DEMUT - Mats Olsson - E-Book

DEMUT E-Book

Mats Olsson

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Beschreibung

Das hatte er sich anders vorgestellt: Harry Svensson, Exreporter einer Stockholmer Zeitung und angehender Kneipenwirt, hat sich in Malmö mit einer Weinhändlerin verabredet – doch aus der gemeinsamen Nacht wird nichts. Ulrika Palmgren überlegt es sich im letzten Moment anders und setzt ihn vor die Tür. Statt speziellen Sex gibt‘s ein lädiertes Ego und eine gebrochene Nase. Als er notdürftig verarztet in sein Hotel zurückkehrt, entdeckt er im Nachbarzimmer, dessen Tür lediglich angelehnt ist, den bekannten Blues-Sänger Tommy Sandell, der seinen Rausch ausschläft – neben ihm die Leiche einer Frau. Die Ermittlungen der Polizei in dem Mordfall wollen nicht so recht vorankommen. Nur eins ist sicher: der Musiker war es nicht. Svensson betreibt derweil seine eigenen Recherchen. Als es wenig später in Göteborg zu einem ähnlichen Fall kommt, ist Harry Svensson sich sicher, dass man es mit einem Serienmörder zu tun hat …

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Zum Buch

Das hatte er sich anders vorgestellt: Harry Svensson, Ex-Reporter einer Stockholmer Zeitung und angehender Kneipenwirt, hat sich in Malmö mit einer Weinhändlerin verabredet – doch aus der gemeinsamen Nacht wird nichts. Ulrika Palmgren überlegt es sich im letzten Moment anders und setzt ihn vor die Tür. Statt speziellen Sex gibt’s ein lädiertes Ego und eine gebrochene Nase. Als er notdürftig verarztet in sein Hotel zurückkehrt, entdeckt er im Nachbarzimmer, dessen Tür lediglich angelehnt ist, den bekannten Blues-Sänger Tommy Sandell, der seinen Rausch ausschläft – neben ihm die Leiche einer Frau. Die Ermittlungen der Polizei in dem Mordfall wollen nicht so recht vorankommen. Nur eins ist sicher: der Musiker war es nicht. Svensson betreibt derweil seine eigenen Recherchen. Als es wenig später in Göteborg zu einem ähnlichen Fall kommt, ist Harry Svensson sich sicher, dass man es mit einem Serienmörder zu tun hat …

Zum Autor

MATS OLSSON (geboren 1949) ist einer der bekanntesten Journalisten Schwedens. Er arbeitet als Sportreporter, Musikkritiker und Auslandskorrespondent. Momentan lebt er in New York. Olsson ist vielfach preisgekrönt für seine journalistischen Texte, er ist darüber hinaus der schwedische Übersetzer von Joseph Wambaugh, Robert Caris und James Lee Burke. DEMUT ist sein Krimidebüt und Start einer Serie um den ehemaligen Journalisten Harry Svensson.

Mats Olsson

DEMUT

Thriller

Aus dem Schwedischen von Leena Flegler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die schwedische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Straffa och låta dö« bei Norstedts, Stockholm.

Deutsche Erstveröffentlichung März 2017 Copyright © der Originalausgabe 2014 by Mats Olsson Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by btb Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Published by Agreement with Salomonsson Agency Umschlaggestaltung: semper smile, München, Satz: Uhl + Massopust, Aalen RK . Herstellung: sc ISBN 978-3-641-16397-6 V002

www.btb-verlag.de

I get scared when I remember too much

Rod Stewart, »Lady Day«, 1970

I

KAPITEL 1

SIE WOLLTE SCHLÄGE.

Nichts weiter.

Heutzutage weder ungewöhnlich noch sonderlich aufsehenerregend. Aber so fing es an.

Das Merkwürdige war, dass ich es nicht sofort begriff.

Aber das tat sie ebenso wenig.

Oder vielleicht tat sie es doch.

Das war schwer einzuschätzen.

In dem einen Moment war sie sich sicher, in dem nächsten nicht.

Wollte.

Vielleicht.

Ganz bestimmt.

Nicht.

Doch.

Wirklich nicht!

Keinesfalls.

Oder doch?

Ich habe es immer begriffen, fast sofort, fast schon beim allerersten Blickkontakt, beim ersten Lächeln, noch ehe es ihnen selbst klar war, aber diesmal begriff ich rein gar nichts, und als die Achterbahn sich langsam nach oben bewegte, saß ich still und leise da, womöglich erwartungsvoll, nur um mich wenig später verzweifelt am Sitz festzuklammern, als es schließlich in den Abgrund hinunterging.

Eigentlich habe ich immer gewusst, was ich wollte, und hätte die Fahrkarte für diese Achterbahnfahrt nie gelöst, wenn ich zuvor nicht sorgfältig sowohl die Route als auch den Zustand der Wagen überprüft hätte. Aber in diesem Fall war es genau umgekehrt: Obwohl ich von Natur aus dominant bin, war ich es, der plötzlich unten lag und sich bereitwillig wie ein Lamm abführen ließ, um geopfert zu werden.

Vielleicht eher wie ein Schafbock, wenn ich es genau betrachte.

Vielleicht war ich ein bisschen aus der Übung.

Es war immerhin schon eine Weile her.

Vor Jahren, da war ich noch deutlich jünger gewesen, hatte ich geboxt, also wusste ich nur zu gut, dass man bloß für eine Sekunde seine Deckung aufgeben und unaufmerksam sein muss, um der Länge nach zu Boden zu gehen, und dann rettet einen nicht einmal mehr der Gong.

In so einem Fall kann ein Kopfschutz durchaus nützlich sein.

Außer dass ich immer genau wusste, was ich wollte, hatte ich üblicherweise auch immer die Kontrolle über das, was passierte, und begab mich nur selten in Situationen, in denen ich riskierte, ins Schwimmen zu geraten und nicht mehr Herr der Lage zu sein. In dieser Hinsicht war ich exakt wie Lars Lagerbäcks Nationalmannschaft: souverän in Standards und schnell im Wittern von Chancen.

Meine berufliche Entwicklung habe ich nicht selten dem Zufall überlassen, aber in jeder anderen Hinsicht glaube ich nicht an den Zufall. Ich glaube nicht daran, dass Dinge einfach geschehen. Womöglich ist es genau diese Einstellung, die einem zur Dominanz verhilft.

Auch wenn man den Verlauf eines Ereignisses nie zu hundert Prozent vorhersehen kann, ist man auf das Unvorhergesehene doch besser vorbereitet, wenn man zumindest versucht hat, Vorkehrungen zu treffen.

Als ich irgendwann begriff, dass sie Schläge wollte, traf ich die entsprechenden Vorkehrungen, so gut ich eben konnte. Punkt für Punkt arbeitete ich die Checkliste ab, mit der ich so wohlvertraut war. Ich hatte sie nämlich selbst zusammengestellt.

Es hätte gut gehen müssen.

Es ging komplett in die Hose.

Vielleicht lag es am Internet.

Ich weiß es nicht.

Aber es ging alles komplett den Bach hinunter, und alle bekamen es mit.

Und das war bloß der Anfang.

KAPITEL 2

Stockholm, im Oktober

DIE FRAU, DIE Schläge wollte oder vielleicht doch lieber nicht, hieß Ulrika Palmgren und war Weinhändlerin.

Sie wohnte in Malmö.

Ich saß ihr in Stockholm gegenüber, aber erst übers Internet lernte ich sie besser kennen. Oder vielleicht lernte ich sie auch schlechter kennen.

Warum ich meinen Job als Journalist hatte aufgeben wollen, kann ich schlecht erklären, aber ich hatte eine Abfindung ausgehandelt, und ich glaube, dass es in Teilen an meiner Rastlosigkeit lag, aber auch an der unsicheren Zukunft der Zeitung. Es sah nicht danach aus, als hätte das gedruckte Wort noch Bedeutung.

Ebenso wenig kann ich erklären, wie ich darauf kam, mithilfe der Abfindung ein Lokal eröffnen zu wollen, aber nachdem ich mein ganzes Leben in Kneipen zugebracht hatte, bildete ich mir ein, ich würde mich ausreichend auskennen.

Wie genau sie auf meinen Namen gestoßen war, habe ich nie herausgefunden, aber als Ulrika Palmgren nach Stockholm kam, um Wein zu verkaufen, den ein Rocksänger angebaut hatte, dessen Name mir rein gar nichts sagte, gehörte ich zu den potenziellen Kunden, mit denen sie Kontakt aufgenommen hatte.

Die Hotelbar des Anglais am Stureplan diente tagsüber als Treffpunkt für Geschäftsleute, die nicht über eigene Büroräume verfügten und gern in einer Hotelbar saßen, um E-Mails zu verschicken, zu telefonieren und Termine wahrzunehmen. Früher hieß es, man hätte sein Büro in der Tasche. Inzwischen hatte man es in der Bar. Es war der reinste Kinderhort für Erwachsene.

Ulrika Palmgren hatte eine Ecke zugewiesen bekommen, in der sie eine Holzkiste mit Flaschen auf den Boden und ihre Verkaufsunterlagen vor uns auf den Tisch gelegt hatte, und während ich die Weine verkostete, von denen einer saurer war als der andere, hoffte ich, dass der Rocksänger ein besserer Rocksänger als Winzer wäre, warf einen Blick hinaus auf das immer herbstlichere Stockholm und hatte plötzlich den unbändigen Drang, hinauszulaufen und im Humlegården in die Laubhaufen am Boden zu treten. Männer in meinem Alter sollten einen derartigen Drang nicht verspüren. Vor allem nicht, wenn sie als Erwachsene angesehen werden wollen und eine Karriere in der Gastronomie anstreben.

»Ein paar von uns wollen nachher noch im Riche essen gehen«, sagte Ulrika Palmgren, nachdem sie ihre Geschichte vom Wein und vom Rocksänger fertig erzählt hatte. »Kommen Sie doch mit. Also, wenn Sie Lust haben.«

Ich nahm an, das hieß, dass sie die Rechnung übernehmen würde, und daher saß ich eine Weile später in der hübschen Glasrotunde des Riche mit Blick über die Birger Jarlsgatan in Richtung Stureplan. Außer Ulrika Palmgren waren noch zwei Männer dabei, mit denen ich flüchtig bekannt war, wenn man das überhaupt so sagen konnte. Wir nickten einander zu, sobald wir uns irgendwo begegneten, und ich kannte ihre Lokale aus der Zeitung und aus verschiedenen Food-Blogs. Der eine hatte schulterlanges dunkles Haar und lispelte auf feminin-männliche Weise, während der andere einen kahl rasierten Schädel hatte und auf dem linken Innenarm einen großen tätowierten Anker, auch wenn er vermutlich nie ein Schiff zu Gesicht bekommen hatte, nicht mal auf einem Bild. Und wie zum Beweis dafür, dass nichts ist, wie es scheint, hatte der lispelnde, langhaarige Kerl auf Söder ein supermodernes Steakrestaurant eröffnet, während der eher fleischige Typ mit dem Anker und dem rasierten Schädel den Durchbruch als Konditor mit Mini-Cupcakes geschafft hatte und jetzt Wirkungskreis und Angebot erweitern wollte, wie er sagte. Sie unterhielten sich über Weine, von denen ich noch nie gehört hatte, und darüber, ob Micael Bindefeld immer noch der Eventveranstalter war, den man zurate ziehen sollte, wenn man den Wein eines bekannten Rocksängers zu lancieren gedachte. Allerdings hörte ich nur mit halbem Ohr zu, insofern kann ich es nicht mit Bestimmtheit sagen.

Ich hatte Rind bestellt, und zwar auf die altmodische, klassische Art, wie es in den Siebzigern im Victoria am Kungsträdgården zubereitet worden war: mit Kartoffelpüree, rohem Eigelb, geriebenem Meerrettich und das Fleisch so flach geklopft, dass es hauchdünn war wie ein Blatt. Ulrika Palmgren hatte ein paar Flaschen Devil’s Peak in das Lokal geschmuggelt, aber wenn ich es richtig verstand, hatte der Wein weder mit dem gleichnamigen Berggipfel bei Kapstadt noch mit Deon Meyers Roman zu tun.

»Das war einer ihrer großen Hits«, erklärte sie und meinte damit wohl die Band des Rocksängers, und dann trällerte sie leise eine Liedzeile, die endete mit: »… if you come into my arms, I’ll take you to the devil’s peak.«

Solche Lieder werden heutzutage nicht mehr geschrieben.

Bei der Weinprobe am Nachmittag im Anglais hatte ich mich nicht gerade aufmerksam mit Ulrika Palmgren beschäftigt, weil ich derart in den Gedanken versunken gewesen war, im Herbstlaub herumzuspringen, sodass ich nicht einmal hätte sagen können, ob sie sich für das Abendessen umgezogen hatte oder nicht. Jedenfalls trug sie jetzt eine dunkle Hose, eine weiße Bluse und darüber eine Jacke, die aussah, als wäre sie aus Jeansstoff, aber unter Garantie aus sehr viel teuerem Material bestand. Ihr braunes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, aus dem sich einzelne Strähnen gelöst hatten, die ihr jetzt rechts bis über die Wange hingen. In regelmäßigen Abständen strich sie die Strähnen beiseite, es wirkte allerdings eher wie eine automatisierte Geste, wie ein Reflex, und nicht, als würde es sie stören. Sie war schätzungsweise Ende vierzig, hatte feine, durchaus attraktive Fältchen um die Augen, ein gewinnendes Lächeln, und um den Hals trug sie eine Kette mit einem zierlichen Silberschlüssel, der tief zwischen ihren Brüsten hing.

Weder war ich an ihren Weinen interessiert noch an den beiden Männern in der Runde, sodass ich letztlich nur mehr dasaß und sie musterte. Manchmal reicht es schon, einfach nur dazusitzen und eine Frau zu betrachten, damit das Leben erträglich wird. Ich ahnte, dass ich mich aus ihrer Sicht wohl ins Abseits manövriert hatte, als ich an die Bar getreten war und Stefan, den kahlköpfigen Barkeeper, um ein Glas schweren australischen Rotweins anstelle von Ulrika Palmgrens Devil’s Peak gebeten hatte, aber nachdem wir gegessen und die beiden anderen sich auf den Heimweg gemacht hatten, half ich ihr in den Mantel, und sie sagte: »Sie sind sehr schweigsam.«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Sie haben die ganze Zeit kaum ein Wort gesagt.«

»Manchmal habe ich einfach nichts zu sagen, und dann sage ich auch nichts. Manchmal habe ich mehr zu sagen, und dann rede ich. Wenn ich zu viel Kaffee getrunken habe, höre ich gar nicht mehr auf, aber hin und wieder denke ich einfach nur nach.«

»Und worüber haben Sie heute Abend nachgedacht?«

»Ob der Schlüssel um Ihren Hals der Schlüssel zu Ihrem Herzen ist oder ob er woanders passt.«

»Gute Antwort.«

Und da hatte sie recht. Ich hatte in Wahrheit über gar nichts nachgedacht, aber irgendwo musste ein Schlüssel schließlich passen.

»Mein Flieger nach Malmö geht morgen um sieben ab Bromma, deshalb … will ich nicht allzu spät ins Bett, aber kann ich Sie in meiner Hotelbar vielleicht noch zu einem Drink einladen? Wie sagt man – zu einem Schlummertrunk?«

»Solange es nicht der Wein von diesem Rockstar ist«, antwortete ich.

Sie gab ein sympathisches Lachen von sich, und als wir schließlich zurück im Anglais waren, hatte sie nichts dagegen, dass ich einen doppelten Macchiato und einen großen Grappa bestellte, der übel roch. Sie selbst nahm ein Glas Weißwein. Welchen genau sie bestellte, bekam ich nicht mit, aber der des Rocksängers war es jedenfalls nicht.

»Sie werden Ihrem Sänger untreu«, sagte ich.

»Um ehrlich zu sein … nun ja … irgendwas muss man ja verkaufen«, erwiderte sie. »Und man kann alles verkaufen. Ich hab schon schlechtere Weine getrunken.«

Aus den Lautsprechern rieselte angenehme, wenn auch einigermaßen unpersönliche Musik, und wie so oft wunderte ich mich darüber, dass in einer völlig durchschnittlichen Bar ein DJ vor einem Plattenteller saß und Songs auflegte. Wie schwer konnte das wohl sein? Ein bisschen gute alte Sade, Norah Jones, irgendein Bossanova oder diese grässliche Melody Gardot, der bestimmt jedes Mal, wenn sie sich schlafen legte, Billie Holidays Geist erschien. Ausgerechnet dieser junge Mann sah allerdings so aus, als hätte er Probleme gehabt, den richtigen Hut zu finden, offensichtlich passte er nicht, ständig rutschte er ihm vom Kopf.

»Sie sind eher der ruhige, starke Typ«, sagte sie. »Sagt man das so? Der ruhige, starke Typ? Oder der starke, ruhige?«

»Das kann man wohl halten, wie man will«, erwiderte ich. »Ruhig, stark oder stark, ruhig. Kommt aufs Gleiche raus.«

Sie nahm einen großen Schluck Wein, lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Ich hatte es zuvor nicht bemerkt, aber sie hatte verdammt spitze, hochhackige Stiefeletten an, die bis an den Rand des Schafts geschnürt waren.

»So jemanden wie Sie sollte man besser nicht reizen.«

»Ach ja?«

»Oder allzu unartig sein«, fuhr sie mit einem Lächeln fort.

Sie ließ mich keine Sekunde lang aus den Augen. Ich war es schließlich, der den Blick abwandte und hinaus in Richtung Humlegården sah.

»Zumindest habe ich so ein Gefühl«, sagte sie dann.

Weil ich nicht wusste, ob sie damit einen Köder auswarf oder irgendetwas anderes, biss ich lieber nicht an. Ich für meinen Teil hatte jedenfalls kein entsprechendes Gefühl gehabt. Für manche Menschen bedeuten Worte nicht mehr, als nun mal im Wörterbuch steht. Bei anderen sind die gleichen Worte eine explosive Mischung aus Verheißung und Androhung von Liebe, Sex oder Hass. Bislang war es unproblematisch gewesen, und vielleicht täuscht mich auch nur die Erinnerung, aber mein Radar hatte kein einziges Mal während des ganzen Abends aufgeblinkt, sodass ich selbst beim Wort »unartig« zwar aufmerkte, aber nicht darauf reagierte und mich stattdessen auf einen Mann konzentrierte, der an der Wurstbude auf der gegenüberliegenden Straßenseite Konzertplakate für die Tommy-Sandell-Tour anklebte.

»Kaum zu glauben, dass irgendjemand den noch sehen will«, sagte ich und deutete zu den Plakaten hinüber. »Der war noch nicht mal gut, als er noch gut war.«

»Hin und wieder sieht man ihn noch im Fernsehen«, sagte Ulrika.

»Hin und wieder sind alle im Fernsehen.«

»Ja, aber trotzdem …«

Als wir ausgetrunken hatten, kritzelte sie ihren Namen und die Zimmernummer auf die Rechnung, wir gaben einander eins dieser merkwürdigen Luftküsschen, die mir immer misslangen, und sie machte sich auf den Weg zu ihrem Zimmer. Ich verließ das Hotel, schlug meinen Mantelkragen hoch und marschierte in Richtung der Bushaltestelle am Stureplan. Am Bushäuschen klebte ebenfalls ein Tommy-Sandell-Plakat, und ich war überrascht, wie lange er auf Tournee sein würde. Als er zuletzt unterwegs gewesen war, war die Hälfte der Konzerte abgesagt worden. Dass er ganz gern mal einen über den Durst trank, war kein Geheimnis.

»Schwedens legendärer Blues-König« stand auf dem Plakat neben einer Porträtaufnahme, die mindestens fünfzehn Jahre alt sein musste. Ich zählte sage und schreibe neunzehn Orte, die meisten davon Kneipen im Hinterland, aber es waren auch das KB in Malmö und das Akkurat in Stockholm dabei.

Ich hatte Sandell nie gemocht, was eventuell an meinen Vorurteilen lag: Für mich war Blues etwas Echtes, etwas Reelles, aber selbst wenn Tommy Sandell Hoochie Coochie Man sang, klang es immer wie Gedudel. In der Fernsehübertragung von Allsång aus dem Skansen hatte er Got My Mojo Working gespielt, und sämtliche alten Schachteln, Teenager, TV-Bosse und B-Promis hatten den Refrain mitgeträllert. Ich hatte die Sendung damals nicht selbst gesehen, aber als Journalist – oder ehemaliger Journalist – weiß man oft trotzdem mehr, als man wirklich wissen muss.

Früher bin ich hin und wieder in der Kneipe über Tommy Sandell gestolpert, aber irgendwann machte ich um ihn lieber einen Bogen, weil ich nicht riskieren wollte, eine spöttische Bemerkung über die Sümpfe Louisianas fallen zu lassen, über den echten Blues oder darüber, dass man den Begriff nicht mal in den Mund nehmen sollte, solange es einen Sven Zetterberg gab – einen Sven Zetterberg, der sowohl den Blues als auch den Soul umarmte, durchdrang und beherrschte, wie es einem Tommy Sandell nie gelingen würde, selbst wenn man ihm drei Jahre lang jeden Morgen um sieben eine spitze Nadel in den Rücken drosch.

Außerdem war ich inzwischen allergisch gegen seine zunehmend ausschweifenden Gesten und seine theatralische Ausdrucksweise, und nachdem er auch noch angefangen hatte zu malen und allen Ernstes ein paar Bilder verhökert hatte, weil er sie im Frühstücksfernsehen in die Kamera gehalten hatte, hatte er begonnen, in aufgeknöpften Wallehemden und mit großen, breitkrempigen Hüten herumzulaufen, und gebärdete sich nicht einmal mehr wie ein Mann des Blues, was immer das auch sein mochte, sondern wie ein alter Troubadour, und genauso klang er auch.

Es war allerdings schon eine Weile her, dass ich ihm über den Weg gelaufen war. Ich nehme an, zu diesem Zeitpunkt ahnte keiner von uns beiden, dass wir bald mehr miteinander zu tun haben würden, als wir es uns in unseren schlimmsten Albträumen hätten vorstellen können.

Als endlich ein Bus kam, war es der 1er. Früher hatte ich lieber den 56er genommen, aber seit sie die meisten alten klappernden 56er, die allesamt keine Stoßdämpfer gehabt zu haben schienen, gegen neue, fast lautlose und überaus bequeme Busse ersetzt hatten, spielte es keine Rolle mehr.

Der Himmel war sternenklar, und aus den Mündern der schnaufenden, schnatternden Leute stieg Dunst auf, als ich durch die Fenster des langen blauen Busses hinaus in die Nacht blickte.

Vier Tage nach der Weinprobe in Stockholm bekam ich von Ulrika Palmgren eine E-Mail mit dem Betreff »Hallihallo«. Sie fragte, ob ich denn nun ein paar Flaschen des Rocksängerweins kaufen wolle, aber ich hatte das Gefühl, sie hatte längst verstanden, dass ich diesbezüglich keine Ambitionen hegte, und hatte nur um des Mailens willen gemailt.

Vielleicht hätte ich da schon reagieren müssen. »Hallihallo« ist kein Ausdruck, den ich im täglichen Leben verwende. Trotzdem antwortete ich höflich, dass es sehr nett gewesen sei, sie zu treffen, aber solange mein Kneipenprojekt sich noch im Planungsstadium befinde, wolle ich mich noch nicht mit einer Weinbestellung festlegen. Vermutlich würde ich erst im nächsten Sommer so weit sein, wenn überhaupt. Ich schrieb ihr außerdem, dass es wahrscheinlicher sei, dass ich für einen Gastwirt namens Simon Pender arbeiten würde, den ich seit vielen Jahren kannte und der mir angeboten hatte, in einem Restaurant mit anzupacken, das er im Nordwesten von Schonen pachten wollte.

Als ich die Zeitung verlassen hatte, hatte ich so viel Geld bekommen, dass ich nicht in Panik verfallen musste. Ich würde mich die nächsten vier Jahre über Wasser halten können, insofern tat ich in diesem Herbst eigentlich nicht viel mehr, als ein paar potenzielle Lieferanten zu treffen, ins Kino oder in die Kneipe zu gehen oder durch die düstersten Winkel des Internets zu surfen. Und ich hatte alle Zeit der Welt, um auf Ulrika Palmgrens Nachrichten zu antworten. Im Prinzip schrieb sie mir täglich und erzählte mir durchaus humorvoll von sich selbst und ihrem Leben. Sie war erstaunlich offenherzig, und hin und wieder hätte ich sie am liebsten darauf hingewiesen, dass E-Mails genau wie Postkarten jederzeit von wem auch immer mitgelesen werden konnten.

Sie war sechsundvierzig Jahre alt und geschieden. Die Tochter studierte und jobbte in Kopenhagen. Nach der Scheidung war Ulrika aus dem Haus in Falsterbo ausgezogen und hatte sich eine Wohnung in der Malmöer Innenstadt gekauft. Während ihrer Ehe hatte sie nie gearbeitet, aber nachdem ihr Mann, ein Rechtsanwalt, »jemand Jüngeren und Lebhafteren« gefunden hatte, hatte Ulrika sich dazu durchgerungen, ihr Interesse an Weinen zu ihrem Beruf zu machen.

Weil ich alte E-Mails nicht abspeichere, kann ich nicht mehr nachvollziehen, wann und wodurch auf einmal meine Neugier geweckt wurde. Ich lösche Mails, sobald ich sie gelesen habe, ich werfe Bücher weg, wenn ich damit fertig bin, und ich kaufe CDs mittlerweile nur noch, um die Tracks auf meinen iPod zu überspielen. Dann wandern sie auf den Müll, oder ich verschenke sie.

Vielleicht war es die Fernsehserie Weeds. Sie sah sich gerade die vierte Staffel an, fand die Serie klasse und erwähnte irgendwann unvermittelt eine Szene, in der Mary-Louise Parker, die die Drogendealerin Nancy Botwin spielt, von einem mexikanischen Bürgermeister in seiner Limousine den Hintern versohlt bekommt. Laut Ulrika Palmgren war die Szene faszinierend.

Es dauerte drei Tage, bis ich antwortete.

Keine Ahnung, ob es ein Köder war. »Faszinierend« – ein Haken, den sie auswarf, oder schlicht und einfach die ganz unschuldige Beschreibung einer Szene aus der Serie?

Ich hatte den einen oder anderen Newsletter abonniert und verfolgte Webseiten über »Spanking in Film und Fernsehen« und konnte in Sachen Filmszenen aus dem Vollen schöpfen. Am Ende fragte ich lediglich, ob sie Secretary gesehen habe, den Spielfilm um eine sich unterwerfende Maggie Gyllenhaal und einen dominanten James Spader.

»Kenne ich«, schrieb sie zurück. »Faszinierend.«

Danach warf sie alle Hemmungen über Bord und erzählte lang und breit davon, dass sie sich nach ihrer Scheidung geschworen habe, alles auszuprobieren, was sie auch nur annähernd interessierte. Zuvor sei sie dazu zu feige oder zu gehemmt gewesen. Bestrafungen hätten sie aber immer schon fasziniert. Sie wusste nicht, warum, aber allein der Gedanke daran erregte sie. Einmal hatte sie ihrem Rechtsanwalt von diesen Gefühlen erzählt und ihm diverse Dinge vorgeschlagen, die er mit ihr tun dürfe, wenn sie unartig gewesen sei, aber er hatte nur gelacht.

Ich wusste mehr über dieses Thema, als ich zu wissen vorgab, und antwortete, dass Fantasie und Wirklichkeit wohl zwei Paar Schuhe seien, dass auf der Titelseite eines Wochenmagazins einmal gestanden habe: »Spanking ist die neue Missionarsstellung«, dass die Kummerkastentanten in den Zeitschriftenredaktionen Spanking-Instrumente testeten und es mittlerweile so aussah, als würde fast jeder in seinem Sexualleben darauf bestehen. Eine große Faszination schien von dem Thema auszugehen, nachdem es neuerdings in derart vielen Filmen, Musikvideos und Fernsehserien aufgegriffen wurde.

Sie ahnte, dass ich mich auf diesem Gebiet auskannte. Sie hatte es bereits in Stockholm geahnt, und natürlich hatte sie recht. Auf diesem Gebiet kannte ich mich besser aus, als gesund für mich war, aber so, wie sich die Dinge entwickelten, wurde ich allmählich unsicher:

Vielleicht wusste ich doch nicht, worum es ging.

KAPITEL 3

Malmö, im Oktober

TEIL MEINER ABFINDUNG war eines der alten Autos aus der Dienstwagenflotte der Zeitung gewesen, und an jenem verhängnisvollen Tag, als ich Stockholm hinter mir ließ und gen Süden fuhr, war Schweden so grau, düster und trostlos, dass ich mir beinahe schon wie in der ehemaligen Sowjetunion vorkam. Nicht dass ich je in der Sowjetunion gewesen wäre. Aber man hat so seine Vorstellungen.

Ulrika war, was ihre Absichten betraf, sehr deutlich gewesen – oder vielleicht auch nicht. Ihre E-Mails hatten widersprüchlich geklungen. Letztendlich hatte ich ihr geschrieben, dass ich nach Malmö kommen und wir dann schon sehen würden, was passierte. Dass wir es eben nehmen würden, wie es käme. Ich hatte beschlossen, zur Sicherheit einen Teppichklopfer mitzunehmen. Der nahm nicht allzu viel Platz ein und hatte sich schon häufiger als überaus handlich erwiesen.

Seit ich den Teppichklopfer besaß, war er nie für einen Teppich benutzt worden. Er bestand aus geflochtenem Schilfrohr und reiste in einem alten Gitarrenkoffer. Wenn man ihn richtig einsetzte, hinterließ er mitunter ganz hübsche herzförmige Spuren.

Ich fühlte mich wie der Hauptdarsteller aus diesem französischen Film aus den Siebzigern, La Fessée. In dem Film zieht ein Mann landauf, landab und versohlt auf Bestellung anderen den Hintern. Auch wenn er ziemlich einseitig daherkommt, hatte ich mir den Film mit siebzehn in einem Londoner Kino in einer Woche dreimal angesehen, obwohl ich mein Geld eigentlich für andere Dinge hätte zusammenhalten müssen.

Allzu große Hoffnungen machte ich mir nicht, aber nachdem ich mich einmal dazu durchgerungen hatte, Richtung Süden zu fahren, konnte das genauso gut daran liegen, dass es einfach schon so lange her war – viel zu lange.

Mehr als ein Jahr, zwei Jahre sogar. Jessica. Hatte sie so geheißen? Oder Johanna. Josefin? Nein, Jessica. Sie hatte für ihre Firma eine Konferenz in Stockholm besucht, und später an der Theke hatte eins zum anderen geführt. Ihre Unartigkeit hatte am Samstagmorgen ein jähes Ende genommen, weil sie sich vor allem Sorgen darüber machte, wie lange man wohl die Spuren sehen würde.

»Wird nicht ganz einfach werden, das hier daheim zu erklären«, sagte sie.

Sie hatte zuvor gar nicht erwähnt, dass sie verheiratet war.

Andererseits war sie unkompliziert, sie hatte nicht den Drang, ihre Bedürfnisse und Gefühle verstehen zu wollen, und mochte auch nicht für ihre Gedanken bestraft werden. Sie hatte einfach Lust auf ein Abenteuer gehabt. Aber sie hieß Johanna. Oder Jessica. War von irgendwoher.

Keine Ahnung – ich war derart in Gedanken versunken, dass ich viel zu schnell unterwegs war und schließlich kurz vor Norrköping von einer Polizistin herausgewunken wurde. Sie stieg aus ihrem Wagen und sagte: »Das war gerade ein bisschen schnell.«

»Ich war in Gedanken«, sagte ich.

Gedanken im Wert von 2500 Kronen für zu schnelles Fahren.

In Malmö angekommen, checkte ich im Meister Johan im Stadtteil Gamla Väster ein. Ich hatte vorgeschlagen, dass Ulrika und ich uns in der Hotellobby treffen und dann im Bastard essen gehen sollten oder meinetwegen auch nur etwas trinken. Das Bastard hatte jüngst erst neu eröffnet und war eines jener Restaurants, in denen vom äußersten Schwanzkringel bis zu den Ohren alles vom Schwein verwendet wurde. Man konnte sogar als Snack zu seinem Drink Gaumenmandeln mit Zimtzucker bestellen, und ich hatte gehört, dass sie einem dort um des Effektes willen auch schon mal ein Schweinsauge aufs Cocktailstäbchen spießten. Aber das hatte ich lediglich gehört.

Als wir uns gegenüberstanden, wussten wir anscheinend beide nicht so recht, ob wir uns die Hand geben, umarmen oder diese sonderbaren Küsschen auf die Wange hauchen sollten. Am Ende tätschelten wir einander die Arme, lächelten und sahen wieder weg.

Zumindest sie sah weg.

Sie schien nervös zu sein.

Lachte ein bisschen zu gekünstelt, wenn dieses und jenes gesagt wurde, hakte sich dann aber doch bei mir unter, als wir in Richtung Bastard aufbrachen.

Aus dem Lokal schlugen uns Wärme und ein verführerischer Duft von Essen entgegen, doch das Erste, was ich sah, als wir eintraten, war Tommy Sandell. Vielleicht entdeckte auch er mich zuerst, jedenfalls grölte er: »Svensson! Harry Svensson! Wie hast du denn hierhergefunden? Und wer ist diese bezaubernde junge Dame?«

Er saß links vom Eingang an einem großen Tisch, der sich unter Gläsern und Weinflaschen regelrecht bog, und war in Gesellschaft einer Dame, die leicht angetrunken bis mittelschwer besoffen aussah. Schwankend stand Tommy Sandell auf und kam auf uns zu.

»Svensson!«, rief er erneut und schüttelte mir euphorisch die Hand.

»Sandell«, gab ich nicht ganz so euphorisch zurück, merkte aber, dass er mich da bereits verdrängt und nur mehr Augen für Ulrika hatte.

»Und wie heißt die junge Dame?«, fragte er, während er gleichzeitig nach ihrer Hand griff und einen Kuss darauf hauchte. »Ah, wie wunderbar! Ich liebe Frauenhände! Was wäre die Welt ohne die Hände einer Frau?«

Ulrika war geschmeichelt.

Sandell hatte einen weißen Strohhut mit einer ausladend breiten Krempe auf dem Kopf und trug verschlissene Jeans und Stiefel, die aussahen wie Plagiate einer besseren Marke. Sein bauschiges weißes Hemd war fast bis zum Nabel aufgeknöpft. Insofern sah er aus wie immer. Seit Neuestem trug er eine getönte Brille, aber die saß ihm derart weit unten auf der Nasenspitze, dass sie ihm hinunterzurutschen drohte.

»Na, was treibt ihr Bauern so in Malmö? Gab’s heute mal wieder Kartoffeln zum Essen?«, fragte er und versuchte wie so oft, wenn wir uns begegneten, den schonischen Akzent nachzuahmen, klang dabei jedoch wie ein Volltrottel oder bestenfalls wie ein Volltrunkener. Bei ihm kam das aus meiner Sicht aufs Gleiche raus. »Seid ihr per Schubkarre gekommen? Und spielt heute nicht auch der IF?«

»Hast du heute gar keinen Auftritt?«, gab ich zurück.

»Klar, aber du weißt schon, vorher muss ich die Blues-Batterien aufladen, in Stimmung kommen, du weißt doch, wie das ist.«

»Klingt bombig.«

»Und selber, Svensson? Spielst du neuerdings auch Gitarre?« Er deutete auf den Gitarrenkoffer in meiner Hand.

»Nein, nicht wirklich.«

»Hol sie raus«, rief er. »Hol sie raus, dann streichle ich aus ihr einen Blues heraus, so wie ich einer Frau über den Arm streicheln würde.«

»Heute nicht«, entgegnete ich. »Wir wollen essen.«

»Esst und lasst Bacchus fließen«, rief er. »Ich trink noch schnell einen Kurzen, dann ruft die Bühne, die Nacht ist noch lang.« Als er zurück an seinen Tisch wankte, warf er Ulrika noch ein Küsschen zu. Dann ließ er sich unter einem coolen Foto des jungen Johnny Cash mit Kippe im Mund auf seinen Stuhl fallen und legte seinen Arm um die Schultern der angetrunkenen Frau. Sie bemerkte es nicht einmal, so konzentriert war sie darauf, ihr Glas Wein, ohne zu kleckern, an die Lippen zu heben.

»Lasst Bacchus fließen«, wiederholte ich und manövrierte Ulrika und mich selbst von seinem Tisch weg in Richtung Tresen. »Was sollte das denn heißen?«

Im Bastard bekam man unter anderem ein Brettchen mit Rillettes oder Patés serviert, in denen verschiedenste tierische Körperteile steckten. Wir stocherten ein bisschen in den vermeintlichen Leckerbissen herum – hauptsächlich wollte ich die Hoden beiseiteräumen, sofern welche auf dem Brettchen lagen. Hunger verspürte ich kaum, eher Anspannung oder Erwartung, vielleicht sogar Erregung.

»Spielst du wirklich Gitarre?«, fragte Ulrika. Ihr Akzent klang wie der von einigen intellektuellen Fußballfans oder Werbeleuten.

»Nein«, antwortete ich.

»Warum trägst du dann eine Gitarre mit dir herum?«

»Da liegt keine Gitarre im Koffer.«

»Was denn sonst?«

»Vielleicht findest du’s ja heraus, kommt drauf an.«

»Worauf?«

»Wie unartig du gewesen bist.«

»Das weißt du doch genau«, sagte sie und lachte. »Ich habe B gesagt.«

Während unseres E-Mail-Wechsels hatte ich einmal eine Liste von Synonymen für das Wort »unartig« aufgestellt und sie gefragt, welches Synonym sie am ehesten beschreibe. Für einen Außenstehenden wäre so etwas völlig bedeutungslos gewesen, für Insider aber war es Bestandteil einer Art weltlängsten Vorspiels. Auf der Liste hatten unter anderem gestanden: böse, ungezogen, unverfroren, trotzig, widerborstig und unbändig. Sie hatte sich für B entschieden: ungezogen.

Vom Eingang war Lärm zu hören, und als ich hinsah, konnte ich erkennen, wie der Veranstaltungs- und Tourmanager Krister Jonson versuchte, Tommy Sandell aus dem Lokal zu manövrieren. Es funktionierte alles andere als reibungslos.

Krister Jonson war mir ein Begriff. Er hatte in diversen Bands Bass gespielt und organisierte seit ein paar Jahren Tourneen für Künstler, die Gott und das Publikum vergessen hatten. Tommy Sandell war einer von ihnen.

Während Sandell sich seit Kurzem wie ein Troubadour aufführte und auch so auszusehen versuchte, sah Krister Jonson immer noch aus wie immer. Er war schmal und knochig, hatte langes, dunkles, strähniges Haar, das längst hätte gestutzt werden müssen, ihm aber durchaus etwas vom jungen Rod Stewart oder Ron Wood verlieh, aus Zeiten, als die Faces vielleicht nicht die beste, aber zumindest ausgelassenste Rockband gewesen war. Er trug eine Lederjacke, schwarze Jeans, Sportschuhe und für den Abend ein ausgewaschenes T-Shirt mit dem Logo von Dr. Feelgood: das breitmaulige Grinsegesicht mit verspiegelter Sonnenbrille und Spritze.

Jonson schien die Rechnung beglichen zu haben und versuchte gerade, Tommy Sandell hinauszuschieben, während der mit einem Weinglas in der einen und einer Flasche in der anderen Hand dastand und aussah, als würde er singen. Hören konnte man ihn von unseren Plätzen aus allerdings nicht, weil das Lokal voll und der Lärmpegel entsprechend hoch war.

Keine Ahnung, womit Jonson Sandell gelockt oder gedroht hatte, aber widerwillig verließ die gesamte Gesellschaft das Lokal, und nachdem Ulrika und ich uns noch eine Weile über ihre Ringe unterhalten hatten, von denen einer die Form eines großen Schmetterlings hatte, versiegte unser Gespräch langsam, aber sicher.

»Gehen wir zu mir?«, fragte sie schließlich. »Ich wohne drüben am Gustav.«

Ich zahlte, und schweigend spazierten wir in Richtung Gustav Adolfs torg. Wieder hakte sie sich bei mir unter.

Ulrikas Wohnung lag in einem großen weißen, möglicherweise funktionalistischen Haus; ich kenne mich mit Baustilen nicht sonderlich gut aus. Vier Etagen hoch, und vor uns tat sich eine ordentliche Dreizimmerwohnung auf, mit einer kleinen sogenannten Pantryküche und einem riesigen Fenster auf den davorliegenden Platz hinaus. Wir hängten unsere Jacken an die Garderobe, und dann stand sie im Wohnzimmer und sagte: »Und was jetzt?«

Sie trug die Haare offen, hatte ein knielanges, dunkles Kleid mit Gürtel an und dieselben Stiefeletten an den Füßen wie schon in Stockholm. Ich trat auf sie zu und legte meine Arme um sie, strich ihr über den Rücken und ließ meine Hände hinab zu ihrem Hintern wandern.

»Das hier zum Beispiel«, sagte ich.

Doch sie wirkte angespannt, und als sie spürte, dass es mich erregte, sie zu streicheln, sagte sie: »Aber willst du nicht … ich dachte … also, schaffen wir …«

»Keine Eile«, entgegnete ich.

Für mich kann ein Vorspiel gar nicht lange genug sein.

»Warte hier«, sagte sie plötzlich, machte sich von mir los und marschierte ins Schlafzimmer. Während sie nebenan einen Schrank oder die Garderobe durchwühlte, betrachtete ich die gerahmten Poster an der Wand. Bei der Scheidung waren die echten Kunstwerke dem Rechtsanwalt zugesprochen worden, hatte sie in einer Mail erzählt.

Neben dem CD-Spieler lagen eine Miles-Davis- und eine Rihanna-CD, mehr oder minder Zeichen sowohl des modernen als vielleicht auch des beinahe mondänen Musikgeschmacks einer Generation, die Musik nicht per Download konsumieren wollte oder nicht wusste, wie das ging.

Mit einem Feuerwehrhelm in der Hand kehrte Ulrika Palmgren ins Wohnzimmer zurück.

»Du musst … oder, nein, ich möchte, dass du den hier aufsetzt.«

»Wo hast du den denn her?«

»Online-Kleinanzeigen«, antwortete sie, als würde das alles erklären.

Ich hatte noch nie viel für Verkleidungen übriggehabt, was daran liegen mag, dass ich generell nicht viel für irgendetwas übrighabe. In London hatte ich mich eine Zeit lang mit einer Frau getroffen, die eine Schulbank im Schlafzimmer hatte und im Kleiderschrank eine Schuluniform samt Rohrstock. Solange nur sie sich ver- und entkleidete, war unser Verhältnis gut und überaus zufriedenstellend gewesen. Doch als sie eines Tages vorschlug, ich solle mich als Wikinger verkleiden und so tun, als marodierte ich durch ihre Wohnung und vergewaltigte sie, zog ich mich zurück. Ich bin kein Freund von Vergewaltigungen, nicht einmal in meiner Fantasie.

Und jetzt stand ich da und hielt einen Feuerwehrhelm in der Hand.

Er sah sogar richtig echt aus.

»Du musst …«, sagte sie. »Wenn es klappen soll. Glaube ich.«

Nachdem ich mich nicht groß für Verkleidungen begeistern konnte, hätte ich die Gelegenheit beim Schopf packen und gehen sollen, aber ich konnte immer noch spüren, wie weich und warm ihr Körper, wie prall und rund ihr Hintern gewesen war, und setzte folgsam den Helm auf.

Ich fühlte mich wie ein Idiot.

Vom selben Augenblick an war Ulrika Palmgren wie verwandelt.

Sie riss die Augen weit auf und fing an, derart erbärmlich zu schauspielern, als wäre sie einem Stummfilm oder möglicherweise einem Porno entsprungen.

»Nein«, wisperte sie mir zu und hob die Hände an die Wangen. »Das war ich nicht.«

»Bitte?«

»Das waren nicht meine Streichhölzer.«

»Streichhölzer?«

»Ich hab sie überhaupt nicht angefasst.«

»Ich weiß nicht, was du …«

»Das wollte ich nicht, und ich hab wirklich nicht damit gespielt, Ehrenwort! Bitte, bitte, schlag mich nicht.«

Ich war gelinde gesagt verwirrt. »Aber ich dachte …«

»Oder – doch! Ja! Schlag mich, ich war ungezogen und dumm.«

Mir schien, als hätte ich komplett die Kontrolle über die Situation verloren, und im Versuch, sie wiederzuerlangen – immerhin hatte ich immer noch den dominanten Part, oder nicht? –, schnappte ich mir Ulrika, warf sie über die Lehne eines Sessels und schlug gleichzeitig ihr Kleid zurück. Sie hörte erst auf, über Streichhölzer zu reden, als ich ihr mit der flachen Hand eins überzog. Sie trug Strumpfhalter und Nylons mit Spitze. Als ich ihr den Slip auszog, lag sie mucksmäuschenstill da. Die Aussicht war betörend, nur hätte ich es gern in die Länge gezogen, hätte gern mehr Geben und Nehmen gehabt, mehr Zärtlichkeiten und Liebkosungen, aber in diesem Augenblick wusste ich einfach nicht mehr, worauf das alles hinauslaufen sollte, und sagte: »Mit Streichhölzern spielt man nicht. Du hättest das ganze Haus in Schutt und Asche legen können.«

»Ja, ich weiß. Bitte verzeih!«

Ich klatschte ihr noch ein-, zwei-, dreimal auf den Hintern, sodass meine Handflächen wehtaten, ihre Kehrseite war inzwischen feuerrot, und allmählich schien sie sich zu entspannen, als würde sie es nicht nur akzeptieren, sondern womöglich sogar genießen – bis sie plötzlich aufsprang, sich abrupt umdrehte, den Slip vom Boden klaubte, ihr Kleid richtete und zischte: »Was für eine Scheiße soll das hier werden?«

»Was für …«

Ich sah den Schlag nicht kommen, aber sie musste all ihre Kraft zusammengenommen haben und traf mich mit der Rechten voll über der Nase. Es war kein besonders harter Faustschlag, aber es war so plötzlich gekommen, dass ich rückwärts taumelte, über eine Teppichfranse stolperte, mir den Kopf an der Kante ihres Couchtischs anschlug und dann der Länge nach auf dem Boden landete und nur froh war, einen Schutzhelm auf dem Kopf zu haben.

Mit dem Boxen hatte ich irgendwann aufgehört, weil ich so leicht Nasenbluten bekam, und ich musste mir nicht erst an die Nase fassen, um zu wissen, dass es Blut war, was mir da übers Gesicht lief.

»Raus hier!«, schrie Ulrika Palmgren. »Du bist krank, hörst du? Das hier ist total krank! Das hier ist nicht normal!«

Ich rappelte mich auf. Mehr noch als der Faustschlag verwirrte mich ihr Verhalten. Ich hatte angenommen, dass wir aus einem ganz bestimmten Grund hier wären und dass wir darüber monatelang gesprochen, gemailt und uns darauf vorbereitet hätten, und jetzt verstand ich gar nichts mehr. Ich weiß allerdings, wann ich unerwünscht bin, und daher griff ich nach dem Gitarrenkoffer und meinem Mantel, verließ die Wohnung, und sie schmetterte die Tür mit einem Knall hinter mir zu, der das gesamte Treppenhaus erschütterte.

Ich stand bereits vor der Fahrstuhltür, als ihre Wohnungstür erneut aufging und sie schrie: »Der Helm! Wolltest du den klauen, ja? Der hat im Internet dreihundertfünfundsiebzig Kronen gekostet!«

Sie bekam ihren Helm zurück, schlug erneut die Tür hinter sich zu, und ich war mir sicher, dass Ulrika Palmgren hiermit aus meinem Leben verschwunden war.

Eine Faustregel lautet: Um die Notaufnahme mache man einen weiten Bogen. Vor allem freitagabends.

Das Krankenhaus in Malmö hatte sich seit meiner Kindheit stark verändert. Inzwischen bestand es aus zwei modernen Gebäudeteilen mit zahlreichen Fenstern und Glasflächen, aber eine Notaufnahme ist eine Notaufnahme, und so saß ich geschlagene zwei Stunden zwischen Horden verprügelter Männer und Frauen, besoffenen Jugendlichen und Leuten, die gestürzt oder in eine Schlägerei geraten waren, ehe eine junge verschleierte Krankenschwester sich meiner erbarmte und meine Nase abtastete, die Nasenlöcher mit Watte ausstopfte und ein Stück Tapepflaster auf den kleinen Cut über meinem Auge klebte. Daran war garantiert der Schmetterling schuld gewesen.

»Was ist denn mit Ihnen passiert? Da haben Sie aber mächtig was abbekommen«, sagte sie.

»Hab mich umgedreht und bin gegen die Klotür im Hotelzimmer gekracht«, antwortete ich.

»Sind Sie Musiker?« Sie deutete auf den Gitarrenkoffer. »Hätten Sie heute Abend irgendwo auftreten sollen?«

»Ja, ursprünglich schon, aber der Auftritt wurde abgesagt.«

Die anderen Leute in der Notaufnahme brauchten dringender Hilfe als ich, und ein kleines bisschen schämte ich mich, weil ich überhaupt hingegangen war. Trotzdem war ich erleichtert, als die junge Krankenschwester mir sagte, dass die Nase zumindest nicht gebrochen war.

Ich schlenderte die Bergsgatan entlang in Richtung Stadtmitte, ohne wirklich zu begreifen, was da los gewesen war. Es war bereits nach elf, als ich am Rockclub KB vorbeikam. Dort hatte sich inzwischen ein anderes Publikum eingestellt, der Rockclub war zur Disco geworden, aber den handgeschriebenen Zettel an der Tür sah ich trotzdem.

Tommy Sandell:fällt leider krankheitsbedingt aus

Ich war nicht überrascht.

KAPITEL 4

Malmö, im Oktober

REGEN IST NIRGENDS so heimtückisch wie in Malmö, und in Herbstnächten können die Stadt und ihre Einwohner von einem dreckig kalten, brutalen Regen heimgesucht werden, der nicht mal mehr richtig als Regen durchgeht, sondern irgendwo zwischen Niesel und hoher Luftfeuchtigkeit liegt.

Es ist ein Regen, den es gar nicht gibt, man spürt die Tropfen nicht, wenn man dieses minimalistische Wetterphänomen überhaupt Tropfen nennen kann, aber sobald man sich nur lange genug draußen aufhält, ist man plötzlich nass bis auf die Knochen, ohne den Regen überhaupt registriert zu haben. An genau so einem Abend stand ich nun, etwa eine Stunde nach Mitternacht, an der Larochegatan am Lilla Torg mit seinem hübschen Kopfsteinpflaster und der großen, albernen Laterne in der Mitte. Im Schaufenster des kleinen Musik- und Comic-Ladens betrachtete ich abwechselnd die Auslage und das Spiegelbild meiner Nase. Als ich mir über den Mund rieb, war meine Hand auf einmal blutig, und als ich mir daraufhin durchs Haar fuhr, war sie obendrein klitschnass.

Nass und blutig – klang wie die Zusammenfassung meines Lebens.

In den Nasenlöchern steckten immer noch die Tamponaden, darüber klebte ein zehn Zentimeter breites Pflaster. Die Nase war zwar nicht gebrochen, aber mächtig angeschwollen, und außerdem hatte ich eine kleine, bepflasterte Platzwunde über dem Auge, die zwar nicht mehr blutete, doch stattdessen sickerte immer noch Blut aus meiner Nase, und die blütenweiße Watte war mittlerweile rot.

Trotz meines schicken Anzugs und des verhältnismäßig modischen, langen Mantels in japanischem Schnitt sah ich im Großen und Ganzen grässlich aus.

Die Stiefel waren offenbar nicht wasserdicht, und meine Socken waren bereits nass, aber ich hatte meine besten Klamotten am Leib und einen Teppichklopfer in einem eigens dafür hergestellten Gitarrenkoffer in der Hand.

Ich sah grässlich aus.

Aus unerfindlichen Gründen lag Michael Jacksons BAD im Schaufenster. Derlei gut frequentierte Geschäfte richteten sich ansonsten eher nach einer Kundschaft, die klassische Rockmusik bevorzugte, am liebsten aus den Sechzigern.

Der Abend war katastrophal verlaufen.

KON-ZEN-TRIE-RE dich. Reiß dich endlich zusammen.

Mein Radar hatte mich noch nie im Stich gelassen, und dass es diesmal nicht aufgeblinkt hatte, musste am Internet gelegen haben.

Grundsätzlich habe ich nichts gegen das Internet, aber es kann eben niemals einen menschlichen Kontakt, eine spontane Regung oder einen überraschenden Blick ersetzen.

Man lernt auch keine Menschen übers Internet kennen, weil man sie nicht richtig kennenlernt.

In dieser Hinsicht ist das Internet ein einziger Bluff.

Es war ganz eindeutig eine scheußliche Nacht, die Straßen waren ungewöhnlich leer, aber zumindest draußen auf den für die Raucher reservierten Außenplätzen der Restaurants saßen und standen Leute herum. Dass die alte Markthalle zum Burger-Restaurant verkommen war, war allerdings schwer zu ertragen.

Als ich mein Hotel erreichte, waren die ganze Lobby und sogar die Rezeption verwaist, und ich fuhr hoch zu meinem Zimmer. Auf meinem Flur bemerkte ich, dass eine Tür offen stand. Ich ging daran vorbei in mein eigenes Zimmer, setzte den Gitarrenkoffer ab, stellte mich vor den Spiegel im Bad und musterte mein Gesicht. Ich zog das Hemd aus, wusch mir Blut von Kinn und Hals und ließ mich dann in einen Sessel fallen und zappte ziellos durch die Fernsehkanäle. Es gibt ein Lied von Bruce Springsteen über siebenundfünfzig Fernsehsender und dass es trotzdem nichts zu sehen gibt. Von Jahr zu Jahr stimmt das mehr.

Die Fernbedienung und der Fernseher waren so hochmodern, dass ich die Rezeption anrufen musste, um zu fragen, wie man ihn ausstellte. Anschließend öffnete ich die Zimmertür und spähte hinaus. Die Tür, an der ich zuvor vorbeigekommen war, stand immer noch offen.

Ich bin sehr neugierig.

Neugier ist eine Eigenschaft, die mich genau so oft richtig geleitet hat wie falsch, in meinem Job war sie zumeist von Vorteil, und letzten Endes fühlte ich mich schlicht genötigt, hinauszugehen und einen Blick in jenes Zimmer zu werfen, weil … keine Ahnung, weil irgendjemand ausgegangen sein und versäumt haben mochte, die Tür ordentlich zuzuziehen, und so wäre es ein Leichtes gewesen, dort einzudringen und irgendetwas mitgehen zu lassen. Hoteltüren schlugen normalerweise automatisch zu, aber bei dieser hier schien es nicht funktioniert zu haben. Sie stand einen Spaltbreit offen, weil der Riegel sie blockierte. Am Türgriff hing ein Bitte-nicht-stören-Schild.

Drinnen brannte Licht, und irgendjemand schnarchte – allerdings kein tiefes, regelmäßiges Schnarchen, sondern eher fahrige, röchelnde, verschnupfte, versoffene Grunzer.

Ich hätte die Tür einfach zuziehen und in mein Zimmer zurückkehren können. Stattdessen schob ich sie vorsichtig auf und trat ein.

Das Zimmer sah genauso aus wie meins: längs an der Wand ein großes, breites Bett, dann ein Kleiderschrank aus dunklem Holz, ein schwer durchschaubarer Fernseher auf einem Sideboard, zwei Fenster mit zugezogenen Gardinen und zwei weiß bezogene Sessel.

Hier war gefeiert worden.

Ein kaputtes Glas, die eine oder andere Tüte mit Süßigkeiten und mindestens zwanzig leere Bierdosen lagen teils umgekippt am Boden, es stank nach abgestandenem Alkohol, verschüttetem Bier und etwas anderem, worüber ich lieber gar nicht nachdenken wollte.

Der Mann, der so laut und grunzend schnarchte, war Tommy Sandell.

Er lag auf der rechten Seite des Betts am Fenster.

Neben ihm lag eine Frau. Unbegreiflich, wie sie bei dem Lärm, den Tommy Sandell von sich gab, überhaupt schlafen konnte. Sie lag unter der Bettdecke, schien aber immer noch ihre Kleidung anzuhaben.

Die Frau, die Tommy Sandell im Bastard im Arm gehalten hatte, hatte anders ausgesehen.

Sie lag auf dem Rücken, und erst als ich näher an das Bett herantrat, erkannte ich, dass sie zur Decke starrte.

Im selben Moment begriff ich, dass sie nicht mehr atmete.

Tommy Sandell, Musiker und Künstler, grunzte wie der größte Schnarcher der Blues-Geschichte in einem Malmöer Hotelbett vor sich hin, während neben ihm eine voll bekleidete Tote lag.

Sie hatte kurzes, rabenschwarzes Haar und trug ein dünnes Jäckchen über einem T-Shirt, auf dem ein großes Frauengesicht prangte, möglicherweise Deborah Harry, aber nachdem die Decke ziemlich weit hochgezogen war, war das schwer zu erkennen.

Ich hatte schon viel gesehen, aber noch nie eine Leiche.

Zumindest nicht aus solcher Nähe.

In Filmen oder im Fernsehen tastet immer jemand am Hals der Person nach dem Puls, aber diesmal war das nicht nötig, die Frau war zweifellos tot.

Fast hatte ich den Eindruck, dass sie mich vorwurfsvoll ansah, dabei waren ihre Augen komplett ausdruckslos.

Ich wusste nicht, ob ich ihr die Lider schließen sollte, beschloss dann aber, besser nichts anzufassen, bevor ich die Polizei verständigt hatte.

Denn das war doch der nächste notwendige Schritt?

Oder sollte ich zuerst die Rezeption verständigen und dort Bescheid geben, dass in einem ihrer Zimmer eine Tote lag?

Oder sollte ich versuchen, Tommy Sandell aufzuwecken?

War die Frau auf einmal zusammengebrochen?

Hatte er sie umgebracht?

Ich hatte keine Ahnung, was Tommy Sandell unter der Bettdecke am Leib trug, aber auf der Seite der Frau lag neben dem Bett ein weit verstreuter Haufen Männerkleidung. Vor dem Schrank lagen zwei Gitarrenkoffer, einer zu, der andere offen, und darin befand sich eine rote Gibson – viel zu edel für Tommy Sandell.

Die Frau war ohnehin tot, Sandell lag im Tiefschlaf, die Polizei konnte also noch ein bisschen warten. So wie es auf seiner Seite des Bettes stank, stand zu befürchten, dass er sich eingeschissen hatte.

Ich schlich zurück in mein Zimmer und schnappte mir mein Handy.

Großartige Bilder bekam man damit nicht, trotzdem schoss ich ein paar Fotos. Zuerst fotografierte ich das Bett, dann machte ich ein paar Nahaufnahmen von der Frau und von Sandell, von den Flaschen am Boden, den Gitarren und dem Kleiderhaufen. Erst danach ging es ans Telefonieren.

Ich rief in meiner Kontakteliste den Buchstaben C auf und scrollte zu Carl-Erik Johansson. Er gehörte zu den wenigen in der Redaktion, mit denen man noch sprechen konnte. Einer, der immer noch am Journalismus interessiert war und nicht nur Klicks zählte, um nachzuprüfen, wer oder was online am häufigsten gelesen wurde.

Als er den Anruf endlich entgegennahm, dämmerte mir, dass ich ihn geweckt hatte. Eigentlich klar – Männer mit Frau und Kindern schliefen nachts für gewöhnlich, sofern die Kinder nicht noch sehr, sehr klein waren, dann nämlich waren immer alle Beteiligten wach und stritten gewöhnlich darüber, wer diesmal mit dem Aufstehen dran war. Keine Ahnung, wie viele Kinder Tommy Sandell hatte – oder wie viele Frauen er gehabt hatte –, er jedenfalls schlief immer noch tief und fest und hatte nicht den leisesten Schimmer, was neben ihm lag und wer sich gerade in seinem Hotelzimmer das Handy ans Ohr hielt.

»Ach … was willst du zu so später Stunde?«, fragte Carl-Erik Johansson und gähnte leicht genervt.

»Es ist was passiert«, sagte ich.

»Schau an.« Er klang nicht im Geringsten interessiert. »Kann das nicht bis morgen warten?«

»Du errätst nicht, wo ich gerade bin.«

»Nein, da hast du wohl recht.«

»Ich stehe in Tommy Sandells Hotelzimmer in Malmö.«

»In Tommy Sandells …«

»Tommy Sandell, genau. Sogar du solltest wissen, wer Tommy Sandell ist.«

»Ich weiß genau, wer das ist. Aber was ist so speziell daran, dass du in seinem Hotelzimmer stehst? Und warum musst du mir das mitten in der Nacht erzählen?«

»Speziell ist nicht, dass ich in seinem Zimmer stehe. Speziell ist die tote Frau, die neben ihm im Bett liegt.«

Am anderen Ende war es einen Moment lang still. So wie ich Carl-Erik einschätzte, war er inzwischen hellwach und hatte sich im Bett aufgesetzt.

»Kannst du das noch mal sagen?«

»Da liegt eine tote Frau neben Tommy Sandell im Bett.«

»Und er? Lebt er noch?«

»Ja, aber er schläft. Er hat keine Ahnung.«

»Noch mal von vorn. Vor allem will ich wissen, was du in diesem Zimmer machst. Und warum klingst du überhaupt so komisch? Bist du erkältet? Du hörst dich an, als hättest du eine verstopfte Nase.«

»Sie ist ein bisschen angeschwollen, ich bin in eine Tür gekracht. Ich hab die beiden gefunden. Die Zimmertür stand offen, ich hab kurz reingeschaut und sie in ihrem Bett liegen sehen.«

Erneut Stille in der Leitung, nur mehr Tommy Sandells Schnarchen war zu hören. Dann sagte Carl-Erik Johansson: »Hast du schon die Polizei verständigt?«

»Nein, du warst der Erste, den ich angerufen habe.«

»Hat Sandell sie umgebracht?«

»Keine Ahnung. Er pennt – aber ich kann ihn aufwecken und fragen. Soll ich? So hätten wir auch gleich noch ein paar O-Töne.«

»Wovon redest du?«

»Ich hab den ganzen Scheiß hier mit dem Handy fotografiert. Ich weiß, ich hab aufgehört, aber bist du vielleicht an der Geschichte interessiert? The full story?«

»Du weißt genau, dass ich schon lange nicht mehr bei den Nachrichten bin, aber … okay, lass mich erst ein paar Leute anrufen. Aber verdammt, fass dort bloß nichts an und ruf die Polizei!«

Ich legte auf und wählte als Nächstes die Nummer des Notrufs.

Anschließend weckte ich Tommy Sandell.

Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo er sich befand und warum, aber es gelang mir, ihm ein paar verwirrte O-Töne zu entlocken – zitierbares Gestammel, wenn man so will. Ich knipste ihn noch mal, wie er mit aufgestütztem Kopf im Bett saß, und ließ ihn dann von Neuem einschlafen.

So angeschwollen meine Nase war, so weiß war Sandell um die Nasenlöcher herum, insofern hatte er mit Sicherheit ein wenig mehr als nur Bier, Wein und Wodka intus.

Ich fuhr mit dem Lift runter zur Rezeption, erzählte dem Nachtportier, was ich oben entdeckt hatte, nahm mir einen Gratisapfel aus der Schale und setzte mich in eines der Sofas, um dort auf die Polizei zu warten.

Es hatte aufgehört, zu nieseln, und inzwischen schüttete es gewaltig. Der Regen peitschte über die Pflastersteine und lief über die großen Fensterscheiben.

Meine Nase tat so weh, dass ich kaum in den Apfel beißen konnte. Trotzdem war es ein guter Apfel. Ich habe reife Granny Smiths schon immer gern gegessen.

KAPITEL 5

Malmö, im Oktober

ZUERST KAMEN NUR zwei Beamte ins Hotel.

Einer von ihnen, Börje Klasson, war hochgewachsen und sprach mit einem småländischen Akzent. Die andere war klein und hieß Anna Pärsson, es klang, als stammte sie aus Malmö, sie ließ die ganze Zeit die rechte Hand auf ihrem Waffenholster ruhen. Sie hatten beide das typische Schiffchen auf dem Kopf.

Der Nachtportier, ein weißhaariger Mann mittleren Alters mit südosteuropäischem Akzent, hatte einen der Chefs alarmiert, eine schläfrige Frau namens Helena, die unter ihrem Mantel immer noch ihren Schlafanzug zu tragen schien. Alles in allem waren wir also zu fünft, als wir zu dem Zimmer hinauffuhren, in dem Tommy Sandell schon wieder tief und fest schlief. Die Tote war immer noch genauso tot wie zuvor, als ich gegangen war.

Anna Pärsson fragte mich, wer ich sei, warum ich mich in Malmö aufhalte und wie ich mich in Tommy Sandells Hotelzimmer verirrt hätte. Während Börje Klasson in sein Funkgerät sprach, lief sie mir nach in mein Hotelzimmer, sah sich um und sagte dann beiläufig:

»Er sah ja nun wirklich nicht gut aus, aber wiedererkannt hab ich ihn trotzdem.«

»Ja, man kennt ihn durchaus.«

»Sind Sie ebenfalls Musiker?«, fragte sie und zeigte auf meinen Gitarrenkoffer, der an der Wand lehnte.

»Nein.«

»Aber Sie haben eine Gitarre im Gepäck?«

»So was in der Art.«

»Was ist mit Ihrer Nase passiert? Sind Sie in eine Schlägerei geraten?«

»Nein, ich bin in die Badezimmertür gekracht. Hat ordentlich gerumst. Ich war schon in der Notaufnahme und hab es untersuchen lassen. Als ich zurückkam, hab ich gesehen, dass die Tür zu seinem Zimmer nicht richtig zugefallen war.«

Sie nickte, kritzelte irgendetwas in einen Notizblock und ging wieder hinaus auf den Flur.

Ich habe keine Ahnung, wie viele Polizisten am Ende da waren.

Die Kreuzung vor dem Hotel wurde abgesperrt, einer der Aufzüge durfte nur noch von den Einsatzkräften benutzt werden, und eine uniformierte Polizistin, die nicht Anna Pärsson war, stand vor Tommy Sandells Hotelzimmer Wache.

Ich hatte mich in seinem Zimmer wahrscheinlich länger aufgehalten, als gesund und rechtens war, aber jetzt fühlte ich mich ausgeschlossen. Ich hockte eine Weile in meinem eigenen Zimmer herum, fuhr dann aber wieder in die Lobby hinunter und betrachtete die Streifenwagen, die Polizisten und die Zivilisten, bei denen es sich höchstwahrscheinlich um Kriminalbeamte oder Kriminaltechniker handelte. Wenn ich es richtig überblickte, waren es ungefähr zur Hälfte Frauen.

Die Gassen in Gamla Väster sind so schmal, dass ein paar Streifenwagen umgeparkt werden mussten, damit zwei Rettungswagen vor dem Eingang vorfahren konnten. Zwei Männer und zwei Frauen brachten zwei Tragen herein, und als sie wiederkamen, lag auf einer davon Tommy Sandell. Er schien kaum mitzubekommen, was um ihn herum geschah, aber kurz sah es so aus, als winkte er mir zu.

Die Person auf der zweiten Trage winkte nicht.

Irgendwann steuerte eine Frau auf mich zu. Sie sah eigensinnig aus, war verhältnismäßig groß und hatte verschlissene, aufgekrempelte Bluejeans, Sneakers und einen knielangen, hellgrauen Mantel an, der bis zum Hals zugeknöpft war. Ihr dunkles Haar war etwa schulterlang, offenbar widerspenstig und ungekämmt, und auf dem Kopf hatte sie einen winzigen Pillbox-Hut. Ihre braunen Augen sahen mir hellwach und neugierig entgegen. Sie war wohl irgendwo in den Dreißigern.

»Sind Sie … äh … Henry …« Sie hob einen Zettel vors Gesicht. Sie schien dringend eine Lesebrille zu brauchen, war jedoch entweder zu eitel, um sich eine anzuschaffen oder um sie aufzusetzen. Noch ehe ich sie korrigieren konnte, sagte sie: »Nein, Harry steht da. Sind Sie das?«

»Svensson«, stellte ich mich vor. »Harry Svensson.«

»Eva. Sollen wir in Ihr Zimmer gehen, oder ist es in Ordnung, wenn wir hierbleiben und uns unterhalten?«

»Hier ist es ausgezeichnet.«

Sie setzte sich mir gegenüber in einen Sessel, streckte die Beine aus, atmete mit einem tiefen Seufzer aus und stocherte dann mit dem Nagel ihres rechten kleinen Fingers zwischen den Zähnen.

»Also dann, ja, ausgezeichnet«, sagte sie. »Das hier scheint eine längere Geschichte zu werden. Oder aber es erweist sich alles als denkbar einfach. Kennen Sie ihn?«

»Nein. Ich weiß natürlich, wer er ist, und wir sind uns in den Jahren immer mal wieder über den Weg gelaufen, aber … aber nein, ich kann nicht behaupten, dass ich ihn kennen würde. Reiner Zufall, dass wir uns gestern Abend im Bastard begegnet sind. Ich wusste nicht mal, dass er einen Auftritt in Malmö hatte.«

»Waren Sie dort essen?«

»Bitte?«

»Im Bastard?«

»Nein, so weit kam es nicht.«

»Ich hab’s dort immer noch nicht hingeschafft, auch wenn alle davon sprechen. Dabei weiß ich noch nicht mal, wie man es richtig ausspricht. ›Ba-STARD‹ mit schwedischer Betonung? Oder auf Englisch – ›BÄS-törd‹?«

Während Anna Pärsson den typisch breiten Malmöer Einschlag gehabt hatte, hörte sich Eva eher so an, als wäre sie irgendwo südlich der Landstraße aufgewachsen, wie es in Edvard Perssons Film heißt, vielleicht irgendwo zwischen Svedala und Trelleborg, jedenfalls im Hinterland.

»Verzeihung«, sagte sie plötzlich und streckte mir die Hand entgegen. »Ich heiße nicht nur Eva. Mein Name ist Eva Månsson, und ich bin Hauptkommissarin hier in Malmö.«

Wir gaben uns die Hand – sie hatte einen kräftigen, anständigen Händedruck. Dass sie Kommissarin war, hätte ich im Leben nicht gedacht.

»Was in aller Welt ist mit Ihrem Gesicht passiert?«

»Hab mich beim Rasieren geschnitten.«

»Und in Wahrheit?«, entgegnete sie und sah mich skeptisch an.

»Kleiner Scherz. Ich bin in die Tür gekracht, nachdem ich mich rasiert hatte.«

»Sie wissen schon, dass es für so was Klinken an den Türen gibt? Gibt es hier übrigens Kaffee? Trinkbaren, nicht irgendwelche Fuchspisse?«

»Dort drüben steht eine Maschine, ich hol uns welchen. Milch? Zucker?«

»Schwarz«, antwortete Eva Månsson.

Über der Kaffeemaschine im Speisesaal hingen gerahmte Autogrammkarten von Mel C und Wayne Gretzky, und Magnus Härenstam hatte sich zum Dank an das Hotelpersonal gleich selbst gezeichnet. Ich zog zwei Becher erstaunlich trinkbaren Kaffees, und als ich wieder zurück war, hatte Eva Månsson ihren Mantel ausgezogen – unverkennbar secondhand – und ihn über die Armlehne ihres Sessels gelegt. Auf ihrer Bluse prangte eine Rose, die bei mir Assoziationen an Countrymusik oder womöglich Rockabilly weckte; die aufgekrempelten Hosenbeine wiesen zumindest darauf hin. Als wir einander wieder gegenübersaßen, gingen wir also noch mal sämtliche Geschehnisse durch: was mich nach Malmö geführt hatte (ich umschrieb es ein wenig blumig), wie ich Sandell und die Tote entdeckt und ob ich in dem Hotelzimmer irgendetwas angefasst hätte. Ich behauptete, im Zimmer nichts berührt zu haben, und das entsprach ja auch der Wahrheit: Ich hatte rein gar nichts angefasst, ich hatte lediglich Fotos gemacht. Natürlich hatte ich Tommy Sandell berührt, als ich ihm aufgeholfen hatte, aber ich denke, das war nicht gemeint.

»Gut, dann wissen wir fürs Erste so weit Bescheid«, sagte sie. »Angeblich setzen sie einem dort jedes verschissene Fitzelchen Tier vor.«

»Wie bitte?«

»Jedes verschissene Fitzelchen, hab ich gehört.«

»Bitte was? Wer?«

»Dort, wo Sie nicht gegessen haben.«

»Ach so, tja, keine Ahnung.«

»Sie hatten wahrscheinlich anderes im Kopf«, sagte sie.

Ich wandte den Blick ab. Was wusste diese Frau? Worauf spielte sie an?

»Da ist noch eine Sache«, sagte ich in dem Versuch, das Thema zu wechseln. »Ich bin Journalist.«

»Jeder hat sein Kreuz zu tragen.«

»Oder genauer gesagt: Ich war Journalist, ich hab gekündigt, aber das hier kann ich mir nicht entgehen lassen. Ich muss darüber schreiben. Ich hab’s auch schon in die Wege geleitet.«

»Wir leben in einem freien Land«, entgegnete sie. »Das letzte Mal, als ich nachgeschaut habe, hatten wir Pressefreiheit.«

»Nur damit Sie Bescheid wissen«, sagte ich.

Sie klappte ihren Notizblock zu, stopfte ihn sich in die Gesäßtasche. Dann gaben wir einander die Hand. Sie nahm ihren Mantel und warf ihn sich über die Schulter, und ich ging mit ihr zum Ausgang.

»Waren Sie allein im Bastard?«, fragte sie unvermittelt.

»Allein?«

»Ja, oder waren Sie in Begleitung?«

»Äh, nein, aber das hat doch wohl nichts … nein, ich war nicht allein. Ich war mit … ich war mit jemandem verabredet.«

»So, so«, sagte sie nur, und es klang ganz so, als machte mich das verdächtig. »Dachte ich mir doch, dass irgendwer hier aus dem Hotel erwähnt hat, dass Sie hier unten in der Lobby oder da draußen vor dem Eingang jemanden getroffen hätten.«

»Ja, genauso war es wahrscheinlich«, sagte ich. Mir war klar, wie verkorkst und verdächtig ich mich anhörte.

»War es jemand, den man kennt? Jemand, von dem man weiß, wer es ist?«, hakte sie nach. »Ein Promi? Sie kennen immerhin auch Sandell.«