Demokratie - Die perfekte Form bürgerlicher Herrschaft -  - E-Book

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Beschreibung

Freie Wahlen werden amtlich als Kernstück der Demokratie geschätzt. In der Demokratie, heißt es, wird nicht einfach regiert – das Volk erteilt per Abstimmung den Auftrag zur Wahrnehmung der Staatsgeschäfte. Weniger amtlich betrachten Politiker wie Wähler diese Veranstaltung ohne solche Ehrerbietung. Demokratische Politiker nehmen Wahlen nüchtern als Bedingung und Gelegenheit, auf Kosten der Konkurrenten an die Macht zu gelangen. Und mündige Bürger haben Wahlen längst als Schwindel durchschaut. Wählen gehen sie selbstbewusst ohne Illusionen, damit etwas zu ‚bewirken‘ oder zu ‚verändern‘. Sowohl die hohe Meinung über die hehren Grundsätze demokratischer Machtausübung wie auch das abschätzige Urteil über die praktische Betätigung des Volkswillens übergehen allerdings, was das Institut der freien Wahlen tatsächlich leistet: Mit den Wahlkreuzen legitimiert sich immerhin eine Herrschaft, die sich auf ihre Unabhängigkeit von ihrer Basis – vom ‚Druck der Straße‘ – viel zugute hält und von ihrer Freiheit regen Gebrauch macht. Und auch wenn es aufgeklärten Zeitgenossen ‚letztlich doch egal‘ ist, von wem sie regiert werden; egal sollte es ihnen nicht sein, dass sie von ihrer demokratisch gewählten Herrschaft alle Lebensbedingungen serviert bekommen, mit denen sie praktisch zurechtkommen müssen.

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Peter Decker (Hrsg.)

Demokratie

Die perfekte Form bürgerlicher Herrschaft

Impressum

Peter Decker (Hrsg.)

Demokratie

Die perfekte Form bürgerlicher Herrschaft

© GegenStandpunkt Verlag 2013

Gegenstandpunkt Verlagsgesellschaft mbH Kirchenstr. 88 81675 München Tel (089) 2721604 Fax (089) 2721605 E-Mail: [email protected] Internet: www.gegenstandpunkt.com Alle Rechte vorbehalten

ISBN der Druckausgabe: 978-3-929211-13-9 ISBN der PDF-Ausgabe: 978-3-929211-41-2

Editorial

Demokratie gilt, mittlerweile weltweit, als Wert, der sich – wie es sich für einen Wert gehört – von selbst versteht. Für und gegen staatliche Einrichtungen und Verfahrensweisen lässt sich, wie gut oder schlecht auch immer, argumentieren; beim Wert ‚Demokratie‘ ist das unzulässig: Der wird nicht geprüft; an ihm werden Staatsverfassungen und Regierungsaktivitäten gemessen. Die Idee ist dabei die, eine Herrschaft, die sich von ihrem Volk periodisch beauftragen lässt, wäre keine Herrschaft; eine Gewalt, die sich von denen, die ihr gehorchen müssen, legitimieren lässt, wäre keine; Lebensverhältnisse, deren politische Macher und Aufseher in Wahlkämpfen durch Publikumsentscheid ermittelt werden, wären verwirklichte Freiheit. – Das ist das Eine.

Dass das entscheidungsbefugte Publikum in seinem Alltag von seiner Wahlfreiheit viel hält; dass es darauf so große Stücke hält, wie die demokratische Wertlehre es unterstellt; erst recht: dass es von der Konkurrenz der Wahlkämpfer um seine Stimme besonders angetan wäre: das lässt sich allerdings nicht behaupten. Unter wahlberechtigten Bürgern ist es Sitte, die Bedeutung der eigenen Wahlstimme „illusionslos“ zu sehen, also gering zu schätzen, den Wahlkampf als ‚Zirkus‘ zu verachten, von den Politikern eine überwiegend schlechte Meinung zu haben – und trotzdem zur Wahl zu gehen, wenn sie angesetzt ist. – Das ist das Andere.

Also wieder mal ein Fall von ‚schöner Idee‘ und ‚unzureichender Verwirklichung‘?

Beide Sichtweisen, die Hochachtung vor dem Ideal wie das mehr oder weniger verächtliche Abwinken bezüglich der Praxis, gehen daran vorbei, was Demokratie tatsächlich ist und was das Institut freier Wahlen tatsächlich leistet. Immerhin hat man es mit einem System politischer Herrschaft zu tun, das sich auf seine durch ein freies Wählervotum beglaubigte Unabhängigkeit von seiner Basis – vom ‚Druck der Straße‘ – viel zugute hält.

Notwendige Überlegungen zur Sache enthält die vorliegende Sammlung redigierter Artikel aus verschiedenen Jahrgängen der Zeitschrift ‚GegenStandpunkt‘. Das Material, das diese Aufsätze verwenden, ist teilweise nicht mehr aktuell; die daraus gezogenen Schlüsse sind es leider nach wie vor. Die je aktuellen Entsprechungen wird der Leser selbst finden, solange die Staatsgewalt, der er gehorcht, demokratisch funktioniert.

Die demokratische Wahl

I. Die Freiheit der Wahl

Freie Wahlen werden amtlich als das Kernstück der Demokratie geschätzt – durch sie zeichnet sich diese Staatsform vor allen anderen aus. Wahlen, so heißt es, legitimieren die Ausübung der politischen Macht. In der Demokratie wird nicht einfach regiert – das Volk erteilt per Abstimmung höchstförmlich den Auftrag zur Wahrnehmung der Staatsgeschäfte. Die Regierung beruft sich bei ihrer Amtsführung zu Recht auf den Willen des Volkes, da sich ihre Vollmachten der Entscheidung der Wähler verdanken.

Freie Wahlen nehmen aber auch in anderer Hinsicht eine Sonderstellung unter den gesellschaftlichen und politischen Affären ein. Weniger amtlich betrachten sowohl Politiker als auch Wähler diese Veranstaltung nämlich ganz ohne die Ehrerbietung, mit der sich das landläufige Lob der Demokratie stets vorträgt. Diejenigen, die beschlossen haben, Politiker zu werden oder zu bleiben, nehmen Wahlen nüchtern bis distanziert als Bedingung für ihre Ambitionen, im positiven wie im negativen Sinn; und sie zieren sich auch nicht, es auszusprechen. Dass Wahlen eine Gelegenheit sind, in ein (höheres) Amt zu gelangen, sich auf Kosten der Konkurrenten in der eigenen Partei wie in anderen Vereinen zu „profilieren“ und durchzusetzen, bekennen sie ohne Scheu. Ebenso vermelden sie hörbar, welche Risiken für sie, ihre Karriere und ihre Partei mit Wahlen zu einem ungünstigen Zeitpunkt verbunden sind; sie sorgen sich öffentlich um den Verlust der Macht, den sie befürchten, wenn die Stimmbürger ihr Vertrauen falsch gewichten. Mit der Heuchelei, dem ganzen Land würde furchtbarer Schaden entstehen, fürchten sie sich umgekehrt keineswegs zu blamieren, auch wenn sie auf diese Weise unverblümt auf den erheblichen Unterschied zwischen ihren Interessen an der Nation und denen der Wähler hinweisen. Ebenso eindeutig fällt die Meinung des abstimmungsberechtigten Volkes aus. In klarem Gegensatz zur Legende von der Macht, die von ihnen ausgeht, betrachten die meisten Wähler die Wahlen als ziemlichen Schwindel, den sie längst durchschaut haben. Dass aufgrund der Abstimmung ihr Wille geschieht, wenn sich die Ermächtigten ans Regieren machen, glauben sie nicht; und sie lassen sich auch nicht nachsagen, dass sie „naiv“ und „vertrauensselig“ der Vorstellung anhängen, sie könnten etwas „bewirken“ oder „verändern“. Wählen geht der mündige Bürger selbstbewusst „ohne Illusionen“.

Merkwürdig ist das schon. Das Maß an Verachtung, das dieser Veranstaltung entgegengebracht wird, kontrastiert nicht nur mit dem riesigen Aufwand, der für das Gelingen der Wahlen sorgt. Schließlich geht es auch um einiges – von den ausgezählten Stimmen hängt es ab, wer regiert, also über den Einsatz des staatlichen Gewaltmonopols bestimmt und Gesetze macht, die er für nötig hält. Aus den Kreuzen auf den Zetteln erwächst die Lizenz zur Verwaltung des nationalen Geldes wie die Befugnis, den Frieden zu unterbrechen und Krieg zu führen. Die Anwärter auf diese Lizenz halten sich viel auf ihre Kompetenz zugute, durch die sie sich als Kandidaten vom Publikum abheben, das für die Führung der Staatsgeschäfte gar nicht vorgesehen ist; aber sie überantworten ausgerechnet den aufs Regiertwerden abonnierten Laien die Entscheidung darüber, wer die politische Macht übernehmen soll. Die wiederum treffen ihre Wahl – selbst Leute, die am Stammtisch und nach ausgiebigem Studium von Skandal-Blättern nur noch „lauter Lumpen“ in der politischen Arena entdecken, kennen am Wahlsonntag Unterschiede. Ihre Vorbehalte münzen sie in die Redensart vom „kleineren Übel“ um, so dass sie nach der Wahl eine Regierung kriegen, die mit Gesetzeswirkung anordnet, was der Staat von der Wirtschaft und sozial Schwachen, den Steuerzahlern und Autofahrern, den Frauen, Studenten, Rentnern und Soldaten braucht.

*

Zu den erklärten Sorgen hauptberuflicher Demokraten in Wahljahren gehört die „Partei der Nicht-Wähler“: Einen gewissen Bodensatz „politisch uninteressierter“ Zeitgenossen buchen sie zwar gewohnheitsmäßig als normal ab. Manchmal aber ist ihnen nicht nur die Zahl der Nichtwähler zu groß, sondern es drängt sich der Verdacht auf, dass wohlüberlegte „politische Gründe“ ihrer „Wahlabstinenz“ zugrunde liegen. Gemeint ist eine aus Meinungsumfragen ersichtliche Abneigung der Wähler gegen offenkundigen Parteiegoismus und die selbstsüchtigen Karriereinteressen von Politikern; so erzeugt die Verdrossenheit darüber Verständnis. Zweifel werden laut an der Fähigkeit der Parteien – der großen Volksparteien vor allem –, das Volk in gewohnter Vollzähligkeit an die Wahlurnen zu bringen.

Die Parteien reagieren auf diese Sorgen mit dem Versprechen, sich solche „vernichtenden“ Umfrageergebnisse sorgfältig zu Herzen zu nehmen, keineswegs „arrogant“ darüber hinwegzugehen, sondern ihr „Bild in der Öffentlichkeit“ zu überdenken und „um jede Stimme zu kämpfen“; schließlich sei ihnen bewusst, dass sie „jede Stimme brauchen“. Und zwar nicht nur für ihren Erfolg, um dessen Aufteilung schon im Zuge der anlaufenden Kandidatenaufstellung karrieresüchtig gestritten wird – da geht es nämlich um „sichere Wahlkreise“ und „Listenplätze“ –; ganz generell habe sich die „Integrationsfähigkeit“ der Parteien zu erweisen. Insofern kämpfen die Kandidaten auch um die „Akzeptanz“ des pluralistisch-repräsentativ-demokratischen Systems insgesamt beim wahlberechtigten Volk.

Solche Sorgen und Versprechungen stellen einiges klar über Subjekt, Prädikat und Objekt der in dem Wörtchen „Demokratie“ enthaltenen Behauptung, hierzulande regiere das Volk sich selbst.

1. Das eigentliche Subjekt der Wahl

Verantwortungsbewusste Demokraten gehen davon aus, dass dem Volk von sich aus an dem politischen System, das ihm die Wahlfreiheit schenkt, so übermäßig viel nicht liegt. Sache der Parteien ist es jedenfalls, dem Wahlvolk Alternativen zu bieten, damit es überhaupt etwas zum Entscheiden hat – von den Inhabern des aktiven Wahlrechts ist da nichts als Passivität zu erwarten; sogar die Kritischen, Skeptischen und Verdrossenen tun nichts als auf Angebote warten; die aktive Rolle liegt ganz bei denen, die das passive Wahlrecht wahrnehmen. Deren demokratische Pflicht ist es überdies, die Leute überhaupt zur Stimmabgabe zu bewegen, weil niemand von sich aus zu diesem Höhepunkt seiner demokratischen Freiheit hindrängt. Letztlich geht der mündige Bürger zwar noch allemal ins Wahllokal, solange Wahlen angesetzt sind; wenn das nicht alle tun, so hat das die am Ende Gewählten noch nie gestört; insofern ist die Besorgnis um die Zahl der Nicht-Wähler nicht gar so ernst zu nehmen. Aufschlussreich ist aber die darin enthaltene Einschätzung schon, dass der demokratische Bürger der Letzte ist, der gebieterisch auf seinem Wahlrecht besteht – wie auch, wenn es seine Rolle ist abzuwarten, was die Parteien ihm bieten.

Die Parteien haben also die demokratische Pflicht, sich und ihre führenden Kandidaten anständig aufzustellen und beim Volk beliebt zu machen, damit es überhaupt wählen geht. Dieser Pflicht, das Heft in die Hand zu nehmen, entspricht nach ihrer eigenen und allgemein geteilten Auffassung auf der anderen Seite ein gewisses Recht, den Aufwand dafür mit einer Wahlstimme vergütet zu bekommen. „Politisch nachdenkliche“ Nicht-Wähler finden zwar, solange es noch nicht wirklich ans Wählen geht, ein gewisses Verständnis; doch das ist mehr darauf berechnet, die Parteien anzuspornen, und gilt nie einem wirklichen Wahlboykott – der gehört sich erstens überhaupt nicht, wenn der Bürger schon mit einem freien Wahlrecht beglückt wird. Und zweitens verweigert der Nicht-Wähler den Parteien einen Nutzen, auf den sie, führen sie sich nur ordentlich auf, doch irgendwie einen Anspruch haben. Gerade die öffentlichen Sorgen um das Bild der Parteien und ihre womöglich schwindende Fähigkeit, Zustimmung zu organisieren, belegen diesen Standpunkt, dass das Wahlvolk den Parteien als den eigentlichen Unternehmern in Sachen Demokratie nicht „entgleiten“ darf; der Vorwurf, sie würden in dieser Hinsicht versagen, misst sie am Maßstab des problemlosen Zugriffs auf eine sichere Anhängerschaft. An diesem Kriterium messen im Übrigen zuallererst die Parteien sich selbst: Sie eröffnen ihren Wahlkampf – schon traditionell – mit der Erklärung, dass sie „keine Stimme zu verschenken haben“, erheben also mit größter Selbstverständlichkeit einen gewissen Besitzanspruch auf die freie Bürgerentscheidung – auf die ihrer „Stammwählerschaft“ sowieso und auf die zuletzt eroberten „Wechselwähler“ ebenfalls. Aber auch andere und vor allem „die noch Unentschlossenen“ sollen sich von der Beteuerung beeindrucken lassen, dass jede demokratische Partei ihre Stimme „benötigt“ – so als wäre deren Bedürfnis umstandslos eine Pflicht der Bürger.

Alles das sind immerhin Klarstellungen über das eigentliche Subjekt freier demokratischer Wahlen. Die Wähler jedenfalls sind es nicht. Wahlen sind eine aufwendige Übung, der sich die Parteien und ihre Kandidaten unterziehen. Die wissen auch, warum; denn für sie geht es um einiges: Ihr Aufwand ist Mittel zum Erwerb der Macht. Dafür ist er zweckmäßig und im Erfolgsfall dermaßen lohnend, dass der Ertrag in gar keinem Verhältnis mehr zu dem Einsatz steht, den demokratische Politiker bei ihrem Ausflug in den Wahlkampf zeigen müssen – sogar der wird für Erfolgreiche, wie der deutsche Wähler seit Adenauer weiß, zum reinen Vergnügen.

2. Der Wahlakt: Verzicht auf Einflussnahme

Die Stimmen der Wähler werden benötigt, um zusammengezählt zu werden und in der Masse ein Zahlenverhältnis darzustellen, nach dem die höchsten Personalfragen im Staat entschieden werden, nämlich eine Politikergarnitur die politische Macht bekommt. Das ist die ganze „Vermittlung“ zwischen Wählermeinung und Politik, Bürgerfreiheit und Herrschaft, die in der demokratischen Wahl stattfindet.

Vom Standpunkt der Staatsmacht aus betrachtet, grenzt selbst dieser Bürgerbeitrag zum politischen Geschehen schon an Abhängigkeit, nämlich der politischen Herrschaft von ihren Untertanen. Vom Standpunkt der Machthaber stellt sich die autonome Stimmabgabe der Massen erst recht als ein Willkürakt dar, der ihre in einer entweder langen oder steilen Karriere bewiesene Kompetenz zum Spielball unberechenbarer Stimmungen macht. Das Bedürfnis der Verantwortlichen nach Kontrolle und Überwachung der Stimmabgabe liegt daher so auf der Hand, dass Demokraten es als extreme Großzügigkeit ihrer Sorte Herrschaft und wagemutiges Vertrauen in den mündigen Bürger geschätzt wissen wollen, wenn sie eine freie und geheime Stimmabgabe garantieren. Dabei verrät dieser Respekt vor dem freien Bürgerwillen nur, wie garantiert konstruktiv sich dieser Wille betätigt und wie belanglos er wird, wenn er sich in einem Wahlkreuz auf einem amtlich ausgestellten Stimmzettel verewigt. Die ganze demokratische Freiheit verwirklicht sich da als ein von sich aus nichtssagendes Entscheidungs-Atom, an dem von Argumenten, begründeter Überzeugung, auch nur einer artikulierten Stellungnahme nichts zu entdecken ist. Genau so ist sie, was sie sein soll, nämlich der individuelle Beitrag zu einer kollektiven Willensäußerung, der jedes Moment von freier gemeinsamer Willensbildung, jeder Anflug von Verständigung innerhalb des Kollektivs der Wähler völlig abgeht. Das Gebot der Geheimhaltung, das die Stimmabgabe vor Kontrolle von oben und verfälschender Fremdbestimmung schützt, unterstreicht zugleich, wie total fremd dem demokratischen Wahlakt jede Gemeinsamkeit des Überlegens, Beratschlagens, geschweige denn Beschließens ist. In ihrer freien, gleichen und geheimen Einsamkeit geht die individuelle Wahlstimme bloß quantitativ, also extrem unerheblich in einen Massentrend ein, der keine andere inhaltliche Bedeutung hat als die, die andere, die Aktivisten des demokratischen Geschäfts, ihm verleihen: vorweg die Kandidaten mit dem, was sie zur Wahl stellen; entscheidend hintennach die Gewinner mit dem, was sie daraus machen. Denn ihnen verschafft das ermittelte Zahlenverhältnis die Freiheit, es erstens in ihrem Sinn politisch zu deuten, ihm gewissermaßen in all seiner Stummheit eine, nämlich ihre politische Aussage zu unterlegen; zweitens ist es ihr Berufungstitel für alles, was sie als Machthaber tun.

Diese „Vermittlung“ zwischen Bürgern und Machthabern findet also statt; und sie ist vom Standpunkt der staatlichen Herrschaft als denkbar gelungen zu bezeichnen: Sie bindet die Inhaber der Staatsgewalt an nichts; umgekehrt entbindet sie den Wähler von nichts, wofür und wogegen auch immer der sich hat engagieren wollen. Denn dessen individuelle Entscheidung ist spurlos in der Gesamtentscheidung auf-, also untergegangen und zählt nur als kleinste natürliche Zahl in der Arithmetik des Wahlsiegs. Sie hat nach getätigter Wahl keinen anderen Inhalt als den, die Macht machen und sich regieren zu lassen.

3. Die Wahlentscheidung: Zustimmung zum Regiertwerden

Ob demokratische Wähler sich auf die Freiheit ihres Wahlkreuzes viel einbilden, mag dahingestellt bleiben. Eine gewisse Ahnung von der relativen Belanglosigkeit einer individuellen Stimme beschleicht wohl noch jeden Wähler. Auch darüber, dass am Ende wieder nichts als ein Wahlsieger herauskommt, der an nichts gebunden ist, macht sich der erfahrene Bürger nichts vor. Das Vergnügen der großen Mehrheit beschränkt sich darauf, mit der eigenen einsamen Entscheidung mehr oder weniger richtig gelegen und, prozentweise abgestuft, vom Gesamtergebnis Recht bekommen zu haben. Andere suchen nach einer Möglichkeit, aus ihrem nichtssagenden Stimmzettel wenigstens einen „Denkzettel für die Regierenden“ zu machen und durch eine taktisch geschickte Stimmabgabe Protest gegen den herrschenden „Filz und Sumpf“ einzulegen, ohne gleich den anderen „Sumpf und Filz“ an die Macht zu wählen. Aber erstens muss auch für diesen Akt des demokratischen Widerstands ein Protest als wählbare Alternative vorformuliert sein; zweitens muss der genügend Anklang finden, um überhaupt zur Kenntnis genommen zu werden. Und drittens wird er auch dann noch lange nicht ernst genommen, sondern als Minderheitenmeinung weggeordnet, deren Irrelevanz sich quantifizieren lässt, nämlich nach ihrem Anteil am Wahlergebnis – Opposition als Minderheit anzuerkennen, ist ja überhaupt die bekannte und beliebte demokratische Methode, über sie hinwegzugehen. Das freiheitliche Vergnügen am Protestwählen ist entsprechend begrenzt.

Für den wahlwilligen Bürger stellt sich der Wahlakt also zumindest ambivalent dar: Zweifellos kommt es da mal auf seine freie Entscheidung an; und in die redet ihm niemand hinein – eine schöne Sache, wenn man das mit staatlichen Umständen vergleicht, unter denen eine solche Auswahl nicht gegeben ist. Andererseits heißt das nicht viel; die eigene Entscheidung entscheidet nichts weiter. Also wieder einmal eine Sache mit einer guten und einer schlechten Seite?

Das Entscheidende, der ganze demokratische Witz der Sache liegt darin, dass ihre beiden „Seiten“ notwendig zusammengehören, und zwar in einem eindeutigen Sinn. Das gar nicht unerhebliche Ergebnis der demokratischen Wahl ist nämlich eine Herrschaft, die sich auf das Votum „des Wählers“, dieses zum Singular zusammengezählten Kollektivs der Wahlberechtigten, berufen kann, und zwar für ihre freie Machtausübung. Dieses Ergebnis steht fest, weil es gar nicht zur Wahl stand. Es ist trotzdem in freier Wahl zustande gekommen – nämlich auf dem Weg einer freien Auswahl zwischen Kandidaten und Parteien; also vermittels einer Entscheidung, die gar nicht über das entscheidende Ergebnis gefällt worden ist. Der einzelne Wähler entscheidet sich – und mehr eigentlich nicht – bezüglich einer Wer-Frage; heraus kommt, außer der Personalentscheidung, die umfassende Ermächtigung einer Politikermannschaft, mit Kanzler an der Spitze, zum Regieren. Diese Ermächtigung ist der Effekt einer Freiheitstat, die sich ausdrücklich bloß auf Personalalternativen bezieht.

Was sich dem Wähler als Missverhältnis zwischen der Freiheitlichkeit und der Tragweite seiner persönlichen Wahlentscheidung darstellen mag, ist also genau das Verhältnis, auf das es in der Demokratie ankommt: So stimmt der Mensch ohne Zwang, im Bewusstsein und unter praktischem Gebrauch seiner Entscheidungsfreiheit, dem Regiertwerden zu. Er akzeptiert mit der Betätigung seines aktiven Wahlrechts seine Unterwerfung, weil die einerseits gar nicht zur Entscheidung steht, seine Entscheidung aber Zustimmung zum eingerichteten, nach der Wahl personell wie bisher oder neu besetzten Herrschaftsverhältnis bedeutet. So funktionalisiert die Demokratie die Freiheit ihrer Bürger für die Herrschaft und deren Freiheit, den freien Willen der Leute zu übergehen und nötigenfalls zu brechen.

4. Die moralische Bedeutung der Wahlbeteiligung: Bekenntnis zur demokratischen Ordnung

Wenn aktive Demokraten sich um eine ausreichend hohe Wahlbeteiligung sorgen, geben sie damit zu erkennen, dass sie diesen Unterschied und Zusammenhang zwischen der Abstimmung über eine Wahlalternative und der politischen Tragweite des Wahlzettels auf ihre Weise durchaus wissen – sie bejahen dieses Verhältnis und wollen es haben. Denn wenn sie, jenseits aller parteilichen Differenzen, fordern: „Wählen gehen!“ und irgendeinen Prozentsatz der Wahlbeteiligung als „Sieg der Demokratie“ deklarieren – dies vor allem in den neuen Bundesländern, wo sich der Bürger auf dieses System der Freiheit angeblich noch nicht so gut versteht –, dann geht es ihnen eben um die tiefere Bedeutung der demokratischen Stimmabgabe über die darin getroffene Wahlentscheidung hinaus: um die damit faktisch abgelieferte Einverständniserklärung, nach den geltenden Regeln vom Wahlsieger regiert zu werden, unabhängig von der Wahl, die der einzelne Bürger da unter heftigem Gebrauch seiner Freiheit getroffen hat. Dabei stehen weder diese Regeln noch das Regiertwerden überhaupt zur Abstimmung – außer eben in dem Sinne, dass die pure Wahlbeteiligung als Akt der prinzipiellen Zustimmung genommen wird; der Zustimmung zu dem, was sowieso ohne Alternative feststeht.

Die Demokraten, die in diesem Sinn für Wahlbeteiligung als solche werben – gleichgültig, wie heuchlerisch sie das tun: Wahlkandidaten denken allemal an Stimmen für die eigene Partei –, bewegen sich damit ganz auf der Linie der Parole, mit der die SED in alten DDR-Zeiten ihr Volk zur freiheitsfeindlichen Einheitswahl agitiert hat: „Wählen heißt sich bekennen!“ – zum Herrschaftssystem nämlich. Dabei haben die realen Sozialisten, gemessen am demokratischen Vorbild, allerdings den abenteuerlichen Fehler gemacht, die Wahl allen Ernstes wie eine Entscheidung über die Systemfrage aufzuziehen; und weil sie die natürlich überhaupt nicht wirklich zu eröffnen gedachten, mussten sie die absurdesten zwangsmäßigen Vorkehrungen treffen, damit im Ergebnis nichts schief ging. Unvergleichlich eleganter verfährt da die Demokratie: Sie fordert das Volk zur freien Entscheidung über personelle Alternativen auf, erzwingt kein bestimmtes Ergebnis – in der Sicherheit, dass jedes Ergebnis die demokratische Herrschaft affirmiert. Und daneben leistet sie sich Agitatoren, die eben diesen nicht zur Wahl gestellten Effekt als den eigentlichen Sinn der Wahl propagieren und den Leuten den Urnengang als demokratisches Bekenntnis abfordern, gerade wenn sie sonst am Gebrauch ihrer Wahlfreiheit keinen Spaß finden.

Unter diesem Anspruch gerät die Freiheit der Wahl natürlich ein wenig zur Pflicht; aber auch das ist demokratischen Bürgern ganz geläufig. Sie können sich sogar einen Lohn für redliche demokratische Wahlpflichterfüllung vorstellen und beweisen damit ihren Scharfsinn bezüglich einer Regelung, mit der ihr Staat ihnen allen Ernstes erlaubt, sich einmal in seine Angelegenheiten zu mischen: „Wer nicht wählt, hat auch kein Recht zu meckern!“ Das ist die Sache auf den Punkt gebracht: Nur wer durch Pflichterfüllung an der Wahlurne seine Linientreue bewiesen und das demokratisch Erlaubte getan hat, um „die Verhältnisse“ zu ändern, darf den Mund aufmachen. Ohne praktizierte Zustimmung im Prinzipiellen keine theoretische Abweichung im Einzelnen: So gut verstehen demokratische Bürger ihr Herrschaftssystem.

II. Die Souveränität des Volkes

Worüber Wähler und Gewählte in der Wahl handelseinig werden, ist bei dieser Rollenverteilung kein Geheimnis. Das Volk, das einen kurzen Sonntag lang den Status des Souveräns erhält, macht von seinem Recht genau den beschränkten Gebrauch, den die freiheitlich demokratische Grundordnung vorsieht: Es klärt per Wahlkreuz die Besetzung der Ämter, die zur Wahrnehmung der staatlichen Souveränität vergeben werden. Der Verdacht der Wähler, die von ihnen bestellte Regierung würde ihre Wünsche und Bedürfnisse wohl ebenso wie die vorige übergehen, ist nicht nur das Ergebnis schlechter Erfahrungen. Die demokratische Satzung gebietet ausdrücklich, dass die Gewählten von der ihnen übertragenen Staatsmacht einen Gebrauch machen, der sich durch seine Unabhängigkeit von allen Sonderinteressen in der Gesellschaft auszeichnet. Der Wähler erteilt ein Mandat, aber kein „imperatives“ – was so viel besagt wie: An Aufträge, die sein Fortkommen, sein Ein- und Auskommen betreffen, ist die Riege der Volksvertreter nicht gebunden. Deren Pflicht besteht darin, die Anliegen der Vertretenen wohlwollend zur Kenntnis zu nehmen, um nach den Bedürfnissen und Möglichkeiten des Staates, den sie „das Ganze“ nennen, zu entscheiden. Dass da mancher Bescheid abschlägig ausfällt, wird in demokratisch sattelfesten Kreisen damit plausibel gemacht, dass man es unmöglich allen recht machen könne. Die Wahrheit ist das nicht.

Denn die Instanz, die sich ein ums andere Mal außerstande erklärt, den Bürgern die Dienste abzustatten, die diese erwarten, scheitert keineswegs an einem Übermaß an Ansprüchen, denen sie mit ihren beschränkten Mitteln nicht gewachsen ist. Die Schranken, die der Staat respektiert, sooft er die Rolle einer Behörde übernimmt, die den Bürgern Dienste erweist, findet er nämlich nicht vor. Er hat sie unter Einsatz seines Gewaltmonopols selbst geschaffen und damit jede Regierung, die seine Geschäfte führt, auf die Einhaltung von Regeln verpflichtet. In der Folge stehen alle Entscheidungen, die sich um die vielgerühmten „Leistungen“ der öffentlichen Gewalt für die Bürger – in ihrer Eigenschaft als Handwerker, Alleinerziehende, Mieter, Arbeitslose, Beschäftigte, Autofahrer, Arzneimittelkäufer usw. usf. – drehen, unter dem wuchtigen Vorbehalt, ob sie mit den „Sachzwängen“ vereinbar sind, denen auch und gerade die Regierung unterworfen ist. Und umgekehrt ist die gewählte Regierung, die auf Zeit die Staatsmacht auf ein Programm festlegt, befugt, die überkommenen „Sachzwänge“ auf ihre Tauglichkeit hin zu überprüfen, sie also auch zu ändern. Dass diese Handlungsfreiheit der staatlichen Führung zustande kommt, ist der ausdrücklich anerkannte Zweck jeder Wahl, und die breitgetretene Sorge um gescheite Mehrheiten mit und ohne Koalitionen dokumentiert das heftige Interesse an diesem „Ergebnis“ noch jeden Urnengangs. Sie relativiert auch gründlich den sozialkundlichen Stolz auf die Beschränkung der Macht, welche sich das demokratische System angeblich antut. Die Wahrheit des demokratischen Selbstlobs, das zu passenden Anlässen das Ende der Willkür feiert, sieht auch ein wenig schlichter aus: Die Demokratie verfügt über ein – natürlich auch wieder anpassungsfähiges – Procedere, das den Einfluss unbefugter, staatsfremder Interessen auf die Führung des Staates von vorneherein unterbindet. Diese Geschäftsordnung regelt unabhängig von jedem Wahlausgang die Kompetenzen, die mit den per Wahl besetzten Ämtern verbunden sind; und sie verpflichtet die Träger des Amtes auf die Einhaltung von Richtlinien, die nur in einer Hinsicht mit den gewöhnlichen Interessen und Bedürfnissen von Wählern zu tun haben: Sie zerlegen diese in anerkannte und abzulehnende, definieren ihre Berechtigung und Zulassung, beschränken und verwerfen sie nach Maßgabe des Staatsprogramms.

1. Die Selbstableitung der Herrschaft aus der Souveränität, die sie dem Volk zuschreibt

In der Demokratie ist das Volk der wahre Souverän. Von ihm geht in Wahlen alle Gewalt aus, der dann Folge geleistet werden muss. Die wirkliche souveräne Gewalt liegt demnach bei den Gewählten, in der BRD beim Parlament. Dort liegt sie unwiderruflich. Zwar werden die Mitglieder des Bundestags und durch diese die Regierung turnusmäßig neu ermächtigt, indem per Wahl neue Repräsentanten des Volkes bestimmt oder die alten bestätigt werden. Die periodisch wiederkehrende Wahlfreiheit des Volkes bedeutet aber nicht, dass die Bürger in diesen Sternstunden ihrer Souveränität alle öffentliche Gewalt wieder an sich ziehen, alle Einrichtungen der Staatsmacht zurücknehmen und alles neu regeln könnten. So buchstäblich hat die Volkssouveränität nie existiert; und mit der Maßgabe, dass sie durch Wahlen ausgeübt wird, ist ihr eine Verfahrensweise vorgeschrieben, die ihren Inhalt genau umreißt: Die Hoheit des Volkes besteht und betätigt sich exakt darin, sie zu delegieren, damit sie als wirkliche höchste Gewalt bei den Gewählten ist. Für die heißt es dann, immer von Neuem „Verantwortung zu übernehmen“, dem „Druck der Straße zu widerstehen“ und im Schutz der Bannmeile ums Parlament ausschließlich ihrem Gewissen zu folgen.

Das wäre ein seltsamer Tausch – das Volk gibt seine Gewalt freiwillig weg an ein paar Leute, die dann über es die Herrschaft haben –, gäbe es „das Volk“ überhaupt für sich, als eine Mannschaft, die sich frei und souverän über ihre Angelegenheiten beriete und im Endergebnis an einem Gewaltverhältnis Geschmack fände, in dem sie freiwillig die gehorsame Seite übernimmt. Nichts von dieser Art liegt aber vor, wenn von Volk die Rede ist. Der ganze Inhalt dieser Mengenbezeichnung liegt darin, von allen bestimmten gesellschaftlichen Betätigungen, Beziehungen, Gemeinsamkeiten ebenso wie Gegensätzen abzusehen und an Industriearbeitern und Hausfrauen, Hausbesitzern und Managern nur die eine Abstraktion festzuhalten: Unterschiedslos haben sie alle mit ein und derselben hoheitlichen Gewalt zu tun, bilden nämlich deren ureigenen Zuständigkeitsbereich. Was sie in dieser Eigenschaft tun und lassen, sogar ob sie rechtstreu der höchsten Gewalt gehorchen oder deren Gewaltmonopol brechen, und erst recht, ob sie untereinander eine Gemeinsamkeit stiften, womöglich irgendetwas öffentlich beraten oder nicht, das alles hat mit ihrer Identität als Volk nichts zu schaffen. Als solches gehören sie zu einem Kollektiv mit keiner anderen konstitutiven Gemeinsamkeit als der, den Personalbestand „ihres“ Staates auszumachen. Allein durch die Gewalt, die sie sich gefallen lassen und insofern, sehr passiv also, begründen, sind die sozial so verschiedenartigen Mitglieder einer „modernen Industriegesellschaft“ als Volk definiert.

Das logische Verhältnis zwischen Staat und Volk wird üblicherweise genau andersherum aufgefasst, als wir hier angeben. Und zwar deswegen, weil aus purer Parteilichkeit alle negativen Bestimmungen, die die Abstraktion „Volk“ ausmachen, konstruktiv als etwas logisch und ideologisch Positives gedeutet werden. Da gilt dann die Abstraktion von allen materiellen Interessen und wirklichen ökonomischen Beziehungen, die den gesellschaftlichen Alltag bestimmen, als Negation der darin enthaltenen Gegensätze und Existenzunsicherheiten. Der Kollektivismus unter dem Zugriff der staatlichen Macht, die mit ihrem allgemeingültigen Recht diese widrigen gesellschaftlichen Lebensbedingungen in Kraft setzt, wird zur „wahren“ – „Volks-“ – Gemeinschaft. Der Umstand, dass diese „Gemeinschaft“ für sich genommen völlig inhaltsleer ist, wird zum Freibrief für Mystifikationen: Ihr wird als gemeinschaftsbegründender Inhalt zugeschrieben, was sich an den von der Staatsgewalt zusammenregierten Menschen jenseits ihrer wirklichen polit-ökonomischen Existenz als „prägende Merkmale“ auffinden lässt – ihre Sprache vor allem, so als wären die Grenzen der sprachlichen Verständigungsmöglichkeit gleich umgekehrt dasselbe wie die Reichweite einer gemeinschaftskonstituierenden Verständigung; mit dem Gedanken der „Heimat“ wird sogar die Geographie zum kollektiven Persönlichkeitsmerkmal erhoben. Dass mit solchen Inhalten die „Volksgemeinschaft“ in lauter Gegebenheiten verlegt wird, die dem freien Willen der Beteiligten entzogen sind und insofern, als Bestimmungsgröße ihrer Persönlichkeit genommen, bestenfalls Borniertheit anzeigen, wird dahingehend ins Positive verdreht, dass sich darin gerade die „sinnstiftende Bindungskraft“ der „völkischen Identität“ zeige. Dieselbe Hochschätzung wird den Gewohnheiten entgegengebracht, mit denen ein Volk sich unter seiner Herrschaft eingerichtet hat, von den Traditionen der Armut – bekannt unter dem Titel „Folklore“ – angefangen bis zur tief empfundenen Ausschmückung seiner Knechtsrolle im Glauben – sei es an Gott oder die Geschichte: lauter Zeugnisse dafür, dass der Mensch naturwüchsig und schicksalhaft Teil eines Ganzen und insofern mehr als er selber sei.

Diese ideologische Konstruktion eines „Volks“-Wesens quasi aus sich selbst heraus, jenseits von politischer Ökonomie und funktionaler Staatsgewalt, als naturwüchsiges, in der Geschichte sich durchhaltendes Kollektiv-Subjekt, ist aufgeklärten Demokraten nicht zu blöd, sondern zutiefst plausibel, weil sie zur Idee der immerwährenden Staatsgründung durch die Volkssouveränität passt; sie ist daher unverwüstliche Grundlage und unerschöpfliches Grundthema aller modernen Nationalideologien. Das hat Folgen; nicht bloß ideologische. Z.B. die, dass manche Staaten ihr Staatsvolk im Hinblick auf Sprache, Heimat, Traditionen, Religion, sogar typisches Aussehen usw. noch eigens völkisch sortieren, neben allen sozialen Charakteren, die sie ihren Leuten aufzwingen wie alle Staaten. Im besten Fall erklären sich solche souveränen Gewalten zum „Vielvölkerstaat“ und bekennen sich zum Respekt vor „vorgefundenen“ völkischen Differenzen, die überhaupt nur deswegen Differenzen bleiben und politische Bedeutung bekommen, weil die Staatsgewalt es für funktional hält, ihr Volk eben so zu sortieren. Die Wahrheit ist auch dann meist die, die im schlechteren Fall offenkundig wird, dass nämlich der Staat ein Staatsvolk erster Klasse von einer völkisch definierten Minderheit scheidet; oft mit dem Ziel und Ergebnis, dass es Letzterer im Durchschnitt schlechter geht. Solche völkischen Minderheiten lassen sich, bei entsprechender politischer Anleitung, im Namen ihrer fertigen Volksnatur gegen deren – wirkliche oder vermeintliche – Unterdrückung durch die „volksfremde“ Staatsmacht aufbringen; nach demselben Muster ist die Volks-Mehrheit gegen eine „volksfremde“ Minderheit im Land zu mobilisieren. Die entsprechenden Bürgerkriege – sei es um die Eliminierung „Fremder“ aus dem nationalen Volksverein, sei es um die Abspaltung eines eigenen völkischen Staates – machen einmal mehr deutlich, um was für eine brutale Abstraktion es tatsächlich geht, wenn „Volk“ angesagt ist: Wo dessen Freiheit auf dem Spiel steht, wird praktisch Ernst gemacht mit der Abstraktion von allen materiellen Bedürfnissen und mit der Subsumtion der Leute unter das eine Verhältnis, Basis staatlicher Souveränität zu sein.

Vom Weggeben einer Souveränität, die das Volk als solches erst einmal wirklich besäße, bevor es die Staatsgewalt „von sich ausgehen“ lässt, kann also keine Rede sein. Seine Souveränität ist nichts als eine verfassungsrechtliche Fiktion: Die Staatsmacht, die ihr wechselndes Personal an der Spitze periodisch wählen lässt, beruft sich für ihre souveräne Gewalt über ihre Bürger auf deren eigenen freien Willen; sie interpretiert die freie Volksabstimmung über konkurrierende Kandidaten als Akt, mit dem die Leute den Staat immer von Neuem begründen, seine Führung zur Herrschaft ermächtigen. Das wirkliche Verhältnis zeigt sich hierbei schon in dem Umstand, dass diese gesamte Konstruktion, die Wahlen einschließlich ihrer Deutung im Sinne praktizierter Volkssouveränität, Teil einer Staatsverfassung ist, die die Vorgehensweise der Staatsmacht kodifiziert: Die schreibt sich verbindlich ein demokratisches Procedere vor. Sie setzt also, umgekehrt gesehen, ihre Selbstbegründung und -rechtfertigung in eine eigentümliche politische Praxis um: Um sich auf die freie Entscheidung ihrer als Kollektiv gefassten Untertanen berufen zu können, bestellt die höchste Gewalt sie zur Wahl und respektiert ihre Entscheidung über das Kräfteverhältnis der konkurrierenden Politikermannschaften. Die souveräne Staatsmacht in der Demokratie scheidet sich selbst in ein verfassungsrechtliches Regelwerk, das den Leuten unter anderem den Auftrag erteilt, frei zu wählen, und das Personal, das die Staatsgewalt tatsächlich ausübt und das in dem entsprechenden Amt tatsächlich vom Volk bestätigt werden muss. So konstituiert sich die demokratische Staatsgewalt aus einem souveränen Volksakt, den sie dem durch sie definierten nationalen Kollektiv im Rahmen ihrer Herrschaftsmethodik vorschreibt; sie leitet sich ab aus einer Souveränität, die sie ihrem Volk hoheitsvoll zuschreibt.

2. Die Leistung der Wahl für ein funktionstüchtiges Gewaltmonopol: Herrschaft als Dienst am Amt

Warum und wozu eine Staatsmacht sich demokratisch verfasst – das erklären sich Demokraten, wählende wie gewählte, mit einem Lob ihrer Staatsform. Die Trennung zwischen verfassungsrechtlichem Regelwerk und persönlichem Machtbesitz verhindert nach offizieller Lesart den diktatorischen Machtmissbrauch zum Nachteil freier Bürger – und wenn nicht ganz zuverlässig ausgeschlossen, dann wird er doch wenigstens zeitlich begrenzt; die völlige Identifizierung von Parteien, also parteilichen Interessen und individuellem Ehrgeiz, mit der Staatsmacht, die allen Bürgern gleichmäßig das Ihre zukommen lassen soll, wird ausgeschlossen – oder wenigstens befristet; der Untertan hat von seiner Obrigkeit keine Willkür zu befürchten – und wenn doch, dann kann er mit dem Stimmzettel zurückschlagen... So unbedingt griffig sind die Vorkehrungen also nicht, die als institutionelle Garantie einer von Anmaßung und persönlichen Machtgelüsten freien, bürgerfreundlichen Herrschaft gewürdigt werden wollen. In einem etwas anderen Sinn bieten sie aber durchaus Schutz gegen Amtsmissbrauch: Sie schützen das Amt gegen Zweckentfremdung.

Dessen Zweck steht nämlich im modernen Staat tatsächlich nicht im Belieben derer, die es innehaben. Es geht um ein funktionstüchtiges Gewaltmonopol; und dafür ist weit mehr vonnöten, als sich mit Willkür, persönlichem Einsatz, individuellen Führerqualitäten usw. je bewerkstelligen ließe; eine institutionelle Trennung zwischen der Macht und ihrem Personal ist unerlässlich. Denn Gewaltmonopol als erster und grundlegender Staatszweck setzt voraus, dass es da immer und überall etwas zu monopolisieren gibt; dass also die gesellschaftlichen Beziehungen innerhalb des Volkes, das demokratisch regiert sein will, prinzipiell gewaltsamer Natur sind und dass diese Gewaltsamkeit nicht abzuschaffen ist, vielmehr eine Ordnung braucht.1) Deswegen muss die staatliche Gewalt flächendeckend, permanent und wirksam präsent sein; als geltendes Gesetz und (nur) notfalls als Polizeimacht, die ihm Geltung verschafft; so dass sich wirklich jeder Bürger in seinen Beziehungen zu anderen auf den Arm der staatlichen Gewalt verlassen kann, ohne den diese Beziehungen eben nicht zu haben sind. Sie muss organisiert sein als stabiler Apparat, der seinen Funktionären, auch seinen leitenden, vorgibt, was (Inhalt) ihres Amtes ist. Das alles ist zwar reformierbar, sogar das, was Verfassungsrang hat – die demokratische Verfassung selbst sieht dafür die verfassungsändernde Mehrheit vor. Eben damit ist aber ausgeschlossen – solange die Prinzipien des Ganzen respektiert werden –, dass die demokratischen Machthaber den Apparat, den sie dirigieren, einem völlig anderen Zweck unterwerfen als dem, für den er in seiner verfassungsmäßigen Gestalt eingerichtet ist – beispielsweise ihrer persönlichen Herrschsucht, die den Befürwortern der Demokratie immer zuerst als Gefahr für ein ordentliches Staatsleben einfällt. Das Regelwerk der Demokratie legt die souveränen Machthaber auf eine funktionale Machtausübung fest, nämlich eine, die der Logik des staatlichen Gewaltmonopols und dessen Notwendigkeiten entspricht. Deswegen und in diesem Sinn ist – ausgerechnet – Macht als Dienst, nämlich am vorgegebenen Amt, definiert.

Mit Beschränkung der Macht und derer, die sie verfassungsgemäß innehaben, hat dieser Funktionalismus nur in den Gewaltphantasien von Demokraten etwas zu tun. Ohne allgegenwärtige Bürokratie mit ihrer Sachgesetzlichkeit, nur mit herrscherlicher Willkür womöglich, auch wenn sie griechisch Charisma heißt, wäre ohnehin kein funktionstüchtiger moderner Staat zu machen. Wenn Herrschaft so funktionieren soll, dass ihre Inhaber nicht bloß über papierene oder eingebildete Vollmachten, sondern über wirkliche Macht verfügen und ihre Anordnungen gelten, dann müssen sie das Gewaltmonopol nach dessen Logik gebrauchen. Mit dem Dienst am Staat dienen sie also durchaus ihrer eigenen, persönlichen Herrschaft, weil die von der vorgegebenen, von ihrer Person unabhängigen Sachlichkeit der Staatsmacht zehrt; die Verfassung, die sie respektieren müssen, ist die Verfassung ihrer Souveränität. Das gilt sogar noch und erst recht für die elementare demokratische Vorschrift, die die höchsten Machthaber dem Risiko der Wahl unterwirft. Zwar löst eine verlorene Wahl die wundervolle Einheit von Person und Amt auf. Aber zum einen garantiert die demokratische Prozedur dem abgewählten Chef, dass er einen kongenialen Nachfolger findet, nämlich schon wieder einen Politiker, der nichts anderes will und auch gar nichts anderes kann, als das übernommene Staatsamt auszufüllen. Das sehen beide Beteiligten zwar immer ganz anders. Sie können sich aber damit trösten, dass ihr ganzer persönlicher Ehrgeiz sich immer auf eine Position gerichtet hat, deren Reiz darin liegt, dass ihre Bedeutung gerade nicht mit den Führertugenden ihres Inhabers zusammenfällt. Es geht um eine Stellung im Staat, der nicht erst durch persönlichen Einsatz Befugnisse und Macht zu verschaffen sind, sondern der die souveräne Macht amtlich anhaftet: Die wird dem Wahlsieger in den Schoß gelegt. Die Demokratie kombiniert so auf einzigartige Weise Absolutheit und Bequemlichkeit der politischen Macht – um den „Preis“, dass die obersten Positionen mit ihren Inhabern turnusmäßig trennbar verbunden sind. Aber dafür brauchen demokratische Politiker auch nicht im Amt zu sterben – und dürfen sich das sogar noch als Bescheidenheit hoch anrechnen.

Mit den Regeln und Einrichtungen, die die souveräne politische Macht real begründen, sind also deren Gebrauch Ziel und Erfolgskriterium vorgegeben. Bei der Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols mag es den Praktikern der Volkssouveränität um ihre persönliche Macht gehen; doch wie die Dinge liegen, stellt deren Genuss sich bloß mit der erfolgreich gewahrten und geförderten Funktionstüchtigkeit der Staatsmacht als solcher ein. So deckt sich im Prinzip der persönliche Ehrgeiz demokratischer Politiker mit den „Sachzwängen“ einer zweckmäßig monopolisierten gesellschaftlichen Gewalt: mit der Perfektionierung ihres Zugriffs auf die Bürger, mit der Sicherung und Mehrung ihrer Mittel und mit der Vergrößerung ihrer Reichweite. Die Souveränität, die sich aufs Volk beruft, schließt als sachliches Erfordernis ein ganzes Programm ein.

III. Die Staatsräson der Demokratie

Wahlen sind Bestandteil der Staatsräson, weswegen auch niemand auf den Gedanken verfällt, durch sie würde entschieden, worauf sich das Dichten und Trachten der Politik und der Bürger zu richten hat. Bei jedem Urnengang steht schon allerhand fest und gar nicht erst zur Disposition:

– Ein komplettes Rechtssystem legt fest, wie weit die Freiheit der Bürger untereinander und gegenüber der Staatsgewalt geht; es bestimmt umgekehrt auch, wofür die Staatsorgane in ihrer ganzen hierarchischen Pracht zuständig sind. Damit eröffnet es den Amtsträgern das vertraute Spiel mit der Macht, die ihnen verliehen ist und ihre Entscheidungen wie Argumente so respektabel geraten lässt – und der Ohnmacht, die ihrem guten Willen oft so wenig Raum lässt. Die Alternativen, die insbesondere in der Macht der Regierung mit ihren zur Gesetzgebung tauglichen Mehrheiten liegen, betreffen das Funktionieren der eingerichteten Ordnung; die Unterschiede, die Politiker da wahrnehmen, ergeben sich aus dem Inhalt dieser Ordnung, der gewöhnlich mit dem Stichwort „Marktwirtschaft“ bezeichnet wird. Vorstellen darf man sich darunter, dass ein demokratischer Staat den freien Umgang mit Privateigentum und seinem Maß, dem Geld, genehmigt, die Bürger damit „wirtschaften“ lässt und fördert. Weniger geläufig dagegen ist die Einsicht, was unabhängig von aller Wählerei und den diversen Angeboten der Parteien über die Politik feststeht, wenn es „marktwirtschaftlich“ zugeht.

– Ein komplettes Produktionsverhältnis legt die Bürger darauf fest, dass sie sich an der Mehrung privaten Eigentums zu schaffen machen, und zwar ganz gleich, ohne Rücksicht auf den kleinen Unterschied, der sich daraus ergibt, ob und wie viel Eigentum sie haben. Sie müssen sich in den Gegensätzen bewähren, die diese von der politischen Macht aufgeherrschte Form des Reichtums, die im Maße ihres Vorhandenseins andere ausschließt, so mit sich bringt. Ihr Staat geruht die Mehrung von Privateigentum als „Wirtschaftswachstum“ zu schätzen und zum Erfolgsmaßstab des politischen Gemeinwesens zu erheben; dass er damit das Sonderinteresse derer, die alle als „die Wirtschaft“ kennen, zum Allgemeininteresse ausruft, dem sich alle Klassen, Stände und Schichten zu unterwerfen haben, ist ebenso ausgemacht wie der Bereich „Soziales“ – die Verteilung des Reichtums fällt unter diesem Produktionsverhältnis eben notwendigerweise etwas schief aus. Deswegen organisiert der demokratische Staat, nachdem er Armut und Reichtum zum Bruttosozialprodukt addiert hat, als Sozialstaat auch noch die Solidarität unter den Armen. Seine Politik beruht nicht nur auf der Grundsatzentscheidung für den Klassengegensatz, sie anerkennt dessen Verlaufsformen und Widrigkeiten als „Sachzwänge“, die alle Politiker produktiv machen müssen – für das Eigentum. Gutes Regieren steht und fällt mit dieser Definition des nationalen Erfolgs, der ohne die außenpolitische Durchsetzung der Nation gegen ihresgleichen nicht zu sichern ist, was die Indienstnahme des Volkes für das Kapital um einige zusätzliche Aufgaben bereichert.

Dass die Politik zwischen den Wahlsonntagen eben auf solchen unverrückbaren Grundlagen beruht und nur die Alternativen zulässt, welche die Berücksichtigung der in Kraft befindlichen Normen für die Steigerung der Leistung von Land und Leuten nahelegt, ist Berufsdemokraten durchaus geläufig. Die Anerkennung des demokratischen Procedere, das die Zwecke von Demokratie und Marktwirtschaft gewährleistet, ist das Lackmuspapier, an dem systemfremde und -feindliche Interessen identifiziert werden – Irrläufer und Verfassungsfeinde sind vom Wahlgeschehen fernzuhalten und gewissen Behörden zu überantworten.

1. Betreuung der Klassengesellschaft

Der demokratische Staat kennt seine Gesellschaft. Er weiß Bescheid über Klassen, Klassengegensätze und spezifische Konflikte innerhalb der gesellschaftlichen Klassen – das alles betreut er ja mit seinen Gesetzen. Und damit zeigt er, wie er seine Gesellschaft wahrnimmt: Die Verteilung der Leute auf gegensätzliche Funktionen in seiner politischen Ökonomie nimmt er als vorfindliche Lebenslagen zur Kenntnis; die Kollisionen, die damit – nach aller Erfahrung – an der Tagesordnung sind, bezieht er auf sich, macht alle Parteien und widerstreitenden Interessen unterschiedslos von seiner Gewalt abhängig und erzwingt mit seinen allgemeingültigen Regelungen und Entscheidungen einen „sozialen Frieden“. Indem er auf diese Weise alle und alles seinem Gewaltmonopol unterwirft, formiert er die gesellschaftlichen Klassen mit ihren Gegensätzen zu seinem einen Volk. Auch diese Errungenschaft nimmt der gefestigte demokratische Staat aber gar nicht mehr als seine fortwährende Leistung wahr, sondern gleichfalls wie eine gegebene „Lage“, auf die er sich bezieht; selbst seine gesetzlichen Ordnungsleistungen stellen sich ihm zum überwiegenden Teil als gesellschaftlicher Zustand dar, den er vorfindet und nur bewahren und zeitgemäß fortentwickeln muss. Das gesellschaftliche Leben und seine staatliche Betreuung, all das hat ja tatsächlich seine Festigkeit, so dass es in der praktischen Politik bloß noch ums weitere und eventuell bessere Funktionieren des Ganzen geht.

Dennoch, die Wahrheit über das Verhältnis zwischen staatlicher Gewalt und Klassengesellschaft ist das nicht.

Am Fall der ehemaligen Ostblockstaaten, im Hinblick auf ihren „Umbau“ von realsozialistischen „Diktaturen“ zu echten Demokratien, wissen alle Experten ganz gut, dass, bevor irgendetwas von den hierzulande geläufigen „Lebensumständen“ losgehen kann, die Staatsgewalt Rechtssicherheit stiften muss. Klar und eindeutig ist auch, was das heißt – nicht gemeint ist jedenfalls ein Rechtsanspruch der regierten Massen auf Sicherheit im Leben. Rechtssicherheit ist die erste Existenzbedingung und unverzichtbares Lebensmittel für ein ordentliches Privateigentum – also, noch einmal, nicht für eine gesellschaftliche Ordnung, in der jeder weiß, was er für den allgemeinen Lebensunterhalt zu tun und für seinen Lebensunterhalt zu erwarten hat. Es geht um die saubere gesetzliche Zuordnung von allem und jedem – Produkt, Produktionsmittel, sogar Gelände – zu einer Privatperson, die darüber exklusiv verfügen darf; und selbst so ist der Zusammenhang von Recht und Eigentum eher noch zu locker bestimmt. Genau genommen hat Rechtssicherheit im ersten und elementaren Sinn gar keinen anderen Inhalt, als dass die Staatsgewalt den freien Willen aller mit Beschlag belegt und seine Betätigung unter den Vorbehalt stellt, dass sie die Verfügungsgewalt verleiht, deren ausschließenden Charakter sie unter dem Namen Eigentum heiligt.

Damit geht dann tatsächlich alles los; nämlich alles, was, wenn es dann funktioniert, „Marktwirtschaft“ heißt und eine „Volkswirtschaft“ ausmacht und eines ganz sicher nicht ist, nämlich ein Wirtschaften, bei dem viel Volk einvernehmlich und zweckmäßig zusammenwirkt. Wo das Privateigentum die ökonomischen Verhältnisse begründet, da ist als Erstes die durchgehende Scheidung hergestellt zwischen Mitteln und Erträgen der Ökonomie, also Produktionsmitteln und Produkten auf der einen Seite und auf der anderen Seite den zahlreichen Leuten, die das alles brauchen und auch gut in Gebrauch nehmen könnten. Auf Basis des Ausschlusses der einen und des Verfügungsmonopols einiger anderer ergibt sich zweitens ganz folgerichtig, wie die Letzteren ihre privateigentümlichen Mittel produktiv wirksam werden lassen und Erstere an die Güter ihres Bedarfs herankommen: Die Eigentümer lassen produzieren, „geben“ also Arbeit und noch einen Lohn dazu; die Zeitgenossen ohne Eigentum „nehmen“ Arbeit, „empfangen“ einen Lohn dafür und kaufen damit ihren Arbeitgebern ab, was sie brauchen und produziert haben. So kommandiert das Privateigentum die in der Gesellschaft geleistete Arbeit, monopolisiert wie von selbst deren Erträge und verfügt darin über wachsende Mittel zu seiner Vermehrung.

Das alles ist auf seine Art folgerichtig, folgt nämlich den sachlichen Gesetzen des Geldes, in dem das Privateigentum sein Maß und seine operationsfähige Gestalt besitzt, und dessen kapitalistischer Vermehrung; doch von selbst geschieht da nichts. Damit das Privateigentum seine Kommandogewalt über den Rest der Gesellschaft produktiv entfalten und alles von seinem Wachstum abhängig machen kann, muss schon wieder die Staatsgewalt intervenieren: Es braucht viele Maßregeln zur Betätigung des freien Interesses, also allgemein geltende Vorschriften, um erwachsene Menschen auf ein Dasein als bloße Arbeitskraft festzulegen; und noch viel mehr, um auf der anderen Seite das ganze gesellschaftliche Leben zu einem Einkaufs- und Verkaufsmarkt für kapitalistische Unternehmer herzurichten, eine ganze sekundäre Welt des Umlaufs zuverlässiger Zirkulationsmittel – eines staatlich gewährleisteten Kreditgeldes – einzurichten, den passenden kontrollierenden Überbau von Börsen und Banken, Gerichten und Rechtsanwälten, Bürokratie und Polizei zu erschaffen; alles das eben, wovon sich derzeit immer nachdrücklicher herausstellt, dass die regierenden Sozialisten im Osten es, zusammen mit dem Privateigentum, tatsächlich abgeschafft haben und dass ihre Bürokratie, bei aller Nachahmung kapitalistischer Verfahrensweisen, dafür eben doch nie ein Äquivalent war, geschweige denn heute sein kann.2)

Für die so stabil eingerichteten, menschennaturgemäß funktionierenden marktwirtschaftlichen Demokratien des Westens ist daraus zu lernen, dass sie mit ihrer Gewalt tatsächlich alles das schaffen, worauf sie sich wie auf eine vorfindliche Lage, ein quasi naturwüchsiges gesellschaftliches Leben beziehen. Wie ein eigenständiges Gebilde, zu dem die Staatsmacht mit ein paar ordnenden Dienstleistungen und der nötigen Verbrechensbekämpfung quasi sekundär hinzutritt, sieht die demokratisch verfasste Klassengesellschaft bloß deswegen aus, weil ihr bis ins Kleinste die staatliche Gewalt inkorporiert ist. Die vielgerühmte „Privatinitiative“ selbst, die die demokratische Menschenkunde für die natürliche Ausstattung gewisser Leute, nämlich der Kapitalistenrasse, hält und der der demokratische Staat nur zu ihrem natürlichen Recht verhelfen möchte, ist nichts als das Kunstprodukt der gesetzlichen Eigentumsordnung, die sämtliche produktiven Unternehmungen der Gesellschaft vom Geld abhängig macht und dem Kommando derer unterwirft, die genug davon haben: Wo überhaupt keine Initiative eine Chance hat, es sei denn, Privateigentümer machen ein Geschäft auf, da mag wohl der „private Unternehmergeist“ herrschen. Für die komplementäre Seite gilt dasselbe. Der demokratische Staat kennt keine Armut außer der, die auf dem systematischen Ausschluss der eigentumslosen Mitglieder vom systematisch privatisierten Reichtum der Gesellschaft beruht und sich im Zuge des kapitalistischen Wachstums als Abfallprodukt der dafür zweckmäßigen Verwendung von Arbeitskraft ergibt. Nicht einmal die alleinerziehenden Mütter sind wegen abhanden gekommenem Erzeuger arm dran, sondern weil der demokratische Staat die Frau auf die unbekömmliche Doppelrolle verpflichtet, als Keimzelle des Staates ganz privat für Nachwuchs zu sorgen und daneben sich für einen Job in der beruflichen Hierarchie der marktwirtschaftlichen Berufswelt zu qualifizieren: Da mag dann leicht Elend einreißen, sobald der gesetzlich verantwortliche Erzeuger als „Ernährer“ ausfällt – und die Mutter mit ihrem bestenfalls als „Zuverdienst“ zum Familieneinkommen tauglichen Lohn alleine dasteht. In sämtlichen Abteilungen, Untergliederungen, Notlagen, Interessengegensätzen seiner Gesellschaft trifft der demokratische Staat auf sein Werk.

Er trifft also gar nicht darauf, so als hätte er das alles in grauer Vorzeit geschaffen und es nun mit lauter ungewollten Spätfolgen und Nebenwirkungen zu tun. Nichts von dem, was sich konsequent und sachgesetzlich aus dem allerhöchsten demokratisch-marktwirtschaftlichen Imperativ – dass kapitalistisches Wachstum sein soll – ergibt, hätte auch nur einen Tag Bestand, ohne dass die Staatsgewalt es betreut.

Diese Betreuung besteht zuerst und vor allem in dem Zwang fürs regierte Volk, Interessengegensätze, die sich aus der Herrschaft des Privateigentums über die Ökonomie ergeben, also für ihr Funktionieren notwendig sind, auszuhalten. Die Staatsmacht lässt ihre kapitalistische Nationalökonomie nicht an ihren Widersprüchen scheitern. Schon gar nicht daran, dass in diesem zutiefst menschenwürdigen System die arbeitende Mehrheit auf ein Interesse festgelegt ist, mit dem sie zu nichts kommen kann, weder zu einem gesicherten Einkommen noch zu einem sorgenfreien Leben: auf das Interesse, gegen Lohn benutzt zu werden; auf ein Interesse also, mit dem sie in völligem Gegensatz zu dem freien Unternehmertum steht, von dem sie abhängt; oder umgekehrt ausgedrückt, auf eine Abhängigkeit, mit der sie in Konflikt mit den eigenen materiellen Bedürfnissen gerät, für welche es aber kein anderes Mittel gibt. Der Staat nimmt sich dieses Widerspruchs an, spricht dem Interesse der Lohnabhängigen seine Berechtigung zu, freilich mit der Maßgabe, dass es sich am entgegenstehenden Interesse der Arbeitgeber relativiert – und so sind dann die Arbeitnehmer auf ihre Abhängigkeit und eine Interessenlage festgelegt, die ihr Scheitern einschließt. Umgekehrt umgekehrt: Das Arbeitgeberinteresse an billig verfügbarer Arbeitskraft wird gesetzlich gebilligt; mit der Einschränkung, dass auch der Arbeitgeber sich an frei ausgehandelte Arbeitsverträge halten und für Arbeit Lohn zahlen muss.

Harmonie reißt darüber nicht ein. Es ergibt sich im Gegenteil eine Kette neuer Interessengegensätze; nunmehr zwischen den verschiedenartigen Bürgern und dem Staat, der sie auf ihre jeweilige Einkommensquelle festnagelt. Deren Funktionstüchtigkeit klagen folglich alle von ihrem Staat ein und erhalten Bescheid, jeder gemäß seiner Problemlage. Für die Leute mit Privatinitiative eröffnet der Staat seine Abteilung „Wirtschaftspolitik“ und fördert das Wachstum. Die Abhängigkeit und Existenzunsicherheit der andern betreut die Abteilung „Sozialpolitik“, vor allem mit dem Umverteilungssystem der gesetzlichen Sozialversicherungen. Das Ergebnis sind u.a. ein paar neue gesellschaftliche „Berufe“ wie der des arbeitsamtlich überwachten Arbeitslosen oder des mit seinem Einkommen in eine komplizierte Berechnungsformel eingepassten Sozialrentners und dazwischen eine ausgearbeitete Hierarchie der Armut mit den dazugehörigen Karrieren. So organisiert sich der demokratische Staat seine Klassengesellschaft zusammen: indem er die Leute zwingt, darin Platz zu nehmen, von der Widersprüchlichkeit ihrer Lage großzügig abzusehen und ihre unversöhnten Interessengegensätze vornehm hinter dem Gesichtspunkt zurückzustellen, dass doch immerhin der Staat sich um alle kümmert.

Nichts von alledem steht demokratisch zur Wahl. Denn das alles ist zwar staatliches Werk. In der Demokratie stellt es sich aber dar als die Realität, von der alle Politik ausgeht und der sie gerade dann entsprechen muss, wenn sie sie verändern will.

2. Durchsetzung von Interessen, Rechten und Ehre der Nation nach außen

In seinem Verhältnis nach außen kennt der demokratische Staat lauter Probleme, die ihm das Leben schwer machen: Gefahren für die nationale Sicherheit und für den Export, Rohstoffabhängigkeit, Exportoffensiven anderer, unkontrollierbare Kräfteverschiebungen in und zwischen dritten Ländern, Anträge auf und Verbote von Waffenexporten... All das und noch viel mehr „grenzüberschreitende Probleme“ gibt es ganz ohne Zweifel. Eine etwas einseitige Sicht der Dinge ist es aber schon, dass auf den demokratischen Staat von außen viel Problematisches einstürmen würde und die Regierung alle Hände voll zu tun hätte, um die verschiedenartigsten Konfrontationen zu bestehen, die ihr aufgemacht werden. Wenn ein Staat wie der deutsche es mit der ganzen Staatenwelt und deren Affären zu tun bekommt, dann deswegen, weil er vom Rest des Globus und dessen autonomen Gewalthabern so enorm viel will.

Was – darauf geben die öffentlich zirkulierenden Problemkataloge hinreichend deutliche Auskunft. Und einige unveräußerliche Prinzipien des Auftretens nach außen ergeben sich daraus auch.

Der erste Grundsatz heißt schlicht nationales Interesse und betrifft die materiellen Grundlagen der nationalen Macht, das Wachstum des kapitalistischen Reichtums: Das darf an den Staatsgrenzen nicht enden. Andere Nationen mit ihren kapitalistisch nutzbaren Potenzen müssen dafür verfügbar sein. Auch sie müssen sich also nach den „Gesetzen“ des Privateigentums richten – schon daraus ergeben sich weitgehende „ordnungspolitische“ Ansprüche gegen andere souveräne Staaten. Aber das langt bei Weitem nicht. Dem demokratischen Staat geht es um den Erfolg des Wachstums, das von seinem Boden ausgeht, in seinem Geld sein Maß hat und seine Bilanzen ins Plus bringt. Für diesen Kapitalismus müssen die Partner ausnutzbar sein. Und das unwiderruflich, also auch dann, wenn das gegen deren nationalkapitalistisches Eigeninteresse geht. Der eigene nationale Materialismus gilt im Vergleich zu dem der Kontrahenten selbstverständlich als das höherrangige Interesse, im Unterschied zu deren nationalem Egoismus also als nationales Recht