den leisen, klagenden Summton, der in seinen Ohren beinahe wie schweres Atmen klang.

Dann legte er auf und wählte die Nummer seiner Schwester.

2

Die Luft war eisig und schneidend, und der auflandige Wind trug die sprühende Gischt als feinen Nebel bis weit auf die Promenade hinauf. Chief Inspector Dorothy Marley vermochte das Salz auf ihren Lippen zu schmecken, als sie atemlos die Stufen auf der Ostseite des hell erleuchteten Palace Piers zum Strand hinuntereilte und die wilden Böen ihren offenen Mantel aufblähten. Weiter unten brachen sich die meterhohen Wellen brüllend an den stählernen Stützpfeilern des Piers und rollten angriffslustig gegen die Steinbarrieren, ehe sie träge über den grobkörnigen Sand ins Meer zurückglitten. Als sie auf die Gruppe von geschäftig herumhuschenden Menschen zuschritt, die batteriebetriebene Lampen aufstellten und das ihr so vertraute gelbe Absperrband ausrollten, begann es zu nieseln. Es roch nach Schnee. Hatten die Leute vom Wetterdienst nicht einen milden, beinahe mediterranen Herbstabend versprochen, 15 Grad Celsius und trocken? Es war weiß Gott nicht das erste Mal, dass sie sich irrten.

Der Mord war der Sussex Constabulary vor weniger als 40 Minuten gemeldet worden. Ihr Department war schnell, das wusste sie; trotzdem überraschte sie die Gegenwart all der Beamten. Insgeheim rügte sie sich für ihre Verspätung. Sie hatte in der Wanne gelegen, Händel gehört und nach der Auseinandersetzung mit ihrer Kollegin Angela an alles andere als an ihren Job gedacht, als der Anruf sie erreichte.

»'n Abend, Chief«, hörte sie eine Stimme neben sich. Es war Ralph Cloud, ihr Sergeant und Schatten. Ralphie war ihr mächtig ans Herz gewachsen; sie fand ihn irgendwie niedlich in seiner tollpatschigen, jungenhaften Art. Dorothy nannte ihn manchmal Clouseau …

»Hi, Schatz«, sagte sie. Sie strich ihm im Vorbeigehen beiläufig übers Kinn.

Dorothy sah, dass Dr. Miliner, der Polizeiarzt, neben dem weißen, leblosen Bündel, dem all der Trubel galt, im feuchten Sand kniete. Er war ein großer, gertenschlanker Mann mit kurz geschorenen grauen Haaren, der die sechzig bereits überschritten hatte. Sie trat von hinten an ihn heran, berührte ihn leicht an der Schulter. »Hallo, Doktor. Die Kollegen von der Spurensicherung scheinen sich ja mächtig ins Zeug gelegt zu haben.« Sie ließ sich neben ihn sinken. »Was haben wir?«

»Weibliche Leiche«, sagte Miliner. »Zirka zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt.«

»Erdrosselt, wie die anderen beiden?«

»Erstickt. Keine Würgemale in diesem Fall.« Miliner deutete auf zwei leicht unterblutete Druckstellen im Gesicht der Toten. Er erhob sich. »Der Tod trat durch gewaltsames Verschließen von Mund und Nase ein; vor allerhöchstem ein bis zwei Stunden, würde ich sagen.«

»Starb sie hier?« Dorothy ließ ihre Blicke über den nackten Leichnam wandern. Lediglich die Füße steckten in Pumps. Die Brustwarzen der Leiche waren versteift, hellblondes Schamhaar kräuselte sich im Wind zwischen den gespreizten Beinen der Toten.

»Ihr Sergeant fand Schleifspuren.« Miliner entledigte sich umständlich seiner Gummihandschuhe. »So, wie es aussieht, wurde sie in einer öffentlichen Toilette getötet – keine fünfzig Meter von hier. Wie in den beiden vorherigen Fällen fand kurz vor oder kurz nach Eintritt des Todes Geschlechtsverkehr statt.«

»Spermaspuren, Doktor?«

»Keine. Nichts. Gar nichts.« Miliner warf die Handschuhe in seine schwarze, klobige Tasche. »Sie hat ihren gerechten Teil vom Leben noch nicht gehabt, nicht wahr?«

Dorothy schwieg. Warum, fragte sie sich, sprachen nur alle in Floskeln? Es war jedes Mal dasselbe, wenn ein junger Mensch starb. Was war denn schon der gerechte Teil vom Leben? Das Mädchen war schön. »Haben Sie ihr die Augen geschlossen, Dr. Miliner?«

»Nein. Sie waren geschlossen.«

»Hat ihr Mörder sie geschlossen? Kann man das sagen?«

»Ich fürchte, nein, Inspector.«

Dorothy stand ebenfalls auf. Heller Sand haftete an den Knien ihrer Hosenbeine. Ein toter Mensch sah sehr, sehr friedlich aus. Nichts in seinem Gesicht verriet, welche Schrecken und Ängste er in den letzten Minuten ausgestanden hatte. Leichen waren entspannt. Entspannt wie ein Körper nach dem Sex. Was hatte Dennis Nilsen, der Londoner Muswell-Hill-Mörder, bei seiner Festnahme gesagt? ›Die Leiche ist der schmutzige Teller, der vom Festmahl übrig bleibt.‹ War dies hier ein Festmahl gewesen? Sie wusste es nicht. Hatte der Mörder in diesem Fall beim Akt des Tötens Lust verspürt? Warum hatte er getötet? Und hatte er sich nachher die Hände gewaschen?

»Chief?« Es war Sergeant Cloud. Er sah ihr nicht in die Augen, sondern betrachtete ihren Mund. »Ich sollte Ihnen etwas zeigen.«

Es war eine öffentliche Toilette, wie jede andere in Brighton oder Hove. Allerdings war sie mit einer besonderen Haltevorrichtung für behinderte Personen ausgestattet worden. Chromfarbene Griffe befanden sich zu beiden Seiten der geräumigen Kabine. Der geflieste Boden war feucht. Es roch nach Urin und Desinfektionsmittel.

»Wer hat sie eigentlich gefunden?«, fragte Dorothy. Cloud konsultierte sein Notizbuch, obwohl er Fakten gewöhnlich immer im Kopf hatte. »Ein junger Kerl namens Roger Abony. Ein Stadtstreicher«, fügte er hinzu. »Dachte wohl erst, sie sei auf Drogen. Seiner Aussage zufolge hat er sich neben sie gesetzt und sie angesprochen, weil er hoffte, mit ihr liefe noch was.«

Sie nickte beinahe abwesend. »Was wollten Sie mir zeigen?«

»Sehen Sie das da?« Cloud wies auf zwei parallele schwarze Abriebspuren rechts und links vor der Toilettenschüssel. Ein Stück weiter im Gang waren noch mehr. Diese überschnitten sich jedoch und bildeten ein sternförmiges Muster. »Dr. Miliner sagt, es habe …« Cloud räusperte sich. »Es habe, nun ja, Verkehr stattgefunden.«

Der Spurensicherer Breckinridge mit seinem geheimnisvollen Tatortköfferchen hatte sicherlich jeden Winkel dieses Raumes bereits genauestens unter die Lupe genommen; da konnte es nicht schaden, wenn sie hier jetzt ebenfalls ein bisschen herumtrampelte und einstige Spuren verwischte.

Dorothy versuchte sich vorzustellen, wie der Mord verübt worden war. Der Täter musste sein Opfer zu Boden gezwungen haben. Vermutlich war er von hinten in sie eingedrungen. Aber was hatte er mit ihren Kleidern gemacht? Sie ins Meer geworfen? Bislang waren sie noch nicht gefunden worden.

»Cloud?« Sie ließ sich breitbeinig vor der Toilettenschüssel in die Hocke sinken.

»Ja, Sir?« Ihr Sergeant errötete im grellen Schein der Neonröhren. »… äh, entschuldigen Sie, Madam.«

»Kommen Sie her. Setzen Sie sich hinter mich. Na machen Sie schon.«

Auf Sergeant Clouds Stirn begann Schweiß zu perlen. »Ich weiß nicht recht, Chief«, sagte er.

»Setzen Sie sich hinter mich.« Sie beobachtete eine ganze Weile, wie Cloud sich zierte. Sie hörte sein verlegenes Räuspern, das ungeschickte Klappern seiner Schuhe auf den schlüpfrigen Fliesen. Dann verlor sie die Geduld: »Verdammt noch mal, Cloud! Tun Sie, was ich Ihnen sage! Setzen Sie sich hinter mich und legen Sie mir beide Hände auf den Mund.« Sie sah auf ihre Schuhspitzen. Obgleich sie flache Schuhe trug, stimmten die Abriebspuren mit der Position ihrer Schuhe überein. Um nicht nach vorn umzukippen, musste sie sich an den Chromgriffen festhalten, als sich der Sergeant hinter ihr niederließ und sein Gewicht ihren Körper nach vorne drückte. Ihre Füße glitten augenblicklich ab. Zwei dunkle Schlieren entstanden. Dorothy nickte nachdenklich.

»Okay!« Sie sprang so abrupt auf die Füße, dass Cloud das Gleichgewicht verlor und sich prompt auf den Hosenboden setzte. Sie drehte sich zu ihrem Sergeant um, der sich leise fluchend aufrappelte. Mit der rechten Schulter gegen die Wand gelehnt, meinte sie dann: »Wenn er sie in diese Position gezwungen hat, warum hat sie sich nicht gewehrt?« Sie blickte zu Boden, betrachtete die Schlieren, die sie hinterlassen hatte, und dann die Vielzahl der sich überlagernden Spuren. »Er muss ein verdammt gut aussehender Mann sein. Oder in gewisser Weise hilflos wirken. Ich denke, sie ging freiwillig mit ihm in diese Toilette. Sie hatten Geschlechtsverkehr. Als sie merkte, was wirklich gespielt wurde, strampelte sie um ihr Leben, aber da war es natürlich zu spät. Was denken Sie?«

Sergeant Cloud rauschte der Kopf. Nie war er Chief Inspector Marley körperlich dermaßen nahe gewesen. Seine Ohren schienen zu glühen.

»Ja«, sagte er blinzelnd. »Ja, genau das denke ich.« Dann beeilte er sich, hinaus in die schützende Dunkelheit zu kommen.

»Da oben muss es doch von Menschen nur so gewimmelt haben«, meinte Dorothy, als sie und Cloud über die Promenade zurück zum Fundort der Leiche gingen; vorbei an verrammelten Softeisständen und Crêpesbuden und den bei Tage so gemütlichen kleinen Cafés unter den Arkaden, die jetzt nach Geschäftsschluss kalt und abweisend wirkten. Wie der Mörder das tote Mädchen unbemerkt vierzig Meter weit von der Toilette bis zu den Stützpfeilern hatte schleppen können, war ihr ein Rätsel. Sie schaute nachdenklich zu den Lichtern des Piers hinauf.

»Wir haben den ganzen Zirkus absperren lassen«, sagte Cloud, der seinen Mantelkragen aufstellte und erfolglos mit den im Wind flatternden Enden seines Schals kämpfte, die ihm immer wieder ins Gesicht schlugen, während er gleichzeitig versuchte, mit Chief Inspector Marley Schritt zu halten. »Ein halbes Dutzend Kollegen nimmt die Aussagen der Leute auf. Da kann niemand runter, ehe er uns nicht seine Geschichte erzählt hat.«

Endlich erreichten sie die jahrhundertealte Eisenkonstruktion des Piers, wo es ein wenig windgeschützter war. An einem der Pfeiler blieben sie stehen. Neben ihnen bereiteten zwei Constables den Leichnam der unbekannten Toten für den Abtransport vor. Über ihnen war das hämische Kreischen der Lachmöwen zu hören.

»Angenommen, Sie wären der Mörder des Mädchens, Cloud.« Dorothy strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Was hätten Sie nach der Tat mit der Leiche gemacht?«

Der Sergeant musste nicht lange überlegen. »Sie liegen gelassen natürlich. Viel zu riskant, sie von dort wegzubringen.«

»Ja, das sehe ich genauso. Aber aus irgendeinem Grund hat er das Risiko trotzdem in Kauf genommen. Warum?«

»Möglicherweise wollte er einfach sichergehen, dass sie gleich gefunden wird.« Cloud zog die Schultern hoch. »Keine Ahnung. Was schließen Sie denn daraus?«

»Ich möchte wissen, ob er es nicht vielleicht sogar darauf anlegte …« Dorothy brach ab. Sie erkannte den stämmigen Mann im Regenmantel bereits von weitem. Selbstbewusst wie immer kam er mit weit ausgreifenden Schritten auf sie zu, den rechten Arm zum Gruß erhoben. Richard Parsons Dadd, der verdammte Reporter vom Evening Argus. Einen Meter vor ihnen blieb er stehen.

»Sergeant.« Ein kurzes Nicken in Clouds Richtung. Die Hände in den Hosentaschen, lächelte er Dorothy an. »Hallo, Miss Marley«

»Chief Inspector Marley« Sie gab sich spröde – wie immer, wenn sie ihn traf. Zugegeben, er sah nicht schlecht aus.

Dunkles Haar, blaue Augen, energisches Kinn, und er war kräftig gebaut. Doch sie konnte es einfach nicht ausstehen, wenn sich jemand für unwiderstehlich hielt. Und dieses Fräulein-Getue mochte sie schon gar nicht. »Sie haben hier nichts zu suchen, Richard. Ich muss Sie bitten …«

»Ach Gott, Dorothy, nun seien Sie doch nicht so. Ich mache doch auch bloß meine Arbeit.« Sein Lächeln verschwand, und mit betroffener Miene sah er den Beamten dabei zu, wie sie den schmalen Körper behutsam auf eine Bahre legten und mit schwarzem Gummituch bedeckten. Dann wurde die Leiche mittels zweier elastischer Gurte fixiert. »Sie ist noch so furchtbar jung.«

»Fast noch ein Mädchen«, sagte Dorothy leise und schaute ihm in die Augen. Sie waren von einem klaren, wässrigen Blau. Unweigerlich musste sie an ihre erste Begegnung vor einem Dreivierteljahr beim Wohltätigkeitsball im Rathaus denken. Dadd hatte sie aus den Klauen eines langweiligen, aufgeblasenen Anwalts gerettet, indem er sich frech als ihr Verlobter ausgegeben hatte. Der Abend war geradezu traumhaft verlaufen. Sie war einem Menschen begegnet, der auf den ersten Blick ihrer kindlichen Vorstellung von einem perfekten Lebenspartner entsprach: gut aussehend, weltoffen, humorvoll. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre noch am selben Abend mit ihm ins Bett gegangen. Bis … ja, bis er ihr eröffnet hatte, dass er als Polizeireporter für die Sun tätig gewesen war, ehe er London den Rücken gekehrt und seine neue Stelle als Chefredakteur beim Brighton Argus angetreten hatte. Mehr war nicht nötig gewesen, um die Seifenblase zerplatzen zu lassen. Tägliche Observation durch die Klatschpresse war das Letzte, was sie in ihrem Job gebrauchen konnte. Damit standen sie automatisch auf verschiedenen Seiten. Sie konnte sich noch sehr genau an seine Reaktion erinnern – oder besser an den Mangel von Reaktion. Denn er hatte ihr einfach nur nachgeblickt, als sie ihm unvermittelt ihr Sektglas in die Hand gedrückt und ihn mitten im Saal stehen gelassen hatte. Stumm und etwas irritiert, mit diesen wässrig blauen Augen …

»Hören Sie mich? DO-RO-THY!« Die Worte drangen erst allmählich zu ihr durch, wie ein weit entferntes Horn in dichtem Nebel. »Ja, was?« Verwirrt schüttelte sie die Gedanken ab und straffte sich. Offenbar hatte sie ihn die ganze Zeit über angestarrt.

Dadd musste ein Grinsen unterdrücken. »Ich sagte: Wir haben es also mit einem weiteren Opfer des Würgers zu tun.«

Mit zusammengekniffenen Augen funkelte sie ihn an. »Wir?« Was bildete er sich bloß ein?

»Habe ich nun recht oder nicht?«

»Gewisse Anzeichen sprechen dafür, dass es sich um denselben Täter handelt. Ja.« Ihr Tonfall war eisig, als sie fortfuhr: »Sicher ist das allerdings nicht. Und ich habe keine Lust, morgen den Argus aufzuschlagen und panikmachende Mutmaßungen darin zu finden, Richard. Haben Sie mich verstanden?«

»Es würde mir wesentlich leichter fallen, wenn Sie mal mit mir essen gingen.«

Cloud beäugte Dadd voller Misstrauen. So attraktive Männer waren ihm nicht geheuer. Erst recht nicht, wenn sie ganz offensichtlich versuchten, sich an Chief Inspector Marley heranzumachen. Und seine Stimme klang vielleicht eine Spur zu aggressiv, als er sagte: »Ich denke, Sie gehen jetzt besser, Mr. Dadd.«

»Schon gut, Sergeant.« Beruhigend legte Dorothy ihm die Hand auf den Arm. »Mr. Dadd ist uns stets eine große Hilfe gewesen. Und ich schätze, er ist ganz versessen darauf, Ihnen zu erzählen, wie er die letzten vierundzwanzig Stunden verbracht hat.« Damit wandte sie sich um und ging lächelnd durch den knirschenden Sand davon, während die beiden Männer ihr verdutzt nachschauten und eine Ladung Vogelkot auf Sergeant Clouds Schulterpolster niederprasselte.

In den Streben über ihnen lachten kreischend die Möwen.

3

Emily Boyd warf ihre rabenschwarze Lockenpracht in einer letzten rhythmischen Abwärtsbewegung zurück, hielt ein paar Sekunden inne und machte dann mit sanfter Gewalt die Hände los, die ihr Gesäß noch immer umklammerten. Sie glitt von seinen Hüften herunter und ließ sich seufzend neben ihn aufs Bett rollen.

Er lag völlig entspannt da. Schweigend, wie immer – den Blick starr zur Decke gewandt, ohne zu blinzeln, so, als sei er beim Vollzug des Aktes gestorben. Nur sein Atem verriet, dass er noch lebte.

Mechanisch streifte Emily die geringelten blauen Socken ab, die er jedes Mal mitbrachte. Ein Fetisch, dessen Bedeutung ihr über all die Jahre verborgen geblieben war.

»Renee?« Mit geschlossenen Augen drehte er sich zu ihr um.

»Ja, mein Schatz?« Emily verstand ihr Handwerk.

»Du brauchst keine Angst mehr zu haben.« Die Augen nach wie vor geschlossen, streckte er die Hand nach ihren Brüsten aus, fuhr mit seinen Fingern sanft die köstlichen Rundungen entlang. Dann, plötzlich, schlug er die Augen auf, lächelte, als er sich über sie beugte und liebevoll ihren Nabel küsste. »Er kann dir nichts anhaben, Liebling, solange ich bei dir bin.«

Er kam seit vielen Jahren zwei- bis dreimal die Woche zu ihr, und ihr Zusammensein glich mittlerweile so sehr einem Ritual, dass Emily seine ersten Tränen bereits spüren konnte, noch ehe sie auf ihren Bauch fielen oder sein leises Schluchzen an ihre Ohren drang.

»Er kann dir nichts anhaben«, wiederholte er.

»Schon gut«, sagte Emily »Es ist schon gut.« Sie schob ihren rechten Arm unter seinen Nacken, umarmte und drückte ihn zwischen den Kissen. »Er kann mir nichts anhaben.« Sie sah ihn an, die Lippen leicht geöffnet. Er tat ihr so entsetzlich leid. Sie war selbst den Tränen nahe, als sie ihm zuflüsterte: »Ich liebe dich, Pete. Ich habe dich immer geliebt.«

Sein Brustkorb bebte. Und dann begann er zu weinen, laut und hemmungslos wie ein Kind.

4

Das Polizeihauptquartier in der John Street glich selbst zu solch vorgerückter Stunde noch einem Wespennest. Es schien, als hätten sich in dieser Nacht sämtliche Polizisten der Brighton Division im Erdgeschoss des Gebäudes versammelt, um zu einer Art Staffellauf anzutreten.

Als Dorothy gegen Viertel nach eins die Vorhalle betrat, war Inspector Lawrence gerade auf dem Weg nach Hause oder hinaus in den nächtlichen Krieg. Mit einem mechanischen Nicken eilte er an ihr vorbei zur Tür, einen Stapel Akten unter dem rechten Arm. Vier oder fünf Constables in Uniform erhielten von einer ebenfalls uniformierten Kollegin Dienstanweisungen – die üblichen, ungeliebten Aufgaben, mutmaßte Dorothy: randalierende Club- und Discobesucher in ihre Schranken weisen, Obdachlose aus Bankvorräumen vertreiben und natürlich auch immer ein Auge auf die Prostituierten haben, die ihrem Gewerbe unter freiem Himmel in den verdreckten Seitengassen der Altstadt nachgingen. Während der letzten anderthalb Jahre hatte sich Dorothy besonders um Letztere bemüht. Hatte versucht, ihre Kollegen davon zu überzeugen, dass es widersinnig war, die Frauen festzunehmen und vor den Magistrate's Court zu schleifen, wo sie der Richter mit einer Geldbuße belegen und anschließend erneut in die Nacht hinausschicken würde. Doch niemand schien sich Gedanken darüber zu machen, wie viele weitere Freier vonnöten waren, um das Bußgeld aufzubringen.

Sie ging an den blinkenden Pfeilen der Aufzüge vorbei zum Treppenhaus. Dorothy konnte Fahrstühle nicht ausstehen, seit sie als Kind einmal über mehrere Stunden hinweg in einem gefangen gewesen war.

Im zweiten Stock stieß sie die doppelte Glastür auf und marschierte zügig den schmucklosen Flur hinunter, an dessen Ende sich ihr Büro befand.

Es war spät. Ihre Augen waren gerötet und brannten. Sie war müde. Doch es half nichts. Denn wenn sie den Würger, der seit gut anderthalb Monaten die Stadt mit seinen Briefen und Morden in Angst und Schrecken versetzte, wirklich dingfest machen und sich im Wettstreit um den Posten des Superintendents gegen Chief Inspector Bloomfield behaupten wollte, musste sie die Augen offen halten; Tag und Nacht. Nicht, dass ihr an einer Beförderung sonderlich viel lag. Im Grunde wollte sie lediglich mit allen Mitteln verhindern, dass dieser Choleriker die Stelle bekam. Sollte Bloomfield, der eigentlich aus London stammte (und nach ihrem Dafürhalten auch besser dort geblieben wäre), tatsächlich das CID übernehmen, dann Gnade ihnen Gott. Der Mann war die personifizierte Frauenfeindlichkeit. Da konnte man die Kriminalabteilung auch gleich einem wütenden Ajatollah unterstellen.

Das kleine Büro, das sie sich mit ihrem Sergeant teilte, war finster und stickig. Dorothy ließ die Tür angelehnt, nachdem sie eingetreten war. Sie vermied es, das grelle Deckenlicht einzuschalten, knipste stattdessen die Lampe auf ihrer Seite des Schreibtisches an, ging dann zum Fenster hinüber und öffnete das Oberlicht.

Sie blieb am Fenster stehen, starrte in die Nacht hinaus und auf die William Street hinunter. Ihr Gesicht, das sich geisterhaft durchsichtig in der Scheibe spiegelte, zeugte von zu wenig Schlaf und zu viel Sorgen.

Farblos war das Wort, das Dorothy als Erstes in den Sinn kam, als sie ihr transparentes Spiegelbild bemerkte. Derselbe Gedanke war ihr durch den Kopf gegangen, als sie sich heute Abend im Spiegel betrachtet hatte. Farblos.

Ihr Haar war glatt und rötlich, nicht rot; die Farbe ihrer Augen grünlich, nicht grün. Je länger sie sich betrachtet hatte, umso mehr war sie sich vorgekommen wie ein verwässertes Aquarell, bei dem lediglich die Proportionen stimmten.

Sie zwang sich, das Geisterbild zu ignorieren, richtete ihren Blick auf einen Punkt jenseits der Scheibe. In der Ferne konnte sie die schlafenden Victoria Gardens erkennen und weiter südlich die Lichter des Royal Pavilion mit seinen orientalischen Zwiebeltürmchen. Der vor mehr als anderthalb Jahrhunderten im Auftrag des exzentrischen König George IV erbaute Palast war heutzutage eines der bedeutendsten Wahrzeichen der Stadt. Der alte George, im Volksmund auch »der geschmacklose Prinny« genannt, hatte seiner merkwürdigen Ideen wegen bei zeitgenössischen Gegnern und Feinden als verrückt und gefährlich gegolten. Doch war er wirklich verrückt gewesen?

Verrückt und gefährlich.

Was hieß es denn, verrückt zu sein, fragte sie sich. Konnte jemand verrückt sein und Schönes damit erschaffen? Soweit sie sich erinnerte, hatte S.T. Coleridge den Bau als »Lustschloss« bezeichnet, »stolz und kuppelschwer …«

Verrückt und gefährlich – dieselben Adjektive, mit denen sie eher den Würger von Brighton beschrieben hätte.

Verrückt und gefährlich.

Dorothy seufzte. Übermüdet stieß sie sich von der Fensterbank ab.

Völlig ausgelaugt sank sie auf den Stuhl am Schreibtisch. Sah man von dem kurzen Entspannungsbad am Abend ab, hatte sie sich seit fast achtundvierzig Stunden keine Erholung mehr gegönnt. Dorothy versuchte, sich zu sammeln, sich auf etwas anderes als das übermächtige Verlangen ihres Körpers nach Schlaf zu konzentrieren, und für eine Weile war ihr Geist so leer wie die zerdrückte Packung Digestives-Kekse auf dem Platz ihres Sergeants. Eine Zeitlang betrachtete sie das heillose Durcheinander aus gestapelten Aktenmappen und Fotos. Alles in ihrem Blickfeld erschien ihr mit einem Mal riesenhaft vergrößert und doch gleichzeitig meilenweit entfernt zu sein. Sie registrierte jeden Krümel, jedes noch so winzige Staubkorn, die Spinnweben – dort, wo ihre Tischplatten sich berührten –, bemerkte den halben Marsriegel, den Cloud liegen gelassen hatte; angebissen vor Tagen, Wochen, Monaten …

Erst als sie den Druck des Bleistiftspitzers spürte, dessen scharfe Kanten sich schmerzhaft in ihre Stirn bohrten, stellte Dorothy fest, dass sie eingenickt war. Ruckartig richtete sie sich auf, schlug sich in rascher Folge ein paar Mal mit der flachen Hand ins Gesicht. Sie musste sich verdammt-noch-mal zwingen, an den Fall zu denken: die Briefe, die toten Frauen.

All das nagte an ihr wie eine schlimme, bislang unbekannte Krankheit, die einen von Tag zu Tag mehr und mehr auszehrte, einen allmählich auffraß, ohne dass man den Grund dafür kannte. Da waren die Symptome, die Schmerzen … Deren Ursache zu finden war zunächst Dorothys dringlichste Aufgabe.

Mit einer Stimme am Telefon hatte alles begonnen.

Anonyme Anrufe bei alleinstehenden Frauen waren keine Seltenheit – wohl eher die Regel. Irgendwo gab es immer eine Handvoll Spinner, die sich an der Angst und dem Entsetzen anderer aufgeilten. Handfeste Drohungen dagegen waren wesentlich seltener. Die wirklich explizite Ankündigung eines Mordes aber hatte es in Brighton noch nie zuvor gegeben.

Eine verstörte alte Dame aus Portslade-by-the-Sea, die dort einen kleinen Zeitschriftenladen führte, hatte Ende Juli um Polizeischutz ersucht, da sie ihrer Aussage zufolge Morddrohungen erhalten habe. Superintendent Bless hatte daraufhin eine Polizistin nach Portslade geschickt, um sie zu beruhigen. (»Sagen Sie der alten Schachtel, sie soll sich keine Sorgen machen. Wahrscheinlich fehlen ihr bloß die Enkel.«) Arbeit an der Bevölkerung nannte er das. Sein Motto lautete: Gib ihnen das Gefühl, wir seien ausschließlich für sie da, und alles ist in bester Ordnung.

Aber es war nicht alles in bester Ordnung – ganz und gar nicht. Denn innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatte sich die Zahl derjenigen, denen ihr baldiges Ableben telefonisch angekündigt worden war, auf 56 erhöht. Und Bless war nicht mehr in der Lage gewesen, jedem Einzelnen einen Constable zu schicken. Seither war kein Tag vergangen, an dem niemand einen solchen Anruf gemeldet hätte. Gegenwärtig stand die Zahl der belästigten Personen irgendwo bei 350. Damit nicht genug: Nacheinander (davon ging Dorothy zumindest aus) war einigen von ihnen, wie zur Bestätigung, mit der Post ein großer brauner Briefumschlag zugestellt worden. Darin hatte sich jedes Mal ein rechteckiges, auf einer Seite abgerundetes Kärtchen befunden – ein Kärtchen aus dünnem Karton, wie es Pathologen gewöhnlich an die Zehen gewaltsam Verstorbener banden –, und darauf waren in altmodischer Maschinenschrift sowohl die Todesart als auch Ort und Zeitpunkt des Ablebens vermerkt.

Dann war der erste Mord geschehen.

Dorothy zog eine der blauen Mappen aus dem Stapel vor sich und klappte den Pappdeckel auf. Die Akte enthielt neben diversen Fotos vom Tatort und dem Bericht des Coroners auch einen Lageplan vom Fundort der Leiche im Stadtpark The Level. Die Tatsache, dass die Tote in einem Gebüsch unweit der einzigen öffentlichen Toilette des Parks gefunden worden war, entging Dorothy nicht. Ein verliebt herumturtelndes Pärchen hatte den nackten Leichnam rein zufällig entdeckt. Das Opfer war lediglich mit einem Paar Socken bekleidet gewesen.

Dorothy überflog den Bericht des Polizeiarztes: Vergewaltigt und erdrosselt, hatte Miliner geschrieben. Keine Spermaspuren. Seiner Ansicht nach hatte der Mörder vermutlich ein Kondom benutzt. Sie blätterte weiter. Name: Christine Gordon. Alter: 43. Beruf: Immobilienmaklerin. Familienstand: geschieden.

Sie hob eines der Fotos auf. Es zeigte den Leichnam Christine Gordons, wie er zwischen den abgestorbenen braunen Büschen lag – die Arme parallel zum Körper, das linke Bein ausgestreckt, das rechte über einem Ast angewinkelt. Ihr Kopf war zurückgefallen; die Augen geschlossen, ihr Mund leicht geöffnet, so, als sei sie während eines Picknicks einfach eingenickt.

Dorothy selbst hatte sich um das Umfeld der Toten gekümmert, ihren in Arundel lebenden Eltern die schreckliche Nachricht überbracht, den Exmann, Geschäftsfreunde und Kunden befragt, während Mrs. Gordons Apartment in der Queens Road von Cloud unter die Lupe genommen worden war. Dort hatte der Sergeant auch den großen braunen Umschlag auf dem Schreibtisch beim Computer gefunden; aufgerissen, und daneben jenes Kärtchen aus dünnem Karton: Verstorben am: 12. August 2000. Geschätzter Todeszeitpunkt: 22 Uhr 30. Todesursache: Erdrosseln. Die Frau war sehr wohlhabend gewesen, hatte keine Feinde gehabt …

Nur eine Woche später hatten sie Margaret Penhalligan, eine Prostituierte von 48 Jahren, in einer verschlossenen Kabine der Damentoilette im Pub The Druid's Head entdeckt. Der Inhaber war zur Sperrstunde auf die Leiche gestoßen. Wie Mrs. Gordon war sie bis auf ein Paar Socken unbekleidet gewesen. Dr. Miliner hatte auch diese Leiche untersucht: Erdrosselt, vergewaltigt, keine Spuren von Sperma. Sie hatte allein in ihrer winzigen Zweizimmerwohnung in der Old Shoreham Road gelebt, und einer Nachbarin zufolge waren ihre Eltern Vorjahren bei einem Eisenbahnunglück ums Leben gekommen. (»Von ihrer Sippe is' keiner mehr da, um sie zu begraben. Alle selbst schon unter der Erde.«) Freunde? Ein Mann? (»Männer! Ja! Früher jede Menge. Hat rumgehurt wie 'ne rollige Katze. Aber Freunde? War ja immer nur für sich, seit sie diesen Internetanschluss hatte. Außer wenn sie sich mal wieder die Kante gab und einen von diesen abgerissenen Typen aus dem Pub anschleppte. In letzter Zeit wurden's allerdings weniger. Aber man soll nichts Schlechtes sagen über die Toten, was?«) Eine ledige Frau ohne Verwandtschaft oder engere Freunde. Eine Frau, die niemand vermissen würde – bis auf ihre männliche Kundschaft natürlich.

Und in der Wohnung der Toten ein weiterer brauner Umschlag mit einem weiteren dünnen Pappkärtchen. Auch Mrs. Penhalligan war ihr Tod im Voraus angekündigt worden. Merkwürdig nur, dass sich keine der beiden Frauen an die Polizei gewandt hatte. Ihre Namen standen definitiv nicht auf der stetig wachsenden Liste.

Der Killer schien jedes Mal äußerst umsichtig vorgegangen zu sein, denn die kriminaltechnischen Untersuchungen hatten rein gar nichts ergeben. Kein Speichel, kein Sperma. Da wäre es beinahe ein Wunder gewesen, hätte er seine Fingerabdrücke auf den Umschlägen hinterlassen. Stockley Breckinridge hatte sie in seinem Labor alle untersucht. Sie waren mit der Post gekommen und natürlich mit Abdrücken nur so übersät; darunter die der Empfänger. Die meisten anderen stammten höchstwahrscheinlich von Postangestellten, einige vermutlich aus dem Geschäft, wo der Umschlag gekauft worden war. Wie Breckinridge Dorothy erklärt hatte, wäre es reine Zeitverschwendung, jeden einzelnen Fingerabdruck einer bestimmten Person zuordnen zu wollen. Wonach er suchte, waren Übereinstimmungen. Den Abdruck nämlich, der sich auf mehr als einem Umschlag fand und der zwangsläufig dem Absender gehören müsste. Diese Übereinstimmungen gab es aber nicht. Zu guter Letzt hatte Breckinridge die Briefmarken abgelöst und sie auf verwertbare Speichelreste getestet – leider ebenso erfolglos.

Welche Motivation mochte wohl hinter den scheußlichen Taten des Würgers stecken? Anrufe und Briefe. Vergewaltigung und Mord. Verrückt und … gefährlich.

Das sind nur die Symptome, Dorothy, dachte sie wieder, während sie sich zwei Fotos ansah, die die leere Damentoilette des Druid's Head zeigten; aufgenommen, nachdem die Leiche fortgebracht worden war. Du musst die Ursache finden.

Verrückt und gefährlich?

Es klopfte an der Tür.

»Ja?« Sie ließ die Fotos sinken und wandte sich um.

Es war Constable Rowan Bellowes, der seinen blonden Wuschelkopf ins Zimmer steckte. Er hielt einen dampfenden Pappbecher in der rechten Hand. »Ich hab noch Licht in Ihrem Büro gesehen, Chief Inspector, und ich dachte, Sie könnten vielleicht einen Kaffee vertragen.«

»Oh, Sie sind ein Engel.« Dankbar nahm Dorothy den Becher entgegen. »Gibt's was Neues?«

»Ein, zwei Dinge, nichts Weltbewegendes«, meinte Bellowes. »Der Chef war ziemlich schlechter Laune wegen seines Termins in Lewes.« Das war Bless eigentlich immer, wenn ihn der Chief Constable für eine außerordentliche Besprechung herbeizitierte.»Unser ›Herrgott‹« … Damit war zweifellos Bloomfield gemeint. »… hat die ganze Etage verrückt gemacht, weil er seine Schlüssel suchte. Na ja, und Sie haben mal wieder ein Strafmandat wegen Falschparkens erhalten.« Er grinste über das ganze Gesicht. »Das dritte diese Woche. Ich hab's Ihnen auf den Schreibtisch gelegt. Außerdem soll ich Ihnen von Dr. Miliner ausrichten, dass er im Leichenschauhaus auf Sie wartet.«

»Jetzt?« Sie sah auf die Uhr. Es war gleich zwei.

Constable Bellowes breitete unschuldig die Arme aus. »Er meinte, es sei vielleicht wichtig. Sagte, Sie könnten hinkommen, wenn Sie wollen. Er wäre sowieso die halbe Nacht dort. Ach – und Ihr Bruder hat angerufen.«

Sehr schön, dachte Dorothy, die nicht daran zweifelte, dass das wirkliche Leben in Roberts Elfenbeinturm Einzug gehalten hatte. Robert konnte allerdings – im Gegensatz zu Dr. Miliner – bis morgen warten. Sie würde ihn sicherlich im Jury's Out treffen, wo er, seiner versponnenen Künstlernatur gemäß, ohnehin jeden Nachmittag eine Schaffenspause einlegte.

Dorothy trank ihren Kaffee aus und warf den zerknüllten Pappbecher achtlos in den überquellenden Papierkorb. »Besser, ich fahre gleich hin.« Sie schob den Stuhl zurück. »Übrigens – nochmals danke für den Kaffee.« Und im Weggehen drückte sie dem Constable einen Kuss auf die Wange.

Mit dem Wagen waren es nur etwa fünf Minuten bis zum Krankenhaus. Dorothy parkte ihren Vauxhall Corsa so nah wie möglich am beleuchteten Eingang der Notaufnahme, denn um diese Zeit konnte man gar nicht vorsichtig genug sein. Auch ohne den Würger war Brighton nachts nicht ungefährlich. (Verrückt und gefährlich.) Zu viele zwielichtige Gestalten trieben sich gerade in der Nähe von Krankenhäusern oder auf verlassenen Parkplätzen herum.

Es war keine wirkliche Angst, die sie verspürte, als sie nun ausstieg, den Wagen abschloss und die knapp zehn Meter bis zu den elektrischen Schiebetüren der Anmeldung zurücklegte. Nur dieses unbestimmte Gefühl von Unbehagen, das stets von ihr Besitz ergriff, wenn sie bei Dunkelheit auf sich allein gestellt war. Zwar verfügte Dorothy über ausreichende Erfahrung in Selbstverteidigung, bezweifelte jedoch, dass sie ihr jetzt – übermüdet, wie sie war – gegen einen potenziellen Angreifer noch von sonderlich großem Nutzen wäre.

Zweimal betätigte sie den Knopf der Nachtglocke. Wartete, während hinter ihr in den Büschen, die den menschenleeren Parkplatz umstanden, vernehmlich der Wind rauschte. Sie blickte über die Schulter zurück. Dann knackte es in der Gegensprechanlage, und der erlösende Signalton des Türöffners erscholl.

Dorothy musste sich ihre Erleichterung eingestehen, als die Milchglastüren (nach einer Ewigkeit, wie es ihr vorkam) endlich surrend auseinanderglitten und sie in die warme, beruhigende Luft der Notaufnahme trat. Zielstrebig, und vor lauter Übermüdung beinahe wie automatisiert, marschierte sie die grell erleuchteten, scheinbar endlosen Korridore entlang, bis sie schließlich an eine schwere Feuerschutztür mit der Aufschrift PATHOLOGIE gelangte, wo sie die Treppen nach unten nahm. Nach weiteren drei oder vier Minuten fand sie sich in den kargen, gekachelten Hallen von Dr. Miliners kühlem Reich wieder.

»Ah! Inspector Marley.« Miliner hob zur Begrüßung die Hand.

Dorothy kannte ihn seit vielen Jahren. Bei ihrem Eintreten hatte er auf einem dreibeinigen Hocker neben dem mittleren der fünf Edelstahltische gesessen, an denen er tagtäglich seine Obduktionen vornahm. Ein weißes Laken bedeckte den Leichnam darauf. Die übrigen Sektionstische waren leer, glänzten poliert im Neonlicht.

Der Pathologe legte das Diktiergerät, in das er seine Befunde gesprochen hatte, beiseite und erhob sich ächzend. Strahlend machte er ein paar Schritte auf Dorothy zu; sichtlich erfreut, einem lebendigen Menschen zu begegnen. »Wie schön, dass Sie noch kommen konnten.«

»Was haben Sie denn Wichtiges für mich?«, fragte sie ohne lange Vorrede. »Ich bin verdammt müde.«

»Oh, ich weiß, es ist spät.« Er machte ein enttäuschtes Gesicht. »Und vielleicht hätte es bis morgen Zeit gehabt …«

»Nein, schon gut.« Dorothy mühte sich ein Lächeln ab. Immerhin war sie nicht der einzige Mensch auf Erden mit einem Schlafdefizit; auch Miliner sah aus, als könne er ein paar Stunden Ruhe gebrauchen. »Tut mir leid, wenn es so geklungen hat, als sei es mir zu viel gewesen herzukommen, Doktor Miliner. Ich bin wirklich für jeden Hinweis dankbar. Schießen Sie los.«

»Dieses Mädchen vom Strand«, sagte er, indem er mit der ausgestreckten Hand auf den leblosen Körper unter dem Laken deutete. »Ich glaube, ich habe sie identifiziert.«

»Sie wissen, wer sie ist?« Dorothy sah ihn ein wenig ungläubig an, die Stirn in Falten gelegt. »Ja, kannten Sie das Mädchen denn?«

»Nein, natürlich nicht. Aber sie trug eine Art Ausweis bei sich – gewissermaßen; ich fand ihn, als ich ihr die Schuhe auszog.« Er winkte ab. »Kommen Sie her, ich zeige es Ihnen.«

Dorothy sah ihm dabei zu, wie er das gestärkte Laken sorgfältig umschlug und die Füße der Toten entblößte. An der rechten großen Zehe baumelte ein Kärtchen aus dünnem Karton. Miliner streifte sich einen Einweghandschuh über und drehte es so, dass Dorothy es lesen konnte.

Name: Cotton, Rosalind. Verstorben am: 9. September 2000. Geschätzter Todeszeitpunkt: 22 Uhr 20. Todesursache: Ersticken.

»Verstehe«, sagte sie. Unverkennbar dieselbe alte Maschinenschrift. Diesmal hatte es sich der Killer also nicht nehmen lassen, dem Opfer seine Visitenkarte höchstpersönlich anzuheften. »Würden Sie es mir bitte einpacken, Doktor, für die Spurensicherung?«

Miliner tat, wie ihm geheißen, löste die Schnur und schob das Kärtchen in einen durchsichtigen, wiederverschließbaren Plastikbeutel, den er ihr mit spitzen Fingern reichte.

»Die Angaben stimmen alle, nehme ich an?«

»Soweit sie meinen Tätigkeitsbereich betreffen, ja«, entgegnete Miliner. »Ob Rosalind Cotton nun der tatsächliche Name der Toten ist, werden Sie feststellen müssen, fürchte ich. Das herauszufinden, übersteigt bei weitem meine Kompetenzen.« Dann schnippte er mit den Fingern. »Da ist noch etwas. Sie hat einen Bluterguss hinter dem linken Ohr, daher nehme ich an, der Mörder schlug sie mit einem stumpfen Gegenstand zu Boden, bevor er sie tötete.«

»Haben Sie eine Ahnung, womit er sie niedergeschlagen haben könnte?«

»Da kommt alles Mögliche in Frage. Ein in einen Strumpf gewickelter Stein, ein Sandsack möglicherweise … Jedenfalls nichts, was härter ist als ein Gummiknüppel.«

»Sagen Sie mal, Dr. Miliner, stammen diese Kärtchen eigentlich aus der Pathologie des Krankenhauses – irgendeines Krankenhauses?«

»Sie sind aus herkömmlicher Pappe ausgeschnitten worden. Und das nicht mal besonders ordentlich. Wir dagegen bestellen sie bei einem Großhändler.« Der Gerichtsmediziner betrachtete einen Augenblick schweigend seine Fingernägel und meinte dann: »Wenn ich der Verrückte wäre, Chief Inspector Marley, glauben Sie mir, ich hätte mich wenigstens um Authentizität bemüht.« Und onkelhaft legte er ihr die Hand auf den Rücken. »Wollen wir zusammen hinausgehen, was meinen Sie?«

Dorothy nickte nachdenklich.

Ein Zettel am Zeh.

5

Die Nächte waren das Schlimmste, ein dumpfer Schwebezustand zwischen Wachen und Träumen. Unruhig wälzte er sich im Halbschlaf herum, registrierte unterschwellig, dass die sorgsam ausgerichtete Gummiunterlage verrutscht war und Falten geworfen hatte, sodass sie ihn drückte. Sobald sich die Dunkelheit herabsenkte und er die Augen schloss, vermochte er sie zu sehen.

Schläfst du, Pete?

Ihr schwarzes Haar. Ihren ungetrübten, mädchenhaften Blick. Das Lodern unschuldiger Verlockung in ihren Augen, wenn sie ihn von unten her ansah. Ihr grenzenloses Vertrauen.

Nein, ich kann nicht mehr schlafen.

Und diesmal log er nicht. Nein, es war kein Schlaf – seit Tausenden von Jahren war es das nicht mehr gewesen –, nur ein dumpfes, an- und abschwellendes Rauschen; verschüttet unter einer Flut von Alkohol, so, als triebe sein Geist ohne jegliche Kontrolle tief unter dem Meeresspiegel mit den Gezeiten …

Wo bist du, Pete? PETE?