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Vollautomatisiert, supersmart … und tödlich. Aiki Miras visionärer SF-Thriller über die Zukunft unserer Städte. In Frankfurt am Main sind dank der ersten Krypto-Milliardärin Deutschlands Polizei, Transport und Stadtverwaltung privatisiert. Ein künstliches neuronales Netzwerk unterstützt alle Institutionen und ist auch Teil des Hirn-Stadt-Interface: implantierte Chips, die eine intuitive Interaktion mit Gebäuden, Straßen und Transportsystemen der Stadt ermöglichen. Das KNN sorgt für ein reibungsloses Funktionieren der Infrastruktur und das größtmögliche Glück aller Bürger. Als es zu Problemen kommt und ein obdachloser Teenager stirbt, machen sich eine Coderin und ein Bot auf die Suche nach der Ursache für seinen Tod. Sie stoßen auf Ungeheuerliches, doch bevor sie irgend jemandem davon erzählen können, schaltet sich das Militär ein … »Dieses Buch ist ein sehr neuartiges Tier, das Ideen ausatmet, die wir bald brauchen werden.« Dietmar Dath »›Denial of Service‹ ist eine literarische Droge – man sieht die Welt hinterher mit anderen Augen.« Andreas Eschbach
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Seitenzahl: 275
Veröffentlichungsjahr: 2025
Aiki Mira
Science-Fiction-Thriller
In Frankfurt am Main sind Dank der ersten Krypto-Milliardärin Deutschlands Polizei, Transport und Stadtverwaltung privatisiert. Ein künstliches neuronales Netzwerk unterstützt alle Institutionen und ist auch Teil des Hirn-Stadt-Interface: implantierte Chips, die eine intuitive Interaktion mit Gebäuden, Straßen und Transportsystemen der Stadt ermöglichen. Das KNN sorgt für ein reibungsloses Funktionieren der Infrastruktur und das größtmögliche Glück aller Bürger. Als es zu Problemen kommt und ein obdachloser Teenager stirbt, machen sich eine Coderin und ein Bot auf die Suche nach der Ursache für seinen Tod. Sie stoßen auf Ungeheuerliches, doch bevor sie irgend jemandem davon erzählen können, schaltet sich das Militär ein …
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Aiki Mira schreibt Essays, Kurzgeschichten und Romane. Aikis Kurzgeschichten wurden mehrfach mit dem Deutschen Science Fiction Preis und dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet und ins Englische, Französische und Chinesische übersetzt. Die Romane »Neongrau« und »Neurobiest« erhielten beide den Kurd Laßwitz Preis. »Neongrau« wurde zudem als ARD-Hörspielserie adaptiert. 2024 erschien Aikis letzter Roman »Proxi« bei Fischer Tor und stand monatelang auf Platz 1 der Phantastik Bestenliste. Von der European Science Fiction Society erhielt Aiki den Chrysalis Award.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign
Coverabbildung: Johannes Wiebel unter Verwendung von Motiven von AdobeStock
ISBN 978-3-10-492171-6
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[Widmung]
Ende
Sturzflug
Problem
Alarmtöne
City-Chip
Newsfeed der Stadt
Eine neue Ethik
Highscore
Wer bist du?
Verlustängste
Transkript
file4rt1_Stimmrekorder_Sasha Miroiu
Stille
knn_chat_protokoll
cL94aFg03JP_classified
Phantomnetz
Transkript
file2r8fg_Stimmrekorder_Sasha Miroiu
Getrennte Wege
One Nighter
Black Box
knn_chat_protokoll
l110afg05Syn_classified
Transkript
file3ß2ok_Stimmrekorder_Sasha Miroiu
Träume
Keine Antwort
Grundlos schwere Dinge
Flauschigkeit
Etwas ganz anderes
Tote Luft
Geistersuche
Transkript
file4lpR916L_Videocall _Sasha Miroiu
Für das Internet
Immer noch glücklich
Transkript
file5ktuhb2P_Stimmrekorder_Sasha Miroiu
Schreckliche Entdeckung
Militär
Botkind
Total-Alien-Syndrom
Tödliche Gefahr
Ein Geist
Zugvögel
Auszug aus der privaten Gesetzgebung Frankfurts
§ 42 Militärische Schutzbereiche
Strömung
Sicherheitsseil
Toter Fisch
Flüstern
Hochleveln
Panzerglas
Niemals frei
Offizielle Realität
Bug
Koordinaten
Kaputtes Leben
Dazwischen stehen
Roboter-Ethik
Newsfeed der Stadt
Eine erweiterte Rechtsprechung
Vollkommen erledigt
Hallo Monstropolis
Newsfeed der Stadt
Eine neue Kunst
Video
Hintergrundrauschen
Ikone
Krater
Als Mensch ausgeben
So viel Realität
Geschwärzte Berichte
Eine ganze, neue Welt
Persönlichkeitsstörung
Zeit
Tarnmodus
Humanoide Stimmen
Kontamination
Ihr seid verloren
Andere Gottheiten
Unter Kontrolle
Rote Linien
Die Zukunft beginnt
Ewige, offene Augen
Fans
Lüge
Tiergeräusch
Syntheseautomat
Bot-Perspektive
Brutkasten
Wahrheit
Rationalität
Sicherheitsrisiko
Nostalgische Biologie
Wir sind das Experiment
Eine neue Religion
Gleichgewicht
Das Netzwerk mutiert
Abwesenheit
Vertrautheit
Newsfeed der Stadt
Neue Zukünfte
Atemzüge
Utopie
Fürsorge
Eingänge
Forschungsergebnisse
Einladung
Verbindungen
Anmerkung und Dank
Für Kiril und Fritz
Das Kid bricht zusammen. Einfach so. Kopfüber in die MegaBalls. Spezialsoße spritzt. Heiß. Sie muss heiß sein. Per hat sie frisch gekocht. Niemand rührt sich. No Sound in the Snack-Bar. Von draußen kriecht die Stadt herein. Etwas surrt. Eine Drohne vor dem Fenster.
Nur wenige Stunden zuvor düst Per auf ihrem Pedelec in Richtung Tech-Park. Da ist die Welt noch in Ordnung. Keine Staus auf dem S-Way, angenehme dreiundzwanzig Grad. Morgenregen schneidet ihr ins Gesicht. Die Luft, dunkel und schwer vom vielen Wasser, kaum atembar, schmeckt nach Fluss. Das ist Frankfurt am Main.
Eine Kreatur aus Stahl, Glas, Stein und modularer Architektur. Vollautomatisiert, KI-autonom und super-smart. Zweite Kryptohauptstadt des Planeten, aufstrebende Finanz-Supermacht der Welt. Für Per, die hier geboren ist, ein Monster, das nie aufhört zu wachsen oder hungrig zu sein, zugleich furchtbar und furchtbar schön. Eine Freiluft-Forschungsstation im Wolkenkratzer-Exoskelett, die Abfall produziert, Informationen verarbeitet, sich anpasst und weiterentwickelt.
Die Stadt verschlingt Metalle, Erze, Mineralien und Biomasse. Nachts bildet sie zusammen mit anderen die größte Lichtergalaxie auf dem Globus, herrscht über Wasserzirkulation, Temperaturen, über Wind und Wolken. Ihre Emissionen verändern Atmosphäre und Wetter.
Die Stadt bestimmt über das Leben jeder Spezies in, auf und unter ihr. Autonome, menschenähnliche Bots gehören auch dazu. Defekte Überreste aus einer anderen Zeit. Wie ausgesetzte Haustiere durchwandern sie die Straßen und verwildern zu Chaos-KIs. Für die Stadt sind sie und Per und all die anderen bloß Staubkörner. Prekär, winzig, heute hier, morgen da.
Lange, dichte Pendelwege. Ständiger Lärm. Exzessives künstliches Licht und nur wenige öffentliche Oasen wie der Ada-Lovelace-Brunnen oder der neu errichtete Zhou-Qunfei-Park. Milliardärinnen, die ganze Städte planen und privatisieren, denken nicht an anderes Leben.
Als Pers Mutter ihr vor zwei Jahren den Syntho-Lab-Snack-Kiosk übertrug, tat Per alles, um das Stück Zuhause nicht zu verlieren. Sie verschuldete sich bei der Deng-Bank und verwandelte den Laden in einen innovativen Imbiss für handgemachtes Essen aus fermentiertem Pilzmyzel: Vegan! Gesund! Natürlich! Den notwendigen Myzel-Reaktor erwarb Per auf Pump. Die offizielle Erlaubnis, drei Tische im Kiosk und zwei davor aufzustellen, brauchte fast so lange, wie die eigene Mutter vom Pilz-Konzept zu überzeugen – acht Monate. Skeptisch ist Fatma bis heute, blockiert seit der Neueröffnung einen der Tische. Dort sitzt sie und wartet auf das Desaster.
Nein, denkt Per, meine Mutter wünscht es sich herbei.
Dass irgendwann etwas wirklich Schlimmes passieren würde, hätte Per sich also denken können. Doch an diesem Morgen ahnt sie nichts davon, summt vor sich hin, während sie das pinke Pedelec anschließt.
Den neusten queerorientalischen Beat von Banyo Kepi im Ohr, schlendert sie zum Eingang. Per ist ganze 1,75 m groß, trägt Muskeln wie ein Raubtier, hat daher stets diesen harten, hüpfenden Gang, der zeigt, wer sie ist. Wenn Leute auf der Straße sie bedrohen, stürzt sie sich in die Bewegung, taucht und tanzt und springt die Straße entlang. Ja, sie ist deutsch und deutsch-türkisch und deutsch-iranisch. Aber an erster Stelle ist sie Frankfurterin, trägt den Stadtbliss wie Smog in den Augen. Den Bizeps wie Ballons an den Armen. Die neuste Tech als Dauerbeleuchtung in der Kleidung. Per ist froh, genau jetzt genau in dieser Stadt zu leben, über den weichen Fallschutzasphalt zu bouncen, durch den lärmdämpfenden Regen zu steppen, den winzigen Kiosk aufzuschließen, den wackeligen Frontscreen blinken zu lassen: Vegan! Gesund! Natürlich!
Sie stellt zwei Tische nach draußen, fährt den noch nicht abgezahlten Bioreaktor hoch, heizt die Spezialsoße auf und presst Pilzfäden zu MegaBalls. Sie schiebt den ersten Teller über den klebrigen Tresen.
Weniger als eine Sekunde stutzt sie – das Gesicht ist blass wie eine Prise Salz. Kurz fragt sie sich, ob das Kid bezahlen wird. Kids tun das nicht immer, und Per lässt es ihnen zu oft durchgehen, findet Fatma. Per glaubt an Nachbarschaftshilfe. Schließlich leben die Kids gleich um die Ecke, am Platz vor dem Deng-Turm, und wer dort lebt, braucht alle Hilfe, die er kriegen kann.
Wie die meisten Megastädte besteht Frankfurt aus vielen anderen, unsichtbaren Städten. Hier im Cleantech-Zentrum, wo Scheichs und Technokratinnen in solarbetriebenen Fahrstühlen zwischen Firmensitz und Penthouse pendeln, beherbergen die umliegenden Parks mobile Obdachlosendörfer, mehrere Taubenpopulationen und eine unbekannte Zahl an Chaos-Bots in allen Größen und Formen, die wie verlorene Seelen die Stadt durchstreifen. Neben der Weitläufigkeit der öffentlichen Plätze mit ihren unterschiedlichen Lebensformen existiert die Vertikale der superhohen Türme. Die Unterschiede zwischen den Dimensionen sind so groß, dass viele sich gegenseitig nicht mehr wahrnehmen. Die in ihre Smartphones schauenden Menschen kehren den obdachlosen Kids den Rücken zu, selbst dann, wenn sie ihnen direkt gegenüberstehen.
Weil Per das Kid nicht gleich abkassiert, stößt Fatma hörbar Luft aus. Pfff. Es ist mein Imbiss, denkt Per. Niemand kann wissen, ob ein Kid bezahlen wird. Woran Per jedoch keinen Moment zweifelt: Auch dieses Kid wird – wie alle anderen zuvor – die Snack-Bude lebendig verlassen.
Tja, falsch gedacht.
Kopfüber. Soße überall. Karamellisiert, pilzbasiert und so dunkel wie getrocknetes Blut. Alle schauen zu Per: Fatma, das zweite Kid und die Person, die gerade hereinspaziert. Per will aufspringen, alles in die Bewegung werfen.
Aber ihr Körper weigert sich.
Total. Schock. Ende.
Tad weiß es. Nein, er spürt es, noch bevor er es weiß. Als Kribbeln auf der Kopfhaut. Die Drohne stürzt, und er kann nichts dagegen tun. Da ist nichts. Kein Signal, das zwischen ihnen hin und her schwirrt, das abgefangen oder gestört werden könnte. Sie fliegt autonom, und sie stürzt autonom.
Mit seiner Drohne hat er die Tags der Kids hingeschmiert, überall, tausendmal auf die hitzebeständigen Kacheln der Wolkenkratzer. Frankfurt gehört uns! Während sie Farbe sprüht, hält Tad Ausschau. Und jedes Mal hat er furchtbare Angst, dann redet er sich ein, dass er einfach weggeht, wenn der prädiktive Algorithmus eine Patrouille vorbeischickt. Ich gehe dann einfach weiter, als würde ich die Kids und die Drohne nicht kennen. Wenn die Kids das wüssten, würden sie ihn verstoßen, was schlimmer wäre, als erwischt zu werden, sogar schlimmer, als ins Gefängnis zu kommen oder die Drohne zu verlieren. Denn ohne die Kids wäre Tad allein, dann hätte er wirklich niemanden mehr.
Der Turm der Deng-Bank schaut wie ein Gott auf alles hinunter. Wenn die Kids high sind, fahren sie bis ganz nach oben und schleichen sich auf die Aussichtsterrassen. Bei Regen und Wind ist da oben niemand, dann sind die Kids wie Gott und schauen auf alles runter. Chala und Zuzie sind überzeugt, dass sie nicht älter als achtzehn Jahre werden, beide sind bereits sechzehn, Tad erst dreizehn, ein Baby. Wenn sie etwas Illegales tun, hat Tad immer noch Angst, dass ihn jemand erwischt. Das finden sie süß und machen sich darüber lustig.
Kaum jemand bemerkt Tads Drohne, die mit Farbdosen bewaffnet die Namen der Kids weit über die Stadt verteilt. Ein unscheinbarer Quadrocopter, eine umfunktionierte Lieferdrohne, die signallos fliegt, weder geortet noch gestört werden kann. Tad hat sie mit einem Arm und einer Spritzpistole auf einem Schwenk-Neige-Mechanismus ausgestattet. Über ein externes Modul generiert er dazu passende Programmbefehle oder erstellt kleine Apps für Graffiti auf 3D-Strukturen. Das meiste hat Tad von KIs im Internet gelernt.
Der Drohnen-Arm besteht aus gefundenen Kohlefaserrohren. Die Aluminiumhalterungen hat er für ein wenig Krypto 3D-gedruckt. In manchen Kreisen sind die Drohnen der Kids berüchtigt, in anderen berühmt.
»Was guckst du?«, fragt Chala immer dann, wenn Zuzie etwas mit dem hellen Auge anschaut. Die meiste Zeit verdecken zwei Haarlocken den weichen Wulst, der in Zuzies Augenhöhle blüht wie etwas, das dey dort extra wachsen lässt. Ein Klecks außerirdischer Glibber. Weißer Hautkrebs.
»Ich guck nicht«, antwortet Zuzie.
»Tust du doch. Du siehst alles«, erwidert Chala, die glaubt, das tote Auge hätte magische Kräfte. In Tads Ohren klingt das immer ein bisschen neidisch. Als besäße Zuzie eine Art Geheimwaffe, auf die Chala eifersüchtig ist.
Er selbst findet alles an Zuzie utopisch. Die Welt bildet sich einfach um dey herum. Das auszusprechen fällt ihm schwer. Er spricht Deutsch, aber die Sprache will nicht immer aus dem Kopf heraus. Zuzie sagt, das komme vom Auffanglager. »Die meisten verlassen diesen Ort kaputt.« Tad weiß nicht, ob das stimmt. Er weiß aber ganz sicher, dass er nie mehr dorthin zurückwill. Fast jede Nacht träumt er davon. Vom Zurückmüssen. Als wäre da ein Riss in seinem Schlaf, durch den die Vergangenheit eindringt, um seinen Körper zu vergiften und jeden Gedanken.
»Du bist halbiert«, hat Zuzie ihm gesagt. »Ein Teil von dir lebt immer noch im Auffanglager. Der Riss hält beide Teile irgendwie zusammen.«
Zuzie sieht die Welt immer auf so weirde Weise. Tad mag das. Er mag wirklich alles an Zuzie. Wirklich. Alles.
Einmal hat sich Chala vorgebeugt, um Tad einen Kuss zu geben, da stieß Zuzie sie fort und rief: »Hey, siehst du nicht, dass er noch ein Kind ist?«
Chala hat sich gekugelt vor Lachen. Und Zuzie hatte einen Ausdruck im sehenden Auge, als ob das Lachen dahinter gleich hervorbricht. Es bereitet Zuzie Vergnügen, so zu tun, als wäre er deren kleiner Bruder.
Tad wäre gern größer, wenigstens so groß wie Chala, die fast so groß wie Zuzie ist. Aber er ist einen Kopf kleiner. Er findet sich auch zu dünn, hätte gern mehr Muskeln. Zuzie trägt im Bauch und in den Armen injizierbare medizinische Gele, die auf Hyaluronsäure basieren. Fakemuskeln. Sie sehen aus wie harte Würmer unter der Haut. Solche Muskeln kannst du dir im Vorbeigehen machen lassen. Tad fehlt dafür das Krypto und der Mut. Außerdem hat er Angst, dass die Injektionen am Ende keinen Unterschied machen. Zuzie besitzt auch echte Muskeln im Rücken und in den Beinen, dey nimmt dafür Booster und hat Tad mal welche in den Mund geschoben. Von den Pillen wurde ihm zwei Tage lang schlecht, und er bekam Albträume. Träumte intensiver vom Lager. Noch schlimmer, als es tatsächlich war, und das geht gar nicht. Zuzie hat ihm nie mehr welche angeboten.
Alle Kids dealen für das Phantomnetz, im Gegenzug werden sie mit dem Nötigsten versorgt. Nie ist es genug. Dauernd gibt es neue Substanzen, die sie noch nicht kennen und unbedingt ausprobieren wollen. Oder etwas, das sie nicht wollen, wovon sie aber nicht mehr loskommen. Tad macht mit, auch wenn er danach kotzt oder verschwommen sieht oder seinen Arm nicht mehr spürt. Irgendwie geht das immer wieder weg und ist nie so schlimm, wie er zuerst glaubt. Während ihm dabei schlecht wird, fühlen sich Zuzie und Chala doppelt so lebendig. Die Tage davor und danach sind sie aufgekratzt, voller nervöser Stimmungen, die sie für Lebensenergie halten. Tad macht das genauso fertig wie die langen Stunden dazwischen, in denen sie zusammen und für sich allein wegtreten. Er weiß dann nie, wohin sie gehen, sie nehmen ihn nicht mit. Sie lassen ihn zurück in einer Stadt, die ihn zu zermalmen droht wie die Müllpresse, in die er als Kleinkind gefallen ist. Er hat keine eigene Erinnerung daran, kennt nur das Gefühl zu ersticken, als wäre das Atmen plötzlich zu schwer und der Hals zu eng.
Seine Drohne im Sturzflug. Wie ein feindlicher Angriff direkt auf sie zu. Gerade rechtzeitig ducken sie sich. Zuerst Tad, dann Zuzie, zuletzt Chala. Nein, Chala wird getroffen. Am Kopf.
Jov versucht, ihre Arme möglichst unverkrampft um ihren Oberkörper zu schlingen.
»Überdurchschnittliche Online-Abschlüsse. Talentiert?«
Jov ist unsicher, ob das eine echte Frage ist. Ihr zukünftiger Vorgesetzter E.R. Feldman lehnt sich zurück, lächelt. Eine wohlmeinende Geste? Jov fühlt sich davon bedroht.
Die Anreise hat mehrere Stunden gedauert, weil Jov sich im Frankfurter U-Bahn-System verirrt hat. Danach passierte, was oft passiert, wenn Jov ein öffentliches Gebäude betritt und nicht als deutsch genug gelesen wird. Dann wird sie erst mal nach draußen geschickt: »E-Trust? Paket dort abliefern!«
Fast wäre Jov zu spät gekommen. Schweiß rinnt zwischen ihrer Brust, der sich unangenehm anfühlt, wie Blut.
»Wir haben einen Talent-Hub für unsere Besten. Gehörst du dazu?«
»Ich …«
»Wenn du es nicht weißt, dann wohl nicht.« Wieder lächelt ihr Gegenüber. »Klar, es ist trotzdem möglich, aber mein Instinkt spricht dagegen. Talente wissen, dass sie gut sind.«
Jov weiß es nicht.
Feldman dreht den Kopf demonstrativ zur Seite. Ein Fenster vom Boden bis zur Decke. Ein Blick aus dem zwanzigsten Stockwerk. Hochhäuser hinter Glas. Die tausendäugigen Kacheln des Deng Towers nur eine Handbreite entfernt. Eine furchteinflößende Illusion.
»Du weißt, dass wir eine sehr besondere Stadtverwaltung sind, für eine sehr besondere Stadt …«
»Das weiß ich.«
»Bist du sicher, dass du das weißt?« Sein Blick sucht das Smartphone, das direkt vor ihm liegt und dessen Screen durch den Augenkontakt sofort anspringt. Mit monotoner Stimme liest er vor: »Jovana Sae-Tan, sechsundzwanzig Jahre alt, deutsch-thailändischer Vater, aufgewachsen im Frankfurter Umland, heute hier, um ihren ersten Job als Data Scientist anzutreten. In der Stadtverwaltung. Abteilung: Daten und Sicherheit. Hat nur Online-Abschlüsse vorzuweisen, die sind jedoch hervorragend.«
Feldman verstummt, wartet.
Jov holt tief Luft, versucht, sich zu entspannen. »Was ich sagen wollte: Ich weiß, dass diese Stadt überaus smart ist.«
»Das ist sie. Aber weißt du auch, was sie sonst noch ist?«
Jov spürt, wie sie verkrampft, wie der Hals enger wird. Kaum noch Luft.
Abrupt beugt sich Feldman vor, ein Windhauch. Er berührt sie nicht und doch.
»Es ist nämlich so, Jovana …«
»Bitte nennen Sie mich Jov.«
»Jov, diese Stadt besitzt, trotz der offensichtlichen Smartness, eine andere höchst ungewöhnliche Eigenschaft. Ihr zentrales KNN ist überaus ethisch.«
»Wie bitte?«
»Frankfurts künstliches neuronales Netzwerk entwickelte seine eigene Ethik und weicht nie davon ab. Anders als wir Menschen. Sobald es um unser Leben geht, ist uns Ethik egal.«
Er starrt sie an, dann fügt er hinzu: »Hätte ich nichts zu essen, würde ich dich essen. Ich würde dich töten und essen.«
Sie kann sehen, dass er es ernst meint. Kein Zweifel. Und plötzlich ist sie sicher, dass es ein Test ist. Deshalb sagt sie: »Es käme wohl darauf an, wer von uns beiden schneller wäre.«
Feldman stutzt, dann schaut er erneut zum Fenster hinaus, als müsse er sich vergewissern, dass die Stadt noch da ist. Dass sie ihm zuhört.
Ohne Warnung springt sein Blick zurück zu Jov, pupillenlos wie eine schwarze Neonröhre. »Glaub mir, ich wäre schneller.«
»Vielleicht.«
»Siehst du!«, er lächelt zufrieden. »Uns Menschen ist nichts heilig. Die Stadt ist anders. Sie weicht nie von ihren Prinzipien ab – nie.«
»Das KNN wurde so programmiert?«
»Es hat sich selbst trainiert. Unüberwacht.«
Jov hat von solchen Netzwerken gehört.
»Die Stadtverwaltung benutzt Quantencomputer?«
Als hätte Jov einen Nerv getroffen, flattert Feldmans linkes Augenlid. »Ja, wir nutzen Superpositionen, um die Anzahl der Rechenschritte zu reduzieren, die nötig sind, um zu einer richtigen Antwort zu gelangen.«
Jov nickt. Besonders unüberwachte Netzwerke, die eigenständig Muster entdecken müssen und fähig sind, neue zu generieren, können durch Superpositionen beschleunigt werden.
»Unser städtisches KNN verarbeitet Datenmengen, die ein Mensch nicht mehr bewältigen kann. Wir setzen das in allen Bereichen ein, und es liefert uns stets zufriedenstellende Ergebnisse. Wo liegen deine Vorlieben, Jov? Mathematik oder Informatik?«
Sie weiß sofort, was sie darauf antworten will. Aber ist es die richtige Antwort? Jov zögert.
Dann sagt sie vorsichtig: »Weder noch. Zu sehr in Richtung Mathematik oder zu sehr in Richtung Informatik zu gehen, birgt die Gefahr, die Fähigkeit zu verlieren, statistisch zu argumentieren. Ich finde statistisches Denken extrem mächtig und extrem schön.«
Ihr zukünftiger Boss lächelt, dann neigt er den Kopf und starrt zum Fenster hinaus. Selbst im zwanzigsten Stock sind sie umgeben von Türmen. Eingeschlossen. In Stille vereint, versenken sich ihre Blicke in die kaum sichtbaren Bewegungen der Wolkenkratzer. Tatsächlich hat Jov keine Ahnung, woran Feldman gerade denkt. Sie sind zwei Fremde, die auf dieselbe Kulisse starren, auf Türme, die über computergesteuerte Faltwände verfügen und sich je nach Sonnenstand wie Blumen öffnen oder schließen. Jov fühlt sich mit einem Mal sehr einsam.
Sie macht nicht den Fehler zu glauben, sie würde sich nie an so eine Aussicht gewöhnen. Und sie ist klug genug, um zu wissen, dass Menschen so einen Ausblick genau dann bekommen, wenn sie ihn am wenigsten brauchen.
»Na dann, los! Dir fehlt noch das Hirn-Stadt-Interface. Ein Stock tiefer warten sie bereits.«
»Jetzt? Sofort?« Eine plötzliche Kälte wäscht über ihre Kopfhaut.
»Dann klappt das auch besser mit der U-Bahn …«, er zwinkert ihr zu.
»Wie lange wird der Eingriff dauern?«
»Nicht mal eine Stunde. Raus jetzt.«
Jov steht auf und verlässt das Zimmer. Was ihre Aufgabe sein wird, hat er nicht gesagt. Auch nicht, dass es ein Problem gibt. Das braucht er auch nicht. Jov spürt das, seit sie hier ist. Ein Problem, so groß wie eine Stadt.
Chala reibt sich den Kopf. »Nichts passiert«, sagt sie, und Tad ist erleichtert. Auch die Drohne scheint unbeschädigt. Offenbar ein Programmabsturz.
»Was glaubst du? Wann ist er da?« Chala und Zuzie warten auf einen Mann mit roten Augen. Seit einer Woche reden sie davon, eine neue Droge zu probieren. Nichts Chemisches diesmal, sondern voll digital. Etwas ganz Neues, crazy Shit. Tad drückt sich davor. Als der Mann auftaucht, gibt Chala vor, sie kenne sich aus.
Sie fragt, ob Chip und Chip-Injektor auch sauber seien und wie sie aus dem bewusstseinserweiternden Programm wieder rausfänden. Bei jeder Frage streckt sie ihren aspirinweißen Bauch etwas weiter vor. Dabei reibt sie sich über die neue Beule am Hinterkopf. Zuzie sagt nichts und behält alles im toten Auge. Der Mann ist davon wie hypnotisiert. Geht mehrmals einen Schritt zurück, dann wieder auf Zuzie zu. Auf Chalas Fragen reagiert er so vage, als wüsste er selbst nicht, was er ihnen verkauft.
Über diese neue Art von High existiert im Netz nicht mehr als ein verheißungsvolles Raunen. Woher sollen die Kids wissen, ob das, was er ihnen anbietet, echt ist? Sind sie die Ersten, die es ausprobieren? Und wie kicken digitale Drogen auf das Hirn-Stadt-Interface? Auch diese Fragen bleiben unbeantwortet. Stattdessen scannt der Mann immer wieder den Platz. Zuerst denkt Tad, der Dealer fürchte das prädiktive Policing. Wenn er für das Phantomnetz arbeitet, müsste er wissen, dass die kriminelle Vereinigung Wege gefunden hat, den Algorithmen zu entkommen. Da wird Tad klar, dass der Mann wohl nicht für das Phantomnetz arbeitet und daher zu Recht Angst hat. Ohne Erlaubnis dealt niemand am Deng-Platz. Nichts passiert in dieser Stadt ungesehen. Wenn der Typ das nicht weiß, wird er es bald begreifen. Und was bedeutet das für die Kids? Wahrscheinlich sollten sie nicht einmal mit ihm reden. Tad umklammert seine Drohne. Chala schaut gierig auf die Mikrochips. Ihr ist es egal. Vor Verlangen blühen ihr blaue Linien auf Wangen und Hals. Chala blutet von innen. Vaskuläre Demenz. Sie behauptet, sie könne jeden Moment sterben.
Tad öffnet seinen Mund, aber kein Ton kommt heraus. »Still wie seine Drohne«, sagt Chala oft. Die Kids finden das zugleich schön und frustrierend. Sobald Tads Drohne surrt, verstehen sie das als seine Form von Sprache. Eine Sprache, die zugleich einfach und völlig undurchschaubar ist. Dann antworten sie der Drohne, und Tad fühlt sich weniger allein.
Chala bezahlt den Mann, der daraufhin sofort den Platz verlässt. Einen Moment stehen die drei Kids einfach beieinander. Eine klebrige Aufregung lässt sie ganz dicht zusammenrücken. Alle drei schwitzen, obwohl die Tageshöchsttemperatur noch lange nicht erreicht ist. Tad spürt die kaltschweißigen Unterarme von Chala gegen seine drücken, und er spürt die Wärme von Zuzies Haut. Das ist der schönste Moment beim Drogennehmen, findet er. Chala schießt sich den fingernagelgroßen Mikrochip als Erste in den Arm. Tad und Zuzie schauen zu.
Schulter an Schulter legen sie sich danach auf einen der Granitblöcke zwischen Taubenkot und Verpackungsmüll. Gemeinsam starren sie in das blendende Licht der Turmkacheln. Dann fängt Chala an zu summen. Zuzie findet das komisch und zögert, den Chip ebenfalls unter die Haut zu setzen. Irgendwann tut dey es dann doch. Tad weiß, er kann die beiden nicht davon abhalten. Er kann nur versuchen, auf sie aufzupassen. Wie epileptische Kriechtiere krabbeln Zuzie und Chala kurze Zeit später über den Asphalt. Tad trottet hinterher, im Arm trägt er die Drohne, die fiept wie ein Welpe. Wenn Tad angespannt ist, so wie jetzt, dann hört er den hohen Ton tief in seinem Körper. Die Mutation eines Alarmtons. Bloß vor was warnt dieser Ton?
So wie alle Menschen wurde Tad von seinem Gerät durch Alarmtöne zu Liebe und Sorge konditioniert. Jetzt rennt er den Kids hinterher, als wären sie Geräte, die unablässig rufen, damit er sich um sie kümmert.
Draußen in den Satellitenstädten war die mobile Skyline von Frankfurt immer das Erste, das Jov morgens erblickte, und das Letzte vor dem Schlafengehen. Eine Armada, die vorbeizieht mit hohen Spitzen und tausend glitzernden Augen. Jov spürte die Anziehungskraft und träumte davon, eines Tages in dieser Stadt zu leben und zu arbeiten. Für eine Statistikerin und Coderin wie Jov ist Frankfurt zugleich ein Datengenerator und ein unsterbliches System. Die Privatstadt gehört zu den wenigen wohlhabenden Hotspots der Welt. Eine privatisierte Megastadt, die über Datensuperhighways mit anderen Städten verbunden ist und von einer militärischen Sperrzone beschützt wird. Losgelöst von staatlich-demokratischen Einflüssen, besitzt Frankfurt eigene, unabhängige Strukturen. Ein Wohlstandscluster, das der Kapitalismus am Leben hält. Auf Kosten allen anderen Lebens.
Ein bewaffneter Bunker. Hyperkapitalistisch und demokratiefrei. Geschützt von privatem Militär, bedient von KI-Robotern und finanziert von Kryptowährungen.
Satellitenstädte, wie die, in der Jov aufgewachsen ist, dienen als Ressource und unterliegen derselben privaten Gesetzgebung, die es einer Megastadt wie Frankfurt ermöglicht, als geopolitische Entität zu agieren. Mit eigenem Militär besitzt Frankfurt mehr als nur Softpower. Ihre gut finanzierte Verwaltung ist dafür berühmt, eine Coding-Elite zu beschäftigen. Weshalb sich Jov trotz ihrer sehr guten Abschlüsse keinerlei Hoffnung machte, je dort zu arbeiten. Dann kam die Mail. »Zentrum« stand in der Betreffzeile. So nennt sich die Stadtverwaltung, über die es nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag gibt. Jov las die Betreffzeile, dann legte sie das Smartphone weg. Warf etwas in die Mikrowelle. Und ließ es kalt werden. Trank einen Schluck Wasser. Das Smartphone wartete auf dem Boden. Ein flacher, umgeworfener Miniatur-Wolkenkratzer. Sie nahm es erneut in die Hand, öffnete endlich die Mail. Nicht, weil sie es wollte, sondern weil sie nicht anders konnte.
Wenige Tage später sitzt Jov in einem fensterlosen Zimmer im neunzehnten Stockwerk der Stadtverwaltung und wartet auf ihre Operation. Die notwendigen Dokumente hat sie bereits zu Hause gelesen und jetzt nur noch per Fingerabdruck mit der Einverständniserklärung versehen.
Eine mobile chirurgische Einheit rollt herein. Ein Kasten mit Rädern und Roboterarmen.
»Bereit?«, tönt es aus der gesichtslosen Maschine.
»Ich bin mir noch nicht sicher.«
»Warum? Sie tragen doch bereits intelligente Chips im Körper.«
Die Maschine spielt auf Jovs Beinprothese an.
»Aber die Chips übertragen nur Muskelimpulse – keine Gedanken.«
»Der City-Chip kann die neuronale Aktivität Ihres Gehirns nicht wie Computercode entschlüsseln. Das Hirn-Stadt-Interface nutzt maschinelles Lernen, um Muster in der elektrischen Aktivität der Neuronen zu erkennen.«
»Ich weiß.«
»Dann wissen Sie auch, dass die City-Chips durch Datenanalyse und Korrelation funktionieren, ähnlich wie Unternehmen versuchen vorherzusagen, welches Buch Sie als Nächstes lesen möchten.«
»Ich bin Data Scientist, ich weiß das alles.«
»Und trotzdem finden Sie es unheimlich? Dabei tragen Sie eine intelligente Prothese und erleben jeden Tag, wie effektiv die Verbindung von Mensch und Maschine sein kann.«
Jov zögert. Dann gibt sie ihr verbales Einverständnis. Der Roboterarm greift einen Injektor. Jov schließt die Augen. Sie spürt den Injektor kalt an ihrer Haut. Ein Plättchen mit haarfeinen Elektroden wird in eine Vene in ihrem Hals platziert. Dank der Betäubung merkt Jov davon fast nichts. Wenn alles gutgeht, wird das strömende Blut das Plättchen bis in den Kortex transportieren, dort wird es Jovs neuronale Aktivitäten empfangen und sie weiter an eine batterielose Einheit senden. Diese wird ebenfalls mit Hilfe lokaler Betäubung unter die Haut zwischen ihren Brüsten implantiert. Ein unscheinbares Kästchen, nicht größer als ein Fingernagel. Es überträgt drahtlos Strom und Daten. Jov schaut nicht hin. Die Roboter-Einheit arbeitet sauber und routiniert. »Die Naht ist perfekt. Von jetzt an kommuniziert das Implantat Ihre neuronale Aktivität direkt an die Stadt.« Über das Smartphone kann Jov selbst steuern, was übertragen werden soll.
»Im Alltag werden Sie je nach Situation unterschiedliche Empfehlungen erhalten. Beim Bedienen schwerer Maschinen würde Ihnen vielleicht empfohlen, alle Ermüdungserscheinungen auf sichtbar zu stellen, damit die Maschinen automatisch stoppen, sollten Sie die Konzentration verlieren.« Jov nickt, obwohl sie gar nicht richtig zugehört hat.
Sobald das Pflaster sitzt, erhält sie einen schmerzlindernden, leicht euphorisierenden Stimmungsbooster als Kautablette und wird den Gang hinuntergeschickt. Dort befindet sich heute ihr Büro. Sie schwankt beim Gehen. Das scheint aber nicht von der Mini-OP zu kommen, sondern von der plötzlichen Erkenntnis, an einen riesigen Organismus angeschlossen zu sein. Von offline zu online. Ein Wechsel der Existenzsphäre. Jov weiß gar nicht, wo sie anfangen soll. Leicht benebelt vor Aufregung, sucht sie ihren Arbeitsplatz, einen Schreibtisch in einem Großraumbüro. Ihr Körper prickelt und summt an den Stellen, wo ihr vor wenigen Minuten ein Chip hineingeschossen und ein Kästchen implantiert wurde.
Immer wieder reibt sie über das blasslila Pflaster im Nacken, während sie gebeugt über einen viel zu kleinen Bildschirm sitzt und sich mit der anderen Hand durch die verschiedenen Menüs der Stadt-Hirn-Schnittstelle kämpft. Jede Person hat die volle Kontrolle darüber, was ihr Implantat an die Stadt sendet und was sie von der Stadt empfängt. Um Zeit zu sparen, kann Jov auf vorgefertigte Nutzungsprofile zurückgreifen. Alle tragen das Datenschutz- und das Menschenrechtssiegel. Jov entscheidet sich für eine moderate Stadt-Synchronisation. Hier kann sie zwischen dem Profil »abenteuerlich explorativ« und »bewusst neo-ökologisch« wählen und entscheidet sich in letzter Sekunde für »explorativ«. Außerdem trägt sie ihren täglichen Arbeitsweg ein, um diesen im Autopilot absolvieren zu können. Sie schaltet Wetterwarnungen, Katastrophenschutz so wie prädiktives Verbrechen an, um den eigenen Risiko-Balken zu verkleinern.
Seit dem Gespräch mit Feldman hat sie jedoch Zweifel. Zweifel an ihrem Job. Zweifel an fast allem, was sie über die Fähigkeiten des städtischen KNNs zu wissen geglaubt hat.
Sie durchforstet das Intranet, um mehr über das Ethik-Konzept zu erfahren, und findet einen Basis-Leitfaden, der stündlich aktualisiert wird. Der tagesaktuelle Eintrag lautet:
»In einer Welt aus innovativen und sicheren Mikrostaaten, die von Privatpersonen und privaten Unternehmen betrieben werden, kommt dem lokalen KNN jeder Stadt eine besondere Schutzpflicht zu. Das KNN der Stadt Frankfurt am Main muss die unantastbare Würde der gesamten Stadtbevölkerung sowie die Autonomie und die freie Entfaltung der Persönlichkeit garantieren. Damit unvereinbar ist es, der Bevölkerung ihre Assistenzsysteme zu entziehen oder Einflussnahme auf die City-Chips auszuüben, Denial-of-Service-Attacken auf Geräte zu lancieren oder deren Batterien zu entleeren. Das Grundvertrauen in die Stadt und in das Mensch-Stadt-Interface muss gesichert werden. Das Ausspähen von Daten, Identitätsdiebstahl, Überwachung und Erpressung sind nicht damit vereinbar. Da alle City-Chips in Form von Implantaten zugleich Teil des menschlichen Körpers und Teil des KNNs sind, benötigen sie eine besondere Auslegung des Eigentumsrechts. An dieser Auslegung wird momentan gearbeitet.«
Jov folgt dem Link und gelangt zu seitenlangen philosophischen Abhandlungen. Hunderte von Dokumenten, die im Sekundentakt wachsen. Das sind die Echtzeit-Überlegungen des KNNs übersetzt in menschliche Sprache. Jov findet Sätze, die mehrere Seiten lang sind. Sie entdeckt isolierte Begriffe, die wie Eingebungen für sich stehen. Das meiste erinnert an automatisches Schreiben. Assoziationsketten, die nirgendwo hinzuführen scheinen. Sprachspiele. Exkurse. Zitate. Jov verliert sich darin. Sie lässt Suchprogramme durchlaufen und befragt in verschiedenen Chats das zentrale KNN zur eigenen Ethik. Alles, was ihr auffällt, trägt sie säuberlich in Tabellen ein. Niemand hat ihr den Auftrag dafür gegeben. Jov rechnet nicht damit, überhaupt je Anweisungen zu bekommen. Der Job wurde als super agil beworben, und das bedeutet für gewöhnlich, dass sie sich selbst mit Aufgaben und Zielen versorgen muss.
Sie rechnet damit, nicht länger als eine Woche zu haben, bevor Feldman überprüfen wird, ob ihr das gelungen ist. Bis dahin muss sie herausgefunden haben, was sie hier soll – was sie für das Zentrum leisten kann, wo die Probleme liegen, und wie Jov diese lösen wird. Wenn sie das alles benennen kann, wird sie ihren Job – möglicherweise – behalten.
Seit dem Gespräch mit Feldman plagt Jov allerdings der Verdacht, dass nicht nur mit dem KNN etwas nicht stimmt, sondern auch mit der Verwaltung. Etwas geht hinter den Kulissen vor. Unsicher, ob das Wissen oder die Ahnung darüber sie in Schwierigkeiten bringen kann, versucht sie, alle Gedanken in diese Richtung zu unterdrücken. Da klingelt ihr Smartphone. Laut und flehend durch die Leere. Das löst bei Jov zugleich Angst und Liebe aus.
»Willst du nicht rangehen?«
An ihrem Tisch erscheint eine fremde Person. Groß und schön, gekleidet in einem Anzug, der teuer aussieht – so teuer, dass das Material zu vibrieren scheint.
Ohne zu fragen, nimmt die Person Jovs Smartphone und wischt mit einem lackierten Fingernagel darüber, was Jov ungewollt sexy findet. »Dein Vater. Soll ich ihn wegdrücken?«
Jov nickt, die Zunge schwer wie geschwollen.
»Brüchige Beziehung?«
»Mehr als brüchig«, sagt Jov. »Fast schon gespalten.«
Die Unbekannte lacht. Dann tippt sie konzentriert in Jovs Smartphone, als würde sie ein Game zocken. Eine Weile schaut Jov ihr zu, unfähig, das eigene Smartphone zurückzuerobern. Dann knallt die Kollegin das Gerät vor Jov auf den Tisch und geht.
Ohne sich umzudrehen, ruft sie: »Dein Vater hat dir eine Nachricht geschrieben.«
Als Jov das Gerät in die Hand nimmt, steht da: »Die Wände haben Augen, der Boden hat Ohren. Sag kein Wort und folge mir.« Dazu ein Zwinkersmiley.
