Denkzettel. Wenn dein Albtraum wahr wird - Daniëlle Bakhuis - E-Book

Denkzettel. Wenn dein Albtraum wahr wird E-Book

Danielle Bakhuis

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Beschreibung

Das neue Schuljahr beginnt für Jade mit einem Schock. Vier Jahre ist es her! Damals war Zoë ein graues Mäuschen und Jade konnte einfach nicht anders, als sie zu ärgern und zu schikanieren, jeden Tag. Bis Zoë eines Tages verschwand. Doch jetzt ist sie wieder da und das Blatt wendet sich. Plötzlich bekommt Jade diese Briefe. Briefe, die sagen: Jetzt bist du an der Reihe!

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EPUB
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Seitenzahl: 309

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Daniëlle Bakhuis

Denkzettel

Wenn dein Albtraum wahr wird

Aus dem Niederländischen von Sonja Fiedler-Tresp

Die Übersetzung dieses Buches wurde gefördert von der Stiftung für die Produktion und Übersetzung niederländischer Literatur: Nederlands Letterenfonds.

1. Auflage 2015 © für die deutsche Ausgabe 2015 Arena Verlag GmbH, Würzburg Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Wat als … bei Uitgeverij Ploegsma, Amsterdam, Niederlande © Wat als, Daniëlle Bakhuis, 2013 Uitgeverij Ploegsma Amsterdam Alle Rechte vorbehalten Aus dem Niederländischen von Sonja Fiedler-Tresp Covergestaltung: Zeichenpool, München ISBN 978-3-401-80468-2

www.arena-verlag.deMitreden unter forum.arena-verlag.de

What doesn’t kill you makes you stronger.

1

Ich hasse erste Schultage. Ich weiß, das sagt jeder, aber ich hasse sie wirklich. Wenn ich die Wahl hätte, mir eine Wunde am Knie nähen zu lassen oder an diesem ersten Tag in die Schule zu gehen, würde ich mich für das Knie entscheiden. Ohne Witz. Ist mir übrigens tatsächlich schon passiert. In der achten Klasse bin ich auf einer Brücke so mit dem Fahrrad hingeflogen, dass ich zum Arzt musste. Eine schöne Naht, Trostschokolade von meiner Mutter und den ganzen Tag mit ausgestrecktem Bein und Teleshopping zu Hause. Ein perfekter Tag.

»Jade Verschuur! Aufwachen! Ich rufe dich zum letzten Mal!«

Vielleicht ist es mit dem ersten Schultag wie mit den ersten Metern in der Achterbahn. Zuerst ist dir richtig schlecht vor Angst, aber wenn du das Schlimmste hinter dir hast und weißt, dass es ohnehin keinen Weg zurück mehr gibt, geht der Rest der Fahrt wie von selbst.

Ich drehe mein Kissen mit der kühlen Seite nach oben und kuschele mich ein letztes Mal hinein. Es kommt mir vor, als hätte ich nur drei Stunden geschlafen. Oder von mir aus auch vier. Ich kann nicht glauben, dass die Sommerferien schon wieder vorbei sind und ich in einer guten Stunde in meinem muffigen Klassenzimmer herumhocke. Wenn ich heute noch freihätte, würde ich mit meiner besten Freundin Finn Davis an den Strand fahren. Oder shoppen gehen. Ich würde Blaubeermuffins mit Walnüssen backen. Einen eigenen Beauty- oder Bücherblog starten. Oder fünf Kilometer joggen.

Ich lege mich auf den Rücken und starre an die Decke. Wie gut ich mir etwas vormachen kann. Denn niemand weiß besser als ich, dass ich an einem freien Tag erst einmal so lange schlafen würde, bis nicht mehr Frühstücks-, sondern Mittagszeit wäre. Und mir dann einen Käse-Salami-Toast aus der Pfanne reinziehen, meine neue Sucht. Danach würde ich mir in Jogginghose irgendwelche Filmschnulzen ansehen und immer wieder wie ferngesteuert auf Facebook nachsehen, ob Wout neue Nachrichten von Mädchen gekriegt hat, die ich nicht kenne.

Wout. Beim Gedanken an ihn durchfährt mich ein Schmerz. Wenn mein Körper ein Gradmesser für meine Trauer wäre, müsste sie ihren Tiefpunkt inzwischen überschritten haben. Denn noch vor ein paar Wochen bin ich jeden Morgen mit einem Gefühl in der Brust aufgewacht, als würde sich mein Herz verkrampfen. Aber die Traurigkeit hat nicht nachgelassen. Sie hat sich lediglich einen anderen Ort gesucht, an dem sie mehr Raum hat.

Ich richte mich auf und ziehe die Klamotten an, die ich gestern über den Schreibtischstuhl gehängt habe: meine neue dunkle Skinny-Jeans (sie sitzt so eng, dass ich froh bin, heute nur vier Stunden zu haben) und ein weißes Vintage-T-Shirt, das ich letzte Woche auf dem Flohmarkt ergattert habe.

I have class steht in verwaschenen Buchstaben darauf. Welch eine Ironie.

Aus dem Schuhhaufen neben meinem Schreibtisch fische ich meine weißen Chucks. Ich hatte schon so lange keine High Heels mehr an, dass ich darauf wie ein frisch geborenes Kalb durch die Schule staksen würde. Nicht gerade so, wie ich in meinem letzten Jahr am Amstel Lyceum rüberkommen möchte.

»Ja-de!«

»Ja-ha!«

Unten sitzen schon alle am Küchentisch. Er ist neuerdings so hübsch gedeckt, dass man meinen könnte, es handelte sich um ein Sonntagsfrühstück: Das Toastbrot liegt nicht einfach in der Packung auf dem Tisch, sondern ist ordentlich in einem geflochtenen Korb mit rot-weiß karierter Serviette angerichtet. Daneben prangt die Butterdose mit dem getöpferten Deckel.

Als ich die Küche betrete, hebt meine Schwester Sofie zur Begrüßung die Augenbrauen. Mein Vater brummt hinter seiner Zeitung »Guten Morgen«. Ich murmele etwas Unverständliches zur Antwort.

»Hättest du dich nicht wenigstens kämmen können?«

Das sagt meine Mutter, die einsame Kämpferin für Dinge wie Butterdosen oder dieses geschleckte Frühstück an einem ganz normalen Tag.

»Dir auch einen guten Morgen, Mama.«

»Oder ist das der neueste Trend? Milch?«

Ohne meine Antwort abzuwarten, schenkt sie meine Tasse randvoll.

Ich verdrehe die Augen. »Der ultimative Trend, Mama.«

»Was ich eigentlich sagen will«, fährt meine Mutter fort, »ist, dass deine Haare viel zu schön sind, um sie … na ja, einfach so runterhängen zu lassen.«

Ich betrachte den glatten, symmetrischen Schnitt meiner Mutter. Kein einziges Haar steht ab. Schnitt ist das richtige Wort für die Kurzhaarfrisur, die sie seit ein paar Monaten trägt. Sie kämmt sich die Haare nicht mehr, sie stylt sie. Mit einem echten Friseurkamm und einer Dose Haarspray, die mehr gekostet hat als alle meine Haarpflegeprodukte zusammen.

»Das hast du aber nicht gesagt, Mama, dass sie schöne Haare hat«, sagt Sofie ironisch. »Du hast nur angemerkt, dass sich Jade die Haare kämmen soll. Weil sie aussehen wie ein Vogelnest. Oder? Das wolltest du doch eigentlich sagen.«

Ich schneide eine Grimasse in Sofies Richtung. Sie hat sich die Haare schon gewaschen, geföhnt und zu einem hohen Zopf zusammengebunden. Dass sie dazu den Nerv hat, wenn sie gerade aus dem Bett gekommen ist, werde ich nie kapieren.

»Danke, Schwesterherz.«

Zur Antwort schrammt Sofie mit den Vorderzähnen über ihr Knäckebrot mit Nutella und grinst mich an. Hätte sie den Mund voll, würde sie mir bestimmt den Inhalt präsentieren.

Ich popele einen Zwieback aus der Dose – Dose, nicht Packung – und schmiere so vorsichtig wie möglich Butter darauf. Die Kunst, einen Zwieback richtig zu bestreichen, besteht darin, ihn ganz locker in der linken Hand zu halten und mit dem Daumen leicht gegen den Rand zu drücken.

»Und, freust du dich ein bisschen auf heute?«, fragt meine Mutter.

Der Zwieback bricht in der Mitte durch und meine Handfläche ist voll Butter. »Fuck!«

»He!« Meine Mutter verschluckt sich beinahe an ihrem Tee. »Muss das sein? Ich dachte, wir hätten letzte Woche vereinbart, solche Wörter nicht mehr in den Mund zu nehmen!«

»Ähm, nicht ganz, Mama«, sagt Sofie. »Du hast das vereinbart. Wir wurden gezwungen zuzustimmen. Und wenn ich ehrlich bin, ist diese Vereinbarung der größte Scheiß.«

Ich sehe, wie mein Vater tiefer hinter seiner Zeitung verschwindet, um sein Lachen zu verbergen.

»Jetzt fang du auch noch an«, sagt meine Mutter. »Ich dachte, wir hätten uns vorgenommen, an einem Strang zu ziehen. Und was ist daraus geworden?«

Ich brauche gar nicht laut auszusprechen, was Sofie und ich jetzt beide denken. Er fand dieses Vorhaben genauso scheiße wie wir, Mama.

»Dann eben nicht.« Meine Mutter wirft ihre Serviette auf den Tisch und schiebt den Stuhl zurück. »Ganz offensichtlich bin ich die Einzige, der unser Familienleben am Herzen liegt.«

Ich unterdrücke ein Seufzen. Bei dieser Mutter sind mir noch nie Zweifel gekommen, ob ich adoptiert bin. Das Drama-Gen habe ich eindeutig von ihr geerbt.

Mein Vater faltet bedächtig die Zeitung zusammen und legt sie mit Nachdruck auf seinen Frühstücksteller. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich mich da raushalte.«

»Glaube ich auch, ja.«

»Papa, Mama! Nicht streiten«, sagt Sofie in kindlichem Ton.

Ich streue Schokostreusel auf den größeren Teil meines zerbrochenen Zwiebacks und beiße ab. »Tut mir leid, Mama«, sage ich mit vollem Mund. »Ich werde dieses … dieses Wort nicht mehr aussprechen.«

Meine Mutter lächelt mich erschöpft an. Sofort überkommt mich Mitleid. Wenn hier jemand einen echt beschissenen Sommer gehabt hat, dann war es meine Mutter. Davor stand sie im Morgenmantel und ungekämmten Haaren gähnend am Küchentresen und schmierte für uns Brote. Butterdose? Gestylte Frisur? Süße, wir sind doch nicht Familie Protz. Das war ihr Lieblingsspruch, wenn wir über irgendetwas fantasiert haben – Urlaub in der Karibik, eine Sauna im Gartenhaus, ein iPad. Aber seit mein Vater im Frühsommer gestanden hat, dass er eine kurze Affäre hatte – so seine Worte –, ist alles anders. Meine Mutter hat sich in dem krampfhaften Versuch, die Familie zusammenzuhalten, in eine Helikopterglucke verwandelt, die uns auf Teufel komm raus Normen und Werte vermitteln will. Auf einmal müssen wir anständig sprechen und ordentlich aussehen, weil sie hofft, dass wir uns dann auch entsprechend benehmen. In diesen Sommerferien hat sie mehr an mir herumerzogen als in meinem ganzen bisherigen Leben. Tu dies, lass das, sitz gerade. Als ob der Seitensprung meines Vaters dadurch rückgängig gemacht werden könnte.

Als mein Vater am Küchentisch beichtete, dass er sich in eine Frau aus dem Büro verliebt hat, habe ich mich richtig fremdgeschämt. Es war das pure Klischee. Er versicherte uns, dass »körperlich nichts gewesen« sei, eine Erklärung, die ich immer noch total widerlich finde. Was er sagen wollte, ist, dass er nicht mit ihr im Bett war. Es gibt Dinge, die man von seinen Eltern nicht wissen will, und diese Beichte gehört definitiv dazu. Ich sehe meinen Vater noch da sitzen, mit diesen großen dunklen Flecken unter den Achseln. Auf einmal wusste ich, wie er als unsicherer Zwölfjähriger ausgesehen haben muss. In diesem Augenblick hat er auch genauso geredet. Nichts an ihm erinnerte mehr an den Vater, der immer recht hat und weiß, was er tut.

Mit reichlich einleitendem Räuspern eröffnete er uns dann, dass er für drei Wochen ins Hotel ziehen würde, um nachzudenken. Unser Italienurlaub war gestrichen. Meine Mutter saß im Bademantel daneben und heulte. Da ist mir die Sicherung durchgebrannt. Weder meine Mutter noch Sofie sagten ein Wort, doch ich brüllte ihn an, dass er verschwinden soll. Mit zwei Plastiktüten voller Klamotten – auf die Schnelle fand er seine Reisetasche nicht und meine Mutter weigerte sich, ihm suchen zu helfen – zog er noch am selben Tag ins Hotel. Manchmal wünschte ich, dass er dort geblieben wäre, dann würden meine Mutter, Sofie und ich noch immer mit dem Teller auf dem Schoß zu Abend essen und uns eine komplette Staffel X Factor reinziehen, die britische Version. Mein Vater kommt mir vor wie ein Eindringling. Seit er wieder da ist, ist alles anders. Vor allem meine Mutter.

Ich lasse das letzte Stück Zwieback auf den Teller fallen. Mir ist der Appetit vergangen.

»Hmmm«, sagt Sofie mit vollem Mund. »Wär das schön, heute freizuhaben.«

»Frei?«, fragt mein Vater erstaunt. »Ich dachte, du wolltest heute mit dem Streichen anfangen. Oder glaubst du etwa, das mach ich heute Abend?«

Sofie hebt die Brauen. »Jetzt, wo ich dein Gesicht sehe, eigentlich nicht mehr. Keine Sorge, Papa. Ich habe sogar schon eine Schleifmaschine organisiert.«

Ich finde es ziemlich blöd, dass Sofie auszieht. Natürlich verstehe ich, dass sie von hier wegwill, aber mir graut es davor, meinen Part in der Tragikomödie Alles in Ordnung bei Familie Verschuur ohne Verbündete weiterspielen zu müssen. Und die Aussicht auf die doppelte Portion Erziehung, die ich vermutlich verpasst kriege, macht es auch nicht gerade besser.

»Kommst du heute Abend auch vorbei?« Sofie sieht mich an. »Du hast dir meine Hütte noch gar nie angesehen.«

»Wie auch«, sage ich. »Da passen bestimmt keine zwei Leute gleichzeitig rein!«

Eigentlich sagen wir Wörter wie »Hütte« gar nicht. Hört sich irgendwie komisch an aus dem Mund von Mädchen, die die fiesen Hochhaus-Vororte von Amsterdam nur aus dem Fernsehen kennen. Aber gerade, weil es so uncool ist, ist es irgendwie schon wieder cool.

»Sehr witzig.« Sofie lehnt sich zurück. »Machst du in einer Stunde auch noch Witze, wenn du im Matheunterricht schwitzt?«

»Du meinst in meinem Klassenzimmer, das drei Mal so groß ist wie deine Hütte?«

»Mädels, lasst es gut sein.« Mein Vater sieht mich streng an. »Musst du dich nicht beeilen? Du bist schon wieder viel zu spät dran.«

Noch bevor er ausgeredet hat, setze ich zum Konter an. »Und hättest du nicht längst gehen müssen? Seit wann frühstückst du denn mit uns?«

»Jade!« Die Stimme meiner Mutter klingt schrill.

»Was denn?« Ich nehme mir vor, bis zehn zu zählen, aber schon bei drei habe ich meine guten Vorsätze vergessen. »Stimmt doch! Oder versucht er auf einmal, die Zeit nachzuholen, die er im Sommer verpasst hat? Dass du ihn auch noch verteidigst!«

Ich setze die Tasse an die Lippen und trinke so schnell, dass mir die Milch das Kinn runterläuft. Während ich meinen Stuhl zurückschiebe, knalle ich die Tasse auf den Tisch. »Ich gehe mich kämmen.«

Oben stecke ich wahllos ein paar Bücher, mein Notizbuch und ein paar leere Hefte in die Tasche. Ich hab noch keinen einzigen ersten Schultag erlebt, an dem es richtig losgegangen wäre. Heute wird das auch nicht anders sein.

Ein Blick in den Spiegel zeigt mir, dass ich noch immer ziemlich wütend aussehe. Wout fand mich mit bösem Gesicht immer supersexy, aber ich finde, dass ich aussehe wie ein kleines Kind, das seinen Willen nicht kriegt.

Routiniert ziehe ich einen dunkelgrauen Lidstrich und tusche mir die Wimpern flüchtig mit schwarzer Mascara. Mit einer Bürste, die mir Finn geschenkt hat (sie schwört darauf, dass sie ihr die glänzenden Haare verdankt), nehme ich mir meine Haare vor. Sie sind von der Sonne ein kleines bisschen blonder geworden, aber längst nicht so hell wie letztes Jahr. Das liegt daran, dass du diesen Sommer praktisch jeden Tag zu Hause gehockt hast, sagt eine Stimme in meinem Kopf. Auch die Sommersprossen auf Nase und Wange sind nicht ganz so zahlreich wie in den Sommern davor. Die fand Wout auch supersexy, obwohl er andauernd Witze darüber machte. Er meinte, ich würde wohl heimlich mit einem Sieb auf dem Gesicht in der Sonne liegen. Lieber, lustiger, schöner Wout. Ewoud eigentlich, aber so nennt ihn nur seine Mutter. Ewoud van Ravensteijn. Was für ein gestelzter Angebername – er passt so gar nicht zu ihm. Als hätten ihn seine Eltern schon bei der Geburt zum Notar verdammen wollen.

Ich versuche die leeren Stellen rund um den Spiegel zu ignorieren. Die wenigen Fotos, die jetzt noch dahinterklemmen, machen einen traurigen Eindruck, und ihre teilweise vergilbten Ränder verraten, dass ich um die zehn Fotos weggerissen habe. Fotos von Wout und mir.

Er war meine erste und einzige Liebe. Ist. War. Ich weiß es nicht mehr so genau. Seit knapp anderthalb Monaten ist Schluss, aber mir kommt es noch immer absolut unwirklich vor. Als ob wir nur eine Pause machen würden und ich einfach nur den richtigen Knopf zu drücken bräuchte, um wieder mit ihm zusammen zu sein. Ich will nicht an ihn denken, denn bestimmt hat er in den letzten sieben Wochen keinen Gedanken an mich verschwendet. Aber ich vermisse ihn so sehr, dass es körperlich wehtut.

Dieser Sommer war die reinste Aneinanderreihung von Katastrophen. Erst mein Vater, dann Wout. »Pass bloß auf«, hat Finn halb im Ernst, halb im Spaß gesagt, kurz nachdem Wout Schluss gemacht hat. »Das war Nummer zwei. Ein Unglück kommt immer im Dreierpack.« Ich mag meine beste Freundin wirklich sehr, auch wenn sie immer ehrlich sagt, was sie denkt.

»Ich bin dann weg!«

Ich hole mein Fahrrad aus dem Schuppen und stöpsele mir die Ohrhörer von meinem iPod ein. Die Wiedergabeliste enthält ausschließlich Liebeskummermusik: Adèle, Rihanna, Taylor (I knew you were trouble when you walked in), aber auch Whitney und – ja, lacht ruhig – Mariah und Celine. Ausschließlich weibliche Popstars, die wissen, wie sich Einsamkeit anfühlt. Ich drehe die Musik laut auf. Es beruhigt mich, dass ich nicht die Einzige mit einem Jojo im Herzen bin. In einem Moment will ich Wout anrufen und anflehen, zu mir zurückzukommen, und im nächsten wünsche ich ihm einen chronischen Juckreiz an Stellen, die nie die Sonne sehen.

Als ich in die Mauritskade einbiege, kriege ich mit einem Schlag die Flatter. Durch die dicht belaubten Bäume zu beiden Seiten des Radwegs kann ich die Schule zwar noch nicht erkennen, doch in Gedanken sehe ich das Amstel Lyceum genau vor mir, so, wie es schon seit hundert Jahren da steht. Von außen wirkt es gar nicht wie eine Schule, zumindest keine, wie man sie heute bauen würde, doch das gelbe, durch Wind und Wetter verrostete und verwitterte Schild über dem Eingang verrät, dass hier immer noch Unterricht stattfindet. Hoogere Burgerschool steht dort, Höhere Bürgerschule. Und zwar mit Doppel-o, wie früher vor der Rechtschreibreform. Ich bin nicht die Einzige, die bei Grammatik- und Rechtschreibtests in Niederländisch absichtlich alles mit Doppel-o schreibt, nur um eine Diskussion mit dem Lehrer anzuzetteln.

Das Beste am Amstel Lyceum ist, dass es mitten in der Innenstadt von Amsterdam liegt. In fünf Minuten ist man am Zoo, und wenn man die Schule durch den Hinterausgang verlässt, steht man direkt im Oosterpark. Touristen machen meist den Fehler, in den Vondelpark zu gehen, dabei ist der Oosterpark mit seinen gusseisernen Bänken und zahllosen Trauerweiden viel romantischer.

»Hey Girl!«

Meine beste Freundin wartet am Fahrradständer auf mich und winkt mir zu. Sie trägt eine riesige Sonnenbrille auf der Nase und ein knallrotes, bauchfreies Shirt. Wie gewohnt wirkt sie völlig gechillt und als ob sie alles im Griff hätte, eine Haltung, die sie wie eine zweite Haut trägt, ohne dass sie auch nur eine Sekunde lang arrogant rüberkommt.

Finn hat von ihrem elften bis fünfzehnten Lebensjahr in Miami gewohnt, wodurch ihr immer noch manchmal ein »ya know« oder »imma like, yeah« rausrutscht. Obwohl ihre Eltern und sie schon seit zwei Jahren wieder in den Niederlanden sind, muss Finn ab und zu noch gedanklich umschalten. Und wenn wir einen amerikanischen Film im Original anschauen wollen, haben wir jedes Mal die gleiche Diskussion: Für Finn gehen Untertitel einfach gar nicht (»Die Übersetzung ist das Letzte!«), aber ohne kapiere ich wiederum kein Wort.

»Hey Girl!« Ich spreche das r extrabreit und amerikanisch aus und winke ihr übertrieben zu. Das ist meine Art, cool zu tun, mit einem Hauch Ironie. Ich zeige auf ihren blanken Bauch. »Zu heiß gewaschen?«

Finn schiebt sich die Sonnenbrille ins Haar und pfeift durch die Zähne. »Ist das jetzt dein Ernst? Ein fashion comment ausgerechnet von einer, die ein ›lustiges‹ Shirt trägt?« Sie malt mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft.

Ich umarme sie lachend.

»Hast du auch so viel Lust wie ich?« Finn schürzt die Lippen. »Wenn wir diesen Tag überstanden haben, lade ich dich in die Coffee Company ein, zu was immer du willst. Mit extraviel Sahne. Deal?«

Während wir die Schule betreten, hake ich mich bei ihr unter. »Falls wir diesen Tag überstehen.«

»Drama Queen«, sagt Finn lachend. »Du tust ja gerade, als ob …«

Den Rest höre ich nicht mehr. Ich habe das Gefühl, als müsste ich mich gleich übergeben.

Es ist vier Jahre her, dass ich sie zum letzten Mal gesehen habe, und jetzt steht sie da, als wäre sie nie weg gewesen. Ganz unbekümmert. Lachend. Sie scheint sich wohlzufühlen, als ob sie schon immer hierher gehört hätte. Mein Gehirn registriert nach und nach ihre nackten braunen Beine, ihren schlichten schwarzen Rock, die langen dunklen Haare, die ihr weit über die Schulter reichen. Sie ist beneidenswert unwiderstehlich hübsch. Nichts an ihr erinnert an das Mädchen von damals. Und trotzdem bin ich mir hundertpro sicher, dass sie es ist.

Meine Beine sind auf einmal wie Pudding und mein Mund fühlt sich trocken an. Erinnerungen stürzen auf mich ein, drängen sich in den Vordergrund. Hässliches Weibsstück! Nobody! Ich kann dich einfach nicht ertragen!

Panisch packe ich Finns Arm.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht reibt sie sich die Stelle. »Jade! Lass das! Was ist denn plötzlich mit dir los?«

Das Mädchen am anderen Ende des Ganges dreht den Kopf und sieht mich direkt an. Es dauert eine halbe, vielleicht eine ganze Sekunde, aber dann erkennt sie mich auch. Während sie ihre Bücher von einem Arm zum anderen wechselt, hält sie den Kopf leicht schräg und lächelt kurz, doch weder Augen noch Mundwinkel lachen mit.

Finn schüttelt mich am Arm. »Jade, was ist denn los?«

»Ich …« Ich lasse den angefangenen Satz unbeendet in der Luft hängen. Mehr als ein zusammenhangloses Gepiepe brächte ich ohnehin nicht heraus.

In der Hoffnung, wieder wach zu werden, schließe ich die Augen. Aber es hat keinen Sinn, die Vergangenheit zu leugnen, wenn sie direkt vor einem steht.

Unglück kommt immer im Dreierpack, höre ich Finn im Kopf sagen. Unglück kommt immer im Dreierpack.

Dann öffne ich die Augen wieder.

Zoë.

2

Die ersten beiden Stunden gehen komplett an mir vorbei. Die Französischlehrerin muss mich zweimal aufrufen, bevor ich endlich mitkriege, dass ich dran bin. Ich soll erzählen, dass ich de très bonnes vacances verbracht habe. In Erdkunde läuft es auch nicht viel besser. Erst in der Mitte der Stunde komme ich dahinter, dass ich in meinem Buch ein völlig falsches Kapitel aufgeschlagen habe. Ich mache mir nicht einmal die Mühe, zur richtigen Seite zu blättern.

Zoë.

Zoooooooooooeeeeee.

Wie eine Fliege summt mir ihr Name durch den Kopf.

Die ganze Zeit behalte ich panisch die Klassenzimmertür im Auge, voller Angst, sie könnte auf einmal hereinspazieren. Was tut sie hier? Warum ist sie plötzlich wieder da? In den letzten vier Jahren habe ich kaum an sie gedacht. Ich könnte nicht einmal sagen, wann ich sie zum letzten Mal gesehen habe. Es muss in der siebten Klasse gewesen sein, gegen Ende des Schuljahrs. In der allerletzten Woche, als wir unseren Sporttag hatten, war sie jedenfalls nicht mehr da. Krank. Wie immer. Wenn es um Sport ging, war Zoë andauernd krank. Als sie dann nach den Sommerferien nicht mehr auftauchte, wusste keiner, wo sie abgeblieben war. Die Schule gewechselt, meinten die einen. In eine andere Stadt gezogen, die anderen. Ich war einfach nur froh, dass sie weg war. Warum nur ist sie jetzt nach all den Jahren wieder zurück? Warum in Gottes Namen ist Zoë Kramer wieder da?

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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