Mord bei Pooh Corner - Gerald Hagemann - E-Book

Mord bei Pooh Corner E-Book

Gerald Hagemann

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Beschreibung

„Endlich! Alles, was Ihnen an ‚Pu der Bär’ immer gefehlt hat, worum Sie aber nicht zu bitten wagten: Sex & Crime & Rolling Stones.” Harry Rowohlt Robert Marley, Kriminalschriftsteller aus Brighton, braucht dringend Erholung. So fährt er nach Hartfield, einem Ort inmitten des Ashdown Forest, der Heimat von A. A. Milnes’ Winnie-the-Pooh. Hier verspricht er sich jede Menge Ruhe und Frieden. Doch mit beidem ist es vorbei, als im Fluss bei Poohsticks Bridge die Leiche eines Jungen gefunden wird. Roberts Schwester Dorothy, Chief Inspector bei der Brighton Police, ermittelt vor Ort. Als ihre Recherchen allerdings Indizien ans Licht bringen, die auf einen Zusammenhang mit dem unaufgeklärten Tod von Brian Jones, dem Gründer der Rolling Stones, hindeuten, wird Dorothy schnell klar, dass der Fall komplizierter ist, als es zunächst den Anschein hatte …

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Seitenzahl: 435

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Gerald Hagemann

Mord bei Pooh Corner

Copyright der E-Book-Ausgabe © 2013 bei Hey Publishing GmbH, München

Originalausgabe © 2008 bei Blanvalet / Wilhelm Goldmann Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Die kleine Pu-der-Bär-Karte © 2008 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Umschlaggestalltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-942822-27-5

-1-2-3-4-5-

Von Gerald Hagemann zuletzt bei hey! erschienen:

Dem Tod geweiht. Roman

www.heypublishing.com

Diese Geschichte ist für Andrea – und für Dirk C., Frank G. und Tom P.

Vorbemerkung

PROLOG

ERSTER TEIL: Winterschlaf In welchem Marley sich überraschen lässt und einen Honigtopf findet

ZWEITER TEIL: Hartfield In welchem Marley eine Bekanntschaft macht und wir einem Heffalump begegnen

DRITTER TEIL: Cotchford In welchem das Heffalump seine Spuren hinterlässt und eine höchst interessante Entdeckung gemacht wird

VIERTER TEIL: Gill’s Lap

Vorbemerkung

Hartfield und alle für diese Geschichte relevanten Schauplätze existieren tatsächlich. So sind Poohsticks Bridge, der Nord-Pol und all die übrigen »verzauberten Orte« ebenso real wie der Pooh Corner Shop, die Kirche St. Mary's oder das angrenzende Anchor Inn – und es lohnt sich, sie zu besuchen. Allein Cotchford Farm befindet sich in Privatbesitz und ist nicht zur Besichtigung freigegeben. Besonderen Dank schulde ich daher den heutigen Eigentümern, die mir freundlicherweise erlaubten, mich dort umzusehen.

Die Ereignisse, soweit sie Brian Jones und die Milne-Familie betreffen, haben sich weitestgehend so zugetragen, wie in diesem Roman erzählt. Alles Übrige geht auf das Konto des Autors. Denn selbstverständlich leben in Hartfield keine bösen Menschen. Auftretende Schurken und Heilige existieren samt und sonders ausschließlich in meiner Fantasie, und sollten sie Ähnlichkeiten mit lebenden Personen aufweisen, wäre das nicht nur äußerst bedauerlich, sondern auch rein zufällig. G. H.

PROLOG

In welchem wir Christopher Robin vorgestellt werden und Brian sich verabschiedet

1

Cotchford Farm, Sommer 1929.

George Tasker stützte sich schnaufend auf den Stiel seines Besens und wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn. Wie an jedem Samstag, dem wöchentlichen Zahltag, war er damit beschäftigt, den Weg vor dem Haus zu kehren, obgleich es dort eigentlich gar nichts zu kehren gab. Denn George hatte frei, und der Weg war sauber. Doch so, wie Mr. Milnes Sohn einmal bei heiterstem Sonnenschein mit einem Schirm bewaffnet unter einem Baum auf- und abmarschiert war und ständig »Tz, tz, es siebt nach Regen aus« gemurmelt hatte (derweil ein recht schmutzig aussehender Bär von sehr geringem Verstand, hoch über ihm in der Luft an einem blauen Ballon hängend, versucht hatte, sich den Anschein einer kleinen schwarzen Wolke zu geben), so spazierte auch der alte George an jedem Zahltag die Auffahrt zum Haus hinauf und hinunter – nur, dass er einen Besen in der Hand hielt und es ihm nicht um Honig ging, sondern darum, seinen Arbeitgeber möglichst unauffällig an den ausstehenden Wochenlohn zu erinnern. Denn George war entsetzlich schüchtern (noch etwas, was er mit dem Sprössling der Familie gemein hatte), und daher hatte er dieses Ritual kultiviert. Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, etwa an die Haustür zu klopfen oder die Milnes direkt auf seinen Lohn anzusprechen. Also rannte er (für den Fall, dass man ihn vergessen hatte) vor dem Haus auf und ab und machte mit seinem Besen gerade so viel Lärm, dass man zwar seine Gegenwart bemerkte, er Mr. Milne jedoch nicht beim Schreiben störte.

Selbstverständlich wurde George niemals vergessen. Für gewöhnlich erschien Mrs. Milne schon nach wenigen Minuten an der Seitentür zum Garten, um ihn zu begrüßen – die ersehnte Lohntüte bereits in der Hand.

George tat dann jedes Mal so, als sei er völlig überrascht, sie zu sehen. (»Oh, guten Morgen, Madam. Was sagen Sie? Glück mit dem Wetter? Ja, recht haben Sie, das ist wirkliches Glück. Ein herrlicher Tag, nicht wahr? Kaum eine Wolke. Wie? Natürlich, die Pflanzen könnten wohl mal ein bisschen Regen vertragen. Was? Nein, ach Gott ja – der Wochenlohn. Hätt' ich gar nicht mehr dran gedacht, Madam. Wirklich, zu großzügig. Ja, danke, Madam. Ihnen auch einen schönen Tag.«) Und nachdem er das Geld entgegengenommen hatte, wedelte er meist noch eine Weile mit dem Besen herum – um bloß nicht den Eindruck zu erwecken, er sei allein wegen der Bezahlung hergekommen – und ging schließlich erleichtert und glücklich nach Hause.

Doch heute war irgendwie alles ganz anders.

Nun fegte er den Weg hinter dem Hauptgebäude schon seit fast zwanzig Minuten, ohne dass sich auch nur eine Menschenseele gerührt hätte. Nicht mal der kleine Christopher Robin war irgendwo zu sehen. Und der war definitiv ein Frühaufsteher. George ließ den Blick über das sanft zum Bachlauf hin abfallende Putting Green schweifen und suchte die Sträucher und die Wipfel der Bäume, die die weite Rasenfläche umstanden, nach dem Jungen ab. Nichts. Cotchford Farm und der gesamte Besitz lagen ebenso verschlafen da wie Tattoo, die Hauskatze, die schnurrend bei der Sonnenuhr döste. Vermutlich, dachte George, war Christopher Robin bereits in aller Herrgottsfrühe aufgebrochen, um mit seiner geliebten Nanny Olive Rand und den berühmten Stofftieren in den Wäldern zu spielen.

Er sah wieder zum Haus hinüber. Die Fenster im oberen Stockwerk waren geöffnet und die Vorhänge nicht zugezogen; also konnte er ausschließen, dass die Milnes noch schliefen. Er zog seine Taschenuhr aus der Weste, um zu sehen, ob er vielleicht ein wenig zu früh dran war. Nein. Gleich elf. Er schüttelte sie heftig und hielt sie sich dann prüfend ans Ohr. Die Uhr schien in Ordnung zu sein. Seltsam. George krempelte die Ärmel auf und fuhr fort, den imaginären Staub von den Steinen zu fegen. Aber egal, wie oft und wie lange er dabei zum Haus hinüberschaute, die verheißungsvolle Seitentür blieb verschlossen. Das konnte nur eines bedeuten: Er war vergessen worden!

»Hallo, Tasker!« Daphne Milnes Kopf tauchte so plötzlich zwischen den Rosensträuchern auf, dass George zusammenfuhr. Sie winkte ihm mit der kleinen Schere in ihrer behandschuhten Hand zu.

»Oh, hallo.« Er winkte verlegen zurück. Den Besen vor sich herschiebend, ging er langsam auf sie zu und blieb vor dem Beet mit den Rosen stehen. Mrs. Milne trug ihr schwarzes Haar kurz und ließ es sich stets nach der neuesten Londoner Mode frisieren. Zurzeit war wohl die Mollusken-Saison, denn für George sah es so aus, als ob zwei große Schneckenhäuser an Mrs. Milnes Schläfen klebten. Was es auch war, er fand sie hinreißend wie immer.

»Sie sind sicher wegen des Geldes gekommen. Aber Sie sehen ja, wie beschäftigt ich bin. Für drei Uhr hat sich so eine Journalistin aus London angemeldet, und bis dahin muss ich hier alles auf Vordermann gebracht haben. Tut mir leid, Tasker, aber da müssen Sie heute Alan bemühen.« Sie fasste einen der so zahlreich emporgeschossenen blassgrünen Wassertriebe ins Auge und schnitt ihn mit einer entschlossenen Bewegung ab. »Er ist im Haus.«

»Meinen Sie denn, er hat Zeit für mich, Madam?« George trat verlegen von einem Bein aufs andere. Das war genau die Sorte Gespräch, die er mehr fürchtete als den Tod. Er spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat und seine Ohren rot wurden. »Weil – sonst machen Sie das doch immer. Ihr Mann hat doch sicher auch zu tun. Und ich möchte ihn ja nicht stören, wenn er …«

»Ach, so ein Unsinn, George. Sie stören doch nicht. Gehen Sie nur einfach ins Haus. Alan ist in seinem Arbeitszimmer.« Schnipp-schnapp, und ein weiterer Wassertrieb war ihrer Schere zum Opfer gefallen.

Eine Viertelstunde später stand George Tasker – glücklich, erleichtert und die Lohntüte nun wohlverwahrt in der Innentasche seiner Jacke – mit Alan Milne bei den üppig blühenden Rhododendronbüschen, die den Weg zur Haustür flankierten, und sprach über das schöne Wetter und darüber, dass die Blumen trotz allem mal wieder einen Tropfen Regen gebrauchen könnten, als er Christopher Robin in der Ferne bemerkte. Er sah auch sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Denn der Junge kam ganz langsam die steile, kiesbestreute Auffahrt herunter auf sie zu, das Kinn auf der Brust. Und er war – bis auf Känga, sein ramponiertes Stoffkänguru, das er mit beiden Armen an sich presste – allein; von Nanny Olive Rand keine Spur. George ließ schweigend seinen geschulterten Besen sinken, als Christopher Robin vor ihnen stehen blieb.

Traurig und die junge Stirn ärgerlich in Falten gelegt, sah er zu George und seinem Vater auf und hielt Känga in die Höhe. Dann sagte er sehr langsam und sehr, sehr ernst: »Es ist vermisst.«

Alan Milne nahm seine Pfeife aus dem Mund und fuhr sich etwas verwirrt mit der linken Hand über sein lichter werdendes Haar. »Es?«, fragte er. »Was ist vermisst? Welche Art von Es meinst du?«

»Klein Roo!«, sagte Christopher Robin und deutete auf Kängas leeren Beutel. »Wir haben es zuletzt beim Picknick auf Mr. Bradshaws Apfelplantage gesehen und überall nach ihm gesucht. Nanny Olive sucht es noch immer. Aber es ist nirgends zu finden.« Er blinzelte und breitete die Arme aus. »Ich glaube fast …« Er machte eine Pause, ehe er die Hände in die Hüften stemmte und sagte: »Ich glaube fast, es ist vielleicht gestohlen worden.«

»Gestohlen?«, sagte sein Vater. »Bist du sicher? Ich meine, wer soll es denn gestohlen haben?«

»Ich weiß es ja nicht so genau, ob es gestohlen ist«, hob Christopher Robin an, »aber dass es vermisst ist, weiß ich genau. Denn es ist nicht mehr da. Und wenn etwas nicht mehr da ist, dann ist es vermisst.«

»Wo du recht hast, hast du recht«, bemerkte George, um auch etwas Sinnvolles beizusteuern. Obgleich er eigentlich der Ansicht war, dass nie sonderlich viel Sinnvolles dabei herauskam, wenn Vater und Sohn Milne miteinander sprachen. Es klang fast jedes Mal so, als unterhielten sich auf sehr ernsthafte Weise zwei Kinder. Das mochte an den Büchern liegen, die Mr. Milne schrieb. Diese Theorie vertrat zumindest Olive Rand. ›Wenn er seine Geschichten schreibt, wird er selbst zum Kind‹, hörte er sie oftmals sagen. ›Er ist eben diese Art von Schriftsteller. Schätze, er hat einfach zu viel Fantasie.‹ George neigte dazu, ihr zuzustimmen. Denn einmal hatte er mitbekommen, wie Mr. Milne seinem Sohn erklärt hatte, weshalb man Messer und Gabel beim Essen niemals so halten dürfe, dass sie zur Decke wiesen. Jemand, der zufällig auf dem Dach spazieren ginge, könne ja immerhin auf eine schwache Schindel treten, einbrechen und sich unter Umständen beim Sturz auf Messer und Gabel ernsthaft verletzen. Was für ein schrecklicher Unsinn aus dem Mund eines erwachsenen Mannes. Aber Christopher Robin sah es gleich ein und hielt Messer und Gabel fortan waagerecht.

»Zuerst«, meinte Alan Milne jetzt, »müsste man natürlich ausschließen, dass der Hund es wieder verschleppt hat, und dann eine Nachforschung organisieren.«

»Der Hund hat es nicht«, sagte Christopher Robin entschieden. »Wir müssen sofort eine Nachforschung organisieren.«

»Eine Nachforschung«, sagte sein Vater, »ist in Fällen von ›vermisst sein‹ immer noch das allerbeste.«

»Und in Fällen von ›vielleicht gestohlen sein‹ auch«, setzte Christopher Robin hinzu.

»Genau. Und wenn man lange genug nachgeforscht hätte und am Ende beinahe wüsste, wer es gestohlen haben könnte, muss man es zurückfordern.«

George, der das Gespräch zunehmend merkwürdiger fand, fragte schließlich: »Und wer könnte es gestohlen haben?«

»Nun, wenn wir den Hund ausschließen, kann ich es mir vielleicht fast denken«, sagte Alan Milne düster und klopfte sich ein paar Mal mit dem Mundstück seiner Pfeife gegen die Zähne. »Und bestimmt kann es sich Christopher Robin auch fast denken, wenn er es sich eine Weile gut überlegt hat.«

Christopher Robin überlegte tatsächlich eine Weile sehr angestrengt. »Meinst du«, sagte er dann im Flüsterton, »das Heffalump hat es gestohlen?«

Sein Vater nickte. »Ich jedenfalls würde es ihm durchaus zutrauen.«

George blickte die beiden ungläubig an und dachte, was er schon so oft gedacht hatte – nämlich, dass diese beiden Milnes wirklich ein bisschen seltsam waren. »Das Heffalump«, sagte er kopfschüttelnd. »Aha!« Und dann noch einmal: »Aha!«

2

Cotchford Farm, Sommer 1969.

Der junge Mann mit den kinnlangen Haaren, der im flachen Teil des beleuchteten Pools bis zur Brust im Wasser stand, hieß Lewis Brian; allerdings nannte ihn kaum jemand bei seinem ersten Vornamen. Er strich sich die nassen blonden Strähnen aus dem Gesicht und rieb sich die Augen. Sie waren vom vielen Tauchen im gechlorten Wasser gerötet. Und sicher hatten auch der Wodka und die Flasche Rotwein, die er im Laufe des Abends getrunken hatte, ein Gutteil dazu beigetragen.

Der Pool war beheizt, und als Wind aufkam und er in der kühlen Nachtluft zu frösteln begann, tauchte er mit den Schultern unter, um sich aufzuwärmen, sodass das Wasser sachte gegen sein Kinn schwappte. Brian war ein außerordentlich guter Schwimmer, war es schon immer gewesen. Selbst der Alkohol beeinträchtigte ihn kaum. Er holte ein paar Mal tief Luft, zog den Kopf unter die Wasseroberfläche und tauchte mit drei, vier kräftigen Schwimmzügen die gut sechs Meter bis zum jenseitigen Ende des Pools, wo das Wasser tiefer war und sich das Sprungbrett befand.

Sein Inhalator stand unweit des Bretts am Beckenrand. Er hatte kein sonderlich starkes Asthma, aber für den Fall einer Attacke nahm er das Spray stets überallhin mit. Anna bestand darauf. Einmal hatte sie erlebt, wie er einen leichten Anfall bekommen hatte, und war vor lauter Sorge um ihn schier in Panik geraten. Er selbst neigte dazu, solcherlei Dinge herunterzuspielen. (»Anna, Süße, was soll der Stress? Alles halb so schlimm.«) Ihm war natürlich völlig klar, dass er ihr nichts vormachen konnte.

Anna war ganz anders als all seine bisherigen Freundinnen – das hatte er ziemlich bald gemerkt. Sie schwebte nicht vor lauter Begeisterung, ihn überhaupt kennen zu dürfen, verzückt auf Wolke sieben. Anna war stets voll da. Sie sorgte sich, kümmerte sich, gab auf ihn acht. Nein, Anna war nicht die Sorte Freundin, die ihn allein seines Ruhmes wegen anhimmelte und sich einfach so beschwichtigen ließ – sie war ganz anders als Suki, mit der er vor Anna zusammen gewesen war und die er auch manchmal noch traf.

Suki war blond und niedlich, und sie hätte alles für ihn getan. Wenn Anna weit weg in London war, lud er sie manchmal zu sich ein und schlief mit ihr. Er bekam eine Erektion, während er an Suki dachte, an ihre vollen Lippen, die sich leidenschaftlich um den Schaft seines Penis schlössen und an ihm saugten. Feuchte Lippen, Saugen und Reiten – aus mehr bestand Suki nicht, das war das Problem. Es war nichts dahinter, nicht das Geringste bisschen.

Anna dagegen war ganz anders. Was ihre körperlichen Reize betraf, so stand sie Suki in nichts nach (auch sie hatte irgendwann aufgehört, Unterwäsche zu tragen, um immer und überall für ihn bereit zu sein), aber Anna war jemand, der auch über den Sex hinaus Substanz besaß. Sie war die Frau, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte. Und sie würde in der Tat die Frau sein, mit der er den Rest seines Lebens verbrachte.

Trotzdem dachte er noch oft an Anita. Viel zu oft. Anita. Keith hatte sie ihm genommen. Ausgerechnet dieses Arschloch. Ein verdammter Niemand wie Keith. Suki und Anna hatten ja keine Ahnung, wie sehr er noch immer an Anita hing.

Vom Haus her drang leise Musik zu ihm an den Pool und löschte das Zirpen der Grillen und das Rauschen der Büsche ringsum beinahe vollständig aus. Es hätte das vor ein oder zwei Wochen aufgenommene Lennon-Stück sein können, doch es klang mehr wie das Tape, das er vor einiger Zeit mit Jimi Hendrix eingespielt hatte. Irgendwer musste sich an seinen Aufnahmen zu schaffen gemacht haben. Es gab wenig, was er mehr hasste. Merkwürdigerweise war es ihm im Augenblick fast egal.

Er fühlte sich ein wenig schwindlig. So viel habe ich doch gar nicht getrunken, dachte er und versuchte, dieses Gefühl abzuschütteln.

Die letzten Stunden hatten sie zu viert verbracht. Jetzt war niemand in der Nähe. Dieser vorlaute und aufgeblasene Nichtsnutz Frank hatte die Schlampe mit den kleinen Titten, die er, ohne zu fragen, vor einigen Tagen hier angeschleppt hatte, ins Haus geschickt und war wenig später selbst hinterhergelaufen. Vermutlich nahm er sie jetzt gerade auf den Stufen zur Küche. Anna war ebenfalls verschwunden, als das Telefon geläutet hatte.

Nun war er ganz allein.

Er streckte sich im Wasser aus, ließ sich in Rückenlage treiben und sah zum Sternenhimmel auf, während er an den Vormittag dachte. Da hatte er noch allen Ernstes vorgehabt, der Sonnenuhr im Garten mit einer Spitzhacke zu Leibe zu rücken. Dabei liebte er das alte Ding über alles. Gerüchten zufolge verbargen sich dort Α. A. Milnes handgeschriebene Originalmanuskripte von Pooh dem Bären. Er musste kichern. Denn wäre Anna nicht dazugekommen – und hätte ihn davon abgehalten –, er hätte die alte Sonnenuhr, besoffen, wie er war, ohne mit der Wimper zu zucken zerstört, nur um herauszufinden, ob Milne die Urschriften seiner erfolgreichsten Bücher dort tatsächlich eingemauert hatte. Träfe es zu, das Zeug wäre vermutlich ein Vermögen wert. Doch um Geld war es ihm dabei gar nicht gegangen. Was Milne und Pooh betraf, war er schon immer wie ein neugieriges, kleines Kind gewesen. Die Originale! Was wäre nach mehr als fünfzig Jahren wohl noch davon übrig? Nichts vermutlich.

Seine Gedanken kehrten zu Frank zurück. Er würde unbedingt etwas unternehmen müssen, denn der Mann nahm sich in letzter Zeit einfach zu viel heraus. Ursprünglich hatte er den Kerl – der ihm ausgerechnet von Keith empfohlen worden war – als Bauunternehmer engagiert, um einen Teil von Cotchford zu modernisieren. In letzter Zeit allerdings war das Verhältnis zwischen Auftraggeber und Unternehmer – gelinde gesagt – ein wenig ins Ungleichgewicht geraten. Nicht nur, dass Frank das Anwesen mittlerweile als eine Art zweites Zuhause betrachtete, wo er ein- und ausgehen konnte, wie es ihm gefiel, und wo er wie selbstverständlich die Wochenenden mit seiner Geliebten verbrachte; er hatte darüber hinaus auch begonnen, schlampig zu arbeiten. Anfangs waren es nur Kleinigkeiten gewesen. Brian hatte darüber hinweggesehen, da er Auseinandersetzungen hasste und sie mied, wo er konnte. Doch das Ereignis vom vergangenen Sonntag hatte das Fass schließlich zum überlaufen gebracht, denn um ein Haar wäre Anna in der Küche von einem herabfallenden Deckenbalken erschlagen worden. Brian war es völlig gleichgültig, ob Frank selbst es gewesen war, der den verdammten Balken eingesetzt hatte, oder ob seine Arbeiter die Schuld für diesen Unfall traf – Frank war ihr Boss, und somit war er auch dafür verantwortlich zu machen. Genau das hatte er ihm gesagt und in seiner Wut hinzugefügt, er würde dafür sorgen, dass Frank in seiner Branche nie wieder einen Fuß auf die Erde bekam.

Brian tauchte abermals unter, um den Kopf klar zu bekommen. Der Schein der rund um den Pool angeordneten Lampen tanzte auf dem blauen Wasser wie Irrlichter.

Großer Gott, wie er solche Auseinandersetzungen hasste. Schon am Abend hatte er seine heftigen Worte bereut. Jedem konnte doch schließlich mal ein Fehler unterlaufen, oder nicht? (»Ach, komm, Frank, lass uns in aller Ruhe einen trinken. War nicht so gemeint.«)

Er tauchte auf und erschrak. Irgendetwas war anders. Das Wasser war glatt und unbewegt, doch das Sprungbrett vibrierte. Und dann tauchte plötzlich ein Schatten am Grund des Pools an ihm vorbei. Er hielt ihn für Frank.

»Verdammt, hast du mich erschreckt, du Arsch.« Brian rieb sich das Chlorwasser aus den Augen, wirbelte herum, die ausgestreckten Arme knapp unter der Wasseroberfläche, und suchte den Pool ab. Der Schatten war verschwunden. Es war niemand zu sehen. Daher traf es ihn auch völlig unvorbereitet, als sich plötzlich die Hände um seine Fußgelenke legten und ihn mit einem kräftigen Ruck unter Wasser zerrten.

Das kann doch nicht wahr sein, dachte er. Was soll denn das?

Er schluckte Wasser, hustete, ohne einzuatmen und versuchte sich herumzudrehen, um zu sehen, wer ihn da unter Wasser zog, aber da packte ihn bereits eine starke Hand im Nacken und presste sein Gesicht gegen den gekachelten Boden des Pools.

MENSCH, HÖR DOCH AUF DAMIT! DAS IST KEIN SPASS MEHR!

Seine Wange schrammte über die rauen Kachelnähte, und er trat mit den Beinen. Als er in seiner Panik blindlings mit beiden Händen hinter sich griff, bekam er für einen kurzen Moment den Hals seines Angreifers zu fassen, doch er hatte nicht mehr genügend Kraft, um dort Halt zu finden.

O mein Gott …

Der Tod kam kalt und rasch. Er fragte nicht danach, ob noch ein Konzert in London anstand oder nicht. Er fragte nicht nach seinem Status oder danach, ob Anna schwanger war. Der Tod kam und nahm ihn. So einfach war das.

Als sein Gehirn auch das letzte Sauerstoffatom aufgebraucht hatte und den verzweifelten, aber tödlichen Befehl zum Luftholen gab, da befand er sich schon seit zwei Minuten unter Wasser. Nichts war, wie es sein sollte. Kein Film lief vor seinen Augen ab. Nicht eine Sekunde seines Lebens erlebte er noch einmal. Es war einfach vorbei. Von einer Sekunde zur anderen. Er war ein exzellenter Schwimmer gewesen – schon immer. Er hatte noch so viel zu tun … Nicht im Traum wäre es ihm eingefallen, dass er einmal auf diese Weise würde sterben müssen.

Und niemals hätte er gedacht, dass Ertrinken mit solchen Schmerzen verbunden wäre.

ERSTER TEIL: Winterschlaf

In welchem Marley sich überraschen lässt und einen Honigtopf findet

1

»Ich kann es einfach nicht fassen, dass Sie ihn umgebracht haben! Theobald Hurdle – o mein Gott, Robert! Wie konnten Sie bloß? Der Mann hat Ihnen doch überhaupt nichts getan!« Mr. Jermy, auf dessen bleichen alten Wangen sich hektische rote Flecken bildeten, ließ mit dem linken Daumen die Seiten des schweren Blätterstapels rauschen, der, lose in eine rote Aktenmappe gesteckt, vor ihm auf dem blitzblank polierten Nussbaumschreibtisch lag, während sein Blick missbilligend auf Robert Marley ruhte. Der konnte zusehen, wie sich die Flecken bedrohlich rasch über den Hals des Mannes ausbreiteten und einen tiefroten, fast schon violetten Farbton annahmen. Bluthochdruck, kein Zweifel; Tendenz steigend. Gleich würde die Röte seine Ohren erreichen, und Jermy würde wie ein kochender Wasserkessel zu pfeifen anfangen. »Aber irgendwie habe ich es ja geahnt, dass es noch mal so weit kommen würde. Sie haben den armen Kerl doch schon vom ersten Tag an gehasst.«

»Ich habe ihn nicht gehasst, Jermy«, widersprach Marley. »Jedenfalls nicht richtig.« Was sollte das Palaver? Das mit Theos frühzeitigem Ableben war schließlich nicht allein seine Schuld gewesen. Marley hatte sich nicht vorgenommen, ihn umzubringen; es war eben mehr oder weniger einfach so passiert. Schicksal. Pech. Zur falschen Zeit am falschen Ort. »Und als ›armen Kerl‹ würde ich ihn auch nicht gerade bezeichnen.

Der Mann war ziemlich durchtrieben, wie Sie sich erinnern werden. Außerdem war er alkoholabhängig.«

»Unsinn! Er war auf dem besten Weg, davon loszukommen«, protestierte Jermy. »Mithilfe dieses Mädchens … Wie hieß sie noch gleich?«

»Karen«, sagte Marley. »Die hätte das Ruder auch nicht mehr rumgerissen. Dafür war sie zu jung. Glauben Sie mir, Jermy, Theo Hurdle hätte die Sauferei nie im Leben gelassen. Seine Zeit war abgelaufen.«

»Sie wissen natürlich, dass Sie sich damit alles ruinieren, nicht wahr?« Jermy zupfte an seiner Krawatte herum und lockerte den Knoten. »Er ist der größte Sympathieträger in diesen Romanen. Die meisten Leserbriefe, die Sie bekommen, beziehen sich auf Hurdle oder sind sogar an ihn persönlich gerichtet. Das Publikum liebt ihn, gerade weil er all diese Schwächen hat.«

»Hatte«, korrigierte ihn Marley. »Vergessen Sie nicht – er ist tot.«

»Dann machen Sie ihn wieder lebendig.«

»Das kann ich nicht.«

»Natürlich können Sie.« Jermy wischte Marleys Einwand lachend und mit solcher Leichtigkeit beiseite, als würde er eine lästige Fliege verscheuchen. »Sie machen es genau wie in den alten Cliffhanger-Filmen: Er befindet sich in dieser schrecklich gefährlichen Situation am Ende des Romans. Ein Entrinnen scheint unmöglich.« Der Literaturagent sah aus wie Alfred Hitchcock, die rechte Hand mit gespreizten Fingern vorgestreckt. »Von mir aus machen Sie die Leser glauben, er sei tot. Aber wir beide wissen es besser, stimmt's? Und die Fortsetzung fängt genau dort an. Wunderbar. Während jedermann denkt, er sei hin, kann sich der gute alte Theo in Wahrheit geistesgegenwärtig retten und kommt davon.«

»Jermy –« Marleys Geduldsfaden begann sich langsam, aber sicher aufzudröseln. Denn Geistesgegenwart war nie eine von Serien-Antiheld Theo Hurdles hervorstechendsten Charaktereigenschaften gewesen (außer man wollte den Kauf neuer Schnapsflaschen, ehe die alten gänzlich zur Neige gingen, als besonders geistesgegenwärtig bezeichnen), und er hatte sein Leben beschlossen, wie er es verbracht hatte: vollkommen betrunken, stockbesoffen und total abgefüllt. »Sie haben doch den Teil mit dem Schnellzug gelesen. Die Szene auf den Bahnschienen im Merstham-Tunnel. Selbst wenn ich wollte; ich kann Theo nicht wieder lebendig machen, Jermy. Am Ende des Romans sammeln sie ihn in einen Korb.«

»Ja.« Der Literaturagent hüstelte. »Die Details müssen Sie selbstverständlich noch etwas ändern.«

Marley seufzte.

Vor knapp sieben Jahren hatte er damit angefangen, über Hurdle zu schreiben; zu einer für ihn sehr schlechten Zeit. Damals hatte er in einem winzigen Kellerloch in Kemptown gehaust – ein Tagträumer inmitten unvollendeter Manuskripte, Unmengen leerer Jack-Daniels-Flaschen und sich stapelnder Rechnungen. Allein mit all seinen hochfliegenden Plänen und den ernüchternden Gedanken an den Tod seines Vaters, war er auf dem besten Wege gewesen, den Karren, der Leben heißt, so ziemlich nach allen Regeln der Kunst in den Dreck zu fahren. Doch dann hatte plötzlich eine Gestalt auf dem Papier Konturen angenommen, die es noch schlimmer getroffen hatte als ihn, jemand, den selbst er noch bemitleiden konnte: Inspector Theobald Hurdle, 52 Jahre alt, kinderlos, verwitwet. Mit dessen Hilfe hatte Marley sich den ganzen Dreck binnen dreier Monate von der Seele geschrieben und war mit seinem ersten veröffentlichten Roman unversehens auf eine Goldader gestoßen. Noch ehe er selbst richtig begriffen hatte, dass ein großer Verlag bereit gewesen war, seine kleine, düstere Geschichte über einen in Alkohol und Selbstmitleid versinkenden Police Inspector zu veröffentlichen, hatte sich Irrende Wahrheit in Großbritannien und den USA mehr als 250.000 Mal verkauft, und das Publikum verlangte mehr über Hurdle zu lesen.

Zu jener Zeit hatte Marley sich seinem Helden noch verbunden gefühlt, aber mittlerweile – sieben Jahre und sechs Romane später – befürchtete er, fast zwangsläufig selbst zum Alkoholiker zu werden, wenn er auch nur noch ein weiteres Wort über diesen Mann verlor.

Er sagte: »Nein. Ich bin den alten Suffkopp wirklich leid. Ich möchte nicht in die Geschichte eingehen als der Schriftsteller, den seine eigene Romangestalt in den Säufertod getrieben hat.«

»Ich sage Ihnen was, Robert: Sie werden in die Geschichte eingehen als der Schriftsteller, der bald seine Rechnungen nicht mehr bezahlen kann, wenn Sie weiter so halsstarrig sind.« Jermy legte beide Arme auf den Blätterstapel und sah Marley väterlich an. »Der Verlag wird das Manuskript ablehnen. So einfach ist das.«

»Hören Sie: Das ist jetzt der sechste Inspector-Hurdle-Krimi, und mir sind mittlerweile die Gründe dafür ausgegangen, weshalb man ihn nicht aus dem Polizeidienst entfernt, so bescheuert, wie er sich immer wieder aufführt. Also lassen Sie uns Theo in aller Stille zu Grabe tragen, dann kann Miriam Beckett endlich die Hauptrolle übernehmen. Sie ist ein viel stärkerer Charakter. Die Leser mögen sie ohnehin schon und werden sie in der Hauptrolle akzeptieren. Und der Verlag auch. Nach Hurdle wird kein Hahn mehr krähen, wenn sie erst mal übernommen hat.«

Jermy ließ sich die Idee durch den Kopf gehen. Die krankhafte Röte war aus seinen Wangen verschwunden. »Miriam Beckett. Hm, hm. Also schön.« Er klappte den Aktenordner zu und wickelte ein Gummiband darum. »Ich werde sehen, wie es der Programmchef aufnimmt.«

»Großartig!« Marley fühlte sich gleich viel leichter, als er nun schwungvoll aufstand. Kein Wunder, jetzt, wo Hurdle, der Mühlstein, nicht mehr auf seinen Schultern lastete. »Sie schaffen das schon, Jermy. Sie sind der Beste.«

»Ach, Robert –« Er war schon halb zur Tür hinaus, als Jermy ihn zurückwinkte, ein paar Papiere in der Hand. »Ich habe hier etwas, das Sie sich einmal ansehen sollten.«

Er sah es sich an, und dann den Literaturagenten, der jetzt wieder völlig gelassen hinter seinem riesigen Schreibtisch thronte und plötzlich an eine sehr dicke und sehr zufriedene Katze erinnerte. Marley konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Jermy, du verdammter Schwarzmaler! Von wegen, er würde bald seine Rechnungen nicht mehr bezahlen können! Es war ein Vorvertrag, in dem es um eine Option auf Filmrechte ging.

»Sieht ganz passabel aus«, meinte Jermy, während er nebenher so inbrünstig damit beschäftigt war, ein paar Fusseln von seinem Anzug zu zupfen, als wäre es das Wichtigste auf der Welt. »Ich denke, Sie sollten es unterschreiben, Robert.«

Bildete er sich das ein, oder war da eben ein leises Schnurren gewesen?

Es war bereits Mittagszeit, als Marley aus der U-Bahn-Station Chancery Lane trat und in Richtung Fleet Street ging.

Eigentlich mochte er London nicht besonders. Seit seiner Kindheit schon übte die Stadt eine seltsam deprimierende Wirkung auf ihn aus. Er wusste selbst nicht recht, warum, und das machte ihm fast ein wenig Angst.

Als Kind hatte er seinen Dad ein ums andere Mal nach London begleitet. (»Warte hier, Bobby. Ich muss nur mal kurz telefonieren.«) Und die Erinnerungen an ihren ersten Besuch im Tower, den sie mit einer Fahrt auf der Themse beschlossen hatten, oder die Nachmittage im Wachsfigurenkabinett Madame Tussaud's (wo Dad Liz Taylor tatsächlich einmal unter den Rock geschaut hatte, nur um zu sehen, wie originalgetreu die Figuren wirklich waren), gehörten zu den liebsten und wichtigsten Erinnerungen seiner Jugend überhaupt. Trotz allem war da dieses unbestimmte Gefühl …

Marley hatte durchaus versucht, der Stadt etwas Positives abzugewinnen, da er schon wegen seines Berufs recht häufig herkam, doch jenes unterschwellige Gefühl von Schwermut oder Niedergeschlagenheit – er konnte es nicht näher bestimmen, so sehr er sich auch anstrengte – ließ sich einfach nicht verdrängen. Da konnten die Leute Samuel Johnson zitieren, sooft und soviel sie wollten: Er hielt sich nicht für suizidgefährdet, nur weil ihm jedes Mal ein wenig wohler war, wenn er die Grenzen der Hauptstadt wieder verlassen hatte.

Fleet Street dagegen bildete eine Ausnahme. Diese Straße mochte er; nein, er liebte sie sogar – besonders ihre geschichtsträchtige Romantik, die bei ihm stets den Eindruck erweckte, im Zwielicht der schmalen verwinkelten Gassen und Courts noch immer den Geistern von Conan Doyle, Wilde oder Dickens begegnen zu können, den vorüberhuschenden Schatten seiner Idole. Er kam jedes Mal hierher, wenn er bei Jermy in London zutun hatte. Selbst wenn er dafür einen Umweg von fast dreißig Minuten in Kauf nehmen musste. Fleet Street! Allein der Klang des Straßennamens ließ ihn an fließende Druckerschwärze denken. Und wenngleich die letzten Verlage auch schon Vorjahren von hier fortgegangen waren, so blieb die schöpferische Kraft vergangener Tage doch noch bis in die Gegenwart hinein spürbar. Die Straße der Tinte. Die Straße der Fakten und der Fantasie – und tief unter dem Pflaster ein fast vergessener Fluss. Es gab kaum einen Romancier von Bedeutung, dessen Karriere nicht in ihrer unmittelbaren Umgebung begonnen hatte. Und wo könnte sich ein Autor mehr zuhause fühlen? Hier war so viel Literaturgeschichte geschrieben worden, dass es für die Ewigkeit ausreichen würde.

Nicht zum ersten Mal in seinem Leben wünschte Marley, die rußschwarzen Steine der Häuser und Kirchen ringsum wären dazu in der Lage, ihre Geschichte zu erzählen. Die Menschen kommen und gehen, dachte er, als er am Ende der Chancery Lane endlich die Einmündung zur Fleet Street erreichte und sich nach links wandte, die Stadt aber bleibt. Sie ist wie eine Kulisse, sie verändert sich kaum. Zumindest traf das auf diesen Teil Londons zu und – Gott sei's gedankt – auf die Pubs ganz besonders. Denn ein Stück weiter die Straße hinunter lag Ye Olde Cheshire Cheese, jene uralte Schenke, wo schon Mark Twain, Yeats und Dickens getrunken hatten, und auch Samuel Pepys, dem es, seinem Tagebuch zufolge, zur lieben Gewohnheit geworden war, quasi als erste Amtshandlung am Morgen, die Brüste seiner Mägde zu drücken.

Schließlich soll man jeden Tag mit einem Lächeln beginnen, dachte Marley. Er versäumte es niemals, dort ein oder zwei Bitter zu trinken, wenn er von seinem Agenten kam.

Während er in Richtung Ludgate Hill ging, musste er an all die Menschen denken, die hier nach Bekanntwerden von Mr. Sherlock Holmes' vermeintlichem Tod im Dezember 1893 einen Protestzug gebildet hatten. Mit Trauerflor an den Ärmeln waren sie die Fleet Street auf und ab marschiert und hatten lautstark seine Auferstehung verlangt. Eine Wirkung, die heutzutage wohl kaum noch ein Autor erzielen könnte.

Marley musste beinahe lachen, als ihm die Parallele zu seinem eigenen Protagonisten auffiel und er sich die schwankende Trauerprozession der Anonymen Alkoholiker vorstellte, die sich für Hurdle den Säufer ins Zeug legten. Allerdings verging ihm das Lachen gleich wieder.

Es war erst kurz nach eins am Mittag, aber zu Marleys unsäglicher Enttäuschung waren die Fenster des Olde Cheshire Cheese dunkel und schmutzverkrustet, und die Tür zur gemütlichen Schankstube verriegelt und verrammelt. Wie ein handgeschriebener Hinweis verkündete, war das verdammte Pub ›bis auf Weiteres geschlossen‹; vermutlich zum ersten Mal in all den Jahrhunderten seines Bestehens. So weit war es also gekommen mit ihrem angeblich so traditionsbewussten Land, dass selbst eines der berühmtesten Pubs Londons einfach so mir nichts dir nichts zumachen konnte, ohne dass irgendjemand etwas dagegen unternahm. Blieb nur zu hoffen, dass sie nicht gleich Pleite gemacht hatten.

Er wandte sich wieder dem Gehweg zu. Der Wunsch, ein Bier zu trinken, hatte sich mittlerweile in Verlangen verwandelt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag die Bell Tavern, wo einst die Henker eingekehrt waren, nachdem sie im nahe gelegenen Gefängnis ihres Amtes gewaltet hatten. Doch dorthin wollte Marley nicht.

Du musst jetzt nicht sofort etwas haben, Marley. Du kannst noch ein paar Minuten warten, nicht wahr?

Klar konnte er das. Keine zweihundert Meter entfernt lag die Essex Street südlich von Temple Bar, und dort befand sich das Edgar-Wallace-Pub. Zu Wallaces Lebzeiten noch unter dem Namen The Essex Head bekannt, war die Schenke dem berühmten Kriminalschriftsteller an so manchem Abend zur Zufluchtsstätte geworden. Und das Pub selbst hatte nach seinem Tod ihm zu Ehren den Namen geändert. Marley fand, dass es, in Anbetracht der äußeren Umstände, für einen Krimiautor wie ihn kaum einen angemesseneren Ort geben konnte, um in Ruhe ein Bier zu trinken. Außerdem konnte er in weniger als fünf Minuten dort sein, wenn er sich etwas beeilte.

Am Eingang zur Bell Lane jedoch blieb er noch einmal kurz stehen. Der Name auf einem Holzschild, das mit Draht am schmiedeeisernen Zaun des Eckhauses festgemacht worden war, hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Jedes Kind kannte diesen Namen. Marley hatte ihn zuerst von seinem Vater gehört – damals war er vielleicht fünf Jahre alt gewesen.

Sweeney Todd stand in großen, kunstvoll geschwungenen Buchstaben darauf, und es erzählte die Geschichte eines skrupellosen Mörders, der hier in Fleet Street gegen Ende des 18. Jahrhunderts sein Unwesen getrieben haben soll. Der Besitzer eines Friseursalons hatte sein Einkommen angeblich aufgebessert, indem er betuchten Kunden die Kehle durchschnitt und sie anschließend beraubte. Der Leichen entledigte er sich auf äußerst makabre Weise: Seine Geliebte betrieb in der Bell Lane eine Metzgerei, wo sie das Menschenfleisch – von Todd über alte, unterirdische Gänge zu ihr gebracht – zu Pasteten verarbeitete, die als die köstlichsten der ganzen Stadt gerühmt wurden.

Passenderweise warb das Schild für ein Restaurant, und der Schlusssatz war ganz nach Marleys Geschmack: Unsere Pasteten werden ausschließlich mit Schweinefleisch zubereitet.

Die Geschichte hatte allerdings einen entscheidenden Haken: Niemand wusste, ob es Todd wirklich gegeben hatte. Zwar existierten eine Handvoll Zeitungsberichte und ein paar zweifelhafte Gerichtsakten, aber die konnten genauso gut auf das Konto eines begabten Fleet-Street-Schreibers gehen. Merkwürdig genug, aber wie viel davon nun der Wahrheit entsprach, hatte man schlichtweg vergessen.

Und vielleicht war es das Schicksal dieser Straße, dass sie vergaß. Nicht nur die Nachrichten vergangener Tage und den genauen Verlauf jenes Stroms, der vor langer Zeit tatsächlich einmal dort sein Bett gegraben hatte, sondern auch die Menschen und ihre Taten, die Pubs mit ihren beim Bier zusammensitzenden Journalisten, und auch die Zeitungsverlage mitsamt ihren sensationslüsternen Geschichten – all die Schicksale; die beschriebenen wie die unerzählten. Weit unter der Oberfläche allerdings, dessen war Marley sich sicher, da brodelte es weiter. Genau wie jener Fluss, dem die Straße ihren Namen verdankte: The River Fleet – die verborgene Konstante; mochten 'hn die meisten auch vergessen haben.

Das Edgar Wallace war um die Mittagsstunde nicht sonderlich gut besucht. Lediglich zwei Männer in dunklen Anzügen lehnten an der Bar. Beide hatten einen Hocker neben sich stehen, schienen aber keine Lust zu haben, darauf Platz zu nehmen. Es gab zwei Eingänge. Der, über den Marley die Schankstube betreten hatte, ging auf die Essex Street hinaus. Der andere lag der Theke gegenüber und führte zum Devereux Court. Marley bestellte ein Pint Old Speckled Hen, trug das Glas zu einem Tisch gleich bei der großen Eckvitrine, die all die Erinnerungsstücke enthielt, die Wallace seinem Lieblingslokal vermacht hatte, und nahm auf einem der wackeligen Holzschemel Platz.

Eine Weile saß er einfach nur da, beide Hände um sein Pintglas gelegt, und betrachtete das Porträtfoto des Autors. Wallace war in seiner bekanntesten Pose abgelichtet worden: im Profil am Schreibtisch sitzend und den verklärten Blick in ferne Verbrecherwelten gerichtet, die lange Zigarettenspitze im Mund. Marley bemerkte einen etwas spöttischen Zug in Wallaces Gesicht.

Die Musik im Hintergrund war nicht mehr als ein dumpfes, diffuses Pochen; sie klang fremd und doch vertraut, wie ein sich allmählich ankündigender Kopfschmerz.

Na, alter Junge, wie läuft's denn so?, schien das Foto zu sagen. Fühlst dich wohl nicht besonders, wie? Siehst mir nämlich ganz wie einer aus, dem sie grad die Freundin umgebracht haben. Oder warst du's am Ende selbst?

Marley versuchte, diese Gedanken zu ignorieren. Er wusste, dass sie nicht gesund waren. Er nahm einen kräftigen Schluck aus dem Bierglas und lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die Wand hinter sich. Er spürte sie angenehm kühl an seinen Schultern und an seinem Hinterkopf.

Wenn er an die vergangenen Monate dachte, war da nicht viel. Er hatte geschrieben. Er war geradezu aufgegangen in seiner Geschichte, doch das lag daran, dass er alles, was er noch besaß, in diesen letzten Hurdle-Roman gelegt hatte. Nicht nur all sein Können, sondern auch all sein Leiden … Was ihm an seinem Leben wichtig erschienen war, war in diesen Roman geflossen; einiges vielleicht, damit es ihm nicht abhandenkam, anderes nur, damit er endlich vergaß: Da waren seine gesicherte Existenz in Brighton, seine Schwester Dorothy und die Eltern; sein bester Freund Richard, der noch am Leben wäre, hätte er, Marley, nur ein wenig besser Obacht gegeben. Und Angie.

(Du hättest es wissen müssen, alter Knabe. Aber du hast dir absichtlich die falschen Fragen gestellt, stimmt's, weil du es nämlich nicht wahrhaben wolltest.)

Ein Teil von ihm versuchte sich zu verteidigen, während sich gleichzeitig ein anderer Teil seines Gewissens fragte, was er anders gemacht hätte, wäre ihm je der Verdacht gekommen …

Angie.

Er hatte sie geliebt, mit einer Intensität, die er selbst nicht für möglich gehalten hatte. Aber dem Himmel sei Dank war es nicht mehr dieselbe Art von Liebe gewesen, nachdem er sein Manuskript fertiggestellt hatte. Erst dieser Roman hatte es ihm ermöglicht, mit alledem abzuschließen.

(Schreib es auf! Nachher fühlst du dich besser, Bobby.)

Nachher hatte er sich tatsächlich besser gefühlt. Doch der Weg dorthin war steinig gewesen. Mittlerweile war Juni, und es war noch keine zwei Monate her, seit er ihn bewältigt hatte.

Seit Angelas Tod war es Herbst geworden. Und Winter. Oktober, November, Dezember … Marley hatte diese Monate allein verbracht. Kaum einmal war er vor die Tür gegangen. Kaum einmal hatte er das Jury's Out besucht, wo er normalerweise jeden Nachmittag ein paar Stunden verbrachte, um ein bisschen Ablenkung von der Schreibarbeit zu bekommen. Er hatte sich zurückgezogen während dieser Zeit. Wie ein Bär, der Winterschlaf hält …

A day in the life of a fool –

A sad and a long, lonely day.

I walk the avenue –

and hope I'll run into

The welcome sight of you –

coming my way.

Während Frank Sinatra davon gesungen hatte, wie ein Tag im Leben eines Einfaltspinsels aussah, hatte Marley schweren Herzens das erlösende Wort Ende unter den letzten Satz seines Manuskripts geschrieben.

Dann hatte er sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen.

I stop just across from your door –

But you 're never home anymore …

So back to my room –

and there in the gloom I cry tears of good-bye.

Marley, der Sinatra in den nicht seltenen Phasen tiefster schriftstellerischer Depression oder akutem Liebeskummer beinahe als besten Freund betrachtete und bei Ol' Blue Eyes' Tod wie ein Schlosshund geheult hatte, vermochte dessen Stimme nicht eine Sekunde länger zu ertragen. Er sprang von seinem Bürostuhl auf und zog mit einem kräftigen Ruck den Dreifach-Netzstecker aus der Wand.

Tabby, Marleys zahnlose Katze mit dem rotbraunen Fell, lag neben ihm auf dem Schreibtisch am Fenster und schnurrte glücklich.

And there in the gloom

I cry tears of good-bye …

Niemand kann dir zurückbringen, was du verloren hast, dachte er, derweil er auf dem Fußboden hockte, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, und noch immer den Mehrfachstecker der Stereoanlage wie eine leblose dünne Schlange in Händen hielt. Ganz gleich, wie viele Abschiedstränen du weinst. Sie ist tot.

But you're never home anymore …

Als er nach einer Ewigkeit aufstand und sich wieder in den Sessel vor seinem Schreibtisch setzte, blickte er auf den zu dunklem Nichts erstarrten Bildschirm seines Laptops.

»Shit!« Er schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch, denn mit Sinatras Stimme war auch das Surren des Computers verstummt. Marley hatte den Stecker aus der Wand gerissen, ohne die letzten fünf Seiten seines Romans abzuspeichern.

Gott, es war alles so furchtbar ungerecht …

… every day in the life of a fool …

Allerdings war das der Wendepunkt gewesen. Als er die letzten Seiten aus der Erinnerung heraus noch einmal geschrieben hatte, war ihm plötzlich bewusst geworden, dass es nicht länger um Angie, sondern um die Geschichte ging. Diese letzten fünf Seiten hatte er nicht mehr geschrieben, um die Sache ins Reine zu bringen oder um zu verarbeiten oder zu verdrängen. Er hatte sie allein für sich geschrieben, aus lauter Vergnügen daran, eine wirklich gute Geschichte zu erzählen.

Als er an jenem Tag zum zweiten Mal das Wort Ende unter den Text getippt hatte, da gab es Angie nicht mehr, und mit ihr war Hurdle gestorben.

In seinen Romanen würde nun Miss Beckett, Hurdles Assistentin, die Hauptrolle übernehmen. Und im wirklichen Leben? Wer wäre je imstande, diese Lücke zu füllen?

(Du sollst keine anderen Götter haben neben mir … ha, ha.)

Er warf noch einmal einen Blick auf die Vitrine in der Ecke. Wallace sah noch genauso spöttisch aus wie vorher, ja fast zynisch und mit einem Mal ging Marley der ganze Mörderkram entsetzlich auf die Nerven. Er trank sein Bier aus, schob den Stuhl zurück und verließ das Pub, so schnell er konnte.

Was er brauchte, wären ein oder zwei Wochen Urlaub. Ein wenig ungestörte Zeit für sich, und er wäre wieder der Alte. Das hoffte er zumindest.

Er ging die Essex Street hinauf und bog nach links in den Strand ab. Am Aldwych stand er eine Weile unschlüssig da und überlegte, wohin er nun gehen sollte. Seinen Wagen hatte er außerhalb von London geparkt, und sein U-Bahn-Ticket war für 24 Stunden und sämtliche Zonen gültig. Er war drauf und dran, noch bei Pizza-Hut vorbeizuschauen, als er den Eingang zur Surrey Street passierte und sein Blick auf das kleine Reisebüro an der Ecke fiel.

»Wollen Sie ausspannen?«, fragte die junge Dame hinter dem Schalter. »Oder wollen Sie mal richtig was erleben?« Sie sah kaum auf, während sie, wie er vermutete, Daten und Reiseziele in ihren Computer tippte. »Wenn Sie richtig Action haben wollen, dann sollten Sie nach Liverpool fahren. Waren Sie schon mal da? Ist nämlich zurzeit mächtig angesagt. Ein Trip nach Mallorca ist aber auch nicht schlecht.«

»Nein, nein. Ausspannen ist genau das Richtige«, sagte er, denn ihm war nicht sonderlich nach richtigen Erlebnissen zumute. Die hatte er in letzter Zeit zur Genüge gehabt. »Auch nicht ins Ausland. Das ist wirklich nichts für mich. Ich will nichts weiter, als zwei Wochen Ruhe: Schlafen, spazieren gehen, lesen.« Er bemühte sich um ein Lächeln. »Wie Sie schon sagten, ausspannen eben.«

»Und was halten Sie von Devon?«

Das Erste, was ihm zu Devon einfiel, war Agatha Christie. Mord, Gift, Messer, Blut und Tod. Das war ganz und gar nicht das, was er wollte. »Ich glaube«, sagte Marley, »das ist nicht ganz das, was ich mir vorgestellt habe.«

Sie tippte weiter Zahlen und Orte in ihren Computer, während sie sich beiläufig eine Haarsträhne hinters Ohr strich, sah schließlich zu ihm auf und meinte: »Yorkshire? Was halten Sie davon? Ich könnte Ihnen eine kleine Pension im Saddleworth Moor empfehlen. Ist sogar ziemlich preiswert.«

Yorkshire. Große Güte. Und dann auch noch das Saddleworth Moor. Sofort tauchten die wenig erquicklichen Gesichter Ian Bradys und Myra Hindleys vor seinem geistigen Auge auf: die Kindermörder von Hyde. Obwohl sie ihre Taten in den sechziger Jahren begangen hatten, waren die Leichen all ihrer Opfer noch immer nicht gefunden worden. Er schüttelte den Kopf. Nein, das wäre es wohl auch nicht. »Haben Sie nicht was –« Er rieb sich die Stirn. »Irgendwas Harmloseres?«

Die junge Dame sah ihn entgeistert an. Was war denn noch harmloser als Yorkshire? Nichts als äsende Schafe und die endlosen Weiten der Moore. Vollkommen tote Hose, besagte ihr Blick. »Was meinen Sie?«

»Na, irgendetwas –« Er stockte unsicher. »Nun – was vollkommen Unschuldiges vielleicht?«

Sie blickte ihn so verständnislos an, als habe er ein Fremdwort benutzt. »Was Unschuldiges, aha.« Ihre langen Wimpern (Marley bildete sich ein, er könne sogar den Lufthauch spüren, den sie beim Blinzeln verursachten), ihre vollen, von pinkfarbenem Lipgloss wie feucht glitzernden Lippen und das offenherzige, trägerlose Oberteil, das sie trug, wiesen sie als eine Frau aus, die mit dem Begriff Unschuld offenbar rein gar nichts anzufangen wusste.

Er sah sie mit dem schuldbewussten Blick eines Kunden an, der sich darüber im Klaren ist, dass er zu viel verlangt.

Sie beugte sich über den Tisch und stieß einen leisen Seufzer aus. Dann sagte sie: »Wissen Sie was, ich mache Ihnen einen Vorschlag.« Sie schaute ihm jetzt zum ersten Mal direkt in die Augen, und ihre Stimme hatte plötzlich einen ganz anderen, viel milderen Klang bekommen; leiser und viel weniger geschäftsmäßig. »Sie wollen was Harmloses, um irgendwas aus dem Kopf zu kriegen – irgendwen, hab ich recht? Ich find schon was Passendes. Kein Problem, ehrlich. Geben Sie mir Ihre Adresse und freie Hand, was das Reiseziel anbelangt; ich garantiere Ihnen, ich werde Sie nicht enttäuschen. Ich besorge Ihnen das Super-duper-Unschuldspaket. Alles, was Sie tun müssen, ist, mir ein bisschen zu vertrauen. Die Unterlagen sende ich Ihnen zu.« Sie schenkte ihm ein Lächeln, den Kopf leicht zur Seite geneigt. »Nun, was halten Sie davon?«

Marley überlegte nicht lange. Er mochte die Art und Weise, wie ihre Augen funkelten – fast wie kleine Edelsteine. Die Vorstellung, sein Schicksal in die Hände einer völlig Fremden zu legen, gefiel ihm irgendwie. Er hatte Lust, das Risiko eines kompletten Fehlschlags einzugehen. Schließlich konnte es ihm nur guttun, wenn er nach all den Monaten des Sich-Verkriechens langsam wieder zu ein wenig mehr Spontaneität zurückfand. »Okay«, sagte er. »Und wie lange wird das dauern?«

»Lassen Sie mir ein, zwei Tage Zeit, um mir etwas zu überlegen. Und dann noch mal einen Tag, bis die Unterlagen bei Ihnen sind.« Sie zuckte kaum merklich mit den Schultern. Die dünnen Striche ihrer Augenbrauen wanderten fragend in die Höhe. »Wäre Ihnen das recht?«

»Wunderbar. Bestens.« Er lächelte ebenfalls und stand auf, glücklich und mit dem wohligen Gefühl der Vorfreude. Etwas, das er schon seit Ewigkeiten nicht mehr empfunden hatte. Es war warm und aufregend und breitete sich in seinem Bauch aus, wie ein doppelter Jack Daniels.

Als er hinaus auf die Straße trat und auf die schmutzig graue Fassade der gegenüberliegenden Häuserreihe blickte, war jegliche Vorfreude wieder verflogen.

Marley fühlte sich genauso deprimiert wie vorher.

2

»Die haben ein Exempel statuieren wollen. So einfach ist das, Ian. Die wollten ihn tot wie'n Stein, als Warnung für andere, das sag ich dir. Schließlich war er ja nicht irgendwer. War ja berühmt, der Junge. Die einen haben ihn kaltgemacht, und die anderen haben die Sache dann vertuscht. Das war ganz klar 'ne Verschwörung.«

Im Anchor Inn ging es wieder mal heiß her. Wie jeden Abend, wenn genügend Alkohol im Spiel war, so entbrannte dieselbe alte Diskussion auch heute wieder aufs Neue. Wann immer sich dort ein kleines Grüppchen zusammenfand, um zu trinken oder ein Schwätzchen zu halten, kam man unweigerlich auf ein ganz bestimmtes Thema zu sprechen. Und dieses Thema waren die Stones. Nicht, wie man gemeinhin hätte vermuten können, wegen ihrer musikalischen Qualitäten, auch nicht der mit fortschreitendem Alter immer seltener werdenden Skandalgeschichten wegen, oder weil Keith Richards sich beim Stöbern in der eigenen Bibliothek mal wieder die Hüfte gebrochen hatte. Die Gentlemen, die hier in der Bar des Anchor zusammensaßen, interessierten sich nicht die Bohne für Musik. Ihr Interesse galt ausschließlich dem geheimnisumwitterten Todesfall, der den kleinen südenglischen Ort Hartfield seit dem 2. Juli 1969 mit den gealterten Rockstars verband. Denn seit jener schicksalhaften Sommernacht lautete die Frage: Wer hatte Brian Jones getötet, den Leadgitarristen und Gründer der Band? Dass er ermordet worden war, daran zweifelte hier im Pub kaum einer.

Der Mann, der gesprochen hatte, war Sir Arthur Hampton, der einzige Adlige, den Hartfield seit Generationen zu bieten hatte. Im Ort mutmaßte man, er habe den Ritterschlag erhalten, weil es ihm gelungen war, selbst die Queen Mum unter den Tisch – beziehungsweise das Queen-Anne-Tischchen – zu saufen. Jetzt beugte er sich über den Tresen, winkte Nora Thompson, die gerade damit beschäftigt war, Reverend Chubbs Glas mit Cider aufzufüllen, und rief ihr zu, sie möge sich ein wenig beeilen, seine Kehle befinde sich in einer akuten Notlage.

»Er soll Flusswasser in der Lunge gehabt haben«, meinte Jonathan Kettridge, der Fremdenführer. Er war ein großer, schlanker Mann um die fünfzig, mit grauen Locken und hellen Augen, die oft verschmitzt zwinkerten, wenn er sprach. Er saß neben Ian Kitley am äußersten Ende der Bar – am weitesten von der Eingangstür entfernt und den großen Kamin im Rücken. Er hatte sein Taschenmesser aufgeklappt und schälte einen Apfel. »Obwohl sie ihn in seinem Pool gefunden haben. Ist doch merkwürdig, nicht?«

»Ah, das sind doch alles bloß Gerüchte«, ließ sich Sir Arthur vom anderen Ende der Theke her vernehmen. Er beugte sich abermals vor, um Nora an sein noch immer ausstehendes Pint Harveys Best Bitter zu erinnern. »Ich persönlich glaub' nicht die Hälfte davon. Ich denke, der arme Kerl hatte ein mächtiges Drogenproblem. Hat sich wahrscheinlich mit dieser Drogenmafia eingelassen und das Zeug nicht bezahlt. Weiß man ja, was mit solchen Leuten geschieht: Wer nicht bezahlt, wird abgemurkst. Die restlichen Stones haben natürlich davon gewusst und es vertuscht. So einfach ist das.«

»Es war tatsächlich Wasser aus dem Fluss.« Reverend Paul Chubb saß rechts von Kettridge, ganz allein an einem kleinen Tisch beim Fenster, das auf die Church Street hinausblickte. Er hatte nicht laut gesprochen und auch kaum den Blick von seinem Glas gehoben, und dennoch wandten sich alle zu ihm um. »Ich war dabei, damals, als sie ihn aus dem Pool zogen. Ich werde diesen Tag wohl niemals vergessen. Er sah so jung aus. Gar nicht wie jemand, der schon so viel erreicht hat.«

»An seinen Schuhen soll noch brauner und roter Lehm geklebt haben«, sagte Ian Kitley, ein Geschäftsmann aus London, der sein Geld mit Immobilien verdiente. Er hatte das ehemalige Jones-Anwesen vor zehn, fünfzehn Jahren gekauft, kam selbst aber lediglich im Sommer für ein paar Wochen her. Die meiste Zeit des Jahres über verpachtete er den Besitz. »Und diese Sorte Lehm gibt es, soweit ich weiß, nur unten am Fluss bei der Brücke.«

»Vielleicht ist er früher am Tag dort gewesen«, sagte Gordon Cobbler, der zwischen Kitley und dem völlig weggetretenen William Crossman auf einem der samtrot bezogenen Barhocker saß.

»Ich war's bestimmt nicht«, knurrte Crossman, hob zum ersten Mal seit Stunden die Lider (er saß immer mit halb geschlossenen Augen da, wenn er genug hatte) und kletterte umständlich von seinem Hocker herunter. »Ich muss pissen wie'n Bär.«

Sie sahen ihm zu, wie er davonwankte. Und als er durch die weiße Schwingtür verschwunden war, meinte der Reverend: »Da war kein Lehm. Er hatte keine Schuhe an, er trug nichts weiter als eine Badehose.«

»Oh, Tatsache?«, murmelte Kitley und widmete sich wieder seinem Bier. »Ich hätte schwören können, ich hab da so was gelesen.«

»Auch kann ich mir beim besten Willen kaum vorstellen, dass er irgendjemandem Geld geschuldet haben soll«, fuhr Chubb fort, als wäre er niemals unterbrochen worden. »Schon gar nicht der Drogenmafia