Wären wir Vögel am Himmel - Erin Litteken - E-Book

Wären wir Vögel am Himmel E-Book

Erin Litteken

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Beschreibung

Von der Kraft, die Hoffnung nicht zu verlieren und immer wieder neu anzufangen - eine bewegende, persönliche Reise in die ukrainische Geschichte

Sommer 1941. Wann immer sie kann, beobachtet Lilija die Vögel am Himmel. So frei zu sein, so unbeschwert! Ihr selbst ist beides nicht vergönnt, denn es herrscht Krieg, und die Wehrmacht rückt nun auch in der Ukraine vor. Wo bis vor Kurzem Stalins Handlanger für Schrecken sorgten, verbreiten jetzt die Deutschen Angst und Terror. Sie brauchen Arbeiter für ihre Felder, ihre Waffenfabriken. Auch Lilija, ihr Cousin Slavko und die erst zwölfjährige Halya finden sich unversehens mit Dutzenden anderen Ukrainern in einem Viehwagon nach Leipzig wieder. Wird ihre Kraft ausreichen, Angst und Qualen zu überstehen und den Krieg zu überleben? Werden sie ihre Familie wiedersehen?

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Seitenzahl: 511

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungHistorische VorbemerkungProlog1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647484950515253545556575859Anmerkung der AutorinDank

Über dieses Buch

Von der Kraft, die Hoffnung nicht zu verlieren und immer wieder neu anzufangen – eine bewegende, persönliche Reise in die ukrainische Geschichte Sommer 1941. Wann immer sie kann, beobachtet Lilija die Vögel am Himmel. So frei zu sein, so unbeschwert! Ihr selbst ist beides nicht vergönnt, denn es herrscht Krieg, und die Wehrmacht rückt nun auch in der Ukraine vor. Wo bis vor Kurzem Stalins Handlanger für Schrecken sorgten, verbreiten jetzt die Deutschen Angst und Terror. Sie brauchen Arbeiter für ihre Felder, ihre Waffenfabriken. Auch Lilija, ihr Cousin Slavko und die erst zwölfjährige Halya finden sich unversehens mit Dutzenden anderen Ukrainern in einem Viehwagon nach Leipzig wieder. Wird ihre Kraft ausreichen, Angst und Qualen zu überstehen und den Krieg zu überleben? Werden sie ihre Familie wiedersehen?

Über die Autorin

Erin Litteken hat einen Abschluss in Geschichte und liebt es zu recherchieren. Schon als Kind fesselten sie die Geschichten über die erschütternden Erfahrungen ihrer Familie in der Ukraine vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Idee zu ihrem Debütroman »Denk ich an Kiew« reifte über Jahre in ihr. Dass seine Fertigstellung sich mit den aktuellen Ereignissen überschneidet, macht sie zutiefst betroffen. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Illinois, USA.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»The Lost Daughters of Ukraine«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2023 by Erin Litteken

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text-und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Köln

Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde

Einband-/Umschlagmotiv: © Mark Owen / Trevillion Images

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-5586-3

luebbe.de

lesejury.de

Für Bobby

Historische Vorbemerkung

Um die Hintergründe dieses Romans besser zu verstehen, muss man sich ein bisschen mit der Geschichte vertraut machen: Kurz nach dem Ersten Weltkrieg wurde mit dem Vertrag von Riga 1921 der Polnisch-Sowjetische Krieg beigelegt, und damit fanden auch die jahrelangen Kämpfe um die Schaffung eines unabhängigen Staates in der Ukraine ein Ende. Im Vertrag wurde die Ukraine zwischen Polen und der Sowjetunion aufgeteilt, und Wolhynien, eine historische Region im Westen der heutigen Ukraine, wo hauptsächlich Ukrainer lebten, wurde fast vollständig Polen zugeschlagen.

In der Zwischenkriegszeit versuchte Polen, die neu hinzugewonnenen Gebiete zu assimilieren. Die polnischen Behörden schlossen ukrainische Schulen, zerstörten orthodoxe Kirchen und verhafteten ukrainische Politiker, Lehrer und Priester. Polnische Veteranen des Ersten Weltkriegs erhielten Land in Wolhynien, um das Gebiet zu kolonialisieren und damit zugleich die polnische Herrschaft zu stabilisieren. Im Gegenzug verübten ukrainische Nationalisten Anschläge auf polnische Staatsvertreter und attackierten polnische Landbesitzer. Dann eröffnete Polen in Bereza Kartuska ein Gefängnis, das heute als Konzentrationslager anerkannt ist; in ihm wurden ukrainische Nationalisten ohne Prozess eingesperrt. Auch Folter war dort an der Tagesordnung.

Im Jahr 1939 begann der Zweite Weltkrieg mit der Invasion Polens durch Nazi-Deutschland und die Sowjetunion, und nach der polnischen Niederlage teilten die Aggressoren das Land unter sich auf. Bis 1941 besetzten die Sowjets im Osten Wolhynien. Doch dann brach Hitler den Pakt mit Stalin und überfiel die Sowjetunion. Unter deutscher Besatzung wurde Wolhynien nun Teil des neu geschaffenen Reichskommissariats Ukraine.

Beide Regime verwüsteten sowohl die Ukraine als auch Polen. Sie zerstörten Dörfer und Städte und verhafteten, deportierten und ermordeten Millionen Menschen. In der Zeit dieser Umwälzungen entluden sich auch die historischen Spannungen zwischen Polen und Ukrainern in einer Reihe von gewalttätigen Auseinandersetzungen und brutalen Massakern an unschuldigen Zivilisten. Ganze Dörfer wurden ausgelöscht, und die schiere Brutalität dieses Sterbens – oft durch landwirtschaftliches Gerät – stand in direktem Gegensatz zu den familiären Verbindungen und Freundschaften zwischen Polen und Ukrainern, die sich über Generationen hinweg entwickelt hatten. Es ist eine hässliche, verwickelte Geschichte, die selbst heute nur schwer zu verstehen ist.

***

Mein Großvater wurde in Wolhynien geboren. Er und seine Familie haben diese unruhige Zeit durchlebt. Ein großer Teil des Romans basiert auf ihren Erlebnissen.

Prolog

Halya faltete das verwitterte Blatt Papier auseinander – den wichtigsten persönlichen Besitz, der ihr noch geblieben war – und starrte auf die Zeichnung ihrer Eltern. Unschuldig und jung hatten sie nicht die geringste Ahnung gehabt, was ihre Tochter eines Tages würde ertragen müssen. Sie wussten nicht, dass ihr Bild, gezeichnet mit bemerkenswerter Präzision, einmal Balsam für Halyas Seele sein würde, während sie in diesem Krieg ums Überleben kämpfte. Aber wer hätte diesen Horror schon voraussehen können? Solch einen Albtraum?

Halya drehte das Blatt um, ihre rauen Finger umfassten die unregelmäßigen Kanten, während sie schrieb. Sorgfältig listete sie die Namen auf, genau wie Mama es stets in ihrem kleinen Gebetbuch getan hatte. Mama hatte zwei Listen in ihrem Buch gehabt: eine für die Toten und eine für die Lebenden. Halya hatte nur dieses eine Blatt Papier für beides.

Stumm formte sie die Namen mit den Lippen, während sie sie aufschrieb. Sie atmete sie in die Nachtluft, beschwor ihre Erinnerungen herauf und ließ den Trost, den sie ihr spendeten, bis in ihr Herz dringen.

Alina

Katja

Kolja

Slavko

Lilija

Vika

Maksim

Bohdan

Sofia

Nadja

Manche von ihnen waren tot. Andere noch am Leben.

Einige gehörten zu der Familie, die Halya gefunden hatte, andere zu der, die sie verloren hatte.

Wie die Narben auf ihrem Körper würden auch sie für immer ein Teil von ihr sein.

Die Worte ihres Vaters erfüllten die Abendluft, als wäre er bei ihr. Er flüsterte ihr ins Ohr und hatte die Arme fest um sie geschlungen. Fast konnte sie seine Bartstoppeln auf ihrer Wange spüren.

Versprich mir, tapfer zu sein und stets zu kämpfen, egal was auch passiert. Kämpfe, denn das Leben ist das Kämpfen wert.

»Und ich habe gekämpft, Tato«, flüsterte Halya und wischte sich mit dem Handrücken eine Träne von der Wange, bevor sie auf die Namen tropfen konnte. »Und ich werde weiterkämpfen. Ich verspreche es.«

1

Lilija

Juni 1941, Oblast Wolhynien, Sowjetische Ukraine

Lilija erkannte die Leiche ihres Bruders an der gezackten Narbe unter seinem rechten Auge. Sie selbst hatte ihm vor acht Jahren diese Wunde beigebracht. Damals war sie sieben und er zehn gewesen. Sie hatte ihm einen Eimer ins Gesicht geschleudert, als er sich von hinten an sie herangeschlichen hatte, während sie die Hühner fütterte. Ihr Bruder, der ihr gern Streiche spielte, hatte über ihre Reaktion gelacht, obwohl sein Gesicht blutüberströmt war und sie furchtbar geweint hatte.

Jetzt kam es ihr unglaublich albern vor, wegen so etwas in Tränen auszubrechen.

Lilija gab ein ersticktes Schluchzen von sich, sank auf die Knie und zog ihren Bruder zu sich heran. Die Hälfte von Michailos Gesicht war weg, sein Körper aufgequollen. Ein Dorfbewohner aus Lutsk hatte ihnen erzählt, dass der NKWD – die sowjetische Polizei – die erste Gruppe von Insassen in den Hof gezerrt und dann ein Inferno aus Handgranaten und MG-Feuer gegen die Gefangenen entfesselt hatte. Anschließend hatten sie die verbliebenen Männer gezwungen, die Leichen zu begraben, bevor sie sie auch ermordet hatten. Dann waren sie vor den anrückenden Deutschen geflohen. Die letzten Leichen hatte niemand mehr begraben. Sie waren in der Sonne verrottet.

Die Gefangenen. Volksfeinde. Intelligenzija. Nationalisten. Jeder, der Stalin nicht unterstützte.

Lilijas Bruder.

So hart es auch war, in Michailos lebloses blaues Auge zu blicken, das zu ihr hinaufstarrte, so war es doch besser, als nicht zu wissen, was mit ihm geschehen war, denn Unsicherheit bedeutete stets auch Hoffnung, und für Hoffnung war hier kein Platz.

Michailo – ihr großer Bruder und ihr Vorbild, der sie immer unterstützt hatte. In Lilijas Kindheit, als noch die Polen über Wolhynien herrschten, hatte er sich ein bisschen Geld verdient, damit er ihr ein Skizzenbuch kaufen konnte, genau so eines wie das ihrer Mutter. Mama hatte zwar geglaubt, Lilija sei noch zu jung dafür, doch Michailo hatte gesehen, wie Lilijas Blick immer den Schwalben gefolgt war, die in der Scheune nisteten, und dann hatte sie die Bewegungen der Vögel mit den Fingern in den Sand gezeichnet.

»Hier, Lilija«, hatte er gesagt, ihr das Buch gegeben und an ihrem Zopf gezupft. »Wenn du jetzt anfängst, dann bist du bald genauso gut wie Mama. Vielleicht sogar besser.«

Lilija hatte das Buch noch immer. Es war unter ihren Kleidern versteckt, daheim in einer Truhe. Das Buch war voller einfacher, kindlicher Kritzeleien, fast lächerlich im Vergleich zu den Zeichnungen, die sie jetzt anfertigte. Trotzdem glaubte Lilija nicht, dass sie je so eine gute Künstlerin werden würde wie ihre Mutter, die auch ohne akademische Ausbildung mehr über Licht und Schatten wusste als die meisten professionellen Künstler. Sie hatte sich alles selbst beigebracht, während sie Tiere und Familienmitglieder gezeichnet hatte.

»Es ist Zeit, Lilija.« Ihr Vater, das Gesicht ausgemergelt und fahl, berührte sie an der Schulter. »Wir werden sie gemeinsam begraben. Hier. Die Deutschen sind nicht mehr weit entfernt, und bevor sie da sind, will ich wieder bei deiner Mutter sein.«

Lilija trat zurück, und die Männer trugen ihren Bruder zu einem Massengrab. Sie wandte sich nicht ab. Sie würde das bezeugen. Sie würde alles bezeugen, was die Sowjets ihnen in zwei Jahren Besatzungszeit angetan hatten. Zeit und Regen würden die blutgetränkte Erde auf diesem Hof wieder reinigen, doch der rote Fleck auf dem Land, den die sowjetische Invasion hinterlassen hatte, würde nie verschwinden. Zwei Jahre voller Schrecken und Leid hatten eine unauslöschliche Spur in Wolhynien hinterlassen.

Michailos Verlust war nicht der erste, aber der jüngste. Der Schmerz war noch frisch. Lilija schauderte und erinnerte sich an den Dorfbewohner, den die Sowjets letzten Monat gefoltert hatten. Sie hatten ihm die Haut auf der Brust abgezogen und Salz auf das rohe Fleisch gestreut, während sie ihn gezwungen hatten zuzusehen, wie sie seine Frau und Kinder hinrichteten. Dann hatten sie auch ihn getötet und ihn als Dieb und Saboteur gebrandmarkt.

Eine weitere Grausamkeit auf Lilijas langer Liste.

Die Männer legten Michailos Leiche zu den anderen; dann schaufelten sie Erde darauf.

»Lebwohl, Michailo«, flüsterte Lilija. Sie bekreuzigte sich, küsste ihre Finger und drückte sie in die Erde, die ihren Bruder bedeckte. »Flieg mit den Vögeln.«

***

Eine sanfte Brise zog über die Weide, und die Kornblumen wiegten sich im Wind und strichen sanft über Lilijas Arme. Sie schob das Gefühl beiseite, legte ihr Skizzenbuch auf den Schoß und zeichnete einen Schatten auf die Wangen ihres Bruders, der sich nicht so oft rasiert hatte. Sein Gesicht aus der Erinnerung zu zeichnen, so, wie es vor der Verhaftung gewesen war, half ihr, abzupuffern, was sie in dem Gefängnis hatte mitansehen müssen.

Seit sie gestern Nacht nach Hause gekommen waren, hatte Lilijas Mutter kein Wort gesagt. Doch ihre sonst so fröhlichen Augen waren groß und leer, als ihr Vater sie an sich gedrückt und ihr die Nachricht ins Ohr geflüstert hatte. Mama hatte gewollt, dass sie Michailo wieder zurückbrachten, egal ob tot oder lebendig, aber sein Vater hatte beschlossen, dass Michailo bei seinen Brüdern von der OUN ruhen sollte, den anderen Mitgliedern der Organisation Ukrainischer Nationalisten, die die Sowjets gefangen und ermordet hatten.

Stumm saß Mama am Tisch und bot weder Essen noch Trinken an, als Nina, Lilijas älteste und beste Freundin, früh an diesem Morgen mit ihrer Mutter kam, um ihr Beileid zu bekunden. Also musste Lilija Mamas Rolle übernehmen. Sie stellte einen Krug mit Pflaumenmus und einen Laib Brot auf den Tisch, wohlwissend, dass ihre Mutter nie jemanden hungrig oder durstig in der Küche sitzen lassen würde.

»Gib ihr Zeit«, murmelte Nina, als sie Lilija umarmte. »Sie steht noch immer unter Schock.«

Lilija hätte am liebsten geschrien: »Ich auch!« Aber die süße Nina hatte ihren Zorn nicht verdient, die Sowjets jedoch schon. Also hatte sie sich auf die Zunge gebissen, einfach nur genickt und Ninas Umarmung die Kälte lindern lassen, die sie bis in die Knochen spürte, seit sie ihren toten Bruder gesehen hatte.

Lilija schaute zu der Kuh hinauf, die neben ihr graste. Die fernen Explosionen und das Grollen der Panzer störten das Tier nicht, denn inzwischen war das ganz normal geworden. Nachdem die Deutschen die sowjetischen Linien bei Wolodymyr-Wolynsky vor ein paar Tagen durchbrochen hatten, strömten ihre Panzer nach Wolhynien, und Flugzeuge flogen über die Köpfe der Menschen hinweg. Lilija und ihr Vater hatten ihren Heimweg zweimal ändern müssen, um ihnen aus dem Weg zu gehen, und als Lilija vom Dachboden der Scheune aus die lange Reihe bereitstehender sowjetischer Panzer südlich des Dorfes entdeckte, hatte ihr Vater gesagt, sie solle die Kuh beim Obstgarten grasen lassen, statt sie wie sonst auf die weiter entfernte Weide zu bringen.

Lilija hielt kurz inne, als eine Nachtigall vorbeiflatterte und im Dickicht am Waldrand verschwand. Ein paar Minuten später hallte ihr Gesang über die Weide, und Lilija empfand ein bittersüßes Gefühl, so stark, dass sie die Hände auf den Boden drücken musste, um nicht fortgespült zu werden.

»Wegen ihres Namens glauben manche Menschen, dass sie nur nachts singen würden«, hatte ihre Mutter ihr erzählt, als sie Lilija beigebracht hatte, die Vögel zu zeichnen. »Aber diese wunderbaren Vorboten des Frühlings singen Tag und Nacht.«

Mama nannte Lilija immer ihre kleine Soloveiko, denn wie die Nachtigall hatte sie nie aufgehört zu plappern, als sie klein war. Lilija hatte das nie gestört. Sie empfand es als großes Kompliment, mit diesem wunderbaren, kleinen Vogel verglichen zu werden.

Ein tiefes Brummen, ganz anders als die Geräusche der Panzer, riss Lilija aus ihren Gedanken. Sie schaute zurück zum Haus. Ihre Mutter stand auf der Straße, den Blick zum Himmel gerichtet. Zwei deutsche Kampfflieger erschienen hinter ihr am Horizont. Rasend schnell flogen sie tief über die sowjetischen Panzer in der Ferne, feuerten, zogen hoch und wendeten an Lilijas Haus, um einen zweiten Angriff zu fliegen. Lilija sprang auf, und das Skizzenbuch fiel von ihrem Schoß.

»Mama! Deckung!« Panik ergriff Lilija. Ihre nackten Füße flogen über den feuchten Boden, und das nasse Gras klebte an ihren Beinen, während sie zur Straße rannte.

»Runter, Mama!« Lilija wedelte mit den Armen, aber ihre Mutter rührte sich nicht. Wie versteinert starrte sie auf die Flugzeuge – ob nun gefangen in ihrer Trauer oder gelähmt vor Angst, das wusste Lilija nicht. Lilija lief auch noch weiter, als die Flugzeuge auf dem Weg zurück zu den Panzern wieder hinter ihrer Mutter auftauchten, laut und tief und rasend schnell, während Lilija das Gefühl hatte, durch Honig zu waten.

Kurze abgehackte Salven wie das Geräusch eines Löffels, den man auf einen Blecheimer schlägt, hallten über das Dröhnen der Motoren hinweg.

Die Flugzeuge flogen vorbei, und Lilijas Schreie erstickten in ihrem Lärm. Der Schock ließ sie erstarren, als sie ihre Mutter umklammerte. Blut sickerte aus Mamas Körper und durchtränkte Lilijas Bluse. Sie kniff die Augen zusammen, als sie spürte, wie Mama ihren letzten Atemzug tat. Minuten vergingen … oder waren es Stunden? Lilija wusste es nicht mehr. Erst als ihr Freund Oleksy ihre Wangen in seine großen Hände nahm, öffnete sie die Augen wieder.

»Ich bin ja da, Lilija«, brummte er tröstend, während er sie sanft vom Leib ihrer leblosen Mutter wegzog. Obwohl Oleksy nur ein Jahr älter war als Lilija mit ihren fünfzehn Jahren, war er bereits so groß wie ein Ochse. Er hob sie hoch wie ein Baby, drückte sie an die Brust und trug sie zu ihrem Haus. Dann ging er wieder zurück und holte auch ihre Mutter heim.

Zwei Tage lang saß Oleksy bei Lilija, während ihr Vater trauerte. Oleksys Gesicht war das Erste, was sie sah, wenn sie schreiend aufwachte, und das Letzte, bevor sie wieder in einen unruhigen Schlaf voller Blut, Kugeln und entstellter Gesichter versank.

»Ich werde immer für dich da sein, Lilija«, versprach Oleksy ihr wieder und wieder, bis sie ihm schließlich glaubte. Sonst gab es ja auch nichts mehr, woran sie hätte glauben können.

***

»Ich will nicht weg von hier, Tato.« Es war nicht das erste Mal, dass Lilija das in den Wochen nach dem Tod ihrer Mutter zu ihrem Vater sagte, und er antwortete stets das Gleiche.

»Wir können aber nicht hierbleiben.« Er presste die Lippen aufeinander und atmete tief durch. »Maksim und Vika brauchen ein größeres Haus, und wir müssen weg von hier. Das Dorf im Distrikt von Chelm wird eine große Veränderung für uns sein, aber das wird uns guttun. Du bist alles, was ich noch habe, Tochter. Also kommst du mit. Mehr gibt es nicht dazu zu sagen.«

»Wir sind euch wirklich dankbar für eure Großzügigkeit«, sagte Vika von der Tür her. »Wir werden uns gut um euer Heim kümmern. Ihr werdet hier immer einen Platz haben.«

Lilija mochte ihren Onkel Maksim, den jüngeren Bruder ihrer Mutter, und auch Vika, seine Frau, und ihre Kinder. Slavko, der Älteste, war nur wenig jünger als sie, und seine charismatische Persönlichkeit war ein willkommener Gegensatz zu der düsteren Laune, die sie in letzter Zeit hatte. Als er durch ihr finsteres Haus tänzelte, die Arme um Lilija schlang und versuchte, sie hochzuheben, wie Michailo es einst getan hatte, traten ihr die vertrauten Tränen in die Augen. Doch bevor sie ihr über die Wangen kullern konnten, holte Slavko ein Stück Schokolade aus der Tasche. »Hier. Die hab ich für dich aufgehoben.«

Seine ruhigen Worte ließen ihn älter erscheinen, als er tatsächlich war, aber in seinen albernen Mätzchen zeigte sich immer wieder seine jungenhafte Seite, was Lilija zum ersten Mal seit Wochen ein Lächeln aufs Gesicht zauberte. Das hieß jedoch noch lange nicht, dass sie ihren Verwandten ihr Zuhause überlassen wollte.

Lilija wuchtete ihren Koffer hinten auf den Pferdewagen und setzte sich neben ihren Vater auf den Kutschbock. Sie schaute nicht einmal zurück, als das Gefährt die Straße hinunterrollte, doch sie fühlte Oleksys Blick in ihrem Rücken, der neben Maksim stand.

»Dort wird es besser sein«, sagte ihr Vater. »Du wirst sehen. Da werde ich mehr Zeit haben, dir Sprachunterricht zu geben, und das wiederum wird dir auf der Universität sehr hilfreich sein. Ich kann dir ein wenig Deutsch beibringen, und da es in unserem neuen Dorf auch viele Polen gibt, wirst du auch dein Polnisch üben können.«

»Ich will aber kein Deutsch lernen, und ich will auch kein Polnisch üben. Ich ziehe es vor, Ukrainisch zu sprechen, und ich will hierbleiben. Ich will bleiben, wo ich aufgewachsen bin, wo meine Freunde sind und wo meine Mutter und mein Bruder gelebt haben. Wir können vor unseren Gefühlen nicht einfach weglaufen, Tato«, sagte Lilija. »Mama und Michailo werden in Chelm genauso tot sein wie hier.«

Er zuckte unwillkürlich zusammen, und Lilija bekam ein schlechtes Gewissen.

»Tut mir leid, Tato. So hab ich das nicht gemeint.«

Er lächelte traurig und tätschelte ihr Bein. »Wir werden gemeinsam heilen, Lilija. Ich werde mich um dich kümmern, und du wirst dich um mich kümmern – genau wie Mama und Michailo es gewollt hätten. Aber an einem neuen Ort wird uns das leichter fallen. Du wirst schon sehen. Und wenn die Zeit gekommen und der Krieg vorbei ist, dann werde ich mein schlaues Mädchen auf die Universität schicken, so, wie wir es schon immer geplant haben.«

Tato ließ die Zügel schnalzen, und Lilija warf nun doch noch einen letzten Blick auf ihr Zuhause. Mamas geliebte Mohnblumen hatten förmlich über Nacht zu blühen begonnen, zum ersten Mal in diesem Sommer. Ihre leuchtendroten Blütenblätter wirkten wie Blutspritzer vor dem weiß getünchten Haus.

Lilija riss sich von dem Anblick los und legte den Kopf auf Tatos Schulter. Sie betete, dass er recht hatte, denn sie wusste nicht, was sie sonst gegen all den Schmerz und die Wut hätte tun sollen, die sich so tief in ihre Seele gefressen hatten.

2

Halya

August 1941, Oblast Kiew, Sowjetische Ukraine

Halya hatte nicht vorgehabt, ihre Eltern zu belauschen, aber als sie sie drinnen miteinander flüstern hörte, blieb sie an der Tür stehen und drückte sich mit dem Rücken an die Wand. Sie war jetzt fast zehn Jahre alt und wollte mehr darüber wissen, was hier vor sich ging, auch wenn ihre Eltern glaubten, dass sie noch zu jung dafür wäre.

»Die Roten fliehen«, sagte ihr Vater, »aber Stalin hat eine Politik der verbrannten Erde angeordnet. Er will, dass alles zerstört wird – das Korn, das Vieh, die Werkzeuge –, damit die Deutschen es nicht in die Finger bekommen. Und er lässt alle Männer einziehen.«

»Aber doch nicht dich, oder?«, fragte Mama.

»Nicht mit meinem schlimmen Bein, Katja«, antwortete er. »Ich bin vollkommen nutzlos für sie. Ich kann ja noch nicht mal geradeaus marschieren.«

»Du läufst doch gut, Kolja.«

Halya konnte sie nicht sehen, aber sie nahm an, dass Mama ihm gerade die Schultern massierte, so wie sie es immer tat, wenn er über sein Bein jammerte. Er hatte es sich vor ein paar Jahren bei der Arbeit mit dem Pflug gebrochen, und es war nie richtig verheilt. Den Brigadeführer der Kolchose hatte das nicht interessiert. Er hatte Halyas Vater nur beschimpft, »Staatseigentum sabotiert« zu haben, denn der Pflug war ebenfalls kaputtgegangen.

»Wir müssen von heute Nacht an unsere Vorräte verstecken und alles, was wir können«, sagte Tato. »Die Deutschen sind nur noch wenige Kilometer entfernt.«

»Vielleicht sind sie ja gar nicht so schlimm«, bemerkte Mama. »Im Vergleich zu Stalin könnten sie eine willkommene Veränderung sein.«

»Die Hoffnung habe ich nicht«, sagte Tato. »Wahrscheinlich geht es genauso weiter.«

Mehr wollte Halya nicht hören. Sie schlüpfte davon und kletterte auf ihren Lieblingsplatz im Hof, den alten Kirschbaum in dem kleinen Obsthain hinter dem Haus. Zwischen den knöchernen Armen des Baums und mit dem Rascheln des grünen Laubs in den Ohren fühlte sie sich sicher. Sie wollte nicht an die Soldaten der Roten Armee denken und an ihre Pläne der verbrannten Erde oder an die herannahenden deutschen Panzer. Hier oben und mit ihrem Buch mit Gedichten von Lesja Ukrainka – einem besonderen Buch, das ihr Vater ihr besorgt hatte und das sie jede Nacht in einem Loch in der Scheunenwand versteckte – konnte sie sich von der Welt zurückziehen und einfach nur sie selbst sein.

Halya verlor sich in den Worten und ließ sich von der wunderbaren Poesie trösten, bis die Sorge und die Angst von ihr abgefallen waren, die sie übermannt hatten, nachdem sie ihre Eltern belauscht hatte. Dreißig Minuten später fuhr sie zusammen, als ihr Vater ihr an den Fuß tippte.

»Baust du dir da oben ein Nest? Soll ich deine Mutter bitten, dir das Essen raufzuschicken?«

Halya klappte das Buch zu und steckte es in die Tasche. »Du sollst dich nicht so anschleichen!«

Ihr Vater lachte. Es war ein tiefes, hallendes Geräusch, das Halya schon ihr ganzes Leben kannte. »Ich habe einen Höllenlärm gemacht, als ich hier raufgeklettert bin. Wenn du mich nicht gehört hast, dann weil du mit dem Kopf in den Wolken bist.«

»Na ja, ich bin in einem Baum«, sagte Halya. Sie streckte die Arme nach ihm aus. Er hob sie schwungvoll von den Ästen herunter und drückte sie kurz an sich, bevor er sie auf dem Boden absetzte. Er roch nach frischer Luft, Wind, Sonnenschein und Erde. Halya liebte das. Sie schob ihre Hand in seine. »Ich habe in dem Gedichtband gelesen, den du mir besorgt hast, Tato.«

»Aaah … Und welches Gedicht gefällt dir am besten?«

»Entgegen aller Hoffnung hoffe ich«, antwortete Halya, ohne zu zögern. Dieses Gedicht sprach sie mehr an als alles, was sie je gehört hatte.

»Was dauert das denn so lange?« Mamas Kopf erschien in der Tür. »Ich habe dich geschickt, Halya zu holen, nicht um dich mit ihr zu verstecken.«

»Ich habe mich nicht versteckt, Mama.« Halya sprang auf sie zu und küsste sie auf die mit Mehl verschmierte Wange. »Ich hab gelesen.«

»Natürlich.« Mama strich ihr übers Haar. »Und du hast so intensiv gelesen, dass dein Zopf sich gelöst hat, ja?«

Halya verzog das Gesicht. »Tut mir leid. Ich muss an den Ästen hängen geblieben sein.«

»Komm. Ich flechte ihn neu, während Tato sich zum Essen die Hände wäscht.«

Halya setzte sich an den Tisch. Sie wusste, dass ihre Eltern vor ihr nicht über die Invasion sprechen würden. Sie wollten sie beschützen, so gut sie konnten. Normalerweise machte sie das verrückt, doch heute war sie froh, den Krieg ignorieren zu können, der vor ihrer Tür lauerte.

Mama holte eine Bürste und zog sie durch Halyas Haar. Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück, als sie ein angenehmes Kribbeln auf der Kopfhaut spürte. Sie hatte gesehen, wie die Mutter ihrer Freundin mit der Bürste grob durchs Haar gefahren war, aber ihre Mama machte das immer ganz sanft.

»Deine Haare sind so lang geworden. Das erinnert mich an deine Mutter.« Bei dem Wort »Mutter« klang Mamas Stimme plötzlich gepresst, und Halya musste sich zusammenreißen, um nicht herumzuwirbeln und sie mit großen Augen anzustarren.

»W… wirklich?«, flüsterte sie. Mama sprach nur selten von ihrer Schwester, Halyas leiblicher Mutter Alina. Sie war gestorben, als Halya noch ein Baby war, und Katja, die Frau, die Halya jetzt Mama nannte, hatte sie großgezogen, als wäre sie ihr eigenes Kind.

»Ja«, sagte Mama so laut, als müsse sie sich zwingen, fröhlich zu klingen. »Sie hatte so wunderbares, dickes Haar, dunkel und glänzend.«

»Wie deins?«

»Viel hübscher. Wie deins.«

Halya schluckte und zwang die Worte heraus, bevor sie der Mut verließ. »Glaubst du … glaubst du, ich sehe ihr ähnlich?«

Kurz bewegte die Bürste sich nicht mehr. Dann setzte sie ihren Weg nach unten langsam fort. Halya hörte Mama tief durchatmen.

»Oh ja«, antwortete Mama schließlich. »Du siehst genau aus wie deine Mutter.«

Plötzlich füllte sich ein Loch in Halya, von dem sie gar nicht gewusst hatte, dass es da war. Ihre Lippen zitterten, teils aus Erleichterung und teils aus Angst. »Und wie genau?« Endlich stellte sie die Frage, die sie schon immer hatte stellen wollen.

»Also, deine Augen und dein Kinn ähneln denen deiner Mutter sehr. Deine Nase auch. Aber ich glaube, am meisten erinnert mich dein Haar an sie.« Mama legte die Bürste weg. »Wir haben uns immer gegenseitig das Haar gebürstet und geflochten, genau wie ich es bei dir mache.« Ihre Mundwinkel hoben sich, und sie starrte nach draußen, so wie Erwachsene es immer taten, wenn sie nicht wirklich etwas anschauten, sondern nur im Geiste etwas sahen. »Ich war immer eifersüchtig, weil ihr Haar in der Sonne so schön geglänzt hat. Sie hat es geliebt, sich roten Klatschmohn in ihren Haarkranz zu stecken oder in ihre Zöpfe zu flechten.«

Mama seufzte, und Halya hielt den Atem an. Sie wartete auf mehr. Schließlich drehte Mama sich wieder zu ihr um. »Wenn ich die Augen zumache, kann ich mir manchmal fast vorstellen, dass es ihr Haar ist, das ich bürste, und wir wieder junge, glückliche Mädchen sind.«

Mama griff nach unten und drückte Halya fest an sich. »Das Beste von ihr lebt in dir weiter, Halya. Vergiss das nie.«

Halya dachte noch immer über diese Worte nach, als sie später im Hof am Zaun stand und zu den sowjetischen Panzern hinüberblickte, die an ihrem Dorf vorbei in Richtung Osten fuhren. Mit ihrer kantigen Kontur wirkte die Kolonne der Kampffahrzeuge wie eine hässliche Narbe auf den schönen Feldern. Halya wollte weder an sie noch an die Deutschen denken, und so kniete sie sich neben die Mohnblumen, pflückte eine Blüte und steckte sie sich in den Zopf – genau wie ihre Mutter es immer getan hatte.

3

Vika

Dezember 1941, Wolhynien, Reichskommissariat Ukraine

Vika hielt ihrem achtjährigen Sohn die Augen zu, als der SS-Offizier dem Partisanen das Ohr abschnitt.

»Das blüht allen, die gegen Deutschland kämpfen! Und vergesst nicht: Wenn ihr den Partisanen helft, dann werdet ihr ihr Schicksal teilen!« Der ukrainische Hilfspolizist übersetzte die Worte des SS-Offiziers, während der zum nächsten Mann ging, um das Gleiche noch einmal zu tun. Er schnitt allen vier gefangenen Partisanen beide Ohren ab und wandte sich dann ihren Nasen zu.

Das Blut lief den Männern in Strömen über die Gesichter. Der Jüngste konnte nicht älter als siebzehn sein. Er weinte und rief nach seiner Mutter. Als der SS-Offizier fertig war, hätte Vika sich am liebsten übergeben. Sie hatten das ganze Dorf gezwungen zuzusehen, und niemand sagte auch nur ein Wort. Als dann vier Schüsse in rascher Folge über den Dorfplatz hallten und dem Leiden der Partisanen ein Ende machten, murmelte Vika ein Gebet. Dann schnappte sie sich Bohdans Hand und lief weg, vorbei an den niedrigen Zäunen und toten Pflanzen vor den strohgedeckten Häusern und den Feldweg hinunter, der zu ihrem Heim führte. Ihre anderen Kinder, Sofia und Slavko, die mit ihren zehn beziehungsweise zwölf Jahren zu alt waren, um ihnen die Augen zuzuhalten, folgten ihr. Maksim, ihr Mann, war noch zurückgeblieben, um mit ein paar anderen Männern zu reden.

Als sie kurz stehen blieb und den Schnee von dem Kalynabusch wischte, den Blutbeeren, die Lilija und ihre Mutter einst neben dem Tor gepflanzt hatten, wanderten ihre Gedanken zu ihrer Schwägerin. Seit Lilijas letztem Brief waren fast zwei Monate vergangen, und Vika fragte sich, wie sie in Chelm wohl mit den Nazis zurechtkamen.

Vor sechs Monaten hatte Vika abschätzig die Nase gerümpft, als andere Dorfbewohner die Deutschen mit Brot und Salz begrüßt hatten. Natürlich war auch sie froh gewesen, dass die Roten wieder nach Russland verschwunden waren, aber sie traute den neuen Machthabern nicht.

»Sie versprechen uns ein freies Land«, hatte Maksim gesagt.

»Nein, sie wollen uns unser Land nehmen, genau wie alle anderen auch: die Polen, die Russen …«, hatte Vika widersprochen. »Warum sollten wir ihnen vertrauen?«

»So schlimm wird das nicht«, hatte Maksim erwidert. »Du wirst schon sehen.«

Und Vika hatte es gesehen. Sie hatte gesehen, dass sie den richtigen Instinkt gehabt hatte. Den Deutschen waren sowohl die Ukraine als auch ihr Volk vollkommen gleichgültig. Selbst die Nachricht, dass die Amerikaner in den Krieg eingetreten waren, hatte nichts an der Willkür und den Launen der Besatzer geändert. Die heutigen Ereignisse waren das perfekte Beispiel dafür, und das machte es nur umso schwerer für Vika, Maksim das zu erzählen, was sie ihm sagen musste.

***

Als Maksim in jener Nacht zu ihr ins Bett schlüpfte, drehte Vika sich zu ihm um. Er roch nach Horilka. Er hatte Schnaps getrunken. »Wo warst du?«, fragte sie.

»Reden«, murmelte er.

»Ich hoffe, du warst vorsichtig. Du musst an deine Familie denken.«

»Ich denke immer an meine Familie«, erwiderte er. »Und die Leute, mit denen ich heute zusammen war, denken ebenfalls ständig an die Ukrainer und ihre Kinder.« Er drehte sich auf den Rücken und schloss die Augen. »Außerdem, das sagst ausgerechnet du?«

»Was meinst du damit?« Vika setzte sich auf und funkelte ihn an. Dabei konnte sie in der dunklen, mondlosen Nacht kaum die Umrisse seines Gesichts erkennen.

»Als du letzten Monat diesen kleinen Judenjungen mitgebracht hast, hast du da auch nur einmal daran gedacht, was passieren würde, wenn die Deutschen ihn hier finden? Indem du ihm geholfen hast, hast du deine eigenen Kinder in Gefahr gebracht.«

Vika atmete schwer, als sie sich an das kleine, verheulte Gesicht erinnerte. »Ich konnte ihn doch nicht einfach wegschicken.«

»Ich weiß, und dafür liebe ich dich ja. Du bist entschlossen und tapfer.« Maksim zog sie an seine Brust und streichelte ihr Haar. »Verstehst du das denn nicht? Ich will auch helfen, und zwar so gut ich kann.«

Vika starrte aus dem Fenster hinaus in den schwarzen Himmel. Ja, sie hatte einem jüdischen Jungen geholfen, den sie am Straßenrand gefunden hatte. Vermutlich hatte seine Mutter ihn dort versteckt, als sie erkannt hatte, dass sie in den Tod marschierte, doch sie hatten schon so viele in den Tod gehen gesehen. War das der Augenblick gewesen, in dem sie die Sinnlosigkeit ihres Lebens erkannt hatte? Oder war das schon früher passiert, als sie ihre Schwestern, ihre Brüder und ihre Eltern an Stalin verloren hatte?

In jedem Fall hatte Vika an irgendeinem Punkt erkannt, dass sie keine Kontrolle über das Schicksal der Menschen hatte, die sie liebte. Sie waren wie Blumen, die unter dem ständigen Stampfen von Soldatenstiefeln zu wachsen versuchten, und sie konnte nicht eine von ihnen retten. Also hatte sie sich zurückgezogen. Sie hatte zugemacht, war hart geworden, und sie gestattete sich nicht länger, etwas zu empfinden. Aber im Schlaf … Im Schlaf konnte sie ihre Gefühle nicht länger kontrollieren.

Auch heute Nacht würde sie wieder von den Juden träumen. Die langen Kolonnen verängstigter Menschen, die vor ihrem Haus die Straße hinunterzogen. Männer, Frauen und Kinder. Ganze Generation von Familien, die gemeinsam in den Tod marschierten. Die leere Grube neben dem jüdischen Friedhof war nun voller Leichen, und es hatte Wochen gedauert, bis die Erde sich auf ihnen abgesenkt hatte – eine düstere Erinnerung an die Grausamkeiten, die unter ihr verborgen waren.

Maksim hatte noch nie eine Waffe abgefeuert. Er hatte sich nicht den Ukrainern angeschlossen, die als Hilfspolizisten für die Deutschen arbeiteten und ihnen bei den Morden halfen, aber genau wie seine Frau sah er, was geschah, und unternahm nichts dagegen. Das konnte er auch nicht. Das konnten sie alle nicht, es sei denn, sie wollten zu den Juden ins Massengrab. Und was konnte eine einzelne Person auch gegen eine Armee ausrichten?

»Ein Kind nach dem anderen«, hatte Maksim zu Vika gesagt, als sie in jener Nacht in seinen Armen geweint hatte. »Du hast gerade einen entscheidenden Beitrag geleistet.«

Trotzdem fragte Vika sich immer und immer wieder, wie weit Komplizenschaft gehen durfte, wenn es darum ging, die eigene Familie zu retten. Natürlich würde sie alles für ihre Kinder tun, aber galt das nicht für jede Mutter? Wie konnte sie da ihre Kinder retten und dafür die Kinder anderer Mütter opfern?

Maksim stützte sich auf die Ellbogen und schaute auf sie herab. »Was wolltest du mir eigentlich sagen, Vikusia?«

Vika zuckte unwillkürlich zusammen. Dann nahm sie seine Hand und legte sie sich auf den Bauch. »Ich bin schwanger.«

4

Halya

Juni 1942, Bezirk Kiew, Reichskommissariat Ukraine

Halya schnitt eine Grimasse, als Mama ihr zerteilte Knoblauchzehen auf Arme und Nacken rieb. Eine alte Frau hatte Mama erzählt, das würde einen harmlosen Ausschlag hervorrufen, der verhindern würde, dass die Deutschen sie als Zwangsarbeiter verpflichteten, und seitdem hatte Mama diese Prozedur mit geradezu religiösem Eifer immer wieder vollzogen.

Seit der Ankunft der Deutschen letzten Herbst hatte sich so viel verändert. Vorbei waren die Zeiten, da Halya allein über die Felder und durch den Wald wandern konnte. Jetzt war sie auf den Hof beschränkt, und jeder Tag begann mit Knoblauch.

»Halt still! Nur noch ein bisschen. Du solltest dankbar dafür sein, dass wir genügend Knoblauch haben. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit war das unmöglich.«

»Ich weiß, Mama, aber es brennt!« Halya krallte sich in die roten Striemen auf ihrem Unterarm.

»Das soll sich auch nicht gut anfühlen«, erwiderte Mama und kratzte an dem Ausschlag, den sie sich selbst zugefügt hatte, um Halya zu beweisen, dass es funktionierte. »Die Deutschen treiben Leute zusammen, um sie in ihren Fabriken arbeiten zu lassen, und ich verspreche dir, dieser Knoblauchausschlag ist viel, viel besser, als von ihnen verschleppt zu werden. Außerdem bist du doch ein großes Mädchen. Du bist jetzt fast elf. Du bist doch tapfer.«

»Ja, Mama.«

Der penetrante, pfeffrige Geruch kitzelte Halya in der Nase, und sie nieste, kaum dass Mama sie losließ. Bis jetzt hatte Halyas Haut nicht so auf die Knoblauchbehandlung reagiert, wie Mama es sich gewünscht hätte, doch das lag nicht an einem Mangel an Versuchen.

»Bleib in der Nähe des Hauses. Kein Herumwandern«, mahnte Mama, als Halya sich ihren Mantel schnappte. »Sie haben schon Tausende Leute aus dem Bezirk weggebracht und Hunderttausende aus der gesamten Ukraine. Und das wird nur noch schlimmer werden!«

Halya hörte diese Warnung nicht zum ersten Mal. Sie nickte und floh nach draußen zu ihrem Kirschbaum. Zum Glück stand der nahe am Haus und damit innerhalb der von Mama definierten Grenzen. Halya zog sich in das vertraute Astwerk hinauf und holte das Bild aus ihrer Tasche.

Aufmerksam betrachtete sie es und suchte nach etwas von sich in der Frau, die ihr entgegenblickte. Ihre Mutter. Nicht Katja, die sie Mama nannte, sondern ihre echte Mutter. Die Frau, die sie unter dem Herzen getragen, sie geboren und die sie verlassen hatte.

Alina.

Halya flüsterte den Namen und ließ ihn sich auf der Zunge zergehen. Sie schmeckte die Sehnsucht, die Trauer und all die verpassten Gelegenheiten wie den bitteren Kalynatee, den sie immer trinken musste, wenn sie krank war.

Der Name meiner echten Mutter war Alina.

Letzten Monat hatte Halya auch ihren Vater auf einem alten Bild gesehen. Erst hatte sie sich ein Foto von Alina und Katja angeschaut, wie sie Arm in Arm und lächelnd vor einem Sonnenblumenfeld standen, aber sie hatte nur einen kurzen Blick darauf werfen können, bevor Mama es ihr aus der Hand gerissen und es sich an die Brust gedrückt hatte. Tränen hatten an ihren Wimpern gezittert, als sie aus dem Haus marschiert war.

»Es ist noch immer schwer für sie«, hatte ihr Vater Mama entschuldigt und ein anderes Bild hervorgeholt. Darauf waren er und Alina zu sehen. Beide trugen sie Kleidung im westlichen Stil – Halyas Mutter einen schönen weißen Hut und einen dunkelblauen Mantel und ihr Vater einen Anzug, Krawatte und einen schwarzen Mantel. Sie hatten die Köpfe einander zugeneigt und lächelten. Er hielt das Foto neben Halya wie einen Talisman. Er bot ihr ein Stück ihrer Geschichte an, von der sie gar nicht gewusst hatte, dass sie es vermisste.

»Mein Gott, ich wusste ja, dass du ihr ähnlich bist, aber dich jetzt neben dem Bild zu sehen … Das ist geradezu unheimlich«, sagte er. Dann traten ihm die Tränen in die Augen, und das machte Halya Angst. Ihr Vater war groß und mutig, ein starker Mann, der den ganzen Tag hart arbeitete. Wenn er heimkam und sie begrüßte, warf er sie hoch in die Luft, bis sie vor Freude quiekte. Er weinte nie, und er war auch nie traurig.

»Tut mir leid, Tato.« Instinktiv schlug Halya die Hände vors Gesicht in dem Versuch, ihm den Schmerz zu ersparen, den ihr Anblick ihm bereitete, und doch steckten ihr verzweifelte, unausgesprochene Fragen in der Kehle.

Wie? Was genau?

Ihr Vater zog ihre Hände wieder herunter und fasste sie sanft am Kinn. »Das muss dir nicht leidtun, Liebes. Niemals. Deine Mutter war eine wunderschöne und wunderbare Frau. Es ist ein Geschenk, dass du ihr so ähnlich siehst.«

Halya hielt das ganz und gar nicht für ein großes Geschenk, denn von diesem Tag an wurde ihr Vater immer still, wenn er sie ansah.

Sie strich mit dem Finger über das Bild ihrer Mutter. Sie liebte Katja, ihre Mama, sehr, aber sie konnte auch nicht leugnen, dass sie fasziniert von ihrer Mutter war, Alina. Hohe Wangenknochen, perfekt geformte Augenbrauen, große Augen und immer ein Lächeln auf den Lippen. Ja, ihre Mutter war wunderschön gewesen, aber wenn Halya in Mamas kleinen Handspiegel sah, erblickte sie nur ein dürres Mädchen mit viel zu großen blauen Augen in einem hageren Gesicht, die Wangen eingefallen und die Lippen trocken und zerkaut. Sie war sicher, dass ihr Vater sich irrte.

Trotzdem schob Halya wie jeden Morgen das Foto wieder in die Tasche ihres Rocks und hoffte, dass die Schönheit ihrer Mutter eines Tages auch sie durchdringen würde … so wie der Knoblauchsaft ihre zerschundene Haut.

5

Lilija

Dezember 1942, Wolhynien, Reichskommissariat Ukraine

Vereiste Äste schlugen Lilija ins Gesicht, aber sie hatte keine Tränen mehr für den Schmerz. Taub und ungeschickt schlurften ihre nackten Füße über die gefrorene Erde, als sie den Wald verließ und auf die unbefestigte Straße trat. Mit jedem Atemzug stach die kalte Luft in ihre Lungen, und die letzten Worte ihres Vaters hallten immer und immer wieder durch ihren Kopf.

»Geh nach Hause!«

Lilija hatte sofort gewusst, was er damit gemeint hatte, obwohl ihr jetziges Heim in Flammen stand.

Heim war Maky, das kleine wolhynische Dorf südlich von Kowel. Das Dorf, wo sie aufgewachsen war. Das Dorf, wo sie ihre Liebe zur Natur und zu den Vögeln entdeckt hatte. Das Dorf, wo sie ihre Mutter an einem heißen Sommertag vor fast anderthalb Jahren begraben hatte.

Jeden Morgen, wenn Lilija Frühstück für sie beide gemacht hatte, hatte ihr Vater sie das Gleiche gefragt. Dabei liebte er es, die Sprachen zu mischen – Ukrainisch, Polnisch, Deutsch, Russisch –, damit seine Tochter nicht »einrostete«, wie er sagte.

»Und? Bist du in deinen Träumen mit den Vögeln geflogen?«

Vor dieser Nacht hatte Lilija immer gedacht, ihr Vater wolle sie mit diesen Worten ermutigen, sich hohe Ziele zu setzen, von mehr zu träumen als nur von einem Leben in einem kleinen Dorf, und darauf hatten er und ihre Mutter auch immer hingearbeitet. So hatten sie Lilija vor dem Tod ihrer Mutter mit dem Bus in die Stadt und zur Schule geschickt, sie zum Lernen ermutigt und sie von der Universität träumen lassen. Doch jetzt, nachdem Lilija Dutzende von Kilometern durch die Dunkelheit gestapft war, und das in ihrem Nachthemd, bekamen diese Worte eine weit tiefere Bedeutung – eine Bedeutung, die sie nie auch nur erahnt hatte. Ja, sie war mit den Vögeln geflogen. Durch die Felder und Wälder und sogar über den zugefrorenen Fluss, und dabei war sie auf wundersame Weise weder auf Partisanen gestoßen noch auf Wehrmachtssoldaten oder Polizisten, die ihre Papiere verlangt hatten.

Und jetzt war sie angekommen.

Lilija klammerte sich an den Zaun und starrte auf das Haus. Ihr Haus. Auf das Haus, in dem sie aufgewachsen war. Die weiß getünchten Wände schimmerten rosa im Licht der aufgehenden Sonne, und die Nebengebäude schmiegten sich so eng ans Haupthaus, als wollten sie sich gegenseitig wärmen. Der totenstille Garten, der normalerweise von Blumen und Gemüse nur so überquoll, lag im Winterschlaf. Obwohl Lilija ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte, sah er noch genauso aus wie eh und je.

Sie öffnete das Tor und machte einen unbeholfenen Schritt nach vorn. Nach den vielen Stunden Marsch hielten ihre Beinmuskeln sie kaum noch aufrecht.

Die Tür öffnete sich, und Lilija erstarrte. Ein großer, breitschultriger Mann trat heraus auf den Weg und blieb stehen, als er sie sah.

»Wer sind Sie? Wo sind Maksim und Vika?« Ihre nach all den Schreien raue Stimme zu benutzen verursachte Lilija Halsschmerzen, und unbewusst wanderte ihre Hand in ihren Nacken. Eigentlich hätten Angst oder zumindest der gesunde Menschenverstand die Oberhand gewinnen sollen, doch stattdessen machte sie einen weiteren Schritt nach vorn und starrte zu dem Mann hinauf. Vielleicht hatte sie so etwas wie gesunden Menschenverstand ja nie besessen. Vielleicht war all ihre Angst ja verflogen, als sie hatte zuschauen müssen, wie ihr Vater ermordet worden war. Oder – und das kam ihr im Moment am wahrscheinlichsten vor – vielleicht kümmerte es sie ja schlicht nicht mehr, ob sie lebte oder starb, nachdem sie ihre ganze Familie verloren hatte.

Und just diesen Augenblick suchte sich ihr verräterischer Körper aus, um endgültig zu versagen, und sie sank zu Boden.

***

Eine starke Hand hielt Lilija im Nacken und zog sie hoch.

»Trink das«, befahl eine Stimme, und jemand hielt Lilija eine Flasche an den Mund.

Der Geruch von Horilka ließ sie im selben Moment die Augen öffnen, als ein Schluck der feurigen Flüssigkeit in ihren Mund strömte. Sie würgte ihn herunter, hustete und ließ den Kopf wieder aufs Bett fallen.

»Das wird dich wärmen. Du bist ja halb tot vor Kälte«, sagte die Stimme.

Erleichterung erfüllte Lilija, als sie Vika neben sich erkannte. »Ich … Ich dachte schon, ihr wärt tot«, keuchte Lilija.

»Natürlich nicht. Wir sind immer noch genau da, wo ihr uns zurückgelassen habt. So … Kümmern wir uns erst einmal um diese schlimmen Stellen.«

Vika zog einen Stuhl neben das Bett und goss Alkohol über die offenen Wunden an Lilijas Füßen. Sie schluckte ein Stöhnen herunter und wünschte, die Taubheit in ihren Gliedmaßen würde wieder zurückkehren. Sie musste sich irgendwie ablenken, und so drehte sie sich zu dem Tisch um, wo Maksim und der Fremde saßen und sie anstarrten.

»Onkel Maksim, schön, dich zu sehen.«

»Die Freude ist ganz meinerseits. Aber was ist passiert, Nichte?«, fragte Maksim. »Wo ist dein Vater?«

Lilijas Blick zuckte zu dem Fremden. Sie wusste nicht, was sie unter dem durchdringenden Blick des Mannes antworten sollte. In jedem Fall schien Maksim ihm zu vertrauen, sonst hätte er sie das vor ihm nicht gefragt. Doch andererseits hatte auch ihr Vater den falschen Leuten vertraut.

Lilija zuckte unwillkürlich zusammen, als Vika eine besonders üble Wunde an der linken Fußsohle abtupfte. »Tot«, sagte sie schließlich. »Der polnische Untergrund hat ihn ermordet und unser Haus niedergebrannt.«

Maksim richtete sich im Stuhl auf. »Warum?«

»Warum glaubst du wohl? Er war ein orthodoxer Priester. Eine treibende Kraft für die ukrainische Kultur in unserem Dorf. Auf der anderen Seite des Flusses versuchen sie, alle wie ihn loszuwerden.«

»So wie einige Ukrainer hier versuchen, die Polen zu vertreiben!« Die Worte stammten aus dem Mund des Fremden. Erregt sprang er auf und zerknüllte den Hut in der Faust. Seine Stimme war tief und melodisch, aber er sprach auch ein wenig gestelzt, als wäre Ukrainisch nicht seine Muttersprache. Er schaute zu Maksim. Seine Wangen waren rot. »Ich sollte jetzt besser gehen.«

Maksims Blick zuckte zu dem Mann, als hätte er ganz vergessen, dass er da war. »Das ist nicht nötig, Filip.«

Nicht Pylyp? Nicht Ukrainisch? Filip? Polnisch?

Der Mann hob die Hand. »Wir reden später.«

Als die Tür mit einem Knall ins Schloss fiel, richtete Lilija sich auf. »Wer ist das? Warum hast du einen Polen hier?«

Maksim beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Filip arbeitet mit mir im Gestüt, und seit seine Mutter letzten Monat von ukrainischen Nationalisten getötet worden ist, schläft er bei uns in der Scheune.«

Lilija knirschte mit den Zähnen. »Offenbar wird in unserem Haus jetzt alles mögliche Gesindel aufgenommen.«

»Ich werde nie jemanden abweisen, der Hilfe braucht«, erklärte Maksim. »Egal wen. Dein Vater hätte das auch nicht getan.«

»Mein Vater ist tot«, erwiderte Lilija. Sie ließ sich wieder auf das Kissen sinken und schloss die Augen. Die Erschöpfung hatte sie nun endgültig übermannt.

***

Vika hielt Lilija einen dicken Schal hin. »Geh raus, und schau nach den Tieren. Tu was. Du kannst hier nicht ewig herumsitzen.«

Lilija funkelte Vika an. »Ich will aber nicht.«

Vika wedelte mit dem Umschlagtuch. »Geh schon. Die frische Luft wird dir guttun.«

Lilija seufzte, stand aber von dem Stuhl auf, auf dem sie nun drei Tage lang gehockt hatte, und nahm das Tuch. Es war besser, Vika nachzugeben, als mit ihr zu streiten.

Lilija schlang sich das Tuch um die Schultern und ging zur Scheune. Dann schaute sie im Stall vorbei und kraulte dem Pferd den Hals. Das Tier reckte das Maul in die Luft, damit Lilija leichter drankam.

»Fühlst du dich besser?«

Lilija wirbelte herum, und das Pferd erschrak. Filip stand in der Tür, in der Hand einen Apfel, und beobachtete sie. Lilija runzelte die Stirn. Sie wollte nicht mit ihm reden. Vielleicht lag das ja daran, dass er sie an ihrem Tiefpunkt gesehen hatte, wie sie verzweifelt und mit blutigen Füßen auf den Hof gehumpelt war. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er der erste Pole war, mit dem sie gesprochen hatte, seit sie hatte zusehen müssen, wie andere Polen ihren Vater erschlagen und ihr Haus angesteckt hatten.

Aber vielleicht war es auch einfach nur die Tatsache, dass er Pole war.

»Nein«, fauchte sie. »Überhaupt nicht. Was machst du hier?«

Filip trat in die Scheune und schloss das Tor hinter sich. Er sprach ruhig und langsam, als rede er mit einem feurigen, jungen Pferd. Das machte Lilija nur umso wütender.

»Maksim lässt mich hier schlafen.«

»Weil du sonst nirgends hinkannst?« Lilija hätte die harten Worte eigentlich schon bereuen sollen, bevor sie ihr über die Lippen kamen – das war einfach nur mies, selbst für sie –, aber sie konnte nicht anders.

»Da haben wir wohl was gemeinsam, nicht wahr?«, schoss Filip zurück. Seine ruhige Fassade bekam erste Risse. Er räusperte sich, als hätte sein eigener Ausbruch ihn überrascht, und ging zu dem Pferd. »Er mag dich.«

»Natürlich mag er mich. Ich habe ihn mit großgezogen.«

Für wen hielt dieser Mann sich eigentlich? Wusste er nicht, dass das hier mal ihr Hof gewesen war? Ihr Pferd? Ihr Leben?

Filip lief rot an, als er die Hand mit dem Apfel ausstreckte. Das Pferd nahm ihn mit geschickten Lippen, kaute und schluckte ihn fast am Stück herunter.

»Tut mir leid, wie ich an dem Abend auf dich reagiert habe. Wegen meiner Mutter bin ich noch immer sehr emotional«, sagte er und schaute Lilija in die Augen. »Und das mit deinem Vater tut mir auch leid.«

Lilija bekam einen Kloß im Hals. Auch sie hatte das alles noch nicht einmal ansatzweise verarbeitet. Mit einem Husten schluckte sie ihre Gefühle herunter und war überrascht, als sich in ihren Augen Tränen sammelten. Bis jetzt hatte sie sich nicht erlaubt, um ihren Vater zu weinen, und jetzt, vor diesem Mann, würde sie mit Sicherheit nicht damit anfangen.

Filip fischte ein Taschentuch aus seiner Tasche und hielt es ihr hin, doch Lilija schüttelte den Kopf und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht.

Sie hätte im Gegenzug auch ihm ihr Mitleid bekunden sollen – sie war so gut erzogen, dass sie das wusste –, aber ihre Wunden waren noch viel zu frisch, als dass sie über den Tellerrand ihres eigenen Schmerzes hätte blicken können. Außerdem wollte sie keine Verbindung zu diesem Mann aufbauen und ihre Trauer mit ihm teilen. Ihre Verluste machten sie zu Feinden, nicht zu Verbündeten. Warum also sollte sie mehr in ihm sehen? Das wäre sinnlos.

»Es geht mir gut.«

Filip nahm die Hand wieder herunter. »Da bin sicher. Du scheinst sehr zäh zu sein.«

Lilija verzog das Gesicht. »Das muss man auch. Wie soll man hier sonst überleben?«

Filip schien etwas erwidern zu wollen, schwieg jedoch. Lilija wartete. Sein Mund bewegte sich, während er an seinen Gedanken kaute. Er spie sie nicht aus, wie Lilija es so oft tat, und wider Willen empfand sie einen Hauch von Bewunderung für ihn.

»Aber ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich Pole bin«, sagte er. »Ich bin stolz darauf, wer ich bin.«

Wut kochte in Lilija hoch, und sie wirbelte zu ihm herum, die Bewunderung war verflogen. »Und ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich Ukrainerin bin!«

»Das habe ich auch nie von dir verlangt, oder? Das ist der Unterschied zwischen uns beiden. Du unterscheidest nicht zwischen mir und den Mördern deines Vaters, aber ich bin nicht wie diese Leute.«

»Das habe ich auch nie gesagt!«

»Das musst du auch nicht. Nachdem ich meine Mutter verloren hatte, war ich genauso. Ich war auf alle Ukrainer wütend, und das nur wegen einer kleinen Gruppe. Maksim hat mir da durchgeholfen. Er hat mir beigebracht, die Grautöne zu sehen.«

»Ich bin aber nicht wie du.« Lilija stopfte die Hände in die Taschen, um ihr plötzliches Zittern zu verbergen. Filips Worte trafen genau ins Ziel, doch das würde sie nie zugeben. »Und deinen Rat brauche ich auch nicht.«

Filip nickte knapp. »Gut. Dann sollte ich dich jetzt wohl gehen lassen«, sagte er schließlich auf Polnisch. Das war instinktiv gewesen, und er verzog das Gesicht wegen dieses Ausrutschers. Rasch wiederholte er das Ganze noch einmal auf Ukrainisch, doch Lilija hob die Hand.

»Ich verstehe dich und deine Sprache gut genug«, sagte sie steif und ebenfalls auf Polnisch. Dann huschte sie aus der Scheune.

6

Vika

Februar 1943, Wolhynien, Reichskommissariat Ukraine

Vika empfand es als entspannend, den Brotteig zu kneten. Der Rhythmus, das vertraute Gefühl. Das Versprechen auf Nahrung in den Bäuchen ihrer Kinder. Es half ihr beim Nachdenken. Es half ihr zu vergessen.

Drücken. Falten. Drücken. Falten. Weich und formbar kam der Teig in ihren Händen zusammen. Er war das genaue Gegenteil der rauen Hände, die ihn bearbeiteten. Vika streute ein wenig Mehl auf den Tisch und machte weiter.

Drücken. Falten. Drücken. Falten. Vergessen.

Vergessen, dass sie und Maksim jetzt für seine siebzehnjährige Nichte verantwortlich waren, Lilija, die in diesem blutigen Krieg ihre Eltern und ihren Bruder verloren hatte. Vergessen, dass die Nazis Menschen, ja, sogar Kinder zwangen, in ihren Fabriken oder der Landwirtschaft in Deutschland zu arbeiten. Vergessen, dass ihre Familie mit dieser steten Gefahr lebte; dabei hatte sie erst vor wenigen Monaten ein neues Leben in diese Welt gebracht.

»Mama! Sie holen die Leute einfach von der Straße!«

Vika drehte sich zu Sofia um, ihrer elfjährigen Tochter mit dem goldenen Haar, die hereinstürmte. Ihre großen braunen Augen waren voller Tränen, und Vika zog es das Herz zusammen. »Wovon redest du da? Wer holt die Leute von der Straße?«

»Sie haben eine Gruppe von jungen Leuten zusammengetrieben und wollen sie nach Deutschland schicken.« Slavko folgte Sofia und schloss die Tür hinter sich. Mit seinen dreizehn Jahren wusste er weit mehr über die Gefahren dieser Welt, als er sollte, und dieses Wissen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Trotzdem zwang er sich zu einem Lächeln für seine Mutter, das seine Augen jedoch nicht erreichte.

Nervös, weil ausgerechnet sie die schlechten Neuigkeiten überbrachte, trat Sofia von einem dünnen Beinchen auf das andere. »Sie haben gesagt, wenn die Dorfvorsteher die Arbeiter nicht ausliefern, dann würden sie sich eben nehmen, was sie brauchen.«

Die Bedeutung der Wortwahl entging Vika nicht.

Was sie brauchten, nicht wen.

Nicht Menschen mit Familien, die sie liebten.

Nur »Ostarbeiter«, wie sie sie nannten. Sklaven.

»Stimmt das, Mama? Können sie uns einfach mitnehmen?«, fragte Sofia.

Vikas Hände nahmen die Arbeit wieder auf.

Drücken. Falten. Vergessen. Drücken. Falten. Vergessen.

Rhythmus. Regelmäßigkeit. Kontrolle. Diese Dinge existierten sonst in ihrem Leben nicht, aber hier beim Teigkneten und in ihrem Heim waren sie eine Konstante. Vika antwortete nicht, sondern fragte: »Wen wollen sie denn mitnehmen?«

»Alle! Sogar jüngere Kinder wie mich und Slavko.« Sorge legte sich wie eine Wolke auf Sofias normalerweise sonnige Miene, und ihr Blick huschte zu Slavko. »Glaubst du wirklich, dass sie auch so junge Leute mitnehmen werden?«

Sofia krallte sich in Vikas Rock, während sie darauf wartete, dass sie ihr versprach, alles werde wieder gut, doch Vika schwieg. Natürlich wollte sie ihre Kinder beruhigen. Sie wollte die perfekten Worte finden, damit sie sich besser fühlten, aber sie konnte es nicht. Die Wahrheit war, dass nichts, was die Nazis taten, sie noch schockieren konnte. Sie hatte gesehen, wie sie die jüdische Bevölkerung zu einem Graben getrieben hatten, und sie hatte die Schüsse gehört, die dem Leiden der Juden ein Ende bereitet hatten. Sie hatte das verkohlte Fleisch gerochen und den beißenden Rauch des Dorfes, das sie als Vergeltung für einen Partisanenangriff niedergebrannt hatten. Sie war gezwungen worden zuzusehen, wie man ihre Nachbarn für solch lächerliche Vergehen ausgepeitscht hatte, zum Beispiel, weil sie zu viel Gemüse in ihrem Garten oder eine Milchkuh im Wald versteckt hatten.

In den letzten anderthalb Jahren war mehr als deutlich geworden, dass die Deutschen, die die Dörfler anfangs mit Brot und Salz als Befreier von dem brutalen Regime der Sowjets begrüßt hatten, keinen Deut besser waren als die Roten. Vielleicht waren sie sogar noch schlimmer.

»Nein, natürlich nicht«, antwortete Maksim für Vika, als er durch die Tür kam. Auch sein attraktives Gesicht war von Sorge gezeichnet, und wie bei seinem Sohn erreichte sein Lächeln die Augen nicht.

Vika atmete langsam aus. Er lügt.

Sofia lief zu ihm und schlang die Arme um ihn. »Solange wir zusammenstehen, wird alles wieder gut«, sagte Maksim. Er hob Bohdan hoch und drückte ihn sich an die Brust. Dann setzte er ihn wieder ab und wandte sich dem Baby zu. Die kleine Nadja war ein ruhiges Kind. Sie war in einer heißen Sommernacht geboren worden, und die Wehen waren weit schwächer gewesen als bei Vikas anderen Kindern. Maksim hatte sie nach der Tugend der Hoffnung nennen wollen, Nadeshda, und Vika war damit einverstanden gewesen, obwohl sie noch nie so wenig Hoffnung gehabt hatte.

Doch trotz alledem vergötterte die Familie ihre kleine »Nadja«, wie sie sie liebevoll nannten, und tatsächlich brachte der kleine Sonnenschein Freude ins Haus. Allerdings war diese Freude nichts im Vergleich zu Vikas Angst, die sie jedes Mal empfand, wenn Slavko und Sofia sich um die Tiere in der Scheune kümmerten oder wenn Bohdan Gemüse aus dem Garten holte. Jedes Mal, wenn die Kinder draußen waren und außer Sicht, machte Vika sich Sorgen.

Maksim drückte Nadja an sich. Dann fiel sein Blick auf Vika. Vika zwang ihr Gesicht in eine gleichgültige Maske. Zusammenzubleiben hatte ihre Familie nicht gerettet, als Stalins Männer ihre älteren Brüder in den Gulag, ins Straf- und Arbeitslager, geschickt hatten, während ihre Eltern und Schwestern verhungert waren. Tatsächlich hatte sie nur überlebt, weil sie sie verlassen hatte. Ihre Eltern hatten darauf bestanden, dass sie den größten Teil ihrer Familie im Stich lassen sollte. So hatte sie nur ihre jüngste Schwester mitgenommen, Maria, war Maksim gefolgt und so dem Hunger nach Wolhynien entkommen, bevor die Grenze geschlossen worden war. Sie und Maria hatten also überlebt, als der ganze Rest ihrer Familie im Holodomor, der von Stalin verursachten Hungersnot, umgekommen war. Aus diesem Grund litt sie jede Minute an jedem Tag unter Schuldgefühlen.

Vika starrte aus dem Fenster. »Vielleicht hätten wir schon längst von hier weggehen sollen.«

»Es wäre sinnlos zu fliehen.« Maksim trat hinter seine Frau und küsste sie auf die Wange. »Der Krieg tobt überall, und Stalin mag sich ja gerade zurückziehen, aber das auch nur, weil Hitler vorrückt. Und Stalin wird wieder zurückkommen. Er kommt immer wieder zurück. Jetzt ist erst einmal wichtig, dass wir zusammen sind. Gemeinsam können wir es mit den Deutschen und Sowjets aufnehmen. Dieses Land wird wieder blühen, und wir werden unsere Kinder hier großziehen können.«

Vika schluckte das leere Versprechen und wickelte es in die Angst, die ständig in ihrem Bauch rumorte. Sie musste ihm einfach glauben. Also zwang sie sich dazu. Denn wenn sie nicht daran glauben würde, hätte sie schon vor langer Zeit kapituliert.

»Wo ist Lilija?«

Lilija hätte eigentlich zu Hause sein sollen, um Vika bei der Arbeit zu helfen und so nahe bei ihr zu bleiben, dass sie sie im Auge behalten konnte, aber stattdessen versank Lilija in ihrer Trauer und schwebte durch die Gegend wie ein Geist.

Lilija tat so, als wäre sie der einzige Mensch auf dieser Welt, der je jemanden verloren hatte.

»Sie ist draußen und zeichnet ihre Vögel«, sagte Sofia.

Slavko stieß sie mit dem Ellbogen an. »Das solltest du doch nicht verraten!«

»Ich kann doch nicht lügen«, protestierte Sofia und riss entsetzt die Augen auf.

Vika nickte knapp und formte den Teig geschickt zu einem schönen Laib, den sie dann in den Ofen schob. Deportationen hin oder her, angesichts der Rationierungen durch die Deutschen durfte sie kein Essen verschwenden. Sie wischte sich die Hände an einem Tuch ab und schaute zu ihren Kindern. Unsicherheit ließ ihre Gesichter hoffnungsvoll und ängstlich zugleich wirken, und Vika wusste, dass sie sie genauso trösten sollte, wie Maksim es getan hatte. Aber die ständige Sorge hatte sie zu einer leeren Hülle verkommen lassen, und ihr Leugnen war das Einzige, was sie noch zusammenhielt. Wenn sie die Arme für die Kinder öffnete und sie ihre fragile Schutzmauer durchbrechen ließ, dann würde sie unter dem Druck zu Staub zerfallen.

»Slavko, nimm die Kinder, und schau nach den Hühnern.« Maksim berührte Vika so sanft am Arm, als wäre sie eine zarte Blume, und Vika fragte sich, ob sie ihre Schwäche wirklich so gut vor ihm verbarg, wie sie glaubte. Aber statt sich an ihn zu lehnen, wie sie es gern getan hätte, straffte sie die Schultern und schüttelte seine Hand ab.

Slavko scheuchte seine Geschwister nach draußen, und Maksim legte Nadja wieder ins Bett. »Ich habe Filip geschickt, um Lilija zu suchen«, sagte er. »Ich habe gehört, dass sie jetzt überall auf dem Land die Menschen zusammentreiben. Wir müssen aufpassen. Alle.«

»Filip ist nicht gerade ihr Lieblingsmensch«, bemerkte Vika.