Denk ich an Kiew - Erin Litteken - E-Book

Denk ich an Kiew E-Book

Erin Litteken

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Beschreibung

Ein bewegender Roman über ein prägendes Kapitel der ukrainischen Geschichte


1929. Behütet und geliebt wächst Katja in einem Dorf bei Kiew auf. Ihre Familie ist nicht reich, kann sich aber von ihrer eigenen Hände Arbeit ernähren. Bis Stalins Handlanger die Dorfbewohner zwingen, dem Kollektiv beizutreten. Wer sich weigert, wird mitgenommen und nie wieder gesehen. Anfangs gibt es für Katja dennoch auch glückliche Stunden. Sie ist in den Nachbarssohn verliebt und ihre Schwester in dessen Bruder. Doch schon bald muss Katja sich jeden Tag Mut zusprechen, um weiterzumachen angesichts des Schreckens um sie herum.

Jahrzehnte später entdeckt Cassie im Haus ihrer Großmutter in Illinois ein Tagebuch. Nie hat diese über ihre ukrainische Herkunft gesprochen. Seit einiger Zeit aber verhält sie sich merkwürdig. Sie versteckt Lebensmittel und murmelt immer wieder einen Namen, den keiner aus ihrer Familie je gehört hat: Alina ...


"Ich hätte nie gedacht, dass die Veröffentlichung meines Romans über die Unterdrückung des ukrainischen Volkes in der Vergangenheit mit einer aktuellen Tragödie zusammenfallen würde" ERIN LITTEKEN


Unter der Herrschaft Stalins verhungerten in den 1930er-Jahren in der Ukraine Millionen Menschen, obwohl die Getreidespeicher voll waren. Erin Litteken rückt diesen weitgehend vergessenen Aspekt der ukrainischen Geschichte in unser Bewusstsein, einfühlsam und sehr bewegend.

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Seitenzahl: 514

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungZitatLiebe Leserinnen und Leser123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536EpilogAnmerkungen der AutorinDank

Über dieses Buch

Ein bewegender Roman über ein prägendes Kapitel der ukrainischen Geschichte 1929. Behütet und geliebt wächst Katja in einem Dorf bei Kiew auf. Ihre Familie ist nicht reich, kann sich aber von ihrer eigenen Hände Arbeit ernähren. Bis Stalins Handlanger die Dorfbewohner zwingen, dem Kollektiv beizutreten. Wer sich weigert, wird mitgenommen und nie wieder gesehen. Anfangs gibt es für Katja dennoch auch glückliche Stunden. Sie ist in den Nachbarssohn verliebt und ihre Schwester in dessen Bruder. Doch schon bald muss Katja sich jeden Tag Mut zusprechen, um weiterzumachen angesichts des Schreckens um sie herum. Jahrzehnte später entdeckt Cassie im Haus ihrer Großmutter in Illinois ein Tagebuch. Nie hat diese über ihre ukrainische Herkunft gesprochen. Seit einiger Zeit aber verhält sie sich merkwürdig. Sie versteckt Lebensmittel und murmelt immer wieder einen Namen, den keiner aus ihrer Familie je gehört hat: Alina … »Ich hätte nie gedacht, dass die Veröffentlichung meines Romans über die Unterdrückung des ukrainischen Volkes in der Vergangenheit mit einer aktuellen Tragödie zusammenfallen würde« Erin Litteken Unter der Herrschaft Stalins verhungerten in den 1930er-Jahren in der Ukraine Millionen Menschen, obwohl die Getreidespeicher voll waren. Erin Litteken rückt diesen weitgehend vergessenen Aspekt der ukrainischen Geschichte in unser Bewusstsein, einfühlsam und sehr bewegend.

Über die Autorin

Erin Litteken hat einen Abschluss in Geschichte und liebt es zu recherchieren. Schon als Kind fesselten sie die Geschichten über die erschütternden Erfahrungen ihrer Familie in der Ukraine vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Idee zu ihrem Debütroman »Denk ich an Kiew« reifte über Jahre in ihr. Dass seine Fertigstellung sich mit den aktuellen Ereignissen überschneidet, macht sie zutiefst betroffen. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Illinois, USA.

LÜBBE

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»The Memory Keeper of Kyiv«

First published by Boldwood Books

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2022 by Erin Litteken

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn

Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München

Einband-/Umschlagmotiv: © David Keochkerian / Trevillion Images

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-3779-1

luebbe.de

lesejury.de

Dem ukrainischen Volk.Eure Kraft und Unverwüstlichkeit sind eine Inspiration,damals wie heute.

»Der Tod eines einzelnen Mannes ist eine Tragödie, der Tod von Millionen nur eine Statistik.«

Josef Stalin

Liebe Leserinnen und Leser,

die Saat dieser Geschichte schlug in meinem Kopf schon Wurzeln, lange bevor Russland 2014 in die Krim einfiel. Während ich dieses Vorwort schreibe, laufen im Hintergrund die Fernsehberichte über den brutalen russischen Überfall auf die Ukraine – ihre Städte, ihre Zivilisten und ihre Zukunft. Ich hätte niemals gedacht, dass die Veröffentlichung meines Romans über ein vergangenes Verbrechen am ukrainischen Volk mit einer Tragödie zusammenfallen könnte, die so viele Parallelen aufweist.

Heute kämpfen die Ukrainer mit einer Stärke und Zähigkeit für ihr Land, die die ganze Welt in Bann schlagen, aber es ist unmöglich abzustreiten, dass die Geschichte sich wiederholt. Es ist entsetzlich, und wir müssen diesmal mehr unternehmen.

Als Urenkelin einer Ukrainerin, die vor dem Zweiten Weltkrieg geflüchtet ist, wirft mich die Schmerzlichkeit dieses Krieges nieder. Die Geschichte können wir nicht ändern, aber wir können daraus lernen und dem ukrainischen Volk heute zur Seite stehen. Ich bin froh, dass meine Verlage, Boldwood Books und Bastei Lübbe, einen Teil des Verkaufserlöses zugunsten der Ukraine spenden.

Im Herzen bin ich bei den tapferen Ukrainerinnen und Ukrainern, die ihr Land, ihre Kultur und ihr Leben verteidigen, damals wie heute. Slawa Ukrajini!

Erin Litteken

1

CASSIE

Wisconsin, Mai 2004

Die Muskeln in Cassies Gesicht zuckten widerwillig, aber als ihre Tochter in die Küche kam, zwang sie ihren Mund zu einem breiten, falschen Lächeln. Sie hoffte, dass Birdie reagieren würde, wenn sie nur lange und ausdauernd genug lächelte, doch ihre kleine Tochter starrte sie nur ausdruckslos an.

Cassie kämpfte gegen den Drang an, den Kopf vor die Wand zu schlagen.

Birdies große blaue Augen standen im scharfen Kontrast zu ihren wirren dunklen Haaren. Der rosa Prinzessinnenschlafanzug, den sie sich zum vierten Geburtstag so unbedingt gewünscht hatte, reichte nur noch bis zur Mitte der Waden und Unterarme. Er war eingelaufen. Oder sie war gewachsen. Beides vielleicht. Cassie hatte in letzter Zeit keinen Blick für solche Dinge.

Harvey warf sich auf Birdies Füße und klopfte mit dem Schweif auf den Boden, während sein zotteliges braunes Fell ihr die bloßen Knöchel wärmte.

»Der Hund achtet mehr auf Birdie als ich.« Cassie rieb sich das Gesicht und nahm ihre typische Routine wieder auf, leere Phrasen vor sich hinzufaseln. Sie ertrug die Stille nicht. Stille gab ihr zu viel Zeit für Erinnerungen.

»Guten Morgen! Hast du gut geschlafen? Was möchtest du zum Frühstück? Ich habe eingeweichte Haferflocken und Eier, aber ich kann dir auch Quinoa, Obst und Honig machen, wenn du magst.«

Cassie versagte in vielen Disziplinen des Mutterseins, aber niemand konnte ihr nachsagen, dass Birdie nicht genug zu essen bekam. Die Speisekammer quoll über vor Bio-Schnellmahlzeiten, die sie in Großpackungen kaufte, und die Obstschale auf der Küchentheke bot immer eine breite Auswahl an. Cassie war es egal, ob ihre Tochter das Mittagessen ausließ oder Salzcracker zum Frühstück aß, aber sie achtete darauf, dass Birdie alle Nährstoffe erhielt, die sie brauchte. Auch wenn ihre Kleider ihr nicht mehr passten und sie kein Wort sprach.

Birdie zeigte auf den Karton Eier, den Cassie aus dem Kühlschrank geholt hatte, und die Bratpfanne auf dem Abtropfgestell der Spüle. Cassie brachte beides zum Herd, während Birdie einen Pfannenwender und die Butter holte.

»Ein Ei oder zwei heute?«, fragte Cassie. Ständig sprach sie Birdie an, um sie zu verleiten, einmal zu antworten, ohne nachzudenken. Es funktionierte nie. Birdie hatte seit vierzehn Monaten, einer Woche und drei Tagen nicht mehr gesprochen. Es gab keinen Grund dafür, dass es heute anders sein sollte.

Birdie öffnete den Karton, nahm in jede Hand ein Ei und hielt sie Cassie hin.

»Na gut. Zwei Eier also. Machst du schon mal den Toast?«

Birdie tappte zum Toaster und schob eine Scheibe Vollkornbrot hinein.

Während die beiden Spiegeleier in der Pfanne brutzelten und zischten, sah sich Cassie in dem unordentlichen Haus um. Die Post stapelte sich so hoch, dass der Stoß umzukippen drohte. In den Ecken sammelten sich Hundehaarknäuel in beunruhigendem Ausmaß, und ein Mülleimer, der dringend geleert werden musste, zeichnete nicht gerade das Bild einer glücklichen Familie. Vor anderthalb Jahren wäre Cassie lieber gestorben, als in einem derart zugemüllten Haus zu wohnen.

Ihr Laptop lugte unter einem Berg von Zeitungen hervor. Cassie tat es in der Seele weh, ihn so einsam herumstehen zu sehen, aber seit jenem Abend hatte sie sich nicht überwinden können, etwas zu schreiben. Sie warf ein Geschirrtuch darüber, damit sie nicht noch ein weiteres Beispiel für ihr Versagen vor Augen hatte, ließ die Spiegeleier auf einen rosa Plastikteller gleiten und stellte ihn vor Birdie auf den Tisch. Während sich ihr kleines Mädchen darauf stürzte, sah Cassie zu, wie die dunkelgelben Dotter in das Brot einzogen, das Birdie getoastet hatte, und seufzte. Ein neuer Tag, genau wie gestern und vorgestern. Kein Stück vorwärts, nie heilte die Wunde, nie ging es mit dem Leben weiter. Sie musste es in Ordnung bringen, allein für Birdie, aber sie wusste einfach nicht, wo sie anfangen sollte.

Es schellte, und Cassie erstarrte. Selbst jetzt, nach all der Zeit, befiel sie noch immer Angst, sobald sie die Klingel hörte. Im Flur band sie den schäbigen Morgenmantel fester zu. Ihre Psychiaterin hätte gesagt, sie benutze ihn als Abwehrschild, um von sich fernzuhalten, wer immer vor ihrer Tür stand und hereinwollte. Cassie hätte geantwortet, sie wolle nicht, dass ihr Besuch ihren fadenscheinigen alten Pyjama sah. Vielleicht lag es an solchen Wortwechseln, dass sie keine neuen Termine bei der Seelenklempnerin mehr ausgemacht hatte.

Sie zog die Tür auf, und ihre Mutter, zerzaust und bleich, rang sich ein mattes Lächeln ab, bevor sie ein Schluchzen verschluckte, stürzte herein und schloss Cassie in die Arme.

»Ach, Cass. Ich musste herkommen und es dir persönlich sagen. Ich wollte nicht, dass du dich ans Steuer setzt, nachdem du es gehört hast.«

Cassie erstarrte und löste sich aus der Umarmung. »Mir was sagen?«

»Niemand ist gestorben. So schlimm ist es nicht.«

»Mom, wovon redest du?«

»Es geht um Bobby.«

»Bobby?« Cassie trat ihre runzlige, zweiundneunzig Jahre alte Großmutter vor Augen, die vor langer Zeit Bobby getauft worden war. Die kleine Cassie hatte das ukrainische Wort für Großmutter, babusya, verstümmelt und sich geweigert, den traditionellen Kosenamen baba zu benutzen.

»Es gab einen Unfall.«

Cassies Herz setzte einen Schlag aus. Vielleicht auch zwei. Sie zog rasselnd den Atem ein und versuchte, sich nicht von Panik übermannen zu lassen, aber genau diese Worte hatte sie vergangenes Jahr gehört, und gleich darauf war ihre Welt in Trümmer zerfallen.

Cassie ließ sich von ihrer Mutter, die sie in Gedanken Anna nannte, zu einem Stuhl am Küchentisch führen. Anna beugte sich vor und küsste Birdie auf den Scheitel. »Hallo, mein Schatz.«

Birdie lächelte ihre Großmutter stumm an, während sie den Dotter auf ihrem Teller mit dem Brot auftupfte.

»Passiert ist es am Freitag, aber ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst, bevor ich mehr weiß.« Anna setzte sich neben Birdie.

Cassie zählte im Kopf zurück. »Aber Mom, das war vor zwei Tagen! Bobby hatte vor zwei Tagen einen Unfall, und du konntest mich nicht anrufen?«

»Wie gesagt, ich musste mit dir persönlich sprechen. Als feststand, dass sie nicht in Lebensgefahr schwebt, habe ich beschlossen, dass es das Beste wäre, wenn ich herkomme und es dir selbst sage. Ich konnte sie erst heute allein lassen.«

»Jetzt erzähl mir schon alles«, befahl Cassie mit bebender Stimme.

Anna sah Birdie an und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Birdie, Grammy und Mommy müssen miteinander reden. Möchtest du vielleicht ein bisschen fernsehen?«

Birdie nahm ihren Teller, stellte ihn in die Spüle und ging an den Stapeln aus Post und Zeitungen vorbei zum Wohnzimmer. Als die Musik einer Zeichentrickserie erklang, wandte sich Cassie erwartungsvoll ihrer Mutter zu.

»Vergangene Woche hat sie wie üblich ein Spaziergang gemacht«, begann Anna. »Sie ist weiter weg gegangen als normal, und ich weiß nicht, ob sie sich verlaufen hat oder was war, aber sie wurde angefahren, als sie eine verkehrsreiche Straße überquerte.«

Cassie setzte sich kerzengerade auf. »Sie wurde angefahren? Das ist doch nicht dein Ernst?«

Anna hob die Hand. »Ihr geht es gut. Sie hat eine leichte Prellung und musste genäht werden. Keine Knochenbrüche. Es ist erstaunlich, dass sie so glimpflich davongekommen ist.«

»Wo ist sie jetzt? Ist sie schon wieder zu Hause?«

»Nein, und deshalb bin ich hier. Heute Nachmittag wird sie aus dem Krankenhaus entlassen, aber sie braucht Gesellschaft. Jemanden, der bei ihr ist und ihr ein bisschen zur Hand geht.«

Cassie nickte. »Du willst, dass sie hierherkommt? Bei mir wohnt?«

Anna blickte sich mit skeptischer Miene in der Küche um. »Ich glaube nicht, dass sie bei dir am besten aufgehoben wäre. Ihre Ärzte wären weit weg, und sie kennt sich hier nicht aus. Was ich mir überlegt habe: Es wäre doch eine Gelegenheit für dich zu einer Veränderung. Lass diese Stadt, dieses Haus und die Erinnerungen hinter dir, und komm zurück nach Hause.«

Cassie lachte, und die Bitterkeit, die durch den Raum hallte, überraschte sogar sie selbst. »Glaubst du etwa, ich könnte meine Erinnerungen einfach zurücklassen? Ich mache die Tür hinter mir zu, und es wäre, als hätte Henry nie existiert?«

»Nein, Schatz, das habe ich natürlich nicht gemeint.« Anna legte Cassie die Hand auf die Wange. »Vergessen wirst du ihn niemals. Aber ich dachte, vielleicht wird es Zeit für einen Neuanfang, an einem Ort, wo dich die Erinnerungen nicht so sehr überwältigen. Bobby sollte nicht mehr allein wohnen, und es kam mir wie eine ideale Lösung vor, wenn du eine Weile bei ihr einziehen würdest. Schließ hier ab, und geh fort.«

»Einfach fortgehen? Mein Leben hinter mir lassen? Mein Zuhause?« Cassie schüttelte die Berührung ihrer Mutter ab. In ihrer Kehle pochte der dumpfe Schmerz, der einen Weinkrampf ankündigte.

»Cassie, seien wir doch realistisch.« Anna ergriff ihre Hand und starrte sie nieder. Offenbar war es mit den Nettigkeiten vorbei. »Ich möchte, dass du mir ganz ehrlich sagst, dass du hier glücklich bist, und zwar sofort. Sag mir, dass du aus diesem Haus ein freundliches, sicheres Zuhause für Birdie machen wirst. Sag mir, dass du nicht dein ganzes Leben in so einem Saustall zubringen wirst!«

Cassie sank vor Erstaunen die Kinnlade herunter. Gewöhnlich versteckte ihre Mom ihre biestige Seite unter einer Schicht aus nicht allzu subtilen Andeutungen und passiv-aggressiven Sticheleien. Ein solcher Frontalangriff entsprach in keiner Weise ihrer üblichen Taktik.

»Ich bin bei euch beiden mit meinem Latein am Ende, wenn du die Wahrheit wissen willst«, fuhr Anna fort. »Bobby ist starrsinnig. Sie weigert sich, auch nur in Betracht zu ziehen, eine Einrichtung für betreutes Wohnen zu besichtigen. Und du? Also, ich habe so viele schlaflose Nächte damit verbracht, mir Gedanken zu machen, wie du hier unten mit allem klarkommst. Wenn eine Frau ihren Mann verliert, ganz gleich, unter welchen Umständen, braucht sie Familie um sich, damit sie wieder zu sich kommt. Ich möchte dir so gern helfen, aber du lässt es nicht zu. Jetzt ist die perfekte Gelegenheit dafür. Bobby und du, ihr helft euch gegenseitig, und ich möchte, dass es funktioniert.«

»Du willst nur deine beiden größten Probleme zusammenpacken, damit du dir nicht ganz so viele Sorgen zu machen brauchst. Das ist der eigentliche Grund, weshalb du hier bist, richtig?« Cassie stand so schnell auf, dass ihr Stuhl umkippte und klappernd auf den Boden fiel. Sie war unfair zu ihrer Mutter, aber sie konnte nicht anders. Ihre Gefühle schwankten immer zwischen Apathie und Wut und ließen keinen Raum für irgendetwas anderes. »Ich brauche frische Luft, und Harvey muss raus. Birdie würde sich bestimmt freuen, wenn du dich mit ihr beschäftigst, solange ich weg bin.«

Sie stapfte zur Hintertür, und obwohl das Frühlingswetter mild war, streifte sie den langen Wintermantel über, der verbarg, dass sie noch immer Morgenmantel und Schlafanzug trug. Sie schob die Füße in ihre Schuhe, nahm Harveys Leine und knallte die Tür hinter sich zu.

Harvey spürte Cassies Wut nicht. Er sprang und bellte aufgeregt, als sie die Leine an seinem Halsband befestigte und den Garten verließ. Sie versuchte, den Kopf freizubekommen, während er an den Bäumen vor dem Haus schnüffelte.

Ihre Mutter lag nicht falsch. Hier war Cassie von lauter Erinnerungen umgeben. Zu Anfang, nach dem Unfall, hatte das Haus sie umschlossen, ihr Sicherheit und Trost geboten. Aber in letzter Zeit wurde die Geborgenheit durch das erstickende Gefühl überschattet, in der Falle zu sitzen. Immerhin war es nicht ihr wirkliches Zuhause – vor dem Unfall hatten sie hier nur ein halbes Jahr gewohnt. Henry war von seiner Firma vorübergehend nach Madison, Wisconsin, versetzt worden, und es sollte nur für ein Jahr sein. Daher hatten sie das Haus mit dem umzäunten Garten gemietet. Die Versetzung hatte Henry einen hohen Bonus eingebracht, und sie hatten geplant, zu Beginn des neuen Jahres zurück nach Illinois zu ziehen und ein eigenes Haus zu kaufen.

Sie hatten Stunden damit verbracht, von diesem Zuhause zu träumen. Cassie wollte ein altes Farmhaus auf Ackerland mit einer Scheune und Obstbäumen. Henry wollte ein Blockhaus mit einem hölzernen Schuppen und Wald. Aber der Unfall hatte alles verändert. Zum Glück ließ der mitfühlende Vermieter Cassie Monat für Monat weiter hier wohnen, obwohl der ursprüngliche Einjahresvertrag ausgelaufen war.

Sie bog um die Ecke vor ihrem Haus und musterte den Ziegelbungalow. Das unauffällige Gebäude stand zu dicht an der Straße, und ihm fehlte der Charme der benachbarten Häuser. Cassie blieb nicht, weil sie das Haus mochte oder sich darin Henry näher fühlte. Sie blieb, weil es leichter war, alles zu lassen, wie es war, und das Leben aufs absolute Mindestmaß zu beschränken. Aufwachen, essen, Birdie versorgen, schlafen und alles wieder von vorn.

Harvey zerrte an der Leine, er wollte zurück ins Haus. Cassie entdeckte Birdie, die sie durchs Fenster ihres Zimmers beobachtete. Sie winkte aufgeregt und wirbelte davon. So viel Ausdruck hatte Cassie seit Monaten nicht mehr bei ihr gesehen.

Wie sehr hatte sie an Birdie gedacht, während sie sich von Tag zu Tag schleppte? Wie viele ihrer Entscheidungen beruhten auf dem, was Birdie brauchte, um zu gedeihen, wie viele auf dem, was Cassie brauchte, um zu überleben? Die Antworten auf diese Fragen gefielen ihr nicht, deshalb wich sie ihnen gewöhnlich aus. Ihre Mom hatte ihr diese Möglichkeit nun genommen.

Sie schlurfte ins Haus. Anna saß noch immer am selben Platz am Küchentisch. Sie wandte sich Cassie zu, als sie hereinkam, und hob die Hände. »Ich schwöre es, Schatz, ich habe kein Wort zu Birdie gesagt, aber kaum warst du zur Tür hinaus, ist sie in ihr Zimmer gerannt.«

Cassie machte Harvey los und hängte ihren Mantel auf. »Ist schon gut. Sie spielt gern da.«

»Sie spielt nicht, Cass. Sie packt. Sie muss uns belauscht haben.«

»Hat sie …« Cassie verstummte. Sie wollte die Frage nicht stellen.

Anna sah sie mitleidig an. »Nein, gesagt hat sie nichts.«

Natürlich nicht. Birdies Schweigen war nur ein weiteres leuchtendes Beispiel für Cassies Versagen als Mutter, die ihrem Kind eigentlich hätte helfen sollen, mit dem Unfall und dem Verlust ihres Vaters zurechtzukommen. Sie ließ sich auf den Stuhl Anna gegenüber sinken. »Was hast du vor?«

Anna ergriff Cassies Hände. »Ich möchte dir beim Packen und beim Umzug helfen. Mach einen sauberen Schnitt. Dir bleibt keine Zeit, nachzudenken oder dich wieder anders zu entscheiden. Ich helfe dir bei allem. Ich schwöre dir, ich würde es nicht tun, wenn ich nicht glauben würde, dass es für dich das Beste ist. Du weißt, dass ich dich seit Monaten beknie, zurück nach Illinois zu kommen.«

»Und jetzt hast du den perfekten Vorwand«, führte Cassie den Gedankengang für sie zu Ende.

»Jetzt braucht dich deine Bobby«, entgegnete Anna. »Und ich glaube, du brauchst sie auch. Warum packen wir nicht das Wichtigste ein? Deine Kleider, Toilettenartikel und alle Lebensmittel, die verderben würden. Ich komme mit dir zurück, wenn du so weit bist, dich um Henrys Sachen zu kümmern.«

»Das habe ich schon. Letzten Monat ist Henrys Mutter gekommen und hat mir geholfen, seine Sachen auszusortieren.«

»Oh, gut, dann ist das ja schon erledigt.« Annas Stimme hatte sich eine Oktave gehoben.

Das allzu vertraute Schuldgefühl legte sich über Cassie. »Tut mir leid, Mom. Ich weiß, du hast schon vorher deine Hilfe angeboten. Nur war ich da noch nicht so weit. Ich war an einem Punkt, wo ich nicht mehr atmen konnte, weil alles über mir hing. Ich musste die Sachen loswerden, und Dottie war zufällig zu Besuch, als es passierte.«

Anna presste die Lippen zusammen und schloss Cassie in die Arme. »Ach, mein armes Mädchen.«

Cassie erwiderte die Umarmung ihrer Mutter und schmolz in sie hinein, fast wie damals, als sie noch ein Kind gewesen war. Unerwartete Nadelstiche der Erleichterung traktierten ihre Kopfhaut, und sie seufzte. »Okay, Mom. Ich komme nach Hause.«

Anna löste sich von ihr und lächelte sie sanft an. »Das ist für alle das Beste. Du wirst schon sehen.« Sie zögerte und fuhr dann fort: »Ehrlich, ich sorge mich um Bobby. Schon vor dem Unfall war sie … verändert. Du weißt, wie sie ist. Immer in Bewegung, immer was zu arbeiten. Aber jetzt erwische ich sie, wie sie am Tisch sitzt, benommen vor sich hinstarrt, als wäre sie gar nicht da, und Selbstgespräche auf Ukrainisch führt.«

»Was sagt sie?«

»Ich weiß es nicht. Gewöhnlich redet sie nicht mit mir, wenn sie in diesem Zustand ist. Fast scheint es, als wäre sie so tief in ihre Erinnerungen versunken, dass sie nicht weiß, was um sie herum vorgeht. Neulich habe ich sie gefragt, woran sie denkt, und als sie endlich antwortete, sagte sie nur: ›Sonnenblumen‹, mehr nicht.«

»Vielleicht überlegt sie, wie sie ihre Beete bepflanzen will.«

»Nein.« Anna trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Sie hat noch nie Sonnenblumen gepflanzt. Sie hat mir immer gesagt, dass die sie zu traurig machen.«

2

KATJA

Ukraine, September 1929

»Wollt ihr Mädchen auch mal?«, fragte Onkel Marko.

Er hielt seinen ganzen Stolz in die Höhe, die einzige Kamera in ihrem kleinen Dorf Sonyaschnyky. Das Sonnenlicht funkelte auf der Linse, und Onkel Marko zog ein Taschentuch aus der Jacke, um sie zum zwanzigsten Mal an diesem Tag zu putzen. Er nickte in Richtung Haus, das alle anderen als Hintergrund benutzt hatten, doch Katjas Blick wanderte zu den goldenen Sonnenblumen hinter ihm, die sich im Wind wiegten. Der wolkenlose, strahlend blaue Himmel passte so perfekt zu den wunderschönen goldenen Sonnenblumen, dass es Katja das Herz zusammenzog.

»Und?« Onkel Marko steckte das Taschentuch wieder weg.

»Ja! Aber da drüben, bitte.« Katja schnappte sich die Hand ihrer Schwester. »Komm, Alina. Mama will, dass wir heute ein Foto zusammen machen.«

Alina strich die dunklen Haarsträhnen glatt, die aus Katjas Zopf entkommen waren. »Lass mich nur schnell dein Haar richten.«

»Ach, das ist schon gut so.« Katja zog Alina über den Hof. Sie wollte das Foto so schnell wie möglich hinter sich bringen, damit sie es nicht wieder vergaß und so den Zorn ihrer Mutter auf sich zog. Und einen besseren Hintergrund als das Sonnenblumenfeld gab es nicht.

»Nun gut«, sagte Alina. »Aber du musst lächeln. Ich will keine mürrische Miene sehen.«

Katja verzog das Gesicht und ließ die Hand ihrer Schwester wieder los. »Ich bin nie mürrisch.«

Ein Grinsen schlich sich auf Alinas Züge, als sie Katja das Hemd glatt strich. »Natürlich nicht.«

»Näher zusammen«, wies Onkel Marko sie an und drehte sich mit der Kamera zu ihnen um.

Alina hakte sich bei Katja unter. »Komm her.« Sie neigte den Kopf zu ihr. »Egal, wie sehr du dich auch über mich ärgerst, du wirst mich nicht mehr los. Schwestern für immer.«

Als sie das hörte, verflog Katjas Ärger sofort. Mit diesen Worten hatte ihre Mutter sie immer ermahnt, wenn sie sich als Kinder gestritten hatten. Ihr solltet euch besser vertragen. Ihr werdet für immer Schwestern sein. Irgendwann war das dann zu einem stets wiederkehrenden Scherz zwischen ihnen geworden. Wann immer eine von ihnen die andere ärgerte, kam der Spruch zum Vorschein, und stets löste sich die Spannung dann wieder.

Die Kamera klickte, und Onkel Marko grinste. »Perfekt!«

Die ersten leisen Töne von Fideln und einem Akkordeon tröpfelten die Straße hinunter und verrieten, dass der Bräutigam und sein Gefolge sich langsam näherten. Hektik brach aus. Katja löste sich von ihrer Schwester, als die Frauen zu kreischen begannen, Schleifen flogen und plötzlich auf jeder flachen Oberfläche Teller voller Speisen erschienen. Katja schnappte sich einen Korb mit Sonnenblumen und duckte sich unter den umherflatternden Armen ihrer Tante hindurch. Schließlich entkam Katja dem Chaos und setzte sich mit Alina und ihrer Cousine Sascha an den vielversprechend duftenden, mit Blumen geschmückten Tisch vor der Tür von Saschas Haus. Katja stellte ihren Korb neben die anderen und verschränkte die Hände, damit sie nicht mehr zitterten. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie, die Männer zu erkennen, die über den Feldweg auf sie zukamen.

»Hör auf damit.« Alina stieß sie mit dem Ellbogen an. »Du rümpfst die Nase, und das steht dir gar nicht.«

»Ich versuche doch nur, etwas zu sehen.« Katja erwiderte den Stoß und zupfte nervös an einer der bunten Blumen, die in ihre dicken dunklen Zöpfe geflochten waren. Als ihr Blick auf Pawlo fiel, den großen breitschultrigen Mann, der neben dem Bräutigam ging, schlug ihr Herz schneller. Vorsichtig strich sie sich mit dem Finger über die Wange, die Pawlo eine Woche zuvor in einer impulsiven Anwandlung geküsst hatte. Das hatte alles zwischen ihnen verändert. Katja musste mit ihm reden, obwohl sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Tatsächlich war sie ihm vorhin in der Kirche sogar aus dem Weg gegangen.

»Ich kann Kolja sehen«, sagte Alina und riss Katja aus ihren Gedanken.

Schon solange Katja denken konnte, war Alina in Mykola – oder Kolja, wie ihn alle nannten – verliebt, Pawlos älteren Bruder. Und zu ihrem Glück beruhte dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit.

Tanten, Onkel, Cousins und Freunde strömten aus dem Haus und versammelten sich um den Tisch, während die fröhliche Musik immer lauter wurde. Saschas Schwester Olha, die Braut, blieb jedoch drinnen und wartete darauf, dass der Bräutigam ihrer Familie das Brautgeld zahlte.

Nach ein paar Minuten stolzierte Borislaw mit stolzgeschwellter Brust auf den Hof. Er hatte einen Korb und eine Flasche Wodka dabei. Umgeben von seinen engsten Freunden und seiner Familie, die ähnliche Dinge bei sich trugen, kam er näher, und Sascha rief: »Warum seid ihr hier?«

Borislaw grinste über das ganze Gesicht. »Ich bin gekommen, um meine wunderbare Braut zu holen! Olha!«

»Und was bringst du, um deine Wertschätzung für Olha zu bekunden?«, fragte Alina.

Borislaw stellte den Korb voller Süßigkeiten und Geld auf den Tisch, und beim Anblick der Schokolade lief Katja das Wasser im Mund zusammen. Niemand in ihrem Dorf stellte so was her. Borislaw musste weit gefahren sein, um die zu besorgen.

»Ist dir unsere liebreizende Olha nur so wenig wert?«, stellte Katja die Frage, die sie stellen sollte. Dabei tat sie ihr Bestes, Pawlo nicht in die Augen zu schauen.

»Natürlich nicht!« Borislaw winkte, und zwei seiner Begleiter traten vor. Sie trugen Körbe voller Brot. »Olha ist unbezahlbar, aber diese Geschenke sollen meine Wertschätzung zeigen.«

Pawlo, der Rechte der beiden, stellte Borislaws Geschenk auf den Tisch. Dabei grinste er und zwinkerte Katja zu, woraufhin sie fast über ihre nächste Frage gestolpert wäre.

»E… Erzähl uns von Olhas Schönheit, Borislaw.«

»Aaah. Das ist leicht. Ihre Augen funkeln wie der strahlend blaue Himmel an einem Sommertag. Ihr langes goldenes Haar glänzt wie der Weizen in der Sonne, und ihr Lächeln lässt jeden Raum erstrahlen und zwingt die Männer auf die Knie.«

Katja hätte bei der Vorstellung, dass Pawlo ihr derartige Liebesbekundungen zuflüsterte, beinahe laut aufgelacht, doch das Brennen seines Blicks auf ihrem Gesicht hielt sie davon ab, und sie senkte den Kopf.

Nun übernahm Sascha das Fragen. Dann sang Borislaws Gruppe ein Loblied, um die Verhandlungen auszugleichen und sicherzustellen, dass Borislaw nicht zu viel für Olhas Hand »bezahlte«. Natürlich war alles nur ein Spiel. Olha konnte genauso wenig gekauft werden wie Borislaw einfach in ihr Haus marschieren und sie für sich beanspruchen konnte. Die alte Tradition war einfach ein amüsanter Teil der Hochzeitsfeierlichkeiten, und die Zuschauer lachten und jubelten.

Als Borislaw endlich die Erlaubnis erhielt, das Haus zu betreten, konnte die Feier beginnen. Die Tische waren mit den köstlichsten Speisen gefüllt: Fleisch, Kartoffeln, wareniki, Teigtaschen mit Sauerkirschen, Kohlrouladen, Schinken, Brot, Käse, Obst und natürlich das aufwendig verzierte Hochzeitsbrot, das sogenannte korowaj. Die Menschen setzten sich auf die Bänke und plauderten fröhlich miteinander, während der Alkohol aus den Flaschen floss, die Borislaw mitgebracht hatte. Gleichzeitig begannen die Musiker an der Tanzfläche zu spielen.

Katja stand auf und ging zu Mama und Tato, die mit Mamas Cousine Lena und ihrem Mann Ruslan sprachen. Auf ihren Gesichtern stand Sorge, und sie sprachen leise.

»Als sie letzten Monat ins Dorf meines Bruders gekommen sind, hat es sofort angefangen. Sie haben Brigaden gebildet, ein Hauptquartier eingerichtet und einige Dorfbewohner verhaftet und deportiert.« Ruslan beugte sich näher an die anderen heran. »Die mit den schönsten Häusern wurden natürlich als Erste geholt.«

Fragen lagen Katja auf der Zunge, aber sie wagte es nicht, sie auszusprechen. Sobald sie den Mund öffnete, würden ihre Eltern ohnehin das Thema wechseln und über etwas reden, was sie für ihre Ohren als angemessen erachteten.

»Deportiert? Wohin?« Katjas Vater öffnete eine Weinflasche.

»Ich habe gehört, sie schicken sie nach Sibirien.« Josyp, Pawlos Vater, gesellte sich zu der Gruppe, als Tato die Gläser füllte.

Fedir, Pawlos älterer Cousin, senkte die Stimme. »Ich habe das Gleiche gehört. Mein Onkel hat mir erzählt, dass sie das ganze Dorf gezwungen hätten, sich der Kolchose anzuschließen.«

»Das klingt mir recht übertrieben.« Mama winkte ab. »Sie können uns doch nicht ohne Erlaubnis Land und Tiere wegnehmen.«

Ruslan hielt sein Glas hin, um es wieder füllen zu lassen. »Das Dorf meines Bruders liegt näher an der Stadt, und es ist viel größer als unseres. Vielleicht sind wir ja zu weit weg für sie.«

»Wir sind noch nahe genug«, gab Onkel Marko zu bedenken. »Und glaubst du wirklich, dass die Bolschewiki zwischen den einzelnen Dörfern unterscheiden? Wir gehören alle zum Okrug Kiew.«

Katja dachte an all die Stunden, die ihr Onkel Marko zu Fuß und mit dem Zug in die wunderbare Stadt am Dnjepr gereist war, um seine Kamera zu kaufen. Obwohl sie offiziell zum Verwaltungsbezirk Kiew gehörten, war die eigentliche Stadt fast hundertfünfzig Kilometer entfernt.

»Das ist sowieso egal«, sagte Tato. »Sie werden tun, was auch immer sie tun wollen. Die Ukraine ist fruchtbar und reich, und Stalin will uns zum Brotkorb der Sowjetunion machen.« Er schwenkte die Flüssigkeit, trank aber nicht. »Und um das zu erreichen, will er, dass wir unser Land aufgeben und seinen Kolchosen beitreten. Das geschieht schon seit Monaten in Dörfern überall in der Ukraine. Sie könnten jeden Moment hier sein.«

»Aber Stalin hat doch erklärt, die Kollektivierung müsse freiwillig sein, wenn sie funktionieren soll«, erwiderte Onkel Marko.

»Ich habe gehört, dass er seine Meinung geändert hat. Das macht mich nervös.« Tato nippte an seinem Wein.

Onkel Marko stellte das Glas auf den Tisch. »Ich sage immer noch, dass sie uns nicht zwingen werden. Wir werden die Wahl haben.«

Tato verzog angewidert das Gesicht. »Marko, seit wann haben wir denn eine Wahl, wenn es um Moskau geht?«

Ein leises Zischen entkam Katjas Lippen, und Tato drehte sich zu ihr um. »Genug davon«, sagte er. »Heute feiern wir erst einmal Olha und Borislaw.«

Katjas Vater nahm sie am Arm und zog sie weg.

»Tato, worüber habt ihr da geredet?«

»Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.« Seine Stimme zitterte so leicht, dass Katja nicht sicher war, es tatsächlich gehört zu haben. »Das sind nur Gerüchte.«

»Was machst du da?« Alina packte Katja an den Schultern und riss sie herum. Ihre Freude war ansteckend. »Hör auf, dir Geschichten alter Männer anzuhören. Jetzt wird getanzt!«

Nichts konnte Alina umstimmen, wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. Also schluckte Katja ihre Sorgen herunter und ließ sich zur Tanzfläche ziehen. Kurz schaute sie noch einmal zu ihrem Vater zurück. Tato runzelte die Stirn und leerte sein Glas in einem Zug.

»Du hast ja Falten auf der Stirn.« Alina drückte den Finger zwischen Katjas Augenbrauen. »Entspann dich, Katja. Morgen können wir uns immer noch Sorgen machen. Heute haben wir erst mal Spaß!« Sie schnappte sich ein Glas kwass, ein Getränk aus fermentiertem Roggenbrot, trank einen Schluck und reichte das Glas dann an ihre Schwester weiter.

Trotz oder vielleicht wegen der Sorgen, die sie plagten, folgte Katja dem Beispiel ihrer Schwester. Sie hob das Glas und spülte die Sorgen mit dem Kwass herunter. Musik erfüllte die Luft. Stampfende Füße und Lachen akzentuierten das Trällern der Fideln, das sich mit den Tönen des Akkordeons, der Bandura und einer sopilka mischte, einer traditionellen Doppelflöte. Ihr gemeinsamer Takt führte die Menschen durch die Nacht.

Katjas Blick wanderte zu der Stelle, wo die Männer zu tanzen begonnen hatten, und landete auf Pawlo. Die lebhaften Bewegungen betonten seine Muskeln, und ein überraschendes Verlangen keimte in ihr auf, während sie ihn beobachtete. Pawlo bemerkte, dass sie ihn anschaute. Er grinste, und Katja riss sofort den Kopf herum. Ihre Gefühle überschlugen sich. Was, wenn der Kuss und diese Gefühle die Freundschaft zerstörten, die sie die ganzen sechzehn Jahre ihres Lebens verbunden hatten? Pawlo war ihr bester Freund.

Alina stupste sie an und kicherte. »Du scheinst ja ein furchtbar schlechtes Gewissen zu haben. Ist was passiert? Hat er dir endlich gesagt, was er für dich empfindet?«

Katja seufzte zitternd. Alina wusste nicht, dass Pawlo sie geküsst hatte. Dann wurde ihr plötzlich klar, was ihre Schwester da gerade gesagt hatte, und sie wirbelte zu ihr herum. »Moment! Was meinst du damit, was er für mich empfindet?«

»Ach, bitte! Jeder weiß doch von euch zwei.« Alina lief zu Kolja und lachte über die Schulter hinweg.

»Was weiß jeder?« Katjas Frage verhallte. Spekulierte Alina nur, oder hatte Pawlo mit ihr gesprochen? Katja schaute sich schuldbewusst um und floh aus der erstickenden Menge. Abseits der dicht gedrängten Menschen sog sie erst einmal die süße Nachtluft ein.

Wie war es nur so weit gekommen? Vor einem Jahr wäre sie bei dem Gedanken noch vor Lachen zusammengebrochen, dass sie und Pawlo auf diese Art zusammen sein könnten. Dennoch stand sie jetzt hier und dachte wieder an diesen Moment vor einer Woche, der alles verändert hatte.

Sie war über das Feld zu Pawlos Hof gelaufen, um ein paar Extraeier für Mama zu holen. Mama wollte einen Nachtisch für die Hochzeit backen. Pawlos Eltern waren ins Dorf gegangen, und Kolja war mit Alina in Katjas Haus. Deshalb öffnete Pawlo die Tür, ohne Hemd und mit nassem Haar.

Katja verdrehte die Augen, als sie ihn sah. »Ziehst du dich nicht an, bevor du die Tür aufmachst?«

Er bewegte sich so fließend wie ein selbstbewusster Kater, und das passte perfekt zu seiner entspannten Art. Er grinste. »Ich habe mich gerade gewaschen. Es gab da ein kleines Missgeschick mit einem entflohenen Ferkel. Das Vieh hat mich in eine Schlammgrube geworfen, und ich habe mir das Hemd zerrissen.«

Katja prustete. »Oh, ich wünschte, ich hätte das gesehen.«

Pawlo kniff die Augen zusammen und warf das Handtuch weg. »Darauf möchte ich wetten. Nun … Was führt dich her?«

Katja unterdrückte ihr Lächeln. »Ach, jetzt sei doch nicht so empfindlich, Pawlo. Mama braucht zwei Eier, und wir haben keine mehr.«

»Dann müssen wir im Hühnerstall nachsehen. Ich habe heute Morgen alle Eier aufgegessen.«

»Gut. Ich werde auf dem Heimweg nachschauen.«

»Ich komme mit.« Er trat auf sie zu.

Katja wich einen Schritt zurück. »Willst du dir kein Hemd anziehen?«

»Später«, antwortete Pawlo und zuckte mit den Schultern.

Katja hob die Augenbrauen. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und marschierte zum Hühnerstall. Pawlo verkürzte seine Schrittlänge, um sie nicht zu überholen, aber er blieb stumm.

Als sie den Stall betraten, schaute sie kurz zu ihm. »Stimmt etwas nicht?«, fragte sie. Sie griff unter eine Henne, die auf dem Nest saß. Die Henne gackerte erschrocken, und Katja beruhigte sie.

»Nein«, antwortete Pawlo in angespanntem Ton.

Schon als kleiner Junge hatte er vor Katja nichts verbergen können, und jetzt weckte seine seltsame Stimmung ihre Neugier, und sie beobachtete ihn aus dem Augenwinkel, während sie sich zwei Eier in die Tasche steckte. Dann gab sie ihm zwei weitere, die er auf den Nistkasten legte, bevor er sich wieder zu ihr umdrehte und sie anstarrte.

»Was ist? Hab ich Heu im Haar?« Katja strich ihren widerspenstigen Zopf glatt. »Ich habe Tato heute Morgen geholfen, die Scheune zu füllen.«

»Dein Haar ist perfekt.« Pawlos Stimme war tief und heiser.

Katjas Herz machte einen unerwarteten Satz. Ihre Zunge verweigerte plötzlich den Dienst. Sie wollte einfach nicht mehr funktionieren. »D… Danke für die Eier«, brachte sie schließlich hervor und ging an Pawlo vorbei, um sich auf den Heimweg zu machen.

Katjas großartiger Abgang scheiterte allerdings, als sie in ein Loch trat und stolperte. Pawlo sprang sofort vor, fing sie auf und drückte sie an seine nackte Brust. Katja hob den Blick. Ihr Gesicht war nur wenige Zentimeter von seinem entfernt, und er hielt sie einfach fest. Sie sah jedes dicke honigfarbene Wimpernhaar an seinen strahlenden haselnussbraunen Augen und die Sommersprossen auf seiner Nase. Alles um sie herum verschwamm, als sie Pawlo zum ersten Mal richtig wahrnahm, und ihr wurde schwindelig. Die Hitze, die von seinem Körper ausging, verbrannte Katjas Hände, und jetzt, da sie sich ihrer Nähe so bewusst war, versuchte sie, von ihm wegzukommen. Kurz, ganz kurz, verstärkte er jedoch den Griff um ihre Hüfte, als wollte er sie nicht loslassen. Er beugte sich vor, legte die Lippen an ihr Ohr, und bei der sanften Berührung sträubten sich Katja die Nackenhaare.

»Du wirst mehr Eier brauchen«, flüsterte Pawlo.

Katja schnappte nach Luft. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie den Atem angehalten hatte. Wovon redete er da? Und was hatte sie eigentlich erwartet, was er ihr ins Ohr flüstern würde? Dann, als sie spürte, wie der Dotter der zerbrochenen Eier in ihrer Tasche durch den Stoff drang, bewegte er die Lippen zu ihrer Wange, und dann küsste er sie.

Hätte Pawlo sie nicht noch immer festgehalten, wäre Katja wieder gestürzt, aber das hätte sie niemals zugegeben, nicht ihm gegenüber.

Pawlo zog sich mit einem selbstbewussten Lächeln zurück, und Katja tat das Einzige, was ihr einfiel: Sie gab ihm eine Ohrfeige.

»Was soll das, Pawlo?« Verwirrung vernebelte ihren Geist, doch nach außen hin war sie wütend. Für wen hielt er sich eigentlich, dass er sie ohne Erlaubnis küsste?

Noch immer lächelnd berührte Pawlo den roten Handabdruck auf seiner Wange. »Ich habe nichts anderes von dir erwartet, Katja. Denk darüber nach. Werd dir über deine Gefühle klar. Ich weiß, was ich will. Sag mir Bescheid, wenn du es auch weißt.« Er beugte sich vor, holte zwei weitere Eier aus einem Nistkasten und legte sie Katja in die zitternden Hände.

Katja nahm sie. Ihr ganzer Körper kribbelte von Pawlos Berührung, und sie rannte heim.

Seit diesem Tag hatte sie die Szene immer und immer wieder im Geiste durchlebt. Hatte Pawlo das geplant? Was meinte er damit, er wisse, was er wolle? Und was wollte sie nun wirklich, nachdem er ihre Freundschaft ruiniert hatte?

Was auch immer von nun an passierte, diesen Kuss konnte man nicht vergessen.

»Katja! Ich hab dich gesucht.«

Beim Klang von Pawlos tiefer Stimme bekam sie eine Gänsehaut. Rasch überbrückte er die Distanz zwischen ihnen, und sein Lächeln leuchtete im Zwielicht.

»Ich wusste gar nicht, dass du mich suchst.« Katja hörte ihren eigenen Puls, während sie darum kämpfte, nicht körperlich auf Pawlo zu reagieren. »Ich brauchte nur ein bisschen frische Luft. Zum Nachdenken.«

»Und? Denkst du immer noch nach?« Er streckte die Hand aus und zwirbelte eine ihrer Locken.

Katja war wie erstarrt. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Ihre Gedanken überschlugen sich, und eine Flut bedeutungsloser Wörter brach aus ihr heraus.

»Oh … Nicht darüber … Über die Ernte … Wirklich … Ich habe gedacht, wir sollten …«

Pawlo nahm ihr Gesicht in seine großen schwieligen Hände und drückte ihr die Daumen auf die Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen. »Ich kann nur noch an dich denken.«

Die Welt verschwamm, als Pawlo seine Lippen auf Katjas legte, und sie verschmolz mit ihm, stellte sich auf die Zehenspitzen und ergab sich seiner Umarmung.

Als Pawlo sich wieder von ihr löste, um ihr in die Augen zu schauen, war sie wie erstarrt. Der Kuss auf die Wange letzte Woche hatte sie verwirrt, aber nach diesem Kuss war die Entscheidung klar. Sie konnte die Gefühle zwischen ihnen nicht länger leugnen.

»Mehr braucht es nicht, Katja? Ein Kuss, und dir, dem lautesten Mädchen, das ich kenne, hat es die Sprache verschlagen?« Pawlo lachte, und der Wind zerzauste sein sandbraunes Haar. »Vielleicht hätte ich das schon längst einmal versuchen sollen. Dann hätte ich mehr Frieden in meinem Leben gehabt.«

Sein Necken brachte ihm einen kräftigen Schlag auf den Arm ein, und er lachte und rieb sich die schmerzende Stelle. »Manche Dinge ändern sich, andere offenbar nicht. Willst du mich jedes Mal schlagen, wenn ich dich küsse?«

»Vielleicht.« Katja zuckte mit den Schultern und grinste. »Ich habe mich noch nicht entschieden. Und auch wenn ich mich von dir habe küssen lassen, solltest du nicht vergessen, dass ich dir noch immer in vielem überlegen bin.«

»Wie könnte ich das vergessen? Das ist Teil deines Charmes.«

Lachen hallte von einer Gruppe Männer zu ihnen herüber, die ein wenig abseits der Feier standen, und Katja ärgerte sich darüber, derart rüde unterbrochen worden zu sein. »Lass uns ein wenig spazieren gehen, weg von all den Leuten«, schlug sie vor.

»Mit einem hübschen Mädchen unter dem Sternenhimmel spazieren gehen? Ich kann mir nichts Besseres vorstellen.« Mit einer Verbeugung bot Pawlo Katja den Arm an, und sie hakte sich bei ihm unter. Gemeinsam schlenderten sie durch die friedliche Nacht, und in diesem Augenblick war Katja das glücklichste Mädchen der Welt.

3

CASSIE

Wisconsin, Mai 2004

Zwei Tage später war der kleine Bungalow, den Cassie für die vergangenen anderthalb Jahre ihr Zuhause genannt hatte, geräumt und geputzt. Dabei kam es ihnen zupass, dass Henry und sie alles, was sie nicht unbedingt brauchten – Golfschläger, teures Porzellan und Hochzeitsgeschenke, die sie nie benutzten – vor dem Umzug eingelagert hatten.

»Ich habe mit deinem Vermieter telefoniert, Cass«, rief Anna, während sie das letzte Küchenzeug zum Auto trug. »Ich habe ihm gesagt, wir lassen die Schlüssel auf der Küchentheke liegen und ziehen die Haustür ins Schloss.«

»Wirklich? Und er ist einverstanden, dass ich einfach so verschwinde?«

»Oh ja, er klingt wie ein sehr netter Mann. Er sagt, er hat volles Verständnis. Er kann dir die Miete für den Rest des Monats nicht erstatten, aber er schickt dir die Kaution, sobald er alles überprüft hat.«

»Danke.« Cassie stopfte einen Karton in den SUV und schloss die Heckklappe.

»Hier, gib mir die Schlüssel. Ich schließe alles ab. Du sorgst dafür, dass Birdie angeschnallt und abfahrbereit ist.« Anna streckte die Hand aus.

Cassie holte tief Luft, lächelte gezwungen und gehorchte, denn man gehorchte, wenn Anna das Ruder an sich riss. Sie wollte ohnehin nicht noch einmal durch das Haus gehen. Nichts war darin übrig außer Traurigkeit.

Sie steckte den Kopf zur Hintertür des Wagens hinein. »Na, Vögelchen, bist du so weit?«

Birdie nickte einmal. Ihr Augen waren groß und glänzten vor Aufregung.

»Bist du froh, dass wir wieder nach Hause ziehen?«, fragte Cassie.

Birdie nickte erneut.

»Ich glaube, ich auch. Das wird ein Neuanfang für uns.« Cassie schnallte Birdie in ihrem Kindersitz an. »Sag Grandma nichts, okay? Ich will nicht, dass sie sich darauf etwas einbildet.«

Birdie lächelte mit rosigen weichen Pausbacken, und Cassie schmolz dahin. Wie lange war es her, dass sie dieses süße Lächeln zuletzt gesehen hatte? Wie viel von Birdie war in diesem vergangenen Jahr verloren gegangen, während Cassie sich in ihrer Trauer gesuhlt hatte?

»Gehen wir!« Anna eilte die Verandastufen herunter. »Ich fahre voraus, und du kannst mir folgen.«

»Klingt wie immer.« Cassie nahm am Lenkrad Platz.

Seit Henrys Verkehrsunfall war Autofahren für Cassie nicht mehr dasselbe. Obwohl er alles richtig gemacht und alle Verkehrsregeln befolgt hatte, war ein anderer nicht so vernünftig gewesen, und dieser Fehler hatte Henry das Leben gekostet. Wie sollte ein Hinterbliebener nach so etwas über seine Angst vor der Straße hinwegkommen? Ihre Psychiaterin hatte darauf eine Menge Antworten, aber Cassie stimmte keiner einzigen davon zu. Während der Fahrt war ihre Bewältigungsstrategie Lautstärke: fröhliche Musik gepaart mit einem Umklammern des Lenkrads, so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten, und überzogene Wachsamkeit. Ihr Rücken entspannte sich nie. Sie hockte förmlich auf der Sitzkante und hielt nach jeder möglichen Gefahr Ausschau.

Diese Art zu fahren strengte an, deshalb mied sie das Auto, wann immer sie konnte. Sie ging mit Birdie zu Fuß zur Bibliothek und zum Lebensmittelgeschäft, und sie hatte sowieso kein Bedürfnis, daneben viele andere Ziele anzusteuern. Als sie drei Stunden später vor Bobbys gemauertem Ranchhaus hielten, tat Cassie der Rücken weh, ihr Schädel pochte, und ihre Arme rutschten vom Lenkrad wie zu lange gekochte Spaghetti.

»Wir sind da!«, rief sie Birdie zu, fröhlich trotz ihrer steifen Muskeln und der Beklommenheit über den unvermittelten Umzug. Birdie sah sie mit erhobenen Augenbrauen an, und Cassie verzog das Gesicht. Selbst ihre Fünfjährige merkte, wenn sie sich verstellte.

Sie öffnete die Autotür und ließ die kühle Luft über ihr Gesicht strömen. Das Hämmern in ihrem Kopf ließ nach, und sie stieg aus, streckte die Arme hinter sich, beugte sich vor und versuchte, sich zu entspannen.

Birdie schnallte sich selbst los, schoss aus dem Auto und flitzte zur Haustür. Ein warmes Gefühl breitete sich in Cassies Brust aus. Das Haus sah noch genauso aus wie damals, als sie selbst ein Kind gewesen war. Lange Blumenbeete zogen sich an der Vorderfront entlang. Im Sommer quollen sie über vor Pfingstrosen, Malven, Zinnien und Kosmeen. Im Augenblick waren die kurzen mehrjährigen Schösslinge kaum voneinander zu unterscheiden, und die kahlen Stellen schrien danach, mit einjährigen Blumen bepflanzt zu werden. Die leeren Beete riefen nach Cassie, und zum ersten Mal seit langer Zeit empfand sie das Bedürfnis, etwas zu tun, das über das bloße Existieren hinausging.

»Ich dachte, ihr bezieht euer Zimmer und dann holen wir Bobby ab.« Anna trat zu Cassie und legte einen Arm um sie.

»Klingt gut«, sagte Cassie. »Also, schaffen wir die erste Ladung hinein.«

Nicht lange danach hatten sie die persönlichen Dinge, die sie brauchen würden, in einem der Gästezimmer aufgestapelt und die zusätzlichen Haushaltsgegenstände in den Keller geräumt. Auf dem Weg hinaus blieb Cassie vor dem heiligen Winkel an der westlichen Wohnzimmerwand stehen. Die Ikonen müssen nach Osten sehen, hatte Bobby ihr einmal erklärt. Zwei kunstvolle alte Heiligenbilder – eins von Jesus Christus, das andere von Maria mit dem Jesuskind – hingen an der Wand, und über ihnen war ein wunderschön bestickter ruschnyk drapiert. Die Enden des Tuches hingen zu beiden Seiten der Rahmen herunter und zeigten spiegelbildlich angeordnete rote Bäume, die mit Blumen, Ranken und Vögeln geschmückt waren. Auf dem Bücherregal darunter komplettierten ein paar Drucke von Heiligen, ein Gebetbuch, gesegnete Kerzen, Weihrauch und ein Napf mit Weihwasser den Ort, an dem Bobby täglich betete.

Cassie betrachtete sich nicht als fromm, aber die Bedeutung, die dieser heilige Winkel für Bobby besaß, machte ihn für Cassie zu etwas Besonderem. Ihr Unbehagen wegen des plötzlichen Umzugs schmolz dahin, als ihr schöne Erinnerungen an Bobby in den Sinn kamen. Sie wollte hier sein, um ihrer Grandma zu helfen und Birdie Gelegenheit zu geben, ihre Urgroßmutter richtig kennenzulernen.

»Bringst du das für mich in Bobbys Zimmer?« Anna kam zur Vordertür herein und reichte ihr einen Wäschekorb mit gefalteten Kleidungsstücken. »Ich wollte ihn schon früher vorbeibringen, aber ich hab’s vergessen.«

»Sicher.« Cassie nahm den Korb und brachte ihn ins Schlafzimmer am Ende des Korridors. Der Raum roch nach Bobbys Parfüm, und eine weitere Welle der Nostalgie überfiel Cassie. Sie stellte den Korb auf das ordentlich gemachte Bett und hielt inne, weil sie ein Buch entdeckte, das aufgeschlagen auf dem Nachttisch lag, als hätte es jemand dort hingelegt, um es gleich weiterzulesen. In einem angelaufenen Kerzenständer ragte ein abgebrannter Kerzenstummel aus einem Hügelchen aus geschmolzenem Wachs, ein scharfer Kontrast zu der großen modernen Leselampe, welche die Szenerie überragte.

Cassie beugte sich näher. Winzige handschriftliche Wörter auf Ukrainisch füllten jeden Quadratzentimeter der vergilbten Seite. Das war kein Roman, sondern ein Tagebuch.

Vorsichtig hob sie den abgegriffenen Band und schloss ihn, fuhr mit den Fingerspitzen über den Buchdeckel aus abgewetztem Leder. Riefen und Kratzer überzogen die Oberfläche und sprachen von einem langen Leben, in dem es oft benutzt worden war.

Auf dem College waren Geschichte und Journalismus Cassies Hauptfächer gewesen, und jahrelang hatte sie Bobby für verschiedene Forschungsarbeiten interviewen wollen. Bobby hatte es jedes Mal abgelehnt. Die Vergangenheit ist vorbei, Cassie. Wir müssen in die Zukunft blicken.

Für eine angehende Historikerin war das kein sehr nützlicher Ratschlag, und Bobbys Ausweichen hatte Cassies Wunsch, mehr über das Leben ihrer Großmutter herauszufinden, noch geschürt. Wann immer sich eine Gelegenheit bot, hatte sie es wieder versucht. Irgendwann aber hatte sie aufgegeben. Nicht ohne Grund galt Bobbys Sturheit bei der ganzen Familie als legendär. Doch wenn sie nun in die Vergangenheit entglitt, wie ihre Mom sagte, musste Cassie mehr darüber wissen, um ihr helfen zu können.

Cassie schloss die Augen und legte die Hand auf den Buchdeckel. Wärme durchströmte sie, als könnte sie spüren, wie die Wörter zum Leben erwachten und ein Bild der Geschichten darin zeichneten. Die Härchen auf ihren Armen richteten sich auf, und sie schauderte.

»Cassie? Bist du so weit?« Annas Stimme brach den Bann.

Sie öffnete die Augen. »Ja, ich komme sofort.«

Cassie drückte sich das Buch an die Brust und seufzte bedauernd. Wenn es nur so einfach wäre. Sie überlegte, das Tagebuch in ihr Zimmer zu schmuggeln, damit sie es näher untersuchen konnte, aber sich etwas derart Persönliches anzueignen war vermutlich nicht die beste Art, das Zusammenleben mit Bobby zu beginnen, schon gar nicht, wenn sie das Buch dann suchte. Außerdem hatte Cassie nie Ukrainisch gelernt, konnte es nicht einmal lesen. Sie legte das Journal auf den Nachttisch, sah es ein letztes Mal sehnsüchtig an und fragte sich, welche Antworten es enthielt, dann ging sie hinaus zum Wagen.

4

KATJA

Ukraine, Januar 1930

»Wer ist das?« Mama blieb vor Katja stehen, als sie an einem kalten Winterabend aus der Kirche kamen.

Katja trat um sie herum, um den Dorfplatz besser sehen zu können. Läden, Häuser und die Kirche standen hier, und auf dem Platz in der Mitte stellten Händler am Markttag ihre Stände auf. Heute war der Platz jedoch leer, als eine Gruppe von Leuten und zwei Wagen sich von Osten her näherten. Die dunklen Farben und die scharfen Kanten der Karawane hoben sich stark vom sanften Grau und Weiß der Winterlandschaft ab.

»Tato?« Katja schaute zu ihrem Vater. Er legte ihr die Hand auf die Schulter, während immer mehr Leute aus der Kirche kamen.

»Ich hab es dir doch gesagt, Wiktor«, sagte Ruslan, bevor Tato seiner Tochter antworten konnte. »Das sind Stalins Männer.«

Ein leises Raunen ging durch die Menge. Katja zählte gut zwei Dutzend Leute, die vor den Wagen gingen. Die Luft knisterte vor Spannung, und Katja zog den Mantel enger, als könnte sie sich so vor der unbekannten Bedrohung schützen, die da auf sie zukam.

Pawlo, Fedir und Kolja stellten sich zu ihnen, als die Neuankömmlinge ihre Wagen parkten. Pawlo drückte beruhigend Katjas Arm. Ein Mann, der sich als Genosse Iwanow vorstellte, ihr Parteiführer, stieg auf einen der Wagen, um sich mit seiner dünnen Stimme an alle zu wenden.

»Genossen! Offenbar haben wir euch genau zum richtigen Zeitpunkt erwischt. Alle müssen hierbleiben. Diese Versammlung ist Pflicht, damit wir euch von den wunderbaren Plänen des Genossen Stalin erzählen können.«

Genosse Iwanow stellte die kleine Gruppe von »Fünfundzwanzigtausendern« vor, eine Abordnung der schätzungsweise 25.000 russischsprachigen Freiwilligen, die sich den Bolschewiken in der ganzen Ukraine als Aktivisten zur Verfügung gestellt hatten und die nun ihr Dorf kollektivieren würden.

»Zerreißt die Fesseln des Kapitalismus, und wählt ein besseres Leben! Unsere Höfe werden gedeihen, wenn wir unsere Ressourcen und unsere Arbeit zusammenlegen!«

Wegen seiner polierten Schuhe, der Stadtkleidung und dem blassen Gesicht zweifelte Katja daran, dass Genosse Iwanow sonderlich viel Ahnung von Landwirtschaft hatte, doch das hielt ihn nicht davon ab fortzufahren.

Während Iwanow erklärte, wie die Bauern Vieh und Land an die neue Kolchose überschreiben sollten, beobachtete Katja, wie einer der Aktivisten ein buntes Plakat an die Kirchentür nagelte. Darauf waren ein lächelnder Mann und eine Frau zu sehen, und darunter stand:

Arbeitet glücklich, und die Ernte wird gut sein, in Frühling, Sommer, Herbst und Winter.

Prokyp Gura stieß gegen Katja. Er stank nach Alkohol und drängte sich durch die Menge, um sich dem Genossen Iwanow vorzustellen.

»Einige Leute scheinen das ja ganz toll zu finden«, sagte Katja, als Prokyp auf das Plakat deutete und sich stolz auf die Brust klopfte.

»Einige Leute sind einfach nur dumm«, erwiderte Pawlo.

Fedir beugte sich dicht zu Katja, und Pawlo nickte in Richtung einer Gruppe von Aktivisten. »Schaut mal, wie sie sich Notizen machen.«

Die Stifte der Aktivisten flogen wild über das Papier, während sie die Straßen hinuntergingen, die vom Dorfplatz wegführten, und die nächstgelegenen Häuser inspizierten. Ein Mann klopfte an die Wand des Hauses der Krewtschuks. Dann sprach er mit einem anderen und schrieb schließlich etwas auf.

»Notizen? Was notieren die denn?«

»Vermutlich, wem das größte Haus gehört.« Fedir schüttelte angewidert den Kopf. »Sie müssen ja irgendwo wohnen, oder?«

Katja riss die Augen auf. Am liebsten hätte sie sich an Pawlos starke Hand geklammert, doch er hatte die Fäuste geballt.

Abends auf dem Heimweg konnte Katja ihre Fragen nicht länger unterdrücken. »Das ergibt einfach keinen Sinn. Warum sollte irgendjemand seine Unabhängigkeit aufgeben?«

»Stalin drängt auf die Kollektivierung im ganzen Land«, sagte Tato. »Es war nur eine Frage der Zeit, dass die Bolschewiken in unser Dorf kommen. Stalin glaubt, wenn Land und Arbeit organisiert sind, dann wird auch die Ernte höher ausfallen, und seine Sowjetunion wird ernten, was wir säen.« Angewidert schüttelte er den Kopf. »Es ist jedes Mal dasselbe. Seit Jahrhunderten. Jeder will die fruchtbare Erde der Ukraine für sich, und niemand will sie den Ukrainern lassen.«

»Du hast doch gesagt, das seien nur Gerüchte!« Katja fühlte sich von ihrem Vater verraten. »Und jetzt sagst du, das sei nur eine Frage der Zeit gewesen?«

»Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst.« Tato verlangsamte seinen Schritt, sodass er neben ihr gehen konnte. »Und ich hatte gehofft, dass sie nicht hierherkommen würden. Ich habe darum gebetet.«

»Und was hat uns das genutzt?« Katja trat gegen einen Stein auf der Straße und wünschte, sie könnte ihn dem Genossen Iwanow an den Kopf werfen.

»Katerina Wiktoriwna Schewtschenko!«, fuhr Mama sie barsch an. »Spotte nicht über das Gebet und auch nicht über deinen Vater!«

Katja hörte ihren vollen Namen aus dem Mund ihrer Mutter nur, wenn die wütend auf sie war. Sie lief rot an und murmelte eine Entschuldigung.

»Die ganze Idee ist einfach nur lächerlich!« Fedir schüttelte den Kopf.

»Vielleicht, aber diese Aktivisten glauben fest daran.« Die Sorge in Tatos Stimme jagte Katja einen Schauder über den Rücken.

»Glauben heißt nicht recht haben«, erklärte Pawlo. Unauffällig strich er über Katjas Hand. Erneut schauderte sie, aber diesmal nicht aus Angst oder Sorge.

»Stimmt«, seufzte Tato. »Sie haben nie eigenes Land besessen oder ihren eigenen Hof bewirtschaftet. Sie kennen die Befriedigung nicht, die es bedeutet zu ernten, was man selbst gesät hat. Sie wissen nicht, was es heißt, die eigene Familie ernähren zu können und genug Saatgut übrig zu haben, um im nächsten Frühjahr wieder von vorne zu beginnen.« Er breitete die Arme aus und deutete auf die umliegenden Felder. »Das macht uns zu Bauern.«

»Genau.« Mama nickte und legte ihrem Mann die Hand auf die Schulter. »Warum sollten wir das aufgeben?«

»Das werden wir nicht!«, erklärte Katja entschlossen.

***

Am nächsten Morgen, als Katja sich an die warme Flanke der Kuh lehnte, durchbrach das Heulen eines Kindes den hypnotischen Rhythmus der Milch, die in den Eimer spritzte. Katja schnappte sich rasch den Eimer, damit die Kuh ihn nicht umwerfen konnte, und schaute hinaus. Ihr Vater sprach auf der Straße mit Polina Krawtschuk. Hinter ihr stand ein Handkarren mit ein paar Kleidern und ihren beiden kleinen Kindern.

Katja ging hinüber und hörte Polina sagen: »Sie sind mitten in der Nacht gekommen und haben meinen Mann verhaftet. Sie haben gesagt, er sei ein kulak, und sie haben das Haus zu ihrer Parteizentrale gemacht.« Sie biss die Zähne zusammen und kämpfte mit den Tränen.

Katja blinzelte und erinnerte sich an Fedirs Bemerkung, dass die Aktivisten nach den größten Häusern suchten, und dann hatten sie sich das Heim der Krawtschuks ganz genau angeschaut. Die Krawtschuks waren tatsächlich eine der wohlhabenderen Familien im Dorf, und das Haus spiegelte das wider.

»Wo sollt ihr denn jetzt hin?«, fragte Tato.

»Sie haben gesagt, wir müssten sofort raus aus dem Dorf, wenn wir nicht auch verhaftet werden wollen. Vielleicht nimmt mein Bruder uns ja auf.«

»Was ist mit den Tieren? Was mit eurem Besitz? Konntet ihr denn gar nichts mitnehmen?«

Polina schniefte. »Nur ein paar Kleider.«

»Wie lange wollen sie deinen Mann denn festhalten?«, hakte Katja nach.

Polina unterdrückte ein Schluchzen. »Ich … Ich weiß es nicht.«

Katja suchte nach den richtigen Worten, und schließlich umarmte sie Polina einfach, die ihr in die Schulter weinte.

Dann kam Mama mit einem kleinen in ein Tuch gewickelten Laib Brot. »Hier, Polina. Es ist nicht viel, aber es wird euch auf dem Weg die Bäuche füllen.«

»Danke.« Polina straffte die Schultern und wischte sich die Nase ab. »Wir müssen jetzt weiter. Ich muss die Kinder vor Sonnenuntergang in Sicherheit bringen.«

Als sie weggingen, begann das kleinste Kind wieder zu weinen. »Wo ist mein Tato? Ich will meinen Tato!«

Katja ballte die Fäuste. »Das ist falsch. Wie können diese Aktivisten sie einfach aus ihrem Haus werfen?«

»Keine Fragen, Katja. Nicht jetzt.« Müdigkeit zeigte sich in den Augen ihres Vaters. »Komm. Wir haben noch viel zu tun.«

An diesem Abend, auf der nächsten Pflichtversammlung, erfuhr Katja, dass in der Nacht zuvor noch vier weitere Männer verhaftet und ihre Frauen und Kinder aus ihrem Heim geworfen worden waren. Alle waren wie die Krawtschuks wohlhabendere Familien, die allgemein respektiert waren und großen Einfluss im Dorf hatten.

Katja beobachtete die Versammlung in der Kirche genau. Während die Aktivisten weiter ihre Sprüche klopften, lachten die Leute und plauderten miteinander. Nur ein paar wenige gingen zu dem langen Tisch und trugen sich in die Liste ein.

»Da treten einige tatsächlich in die Partei ein«, sagte Katja ungläubig.

Pawlo winkte ab. »Nur die Schwachen. Diese Leute sind allein gescheitert und glauben jetzt, dass das Kollektiv sich um sie kümmern wird.«

Fedir schnaubte verächtlich. »Unwahrscheinlich.« Er nickte in Richtung der Sprecher. »Ich bezweifele, dass diese Narren bis jetzt je die Stadt verlassen haben. Von der Arbeit auf einem Hof ganz zu schweigen. Erst gestern habe ich gesehen, wie einer von ihnen eine Ziege mit einem Schaf verwechselt hat.«

»Hast du auch gehört, dass Prokyp sich den Aktivisten angeschlossen hat?«, fragte Pawlo. »Der Dorfsäufer, der uns immer sagen will, wie wir unser Land bestellen sollen. Unglaublich!«

Eine Aktivistin ging an ihnen vorbei und drückte Katja einen Zettel in die Hand. »Komm zum Komsomol. Lass das Alte hinter dir, und arbeite mit uns an einer neuen Zeit!«

Pawlo schaute über Katjas Schulter auf das Bild von zwei überschwänglichen Jugendlichen, die vor Josef Stalin salutierten.

»Die Kommunistische Jugendorganisation braucht dich! Stalin braucht dich!«, las Katja laut. Dann schaute sie Pawlo in die Augen. »Das machen wir doch nicht, oder?«

»Natürlich nicht.« Er nahm ihr den Zettel aus der Hand und zerknüllte ihn.

Überall wurden Anti-Kulaken-Plakate und Banner der Jungen Pioniere entrollt.

Junger Pionier! Lerne, für die Arbeiterklasse zu kämpfen!

Lasst uns die Kulaken vernichten!

Fegt die Kulaken beiseite, die Erzfeinde der Kollektivierung!

Katja war die überflüssigen Reden leid, und so starrte sie während der Versammlungen meist auf die Plakate, doch die ergaben für sie keinen Sinn. Was stimmte denn mit diesem Leben nicht? Katja liebte es, mit ihrem Vater auf dem Feld zu arbeiten und sich um die Tiere zu kümmern. Sie genoss die Tage mit ihrer Mutter im Familiengarten und auch die Ernte, durch die sie im Winter gutes Essen hatten. Warum sollte sich irgendetwas davon ändern?

Nach mehreren Tagen und Versammlungen hatte sich die Kirche, die die Partei requiriert hatte, so weit verändert, dass sie kaum noch zu erkennen war. Sämtliche Ikonen waren entfernt und durch roten Stoff und Banner ersetzt worden, die die Wohltaten der Kollektivierung und des Kommunismus priesen. Insgeheim spotteten viele Dörfler über die Kolchosen, aber die Ränge der Bolschewiken füllten sich immer mehr mit ärmeren, desillusionierten Bauern, die die Anti-Kulaken-Propaganda glaubten.

Sich gegen die Kulaken zu erheben wurde zum Schlachtruf der Aktivisten, und Genosse Iwanow schürte das Feuer noch. »Jahrelang habt ihr wie die Sklaven für die Kulaken geschuftet, während sie den Profit eingestrichen haben! Sie sitzen in ihren schönen Häusern und lachen über euch! Aber jetzt ist Schluss damit! Das ist eure Gelegenheit! Nehmt euch, was euch rechtmäßig gehört!«

»Ein Kulak ist jetzt also schon jeder, der nicht versagt?«, murmelte Fedir vor sich hin. »Jeder, der genug Geld hat, um Erntehelfer anzuheuern und sich eine zweite Kuh zu leisten? Mehr braucht es nicht, um von Stalin als ›reich‹ bezeichnet zu werden?«

Allerdings war auch Fedir zurückhaltender, seit Beamte der OGPU, Stalins Geheimdienst, sich mitten in der Nacht ins Dorf geschlichen hatten. Mit ihren olivfarbenen Hemden und stählernen Blicken suchten sie nach jedem noch so kleinen Zeichen von mangelndem Respekt oder gar Widerstand, und diese Form der Einschüchterung funktionierte. Niemand wollte die Aufmerksamkeit dieser Männer erregen oder gar riskieren, von ihnen verhaftet zu werden.

»Stalin hat beschlossen, dass es keine Klassen mehr in der Ukraine geben darf, wenn die Kolchosen funktionieren sollen«, sagte Tato leise.

»Aber wie will er das erreichen?« Katja kaute auf ihren Fingernägeln, als der eisige Blick eines OGPU