Den letzten Gang serviert der Tod - Jörg Maurer - E-Book
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Den letzten Gang serviert der Tod E-Book

Jörg Maurer

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Beschreibung

Geschmackvoll stirbt's sich besser: Kommissar Jennerweins schillerndster Fall - der dreizehnte Alpenkrimi von Nr.1-Bestseller-Autor Jörg Maurer. Noch durchzieht ein verführerisch aromatischer Duft die Restaurantküche des "Hubschmidt's" am Rande des idyllisch gelegenen Kurorts. Aber der Raum voller blitzender Töpfe, Tiegel und Messer ist ein Tatort. Kommissar Jennerwein findet schnell heraus, dass das Opfer Mitglied eines exklusiven Hobby-Kochclubs war, in dem sich höchst ehrbare Bürger regelmäßig in dem einsamen Gasthof trafen. Aber wem nützt der Tod des Feinschmeckers: dem Chefkoch, der nach dem zweiten Stern giert? Dem veganen Oberförster, der heimlich durch den Wald streift? Nebenbuhlern und Rivalen? Jennerwein und sein Team entdecken Mordmotive zuhauf. Nur Jennerweins Blick fürs Wesentliche kann den wahren Täter überführen….

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Seitenzahl: 441

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Jörg Maurer

Den letzten Gang serviert der Tod

Alpenkrimi

 

 

Über dieses Buch

 

 

Es ist ein sonniger Herbsttag, die Berge leuchten vor tiefblauem Himmel, das Laub färbt sich bunt und man möchte gleich in die Pilze gehen. Aber Kommissar Jennerwein muss zu einem ungewöhnlichen Tatort: eine Restaurantküche, in der ein Kochclub seine Treffen veranstaltet, nun ein Mordschauplatz. Die Hobby-Köche, die dort üblicherweise genussvoll Rezepte ausprobieren, sind im idyllisch gelegenen Kurort wohlbekannt und hoch angesehen. Aber jetzt wird überall heftig spekuliert: Wer hasst das Opfer so sehr, dass er sogar vor einem Mord nicht zurückschreckt? Welche Rivalitäten köchelten unter der Oberfläche? Kommissar Jennerwein stellt fest, dass er es mit einem höchst unübersichtlichen Tatort zu tun hat. Die Spuren führen in so viele verschiedene Richtungen. Um den wahren Tathergang zu enthüllen, müssen sich Jennerwein und sein Team überraschende Ermittlungsmethoden einfallen lassen. Und das kann gefährlich werden.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Jörg Maurer liebt es, seine Leserinnen und Leser zu überraschen. Er führt sie auf anspielungsreiche Entdeckungsreisen und verstößt dabei genussvoll gegen die üblichen erzählerischen Regeln. In seinen Romanen machen hintergründiger Witz und unerwartete Wendungen die Musik zur Spannungshandlung.

All dies hat Jörg Maurer auch schon auf der Bühne unter Beweis gestellt. Als Kabarettist feierte er mit seinen musikalisch-parodistischen Programmen große Erfolge und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine inzwischen vierzehn Jennerwein-Romane sind allesamt Bestseller.

Jörg Maurer lebt zwischen Buchdeckeln, auf Kinositzen und in Theaterrängen, überwiegend in Süddeutschland.

 

Weitere Titel von Jörg Maurer:

›Föhnlage‹, ›Hochsaison‹, ›Niedertracht‹, ›Oberwasser‹, ›Unterholz‹, ›Felsenfest‹, ›Der Tod greift nicht daneben‹, ›Schwindelfrei ist nur der Tod‹, ›Im Grab schaust du nach oben‹, ›Stille Nacht allerseits‹, ›Am Abgrund lässt man gern den Vortritt‹, ›Im Schnee wird nur dem Tod nicht kalt‹, ›Am Tatort bleibt man ungern liegen‹, sowie ›Bayern für die Hosentasche: Was Reiseführer verschweigen‹

 

Die Webseite des Autors: www.joergmaurer.de

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Sowohl in medizinischer, landschaftlicher wie auch in polizeilicher Hinsicht habe ich mir als Autor gewisse Freiheiten erlaubt. Eines aber stimmt haargenau bis ins Kleinste: Angefangen vom Aufsitzenden Pustelpilz über den Braunen Haarschwindling bis hin zum Zweifarbigen Knorpelporling – sämtliche Pilze in diesem Roman gibt es wirklich, sie sind durchaus keine Erfindungen von mir. Wie kurz vor Drucklegung bekannt wurde, ist der diesjährige »Pilz des Jahres« (2020) die Gemeine Stinkmorchel. Manchmal schreibt der Wald eben die besten Geschichten.

1

Simmert eine Brühe auf allerkleinster Flamme dahin, so dass sie nur ganz schwach blubbert, sprechen französische Köche davon, dass sie »lächelt«: »Le bouillon sourit«. Entstanden ist diese Niedergarmethode am Hofe des französischen Herrschers Ludwig XIV. Man erzählt sich, dass der König, gelangweilt durch die Gespräche seiner Hofgesellschaft und von einem unbestimmten Heißhunger nach bäuerlich-deftigen Genüssen erfasst, von der überreich gedeckten, porzellan- und glasglitzernden Tafel aufstand und sich heimlich in die Schlossküche schlich, wo in einer großen gusseisernen Pfanne gerade Speck, Knoblauch und Selleriesamen angebraten wurden. Die fieberhaft arbeitenden Knechte und Mägde bemerkten den König wegen des vielen Rauchs nicht, Majestät beliebten nun lustvoll aus den verführerisch dahinbrodelnden Töpfen zu kosten. Wohl wissend, dass er damit gegen das strenge Hofzeremoniell verstieß, genoss er es nachgerade, mit der nackten Hand eine Kelle zu formen und auf diese Weise eine lauwarme Sauce nach der anderen zu schlürfen. Schließlich aber erkannte ihn sein alter blinder Diener Jean-Baptiste am unverkennbar majestätischen Gang und am Klappern der mit Diamanten verzierten Schuhschnallen. Mit einem Aufschrei ehrfürchtigsten Entsetzens fiel das Küchenpersonal auf die Knie und verharrte regungslos. Der König kostete noch dies und das, nagte ein Hähnchenbein ab, schleckte Kuchenteig, entfernte sich schließlich lautlos aus der Küche. Immer noch wagte keiner den Kopf zu heben. Die versammelte Küchenbrigade hielt zwei Stunden in kniender Haltung aus, niemand tat auch nur einen Mucks. Schließlich erhob sich der diensthabende Maître de Cuisine vorsichtig, um den entstandenen Schaden abzuschätzen. So ziemlich alles war verdorben und verbrannt, verkocht und verkohlt, der brave Küchenmeister zerraufte sich wehklagend die Haare. Auf einem der Herde jedoch stand ein Topf mit Brühe und eingelegtem Rindfleisch, der auf spärlichster Flamme dahinköchelte. Der zerknirschte Maître wollte den Topf schon wegschütten, probierte aber doch noch und entdeckte, dass die eingekochte Brühe köstlich, ja nachgerade königlich schmeckte. Das Simmern, das Köcheln und Brodeln auf kleiner Flamme, das schwelende Wallen und das schonende Schmoren – mit einem Wort: das Niedrigtemperaturgaren war erfunden.

 

Wenn es auch gute Gründe gibt, dem Wahrheitsgehalt dieser mündlich überlieferten Anekdote kritisch gegenüberzustehen, so ist doch eines sicher: Das Glücksgefühl des unmittelbaren, gierigen und unbeherrschten Naschens aus dem Kochtopf kann durch nichts übertroffen werden, auch nicht durch noch so raffinierte Darreichungsweisen auf noch so feinem Porzellan am noch so liebevoll gedeckten Tisch. Kein Service kann so gut sein, dass er dem Urgefühl des anarchischen Schlürfens und Schlabberns das Wasser reichen könnte. Keine noch so kunstvoll gearbeitete Sauciere mit einer noch so detailverliebten Schnaupe in Form eines feuerspeienden Löwen bringt die Sauce mehr auf den Punkt, als wenn sie mit einem schlichten Holzlöffel oder gar der bloßen Hand aus der Kasserolle geschöpft wird. Nie ist der Genießer der Speise näher, nie hört er ihr geheimnisvolles Zischen und Wispern deutlicher.

 

Der großgewachsene Mann in den braunen Kniebundhosen war diesem Zauber des ursprünglichen Genusses im Moment ganz und gar verfallen. Seine Nüstern blähten sich, seine Lider flatterten, genießerisch schloss er die Augen und beugte sich noch ein Stück weiter über den mächtigen Topf, der fast bis zum Rand gefüllt war mit der blubbernden Verheißung. Über der ländlichen, bequemen Kleidung trug er eine blütenweiße Kochschürze. Als er sich noch ein Stück reckte, hätte man ihn leicht für eine Figur von Carl Spitzweg halten können: DER SAUCENSCHLECKER, Öl auf Leinwand, 1856, Neue Pinakothek.

 

Der Topf kochte auf der allerniedrigsten Stufe, die ringförmig angeordneten Gasflämmchen hielten sich gerade noch am Leben, trotzdem warf das dickflüssige, goldfarbene Gebräu kinderhandtellergroße, geräuschvoll platzende Blasen. Sie erzählten etwas vom weiten, wild schäumenden Meer, aber auch von gewürzkräuterumflorten, sonnigen Berghängen. Vielleicht kündeten sie sogar von der evolutionären Ursuppe, in der vor vier Milliarden Jahren das Leben selbst entstanden ist. Herrlich betörende Gerüche stiegen auf, selige Verzückung spiegelte sich in der Physiognomie des Mannes. Seine Wangen röteten sich, er wedelte mit der Hand den Duft in die großporige, schmachtende Nase. Noch ein Stück weiter beugte er sich vor, hinter seinem Rücken wippte er mit einem Silberlöffel, der einem aufgeregten Hundepürzel glich. Ganz im Hier und Jetzt des dampfenden Elixiers versunken, bemerkte er den Schatten nicht, der hinter ihm erschien. Von einem Augenblick auf den anderen versank der Kopf des Saucenschleckers in der heißen Brühe, die schmatzend über ihm zusammenschwappte. Ob das Gurgeln von ihm oder von der heißen Flüssigkeit herrührte, war nicht mehr zu unterscheiden. Einige wenige Zuckungen liefen noch durch seinen Körper, der matt schimmernde Silberlöffel glitt ihm aus der Hand, und noch bevor dieser auf dem Boden aufschlug, war der Mann in der Kochschürze nicht mehr bei Bewusstsein. Nur die goldglänzende Bouillabaisse brodelte ungerührt auf kleiner Flamme weiter. Die Fischsuppe lächelte.

2

Der kleine bucklige Mann, der draußen vor dem Fenster stehen geblieben war, schnappte bei dem schrecklichen Anblick fassungslos nach Luft. Sein Mund öffnete sich zu einem Schrei, doch es kam nur ein heiseres Krächzen heraus. Kleine grellfarbige Punkte tanzten ihm vor den Augen, unwillkürlich schlug er die Hände vors Gesicht. Doch das Chaos in seinem Kopf ließ sich so nicht abstellen. Er wandte sich ab, sprang von der Stufe, auf der er gestanden hatte, und stolperte ein paar Schritte vom Fenster weg, über die Terrasse, auf die angrenzende Wiese zu. Seine Knie zitterten, er keuchte schwer. Was um Gottes willen war dort in der Küche geschehen? Hatte er jetzt völlig den Verstand verloren? War er nicht mehr Herr seiner Sinne? Und vor allem: Was hatte er getan? Er lief weiter. Als er die frisch gemähte Wiese erreicht hatte, die sich vor der Terrasse des Restaurants ausbreitete, beruhigte er sich wieder etwas. Es musste wohl eine Halluzination seines matschigen Hirns gewesen sein. Doch er wagte nicht zurückzuschauen. Vielmehr blickte er mit hervorquellenden Augen auf die frisch geschnittenen Grashalme und ballte die Fäuste, bis es schmerzte. Nein, das war kein Albtraum. Er hatte sich das nicht eingebildet. Jetzt hörte er undeutliche Stimmen aus Richtung des Hauses. Ganz, ganz vorsichtig blickte er sich um. Auf der Terrasse, zwischen den edlen Teaktischen und angeketteten Flechtstühlen war niemand zu sehen. Die Stimmen mussten aus dem Inneren der Küche gekommen sein. Doch er konnte nichts erkennen. Eines war sicher: Er musste schleunigst weg von hier. Hastig drehte er sich wieder um und lief ein paar Schritte über den grünen Rasen, in Richtung des Herbstwaldes, der das Gelände von allen Seiten umgab. Die Beine versagten ihm anfangs fast den Dienst, er musste große Willenskraft aufbringen, weiterzurennen, sich nicht einfach auf den Boden fallen zu lassen und das Gesicht in den Händen zu vergraben. Das Bild des Mannes, dessen Kopf vollständig in der heißen Brühe versunken war, stand ihm immer noch vor Augen, es wurde größer und bedrohlicher, greller und unheimlicher, je schneller er rannte. Endlich hatte er den Waldrand erreicht, japsend und keuchend ließ er sich hinter einem großen Haselnussstrauch auf die moosige Erde fallen. Ein schmerzhafter Hustenanfall überkam ihn, er schnappte nach Luft und würgte. Aber ewig konnte er hier auch nicht liegen bleiben. Was sollte er tun? Über den kiesgestreuten Fußweg oder die asphaltierte Straße, die vom Restaurant nach unten ins Tal führte, käme er am schnellsten weg von diesem schrecklichen Ort. Aber dort konnte er gesehen werden. Im Wald hingegen kannte er sich aus. Da würde ihn niemand finden, dort wusste er Plätze, wo er sich verstecken konnte. Wenigstens so lange, bis er seine Gedanken wieder geordnet hatte. Siegfried Schlatt griff vorsichtig ins Gebüsch, um durch die Äste des Strauchs zu lugen. Das Gebäude war hundert oder hundertfünfzig Meter entfernt. Es lag still und friedlich da, kein Mensch war zu sehen, auch in der Küche rührte sich nichts. Wieder erfasste ihn eine Welle der Panik. Was hatte er getan? Und hatte ihn jemand dabei beobachtet? Gab es Zeugen? Er verfluchte sich dafür, vorher seinen geruhsamen Waldspaziergang unterbrochen und sich auf die Terrasse des Restaurants geschlichen zu haben, um von da aus einen Blick in die dreimal verdammte Küche zu werfen. Aber die alte Schiefertafel am Weg hatte seine Neugier geweckt. Dort waren die Spezialitäten der Woche angeschrieben, auch viele Pilzgerichte waren darunter. Gebraten, gesotten, gedämpft, frittiert. Er wusste, dass am Dienstag Ruhetag war, trotzdem hatte er von drinnen Geräusche gehört. Wahrscheinlich bereiteten sie schon die Speisen für den nächsten Tag vor. Er war näher an eines der Fenster getreten, hatte Schatten über dem Herd gesehen, schließlich eine Gestalt in Kochschürze, die in der einen Hand eine Abgestutzte Herkuleskeule, in der anderen einen Geschundenen Schirmling hochhielt, um beide Pilze gründlich im Licht zu mustern. Das wollte er sich doch mal genauer anschauen, wie diese sogenannten Spitzenköche und Sternebrutzler die Pilze zubereiteten – oder vielmehr banausisch verstümmelten, verkochten und zu einem undefinierbaren Irgendetwas verrührten. Schlatt war in dieser Beziehung Purist. Seiner Überzeugung nach durften Pilze, wenn der Verzehr schon unbedingt sein musste, nur sekundenkurz angebraten und dann sofort unzerkleinert und ungewürzt genossen werden.

 

Siegfried Schlatt konnte bei diesem Thema durchaus mitreden. Er war Pilzexperte. Er kannte sie alle, die tausend Arten und hunderttausend lokalen Varianten. Er wusste, was der Unterschied zwischen einem Blassen Birkenreizger und dem täuschend ähnlichen Zottenreizger war. Gar nicht einmal vom Geschmack her: Pilzgerichte standen selten auf Siegfried Schlatts Speiseplan. Er hatte sogar ein bisschen Abscheu davor, in das wabbelige Fleisch zu beißen. Was ihn weitaus mehr faszinierte, war das Aussehen der vielgestaltigen Waldfrüchte. Schon als Kind hatte er stundenlang vor den ausladenden Hexenringen des Fuchsigen Rötelritterlings und Wohlriechenden Schnecklings gesessen, hatte irgendwann einmal Block und Stift mit in den Wald genommen und sie gezeichnet. Das war ihm gut und immer besser gelungen, schließlich hatte er die bildenden Künste zum Beruf gemacht, und so war aus Rumpelstilzchen der gefragte Landschafts- und Pilzmaler Siegfried Schlatt geworden. Genau betrachtet sah er selbst eigentlich auch ein bisschen aus wie ein Pilz. Klein und gedrungen wie ein Röhrling, in der Körperhaltung nie kerzengerade, sondern immer leicht windschief, gekleidet in den Waldbodenfarben des Herbstes: goldenes Orange, sanftes Beige, Pistaziengrün. Eine sandfarbene Ballonmütze rundete den mykologischen Eindruck ab. Auch in Zeiten der digitalen Bildbearbeitung waren Schlatts malerische Künste gefragt, vielleicht sogar mehr denn je, denn er zeichnete die feinen Querschnitte der Fruchtkörper und die Oberflächenstruktur der Lamellen wesentlich anschaulicher als ein tumbes Computerprogramm das konnte. Schlatt war gut im Geschäft, viele Pilz- und Kochbücher waren mit seinen detailgetreu gezeichneten und gemalten Abbildungen versehen: der Klebrige Gürtelfuß neben dem Aprikosenwasserkopf und dem Widerlichen Stacheling, alle zunächst frisch aus dem Boden geschossen, dann reif und in voller Größe, im Anschnitt, im Querschnitt, vor und nach dem Regen, auf Sand- und Morastboden … Schlatts Haupt- und Staatsleidenschaft war die naturgetreue Abbildung von Pilzensembles. Wenn man vor einem seiner Ölgemälde stand, bekam man Lust, sich den appetitlich glänzenden Beringten Kahlkopf zu greifen, ihn herauszureißen und zu verspeisen. (Gut, dass das unmöglich war, denn ausgerechnet dieses lecker anzusehende Prachtstück war hochgiftig.) Seine Profession hatte Schlatt vor Jahren schließlich auch in das Waldrestaurant geführt. Er kannte den Besitzer, Rico Hubschmidt, der dem Ausflugslokal seinen Namen gab: Hubschmidt’s. Er war eine Zeitlang Berater für das Restaurant gewesen, jetzt prüften sie die Pilze selbst, mit einer angeblich todsicheren App. Lachhaft. Nicht, dass er deswegen groß beleidigt gewesen wäre. Aber in der Folge war der Kontakt zu Rico Hubschmidt und seinen Mitarbeitern eingeschlafen. Seis drum. Mit dessen Pilzzubereitungsarten war Schlatt sowieso nie einverstanden gewesen. Die edlen Gebilde wurden zerquirlt und zermanscht, totgekocht und bewusstlos gedünstet. Das Vornehmste und Erhabenste an einem Pilz, sein edles und hochsymbolisches Erscheinungsbild, fiel dem Getriebe eines gefühllosen Siemens-Küchenmixers zum Opfer. Was hatte er da vorher auf dem Schild gelesen: ›Steinpilzsuppe nach Art der Bergbauern‹. Wie bitte: nach Art der Bergbauern? Ab achtzehnhundert Höhenmetern wuchsen verdammt nochmal keine Steinpilze mehr!

 

Schritte. Knackende Äste. Laub wurde niedergestampft. Schlatt hielt den Atem an, seine Augen weiteten sich vor Schreck, seine Hände verkrampften sich in dem trockenen Moos. Er kauerte immer noch hinter seinem Haselnussstrauch und hoffte inständig, dass sich die Schritte wieder entfernten. Denn jetzt hörte er auch noch Stimmen, halb geflüstert, ganz in der Nähe, nur ein paar Meter weit weg von ihm.

»Er muss hier irgendwo sein … einen Schatten gesehen … über die Wiese gelaufen …«

Sie suchten nach ihm. Sie hatten ihn also am Tatort bemerkt und jagten ihn jetzt. Es war keine Einbildung gewesen. Oder doch? Schlatt wurde übel vor Angst und Panik. Gleich würde ihn eine Hand an der Schulter packen und hochziehen. Doch jetzt waren die Stimmen verstummt. Und dann entfernten sich die Schritte im Laub. Vorsichtig und quälend langsam zog er ein Fläschchen aus seiner Hosentasche. Es enthielt garantiert naturbelassenes, eigenhändig aus ausgewählten Magic Mushrooms extrahiertes Beruhigungsmittel. Gierig nuckelte er daran. Dann stand er langsam auf. Er sah an sich herunter und lächelte. Seine herbstmanöverfarbene Tarnkleidung hatte ihn wohl gerettet. Sie machte ihn eins mit dem Wald. Er nahm noch einen tiefen Schluck aus dem Fläschchen und kehrte dem albtraumhaften Ort den Rücken. Bald war er im dichten Gehölz verschwunden, das sich um ihn schloss wie die matschige Kappe des Schleimigen Wüstlings, dessen Name allerdings in die Irre führte, denn dieser Pilz war durchaus essbar, er schmeckte angenehm nach Weißkraut und Rettich.

3

Kriminalhauptkommissar Hubertus Jennerwein und Polizeiobermeister Franz Hölleisen waren beide überhaupt nicht mit den stummen und reglosen Waldfrüchten zu vergleichen, dafür waren sie viel zu beweglich und zu zielstrebig. Geschickt wie die Eichkätzchen kletterten sie vom Jeep, flink wie die Stichlinge schwärmten sie aus, um das letzte Stück des Weges zum Waldrestaurant zu Fuß zu gehen. Sie hätten auch mit dem Einsatzwagen direkt vor das Restaurant fahren können. Jennerwein hatte sich jedoch für die schrittweise Annäherung an den Tatort entschieden, auf die Art war er schon mehr als einmal auf entscheidende Auffälligkeiten gestoßen.

Schon vom Parkplatz aus konnten sie in der Ferne das Gebäude sehen. Es stach bunt und werbeträchtig aus dem dezenten Waldgrün heraus, man sah den neuen Anstrich, man glaubte sogar die giftig gelbe Holzschutzlasur zu riechen. Die geschwungenen Eisengitter vor den Fenstern des ersten Stocks und das steile, ziegelgedeckte Dach wiesen darauf hin, dass es sich um ein betagteres Gebäude handelte, das chic und rustikal modernisiert worden war, ohne den hundertzwanzig Jahre alten Jugendstil-Charme zu zerstören. Die Dachziegel waren moosig grün und verwittert, die kleinen Dachgauben wirkten wie Sahnehäubchen.

Jennerwein wandte den Blick ab und betrachtete den bewusst grob gezimmerten Wegweiser, dessen Dach in derselben Farbe gehalten war:

HUBSCHMIDT’s

Lodge, Resort, Mushrooms and More

10 Gehminuten

Dienstag geschlossen

»Mitten im Wald und so abgelegen hätte ich kein Restaurant erwartet«, sagte Jennerwein, während er die Schiefertafel mit den Wochenspezialitäten studierte.

»Es ist sogar ein Edelrestaurant«, erwiderte Hölleisen und verzog dabei neckisch blasiert das Gesicht. »Weißwürstchen mit Zanderfüllung und Senf aus Mango! Ich selbst war noch nie drin, mein Einkommen aus dem mittleren Polizeidienst gibt das nicht her.«

»Na, für einmal im Jahr, zum Hochzeitstag mit der Frau Gemahlin, wirds doch reichen, Polizeiobermeister?«

»Ja schon, aber wenn ich da gesehen werde, dann heißt es doch gleich: Schau hin, dort sitzt er, der feine Pinkel! Hält sich für was Besseres! Tut immer so volkstümlich und stopft sich dann im Hubschmidt’s mit Hummer und Kaviar voll. Da hat man gleich einen Ruf weg. Außerdem bin ich kein Feinschmecker. Ich fühle mich in so einer geschleckten Umgebung überhaupt nicht wohl.«

»Ich doch auch nicht«, erwiderte der Kommissar lächelnd.

Eigentlich hatte niemand im Team ein besonders enges Verhältnis zu abgehobenen gastronomischen Genüssen. Sie alle aßen gerne gut, gewiss. Aber ohne viel Aufhebens. Im polizeilichen Alltag blieb dafür auch keine Zeit. Hansjochen Becker war der typische Hamburger-und-Bagel-Beißer-Cop, Ludwig Stengele aus Mindelheim zog einen Teller mit deftigen Allgäuer Kässpätzle jeder Haute-Cuisine-Vergeistigung vor, Franz Hölleisen stammte aus einer alten Metzgersfamilie und liebte die derbe, unverschnörkelte Landkost, was oft genug auf Leberkäsesemmeln hinauslief.

»Aber nur die von der Metzgerei Moll!«, pflegte er zu sagen, denn das war sein Maßstab.

Die spindeldürre Polizeipsychologin Maria Schmalfuß hielt ein Übermaß an Raffinesse bei der Nahrungsaufnahme für eine psychopathogene, narzisstische Störung mit hohem Therapiebedarf. Sie naschte und pickte bei Tisch eher, als dass sie schlemmte. Nicole Schwattkes Kochkünste wiederum bewegten sich nach eigenen Angaben in strengen westfälischen Grenzen, und von Kommissar Jennerweins diesbezüglichen Neigungen hatte man die ganzen Jahre über nie etwas gehört. Nur ein einziges Mal hatte er angekündigt, für das Team ein leckeres Mitternachtssüppchen zuzubereiten, aber dazu war es wegen der dramatischen Ereignisse auf seiner Hütte vor zwei Jahren leider nicht gekommen. Vielleicht holte er das ja irgendwann einmal nach. Versprochen hatte er es jedenfalls.

 

»Läuft das Restaurant denn gut?«, fragte Jennerwein.

»Ja, ich glaube schon. Es heißt, dass man nie einen Platz dort bekommt. Aber jammern tun die in der Gastronomie trotzdem alle: kein Personal, und wenn, dann nur stinkfaules. Von den Gästen kein Trinkgeld, kein Benehmen, keinen Respekt. Und dann natürlich die Vorschriften aus Brüssel –«

Sie hatten jetzt einen jähen Anstieg erreicht, den sie schweigend hinaufstapften. Durch die scharfen Serpentinen war das Hubschmidt’s wieder außer Sicht gekommen. Jennerwein blieb in der Mitte einer Steilkurve stehen und zeigte auf einen einzeln stehenden, auffällig herausleuchtenden Pilz am Wegrand. Es war ein saftiger Prachtbursche, der halbkugelige, polsterförmige Hut glänzte dunkelbraun mit einem hübschen Klacks Oliv, der gelbe Stiel wirkte stämmig, am auffälligsten war jedoch die knallrote Hutunterseite. Der Maler Schlatt hätte ihn natürlich sofort als Flockenstieligen Hexen-Röhrling (essbar) identifiziert, der allzu oft mit dem Satansröhrling (giftig) verwechselt wurde.

»Wissen Sie, was das für ein Exemplar ist, Hölleisen?«

Hölleisen betrachtete den Pilz näher.

»Das ist wahrscheinlich ein Pappel-Schüppling«, sagte er mit einem kleinen listigen Lächeln. »Es könnte allerdings auch ein Gemeiner Gurkenschnitzling sein.«

»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen, Hölleisen? Die Namen haben Sie sich doch gerade ausgedacht.«

Hölleisen warf seinem Chef einen komisch entrüsteten Blick zu.

»Nein, wo denken Sie hin – ich und mir was ausdenken! Die heißen wirklich so. Ganz bestimmt. Ob er aber essbar ist, das weiß ich nicht.«

Jennerwein richtete seinen Blick wieder auf den Weg.

»Gibt es irgendwelche Besonderheiten bei dem Restaurant? Welche, die uns bezüglich des Falls interessieren könnten?«

»Ich habe natürlich in unseren Dateien nachgeschaut. Das Restaurant ist schon einige Male polizeiauffällig geworden. Nichts Hochkriminelles, aber es hat mehrere Anzeigen wegen Wettbewerbsverzerrung, unlauterem Wettbewerb, Geschäftsschädigung und was weiß ich noch alles gegeben.«

»Um was ging es?«

»Worum es bei Restaurants heutzutage immer häufiger geht: schlechte Bewertungen im Internet. Ein Konkurrent hat sich beschwert. Er hat dem Rico Hubschmidt vorgeworfen, Bewertungen manipuliert zu haben.«

»Ist denn das so leicht möglich?«

»Ich habe mich ein bisschen umgehört. Da gibt es Manipulationsmöglichkeiten, da schnallst du ab! Aber das kann uns die Frau Schwattke besser erklären. Die ist mit Internetdelikten aufgewachsen, rein dienstlich natürlich. Ich habe sie schon angerufen und ihr die Sachlage erklärt. Sie müsste bald kommen.«

 

Sie stiegen weiter den Serpentinenweg hoch. Leiser Wind rauschte durch die Blätter, an vielen Stellen lag schon Laub. Ein schwachbrüstiger Herbstmond zitterte sich unentschlossen durch den frühen Oktobernachmittag. Jennerwein drehte sich zu Hölleisen um.

»Heute hat das Restaurant Ruhetag. Dann waren die Angestellten wohl gerade bei den Vorbereitungsarbeiten für morgen?«

»Nein«, erwiderte Hölleisen. »Es sind gar keine Angestellten da. Heute haben die Mitglieder eines Laienkochclubs die Restaurantküche gemietet. Einer davon, ein gewisser Pascal Bretten, war als Erster am Tatort und hat es uns gemeldet.«

»Bretten, sagen Sie? Pascal Bretten? Der Name kommt mir bekannt vor.«

»Vielleicht waren Sie schon einmal Kunde in seinem Geschäft: Augenoptik Pascal Bretten. In der Steinstraße.«

»Nein, einen Brillenladen habe ich noch nie betreten. Mit meiner Sehschärfe hätte ich Pilot oder Luchs werden können.«

»Bretten spielt in seiner Freizeit kleine Rollen im hiesigen Theater. Vielleicht kennen Sie seinen Namen daher. Ich habe ihn auf der Bühne allerdings noch nie gesehen. Theater ist nicht so meins. Eine halbe Stunde packe ich immer, dann schweife ich mit den Gedanken ab.«

Jennerwein lächelte. Bei ihm war es ähnlich. Aber nicht, weil er dazu neigte, den Faden zu verlieren. Ganz im Gegenteil. Seine ansonsten recht nützliche Gabe, Unstimmiges in einem ansonsten stimmigen Rahmen sofort zu erkennen, führte bei Theaterabenden dazu, dass ihm der kleinste logische Fehler sofort auffiel und ihn vom eigentlichen Genuss abhielt.

»Wo ist Pascal Bretten jetzt?«

»Maria Schmalfuß bearbeitet ihn gerade. Der Anblick am Tatort hat ihn sehr schockiert. Er ist einer von der sensiblen Sorte.«

»Und wie darf ich mir diesen Kochclub vorstellen?«

»Es ist ein sehr exklusiver Verein, mit lauter angesehenen und ehrbaren Bürgern. Die treffen sich regelmäßig, und dann lassen sies krachen. Man hört, dass unter dreizehn Gängen gar nichts geht. Deshalb nennen sie sich auch so: Die dreizehn Gänge. Deutsch klingts natürlich nicht so edel, deshalb hat ein französischer Name hermüssen: Les Treize Plats.« Hölleisen blieb stehen und deutete einen höfischen Kratzfuß an. »S’il vous plaît, mon commissaire!«

Jennerwein hätte gerne etwas in dieser Art erwidert, doch er wusste nicht, was Polizeiobermeister in der Sprache der Flics hieß. Der Französischunterricht bei Frau Haage lag einfach schon zu lange zurück. Und solche nützlichen Sachen hatte man bei ihr sowieso nicht gelernt.

 

Bald waren sie am oberen Ende des Weges angelangt. Das Restaurantgebäude mit seiner weit vorgeschobenen Terrassenanlage lag vor ihnen. Rundum flatterten polizeiliche Absperrbänder, und einige Jäger und Sammler aus Hansjochen Beckers Spurensicherertruppe flitzten und krabbelten herum wie Ameisen, die Zuckerstücke wegschleppten. Es waren allerdings weiße Ameisen, denn alle trugen die gleichen hellen Ganzkörper-Overalls, so dass sie eher aussahen wie Riesenmaden auf zwei Beinen. Ob Hansjochen Becker selbst anwesend war, ließ sich nicht erkennen.

»Ich glaube, da können wir noch nicht rein«, sagte Hölleisen.

»Erzählen Sie mir inzwischen noch mehr von dem Kochclub«, sagte Jennerwein. »Sie scheinen ja ganz gut Bescheid zu wissen.«

»Ich kenne einige von den Treize Plats. Ein paar sogar näher. Darum ist dieser Fall für mich persönlich gar nicht so leicht zu packen, das müssen Sie mir glauben. Aber ich will es professionell angehen.« Er räusperte sich. »Bei denen ist es ein bisschen wie bei einem Geheimbund. Man kann da nicht einfach Mitglied werden, jemand muss für einen bürgen, wie bei den Freimaurern. Der Rico Hubschmidt ist der Einzige, der vom Gastronomiefach ist. Die anderen sind Ärzte, Unternehmer, Rechtsanwälte, mit dem Laienschauspieler Pascal Bretten haben sie auch einen Künstler dabei.«

»Es sind lauter Männer? Wie man sich das bei einem Kochclub so vorstellt?«

»Nein, bei den Dreizehn Plattlern sind auch Frauen dabei. Zum Beispiel die Erika Lorek, die zusammen mit ihrem Mann, dem Dachdeckermeister Thomas Lorek, zu den Kochabenden geht. Wahrscheinlich sind die beiden so etwas wie die Quotenproletarier.«

»Thomas Lorek – ist das nicht das Opfer, das in der Suppe ertrunken ist?«

»Richtig. Der Lorek ist der letzte Spross einer alten Dachdeckerdynastie gewesen. Fünfte Generation, gut laufendes Geschäft, viele treu ergebene Angestellte, seine Frau Erika ein bisschen bieder, aber bildhübsch, herzige Kinder – und dann muss er so enden. Direkt würdelos für einen Dachdecker, finden Sie nicht? Das Ertrinken, meine ich.«

»Die Mitglieder sind also lauter ehrenwerte Bürger.«

»So ist es. Und ganz arm ist da auch niemand. Jedenfalls veranstalten die manchmal Wohltätigkeitsaktionen: einen Stand auf dem Christkindlmarkt, Spendenaufrufe, Sammlungen mit der Klingelbüchse, Schirmherrschaften, solche Charity-Sachen halt.«

»Der Angriff könnte also dem Club insgesamt gegolten haben?«

Hölleisen kratzte sich am Kopf.

»Ich weiß nicht so recht. Was soll jemand gegen solch einen zwar gspinnerten, aber dann doch letztendlich harmlosen Verein haben?«

Jennerwein zuckte die Schultern.

»Wird denn immer in diesem Restaurant gekocht?«

»Meistens, ja. Da haben sie wahrscheinlich die am besten ausgestattete Küche. Der jeweilige Löffelführende bestimmt die Gerichte, und einer darf immer einen Überraschungsgast mitbringen.« Verschwörerisch und mit einer angedeuteten vorgehaltenen Hand fügte Hölleisen hinzu: »Einmal, so wird gemunkelt, soll der Bundespräsident höchstpersönlich dabei gewesen sein.«

»Nur gemunkelt? Bei so einem Kaliber wie dem Bundespräsidenten müsste sich das doch herumgesprochen haben, schon allein wegen der Koordination der Security mit der lokalen Polizei.«

»Eben nicht! Der soll ganz alleine gekommen sein und sich darauf verlassen haben, dass nichts nach außen dringt.«

Jennerwein schüttelte verwundert den Kopf. Hölleisen seufzte. Auf seinem gutmütigen Gesicht erschien ein Anflug von Sorge.

»Ja, wie soll ich sagen: Es gibt noch jemanden, der bei dieser Hobbykochclique dabei ist, nämlich eine alte Bekannte von Ihnen, Chef. Es wird Ihnen nicht gefallen, aber so ist es. Die Staatsanwältin Antonia Beissle.«

Über Jennerweins Miene huschte ein sorgenvoller Schatten.

»Die schon wieder. Ich wusste gar nicht, dass die kochen kann. Ihre Apfel-Maracuja-Muffins beim letzten Klassentreffen waren jedenfalls steinhart.«

»Vielleicht hat sie sich ja deshalb den Dreizehn Gängen angeschlossen. Um es zu lernen.«

Jennerwein musste lächeln. Antonia war Klassenkameradin von ihm gewesen, schon damals hatte er sich mit ihr gefetzt, wo es nur ging. In den letzten Jahren hatten sich ihre Wege immer wieder und in immer kürzeren Abständen gekreuzt. Antonia hatte sich in ihrer Eigenschaft als zuständige Staatsanwältin in seine Ermittlungen eingemischt und ihn dabei oft zur Weißglut getrieben. Sie hatte ihm dazwischen aber auch immer wieder geholfen. Umgekehrt genauso. Er hatte sie einmal sogar aus einer lebensgefährlichen Situation befreit. Aber im Grunde schien sie nur ihre gegenseitige Abneigung zu verbinden.

»Ist sie schon informiert?«

Die Antwort Hölleisens ging im lauten Geknatter eines Hubschraubers unter, der hinter dem Gebäude startete. Becker ließ damit wohl die ersten Materialproben ins Labor fliegen.

 

Die Spurensicherermaden taten ihre kleinteilige und schweißtreibende Arbeit, die meisten von ihnen befanden sich auf der anderen Seite des Gebäudes. Vorsichtig hob Jennerwein das Absperrband hoch, um über die Wiese zum eigentlichen Tatort zu gelangen. Sie zeigten ihre Dienstmarken, eine der Maden winkte, näher zu treten.

»Eine gepflegte Hütte«, rief Jennerwein anerkennend und musterte das Gebäude von oben bis unten.

Es war ein zweistöckiges Haus mit gut erhaltenem Mauerwerk und gelb bemalten Holzverblendungen. Im ersten Stock waren kleine Zierbalkone zu sehen, die Fenster dort waren mit schmiedeeisernen Gittern gesichert, eine deutliche Erinnerung an die ehemalige Nervenheilanstalt.

»Ja, der Rico Hubschmidt hat das alte, verfallene Sanatoriumsgebäude renoviert«, sagte Hölleisen. »Er hat dabei ziemlich viel Geld reingesteckt. Aber wenn sie natürlich so einen wie den Bundespräsidenten einladen, dann ist diese Lage schon das Beste. Etwas erhöht, mit mehreren Fluchtwegen nach allen Seiten. Sogar einen Hubschrauberlandeplatz gibt es hinter dem Haus.«

»Ich brauche jedenfalls eine Liste der Mitglieder von Les Treize Plats.«

»Ich habe schon damit angefangen, Chef. Manche kenne ich ja. Aber eine vollständige Liste zu bekommen, ist wahrscheinlich nicht so ganz einfach, nachdem es ja ein Geheimbund ist. Doch angesichts der traurigen Umstände werden sie schon damit rausrücken.«

 

Sie gingen auf der breiten, edel mit Terrakotta gepflasterten Terrasse um das Gebäude herum, versuchten auch ein paar Blicke durch die Fenster zu werfen. Die meisten waren jedoch durch altmodische, ebenfalls frisch gestrichene Fensterläden verschlossen. Über den Fenstern waren Tafeln angebracht, auf denen launige Sentenzen zum Thema Wein, Bier und Schnaps zu lesen waren. Sokrates, Goethe, Freud, Adorno – es schien so, als hätte jeder Dichter und Denker etwas zu dem Thema geschrieben.

»Schade, dass man einen Wein nicht streicheln kann.«

Kurt Tucholsky

 

»Der Wein wandelt den Maulwurf zum Adler.«

Charles Baudelaire

 

»Der Rausch ist ein Zustand, der zu Affekten disponiert, indem er die Lebhaftigkeit der anschaulichen Vorstellungen erhöht, das Denken in abstracto dagegen schwächt und dabei noch die Energie des Willens steigert.«

Arthur Schopenhauer

Bald standen sie vor der Küchenzeile. Hier war die Fensterfront auslagenähnlich vergrößert worden, sie lud zum Hineinschauen ein, die vorbeiflanierenden Gäste sollten wohl den Eindruck einer sauber-kreativen Küche bekommen, die nichts zu verbergen hat.

»Ein merkwürdiger Tatort«, murmelte Jennerwein. »Eine voll erleuchtete, offene Bühne.«

Einer der Spurensicherer winkte sie wortlos näher, als ob durch eine gesprochene Aufforderung allzu feine Spuren, die noch in der Luft lagen, zerstört worden wären. Er zeigte auf eine Stufe schräg neben dem Fenster, von wo aus man einen relativ guten Blick in die Küche hatte. Als Jennerwein und Hölleisen sich genau an der Stelle befanden, von der aus Siegfried Schlatt vorher in die Küche geschaut hatte, bot sich den Polizisten der gleiche schreckliche Anblick. Ein großgewachsener Mann mit quietschgrünem T-Shirt und saucenverschmierter Kochschürze war über den Herd gebeugt, sein Kopf war vollständig in einem großen Topf versunken. Die Hubschraubergeräusche waren inzwischen verstummt, die völlige Ruhe wirkte wie ein Paukenschlag.

»Ein Siebzig-Liter-Topf«, bemerkte Hölleisen trocken. »Da hat schon was Platz drin.«

Jennerwein beugte sich vor. Die Hände des Mannes waren unter das Eisengitter des Gasherds geschoben, die Finger gespreizt und unnatürlich verdreht, was den Körper daran hinderte, vom Herd herunterzurutschen und auf den Boden zu fallen. Die Hände waren an einigen Stellen bis auf die Knochen verbrannt. Der Topf selbst war bis zum Rand gefüllt, viele eingetrocknete Suppenspritzer neben dem Gasbrenner verrieten, dass er übergelaufen war. Eine Armlänge vom Topf entfernt lag der passende Deckel dazu. Jennerwein fiel auf, dass er blitzblank war. Es schien so, als ob er nachträglich hingelegt worden wäre.

 

Ein Räuspern ertönte. Hansjochen Becker, der Alphaspurensicherer, stand hinter ihnen. Seine Haare waren superkurz geschnitten, deswegen fielen seine großen, abstehenden Ohren besonders auf. Becker hatte seinen Helm abgenommen, bunte, herausquellende Drähte und ein blinkendes Display in der Sichtscheibe verrieten, dass es sich um einen Funktionshelm handelte mit Infrarotsensor, Kamera, Materialbestimmungstool und anderen Messgeräten.

»Viel Hoffnungen mache ich Ihnen diesmal nicht«, sagte er mit seiner knarzigen, unfreundlich wirkenden Stimme. Alle wussten, dass er es nicht so meinte. »Wir haben es hier mit einem aus Forensikersicht äußerst unergiebigen Tatort zu tun. Nicht, weil wir zu wenig Spuren vorgefunden haben, sondern weil es ganz im Gegenteil viel zu viele davon gibt. Auf kleinstem Raum hat sich eine Horde von Menschen bewegt. Hustende, schwitzende, herumtrampelnde Spurenvernichtungsmonster. Jeder hat die seines Vorgängers überlagert und verfälscht und sie dadurch bedeutungslos gemacht. Die scharfen Reinigungsmittel, die in einer Küche offensichtlich tonnenweise verwendet werden, erleichtern unsere Arbeit auch nicht gerade. Der Todeszeitpunkt ist wegen der großen Temperaturschwankungen und der hohen Luftfeuchtigkeit in der Küche nicht genau festzustellen. Auch die Gerichtsmediziner werden keine große Freude an dem Tatort haben.«

»Dürfen wir schon rein?«

»Nein, wir brauchen noch eine Weile. Die Menge an Töpfen und Tiegeln und Kisten, die wir zu untersuchen haben, ist enorm. – Aber hier auf der Terrasse können Sie sich schon frei bewegen.«

»Eine Frage habe ich noch«, sagte Jennerwein.

Becker zuckte die Schultern.

»Brannte die Gasflamme unter dem Topf noch, als Sie am Tatort eintrafen?«

»Genau das habe ich Pascal Bretten, den Augenoptiker, auch gefragt. Er gab an, dass sie bei seinem Eintreffen noch auf allerkleinster Stufe stand. Er hat sie ausgeschaltet.«

»Haben Sie die Temperatur der Brühe gemessen?«

Becker warf Jennerwein einen kurzen Blick zu.

»Nein, Chef, ich bin den ganzen Nachmittag auf der Terrasse gesessen und habe mir die Fingernägel lackiert. Ich mache hier nur Urlaub.«

 

Zur gleichen Zeit irrte der kleine, bucklige Mann mit der sandfarbenen Ballonmütze immer noch schwer atmend und mit gehetztem Blick durch den Wald. Der Landschafts- und Pilzmaler Siegfried Schlatt versuchte vergeblich, das Bild der Leiche aus seinem Kopf zu bekommen. Jetzt hielt er an und ließ sich erschöpft auf einem umgestürzten Baumstamm nieder. Er war so durcheinander, dass er inzwischen nicht mehr ausschloss, dass er selbst es war, der den Mord begangen hatte.

4

Hölleisen und Jennerwein traten wieder ans offene Fenster, um die Leiche des Mannes in den braunen Kniebundhosen genauer in Augenschein zu nehmen. Hölleisen schüttelte den Kopf.

»So etwas Brutales habe ich meiner Lebtag noch nicht gesehen«, sagte er mit einem winzigen Beben in der Stimme. Dann wandte er sich nachdenklich an seinen Chef. »Ich weiß nicht, wie ich sagen soll, aber mir ist da gerade eine ganz blöde Idee gekommen.«

Hölleisen sprach nicht weiter.

»Los, raus damit«, sagte Jennerwein. »Es gibt keine blöden Ideen.«

»Es ist doch schon wieder so ein Bär unterwegs«, begann der Polizeiobermeister zögerlich. »So ein Problembär wie der Bruno vor ein paar Jahren. Die Österreicher oder sogar Italiener haben ihn ausgewildert. Wie damals. Er ist hier in der Gegend gesehen worden. So ein Bär kennt natürlich keine Staatsgrenzen. In ein bewohntes Gebiet traut er sich nicht, der Bär, aber ich stell mir vor, dass er im Wald auf einmal die Wirtschaft entdeckt. Er riecht die Speisen, die Tür steht offen, er glaubt, das ist alles für ihn, er sieht den Mann und meint, dass der ihm gerade seinen Brei wegfrisst –«

Hölleisen unterbrach sich. Er erwartete wohl, dass Jennerwein ihn auslachte, aber der blickte ihn ernst an.

»Die Brutalität, mit der die Tat durchgeführt wurde, ist jedenfalls bestialisch, da haben Sie recht.«

»Drum bin ich auf den Bären gekommen. Man muss ja, soviel ich weiß, den Kopf eines Menschen mehrere Minuten unter Wasser halten, bis man sicher sein kann, dass der Tod eingetreten ist. Da gehört eine Riesenkraft dazu.«

Hämisches Gelächter erschallte hinter ihnen.

»Der Bär? Der herumstreunende Bär, der in die Fotofalle getappt ist, der soll den armen Dachdecker in die heiße Brühe getaucht haben?«

Das war Becker, der zurückgekommen war und Hölleisens erste Arbeitshypothese wohl mitgehört hatte.

»Sonst noch Auffälligkeiten?«, fragte ihn Jennerwein.

Becker knurrte wie ein Hund. Er war schon immer ein grummeliger Typ gewesen. Aber jetzt hatte er sich dieses langanhaltende Hundeknurren angewöhnt. Vielleicht lag es ja auch an den Zähnen, die ihm beim vorletzten Fall vor zwei Jahren ausgeschlagen worden waren, bei den Geschehnissen auf der Hütte, bei denen Jennerwein nicht mehr zum Süppchenkochen gekommen war. Auch einige von Beckers Mitarbeitern hatten sich dieses Knurren inzwischen angewöhnt.

»Ja, Auffälligkeiten gibt es mehr als genug«, knurrte Becker weiter. »In dem Raum, der an die Küche angrenzt und der eingerichtet ist wie ein Büro, ist ein Safe in die Wand eingelassen. Er stand sperrangelweit offen. Wohlgemerkt liegt keine gewaltsame Öffnung vor, es ist auch nicht drin herumgewühlt worden, soweit wir sehen konnten. Der Inhalt besteht hauptsächlich aus Kochrezepten, auch handgeschriebenen, manche sogar in altdeutscher Schrift. Wir haben natürlich alles sichergestellt und katalogisiert. Was wir aber in der hintersten Ecke noch gefunden haben, hat uns dann doch überrascht.« Becker machte eine genüssliche Pause. »Der kleine üble Geruch von Uhu, vermischt mit Meerrettich und Kalk.«

»Kokain?«, fragte Jennerwein überrascht.

»Ja, genau. In Sichtverpackungen portioniert, so ähnlich wie bei den Blistern, die man von Tabletten her kennt. Die Portionsmengen haben uns dann allerdings vor ein neues Rätsel gestellt. Zehn Milligramm Kokain scheint mir viel zu wenig für eine Linie.«

»Vielleicht ist es eine Kinderportion«, warf Hölleisen ein.

Strenger Blick von Jennerwein, missbilligendes Knurren von Becker, schuldbewusstes Schulterzucken von Hölleisen. Von Ferne näherte sich schon wieder ein Helikopter.

»Dann hat also der Restaurantbesitzer gedealt?«

»Der Hubschmidt? Ein Dealer?«, lachte Hölleisen. »Der ist so gespickt, der braucht sich wirklich nichts dazuzuverdienen.«

»Na ja, und auch die Mengen sprechen dagegen.«

»Vielleicht wollte er sein Küchenpersonal bei Laune halten. Sozusagen ein kleiner Gruß in die Küche. Man hört, dass der Beruf des Kochs sehr anstrengend sein soll. Dauernd in dieser Hitze.«

 

Hölleisen wandte seinen Blick wieder dem toten Dachdecker zu. Zwei Spurensicherer hoben den Kopf vorsichtig hoch, ein anderer zog den Topf weg, unter das Gesicht wurde eine Folie geschoben.

»Da fällt mir ein, dass der arme Teufel auch schon einmal bei mir zu Hause war«, sagte Hölleisen. »Meine Frau hat ihn angerufen, wegen eines Schuppendachs in unserem Garten, das undicht geworden ist. Er hat versprochen, es zu richten. Normalerweise ist das ja mit den Handwerkern so eine Sache. Aber der Lorek ist nicht erst nach einem halben Jahr, sondern sofort gekommen. Und das Dach war in Nullkommanix fertig. So einer war das. Einer von den Zuverlässigen.«

Die Spurensicherer hatten den Kopf Loreks vollständig mit Folie umwickelt, jetzt legten sie den Mann vorsichtig auf eine bereitgestellte Bahre. Zwei andere trugen den schweren Topf aus dem Raum. Jennerwein wandte sich an Hölleisen.

»Wenn Lorek der Chef einer großen Firma mit mehreren Filialen war, dann wundert es mich schon, dass er noch höchstpersönlich zu seinen Kunden geht, um dort Reparaturen durchzuführen.«

»Vielleicht hat er mir einen Gefallen tun wollen.«

»Vielleicht wollte er sich auch aus irgendeinem Grund mit der Polizei gut stellen und sich bei Ihnen einschmeicheln«, mischte sich Becker ein.

»Ja, schon möglich«, sagte Hölleisen. »Aber dabei hat er bestimmt nicht an seine eigene Morduntersuchung gedacht. Ich will jedenfalls meinen Teil dazu beitragen, den zu finden, der Lorek das angetan hat.«

Die Spurensicherer trugen die Leiche aus der Küche, Jennerwein beugte sich über das Fensterbrett weit in den Raum hinein. Den meisten Platz nahm ein riesengroßer Herd mit zwölf Gaskochstellen ein, der in der Mitte des Raums stand. Jennerwein schätzte, dass in dieser Küche mindestens acht Köche gleichzeitig arbeiten konnten. Zwischen Herd und Wand kamen gerade einmal zwei Leute aneinander vorbei. Die Wände waren vollgestellt mit Regalen, an den freien Flächen waren viele bunte Zettel und Listen zu sehen. Auf einer Buchstütze lag ein aufgeschlagenes Buch, vielleicht ein Rezeptbuch. Zwei große gerahmte Fotos fielen besonders auf. Das eine zeigte Rico Hubschmidt, den Inhaber, eine blendende und gutgelaunte Erscheinung. Auf dem anderen Bild war eine Gruppe von nicht minder gutgelaunten Personen zu sehen, die alle weiße Kochschürzen trugen und stolz in die Kamera blickten. Den Stolz und die gute Laune konnte man freilich nur aus ihrer Körperhaltung schließen, denn alle hielten sich eine Bratpfanne vors Gesicht. Auf sämtlichen Kochschürzen prangte das Logo des Kochclubs, eine verschlungene Dreizehn. Bei den Namen oder vielmehr Spitznamen, die darunter standen, stach dem Kommissar einer sofort ins Auge: Brikett. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Damit war die Staatsanwältin schon zu Schulzeiten geneckt worden. Antonia Beissle, das Brikett. Gründe dafür gab es mehrere. Da war einmal der politisch tiefschwarze Hintergrund der Familie, aber auch die väterliche Kohlenhandlung und nicht zuletzt ihre abgrundschwarzen Augen, Haare und vielleicht auch Seele. Jennerwein riss sich von ihrem Anblick los. Er wollte jetzt nicht in Erinnerungen versinken. Der Mann, der in der Mitte der Gruppe stand, hielt sich keine Pfanne vor den Kopf, über sein Gesicht war ein Fragezeichen geklebt oder hineinkopiert worden. Das musste der Ehrengast sein, dessen Anonymität gewahrt bleiben sollte. Becker winkte Jennerwein und Hölleisen weiter zum nächsten Fenster, durch das man in den anderen Teil der Küche sehen konnte.

»Dort liegt die zweite Leiche«, sagte Hansjochen Becker.

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HUBSCHMIDT’s

4,3 (41) · Gehobene Küche

Dienstag geschlossen · Öffnet um 17:30

Restaurant mit stylishem naturfarbenen Design · kreative Haute Cuisine · Essen bis spätabends · Sitzplätze im Freien · Kleidung zwanglos

Bewertung (verifizierter Kunde):

(= hervorragend)

 

Hubert S. schrieb:

Wir sind den wunderbaren Waldweg raufspaziert und haben uns dadurch richtig Appetit geholt. Wenn man das Gebäude dann das erste Mal sieht, ist man völlig geplättet, so prächtig beleuchtet steht es in der Landschaft. Es soll ja früher eine Irrenanstalt gewesen sein, davon merkt man aber nichts mehr, auch drinnen nicht. Im gemütlichen Gastraum mit den bequemen Sitzen hat man einen herrlichen Ausblick auf den abendlichen und ebenfalls teilweise beleuchteten Wald. Dazu erklingt gedämpfte appetitanregende Musik. Der freundliche Oberkellner Jacques lächelt verschmitzt, als er uns die Vorspeise bringt, eine lecker aussehende Suppe, in der herrliche Steinpilze schwimmen. Wir hatten den Eindruck, als ob sie gerade gepflückt worden wären. Und dann die Überraschung! Es waren überhaupt keine Steinpilze, sondern Rinderfiletspitzen, die wie Steinpilze zugeschnitten und gefärbt worden waren. Täuschend echt! Das ist die Philosophie von Hubschmidt’s, sagte Jacques: Nichts ist, wie es scheint. Und so ging es Schlag auf Schlag. Ein saftiges Steak, und als wir hineinbissen, bestand es aus Vollmilchschokolade. Zwei Kugeln Zitroneneis mit Sahne, aber es waren Selleriestücke mit Meerrettichsauce. Völlig verzaubert haben wir uns kurz vor Mitternacht an den Abstieg gemacht. Hubschmidt’s – lauter Fakes und trotzdem hats geschmeckt!

 

P. S.

Nur beim Kaninchenfilet sind wir reingefallen.

»Hier kommt das Kaninchenfilet«, sagte Jacques breit lächelnd.

Es war wirklich eins.

5

Beim Blick durch das zweite große Küchenfenster fiel wieder zuerst der Herd ins Auge, der vollgestellt war mit Töpfen in verschiedenen Größen und Farben, dann das Hängeregal an der Decke, von dem Pfannen und anderes Kochgeschirr baumelten. Jennerwein und Hölleisen beugten sich auch hier über das Fensterbrett, um ins Innere des Raums zu sehen. Auf dem Küchenboden, zwischen Wand und Herd, lag eine zusammengekrümmte Gestalt in seitlicher Lage, in einer Art Fötushaltung. Der Mann trug, wie der Dachdecker Lorek, eine Kochschürze, ganz deutlich konnte man den aufgedruckten Namen erkennen: Werner Reininghaus (Schmatzer). Der Kopf wurde vom unteren Rand des Herds verdeckt, das Gesicht war nicht zu erkennen. Um ihn herum verstreut lagen Obst- und Gemüsestücke, viele davon zertreten.

»Es handelt sich bei dieser Leiche ebenfalls um ein Clubmitglied«, sagte Becker. »Pascal Bretten hat ihn identifiziert. Es ist Werner Reininghaus, seines Zeichens Flugkapitän. Er ist sogar im Vorstand des Kochclubs.«

»Er wurde erstochen«, mischte sich eine Frau ein, die sich als Mitarbeiterin der Gerichtsmedizin vorstellte. »Ich bin die Vertretung von Frau Dr. Verena Vitzthum«, fügte sie rasch hinzu. »Sie müssen bei diesem Fall schon mit mir vorliebnehmen.«

Das sollte locker und witzig klingen, doch Jennerwein spürte die Unsicherheit, die mitschwang. Sie war neu in dem Beruf, stand wohl im Schatten der erfahrenen Verena Vitzthum.

»Können Sie uns das genauer schildern?«, fragte Hölleisen.

»Der Stich traf ihn von hinten in der Höhe der zwölften Rippe, er ging an der Niere und an der Wirbelsäule vorbei und durchtrennte die Bauchschlagader. Das Messer steckte nicht mehr, als wir kamen, es war gelockert und herausgezogen worden.«

»Von Pascal Bretten«, rief Becker, der seinen Unmut jetzt nicht länger verbergen konnte. »Er hat die Gasflammen ausgeschaltet, er ist überall rumgestiefelt, er hat die Leichen bewegt und und und. Eine Katastrophe für uns. Aber man kann es ihm nicht so recht verübeln. Er musste ja schauen, ob noch jemand lebt. Na ja, eigentlich hat er alles richtig gemacht. Ich glaube, Maria quetscht ihn gerade aus.«

Die stellvertretende Gerichtsmedizinerin ergriff wieder das Wort.

»Die Tatwaffe, die wir neben dieser Leiche gefunden haben, ist augenscheinlich ein Messer aus dieser Küche, ein japanisches Hōchō-Messer. Sehen Sie, da drüben fehlt eines im Block. Das Messer ist frisch geschliffen und schneidet wie Sau, ich habe selbst so eines zu Hause.«

»Ist der tödliche Stich ein Zufallstreffer?«, fragte Jennerwein.

»Entweder das, oder der Täter hatte ausgesprochen gute anatomische Kenntnisse. Die Durchtrennung der Bauchschlagader führt zwangsläufig zum raschen Tod durch inneres Verbluten, wenn man den Stich genau ansetzt. Die Klinge muss dabei waagrecht geführt werden. Aber dafür braucht man nicht Medizin studiert zu haben, das alles kann man heutzutage ja googeln.«

»Dadurch gerät meine Bären-Theorie aber ganz schön ins Wackeln«, murmelte Hölleisen. »Außer ein Bär kann den Griff eines Messers umklammern.«

»Bären haben keine Daumen«, sagte die stellvertretende Gerichtsmedizinerin, die alles richtig machen wollte.

 

Jennerwein beugte sich wieder durch das geöffnete Fenster. Der Tote trug ein geblümtes Baumwollhemd unter der Kochschürze, das sich rund um die Einstichstelle mit Blut vollgesogen hatte. Seine Sonnenbrille lag zerbrochen neben seiner Schulter. Der Körperbau des Mannes war athletisch, wie man es bei einem Flugkapitän auch erwartete.

»Dem Einstichwinkel nach war der Täter etwa gleich groß wie das Opfer.« Unsicher fügte die Stellvertretende hinzu: »Wenn Ihnen das etwas nützt.«

»Ja, tut es«, antwortete Jennerwein freundlich. »Können Sie uns etwas über die Reihenfolge der Morde sagen?«

Die Gerichtsmedizinerin schaute bekümmert drein.

»Leider nicht. Und das wird auch schwierig werden wegen der wechselnden Temperaturverhältnisse in solch einer Küche. Unter den Bodenleisten und in den Bodenplatten gibt es Düsen, die die Küche automatisch reinigen. Das verfälscht all unsere Ergebnisse.«

Jennerwein bemerkte, dass die Frau großen Respekt vor ihm hatte, verbunden mit der Angst, etwas falsch zu machen. Um sie zu beruhigen, setzte er die Miene auf, die, wie er wusste, bei nervösen Zeugen wirkungsvoll war.

»Sie haben gute Arbeit geleistet. Was mich noch bezüglich der ersten Leiche interessiert: Wie lange dauert es, bis man in einer heißen Flüssigkeit ertrinkt?«

»Dazu sind genauere Untersuchungen nötig. Dürfen wir die Leichen jetzt abtransportieren? Bevor sie auskühlen? Das wäre eine große Hilfe für uns.«

»Einen Moment noch«, unterbrach Jennerwein. »Halten Sie mich meinetwegen für altmodisch, aber ich muss mir unbedingt einen direkten Eindruck verschaffen. Becker, geben Sie mir Schutzkleidung in meiner Größe. Ich muss mir einiges aus der Nähe ansehen.«

»Wie Sie meinen, Chef«, knurrte Becker, der allerdings schon eine Garnitur mit Overall samt Helm, Handschuhen und Überstiefeln bereithielt, als hätte er damit gerechnet, dass sein Chef sich den Tatort nicht nur durchs Fenster ansehen wollte. Rasch verwandelte sich Jennerwein in eine weiße Made. Er ging um das Gebäude herum, ließ sich von einem weiteren Mitarbeiter Beckers mit einem Spray behandeln – er hatte keine Ahnung, wozu das gut war – und betrat die Küche, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend. An der Stelle, an der die Leiche des Dachdeckers über den Kochtopf gebeugt war, ging Jennerwein in die Knie und warf einen Blick unter den Herd, dessen Bodenkonsole zwei Handbreit über den Fliesen endete. Ein kleiner, blitzender Gegenstand erregte seine Aufmerksamkeit. Er nahm einen Beweissicherungsbeutel aus der Brusttasche und zog den silbernen Löffel, der dort lag, mit einem Bleistift zu sich her. Auf einer Seite war er mit Saucenresten beschmiert. Jennerwein gab den Löffel in den Plastikbeutel und reichte ihn durchs offene Fenster nach draußen.

»Bravo, Chef«, knurrte Becker. »Müssen wir wohl übersehen haben.«

Der erstochene Flugkapitän lag wenige Schritte davon entfernt. Auch diese Leiche betrachtete Jennerwein genau, doch er fand zunächst nichts Bemerkenswertes. Als er aufstand, zögerte er. Er konnte nicht sagen was, aber irgendetwas war da merkwürdig. Er sah sich die Leiche nochmals von allen Seiten an, was wegen der beengten Platzverhältnisse nur bedingt möglich war, dabei prägte er sich die Stellung des liegenden Körpers ein. Jennerwein ging weiter, an dem Foto mit den Pfannengesichtern vorbei. Sein Blick streifte einige an die Wand gepinnte Rezepte mit Fotos dazu: Hubschmidt’s Minestrone aus dem eigenen Gemüsegarten, Hubschmidt’s Lamm-Bolognese mit hausgemachter Pasta, Hubschmidt’s ›seibabrockte‹ Steinpilzsuppe, Hubschmidt’s da und Hubschmidt’s dort. Als Jennerwein das Rezept mit der Lamm-Bolognese und vor allem das dazugehörige Foto sah, stieg sofort eine Erinnerung in ihm auf. Seine Mutter hatte an Festtagen immer Spaghetti mit Lammbolo gekocht. Seine Mutter machte die beste Lammbolo der Welt. Jennerwein, der momentan eigentlich im nüchternen Ermittlermodus war, lief das Wasser im Mund zusammen. Schon glaubte er den eleganten, feinwürzigen Geruch der Bolognese zu vernehmen und das sanfte Zischen zu hören, wenn die Mutter ein Stück gelbsatte Bauernbutter auf die glänzenden heißen Nudeln gleiten ließ. Jennerwein konnte sich nicht dagegen wehren. Er schluckte. Entschlossen ging er um den Herd herum.

 

Dort lag das dritte Mordopfer, ebenfalls zusammengekauert und mit angezogenen und verdrehten Gliedmaßen. Die schwere gusseiserne Pfanne, die augenscheinlich die Ursache für den Tod dieses Opfers gewesen war, war von Beckers Leuten schon entfernt worden. Jennerwein wandte sich kurz ab. Er atmete tief durch. Jetzt musste er professionell arbeiten. Er durfte sich keinesfalls durch persönliche Empfindsamkeiten ablenken lassen. Jennerwein zwang sich, wieder hinzusehen. Aus seiner Perspektive konnte er nur einen kleinen Teil der weißen Schürze sehen, dazu ein spitzes Knie, das in die Luft stach. Gerade als er näher treten wollte, bemerkte er, dass sich von der anderen Seite eine weitere Mitarbeiterin der Gerichtsmedizin über die Leiche beugte und sie so größtenteils verdeckte. Er zog den Kopf sofort wieder zurück.

»Entschuldigen Sie, ich will nicht stören«, sagte er.

»Hier gibt es noch viel Arbeit, Kommissar«, sagte die Mitarbeiterin. »Todesursache ist jedenfalls ein Schädelbruch. Ob er von einer heruntergefallenen Pfanne oder einem Schlag mit einer solchen herbeigeführt wurde, untersuche ich gerade. Es ist besser, wenn die Leiche dazu nicht transportiert wird. Lassen Sie mich bitte noch ein wenig mit ihr allein.« Ein weiß behandschuhter Finger zeigte kurz nach oben. »Ob Unfall oder nicht, die Pfanne ist jedenfalls über dem Vorbereitungstisch aufgehängt gewesen. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, Kommissar. Der Körper kühlt aus.«

»Ja, natürlich, tun Sie Ihre Arbeit«, sagte Jennerwein und seine Stimme zitterte leicht.

 

Er sah sich in der Küche um. War dem Täter bewusst gewesen, dass die Beengtheit dieses Tatorts die Ermittlungen enorm erschweren würde? Wieder blieb Jennerweins Blick an Rezepten hängen, die büschelweise aus der Pinnwand zu wachsen schienen: Marillenknödel nach Art der Herzöge von Niederbayern. Panierte Riesenschirmlingskappen. Gamsrücken in der Salzkruste. Rinftln. Das dicke aufgeschlagene Buch auf dem hölzernen Lesepult war voll von handschriftlichen Notizen und eingeklebten Rezeptausrissen aus Zeitschriften. Jennerwein blätterte mit dem Bleistift um, jede Seite war übersät mit Saucenflecken: das heilige Buch der Dreizehn. Von der Küche führte eine Tür in den Nebenraum. Sofort fiel ihm dort der offene Tresor ins Auge, von dem Becker gesprochen hatte.

»Hallo Spatzi!«, rief eine piepsige Teenagerstimme in seinem Rücken. Jennerwein drehte sich um. Auch hier handelte es sich um eine weibliche, vollständig uniformierte Spurensicherin. Sie ging jetzt auf ihn zu.

»Hast es wohl nicht nötig anzuklopfen. Jetzt aber an die Arbeit. Der Obermotz ist eingetroffen.«

Erst langsam begriff Jennerwein, der sonst so viel und schnell begriff, dass ihn die Made verwechselt hatte und dass mit dem Obermotz niemand anderer als er selbst gemeint war. Jennerwein wollte der jungen Frau weitere Peinlichkeiten ersparen.

»Sind Sie noch nicht fertig hier?«, fragte er schließlich. »Ich bin nicht Spatzi, ich bin Kommissar Jennerwein.« Lächelnd fügte er hinzu: »Der Obermotz.«

»Ja, Mensch, warum sagt mir denn das niemand?«, stieß die junge Spurensicherin erschreckt hervor. »Entschuldigen Sie, Kommissar, aber das war überhaupt nicht abwertend gemeint. Mit ›Obermotz‹ habe ich etwas ganz anderes sagen wollen.«

»Ja, ist schon gut.«

»Mit einem Obermotz wird in der Video-Community ein besonders starker Gegner am Ende eines Levels bezeichnet, der bombastisch in Szene gesetzt wird –«

»Ich habe schon verstanden«, unterbrach Jennerwein. »Sind Sie fertig hier?«

 

Die Made trollte sich. Jennerwein sah sich in dem Raum um, der als Büro diente. Am Tisch saß ein Mann. Er war gegen die hohe Stuhllehne gepresst und saß schräg und verkrampft im Stuhl. In seiner Miene spiegelte sich unsägliche Qual, gegen die die anderen Todesarten ein Zuckerlecken zu sein schienen. Dieser Mann war vergiftet worden. Die blauen Lippen, die herausquellenden Augen, der panische Gesichtsausdruck deuteten darauf hin. Kommissar Jennerwein erkannte den Mann. Es war der Inhaber des Restaurants, Rico Hubschmidt. Auf dem Tisch vor ihm stand ein Teller mit einem Pilzgericht. Daneben lag ein Zettel mit der Aufschrift:

»Bitte unbedingt probieren. Bin auf dein fachmännisches Urteil gespannt. Ken.«

6

Jennerwein musste an den Pilz mit der auffällig roten Kappenunterseite denken, den er beim Heraufgehen am Wegrand gesehen, dessen Namen er allerdings schon wieder vergessen hatte. Teufelsschüppling? Höllenröhrling? Der Teller, vor dem der tote Inhaber des Restaurants saß, war gefüllt mit ähnlich aussehenden Pilzen. Sie schwammen in einem kleinen See aus Rahmsauce und waren mit Grünzeug bestreut, von dem Jennerwein annahm, dass es gehackte Petersilie war. Die drallen Pilze selbst waren in dünne Scheiben geschnitten und wieder aufeinandergelegt. Er beugte sich über den Teller, um sich etwas von dem Aroma zuzufächeln, hoffend, dass er polizeibekannte Gifte wie Blausäure, Curare oder E605 bestimmen konnte. Alles Fehlanzeige. Außer einem schwachen, würzig-nussigen Aroma fiel ihm nichts weiter auf. Er erhob sich und betrachtete den Tisch, der sauber gedeckt war. Ein frisches Blumensträußchen stand in der Mitte, auch Salz- und Pfeffermühlen fehlten nicht. Der Zettel mit dem Gruß von Ken war unter den Teller gesteckt, damit er auch sicher dort blieb, wo man ihn haben wollte. Die Serviette war unberührt, der Teller noch voll. Unter dem Tisch lag ein Suppenlöffel, die Stelle war von Beckers Leuten mit Kreide markiert worden. Jennerwein besah sich nochmals den Flüssigkeitsspiegel der Rahmsauce im Teller. Er suchte nach der typischen Eintrocknung, die nach einer Volumenabsenkung normalerweise zu sehen