Depressed - Franziska Stolz - E-Book

Depressed E-Book

Franziska Stolz

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Beschreibung

In dem kleinen Örtchen Derbersdorf geht es bisher ruhig und gelassen zu. Doch nach dem Suizid der alleinlebenden Vanessa häufen sich die seltsamen Ereignisse. Vor allem das Leben der meist lebensfrohen Anna, Vanessas Nachbarin, ist seitdem völlig auf den Kopf gestellt. Immer mehr droht Anna in den Sog der Depression hineingezogen zu werden. Ihr Verstand beginnt ihr Streiche zu spielen und sie auf sadistische Weise zu quälen. Bildet sie sich alles nur ein oder treibt jemand ein übles Spiel mit ihr?

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Seitenzahl: 362

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Nachwort

»EVERYONE YOU MEET IS FIGHTING

A BATTLE YOU KNOW

NOTHING ABOUT.

BE KIND.

ALWAYS. «

-ROBIN WILLIAMS

-1-

Freitag, 15. März 2019

Liebes Tagebuch,

heute war ausnahmsweise mal ein guter Tag. Ich habe die Nacht fast durchgeschlafen, was ja bekannterweise bei mir eher selten vorkommt. Meinen Tag startete ich also ausgeschlafen und, für meine pessimistischen Verhältnisse, recht gut gelaunt. Ich kam leicht aus dem Bett und musste mich nicht mit leeren Versprechen motivieren. Die Fahrt zur Arbeit war entspannt und ich wurde mal nicht aufgrund meiner vorsichtigen Fahrweise angepöbelt. Im Büro wurde ich von allen freundlich begrüßt und niemand zog es in Erwägung mich auf mein lustlos ausgewähltes Outfit anzusprechen.

Ich hatte zu keiner Zeit des Tages das Verlangen danach, zum Messer zu greifen und mich selbst zu verletzen.

Alles in allem war es mal ein guter Tag.

Freitag, 22.März 2019

Liebes Tagebuch,

es geht mir schlecht. Aber das ist ja eigentlich nichts Neues. Ich konnte nicht schlafen, lag den größten Teil der Nacht wach und versuchte mich zu beruhigen, damit ich endlich schlafen Konnte. Lange dachte ich darüber nach, wie einsam ich bin, wie sinnlos doch alles ist und was ich hier überhaupt noch zu suchen habe. Meine sogenannten »Freunde« verlassen mich nach und nach, meine Familie gibt es seit langem nicht mehr und auf der Arbeit läuft es auch eher mäßig. Ich lebe, um zu arbeiten, damit ich die Miete bezahlen kann. Aber ansonsten gibt es nichts, wofür ich wirklich lebe, was mich tagtäglich motiviert, um weiterzumachen. Es gibt kein Zielin meinem Leben, welches ich in ferner Zukunft einmal erreichen könnte, denn alle Träume, die ich hatte, sind entweder geplatzt oder ich habe sie vor langem aufgegeben.

Mein Traum eine Familie zu gründen? Aufgegeben, nachdem ich von zahlreichen Männern verlassen, verletzt und erniedrigt wurde, weshalb ich nun der Meinung bin, dass es niemanden gibt, der mich für immer lieben könnte.

Mein Traum Karriere zu machen und CEO in einer mittelständigen Firma zu werden?

Pah! Ich bin so 'ne Bürostuhlakrobatin in einer winzigen Firma der

Lebensmittelindustrie, die Kekse herstellt. In einer siffigen, heruntergekommenen und asozialen Kleinstadt, namens Kingsbach. Ich denke, bis ich mal irgendwo aufsteige, dauert es Jahre! Zudem ist die Arbeit bei »Cookies & Crumbs«

nicht grade erfüllend...Was anderes als tippen und telefonieren ist meistens nicht drin. Dumme Kommentare von Kollegen, keine Wertschätzung durch meinen Chef und ein Gehalt, von dem ich gerade so meine Miete bezahlen kann. Für meine, nebenbei, sehr kleine und heruntergekommene Wohnung am Arsch der Welt in diesem kleinen, mickrigen Dorf...

Aber zurück zum Thema.

Ich wüsste nicht, welchen Sinn es hätte, überhaupt weiterzumachen. Tagtäglich komme ich Heim mit dieser ständigen Wut und gleichzeitigen Leere im Inneren, von der ich nicht weiß, wie ich sie auf konstruktive Art und Weise loswerden kann. Aber wenn es nicht auf eine intelligente und fördernde Weise geht, dann eben anders. Das Einzige was hilft, die Wut und Leere zumindest für eine kurze, aber angenehme Zeit zu lindern, ist der Griff zum Messer. Wie oft nehme ich es in die Hand, betrachte meinen Unterarm, der mittlerweile so aussieht, wie das Gesicht von Freddy Krüger, und führe das Messer langsam zur Haut. Oft überlege ich noch, ob diese Verstümmelung meiner selbst denn wirklich nötig ist, doch bis ich den Gedanken zu Ende geführt habe, spüre ich bereits das warme Blut meinen Arm hinunterlaufen und fühle den befreienden und beruhigenden Schmerz, nach welchem ich mich oft den ganzen Tag lang sehne. Manchmal frage ich mich, was passieren würde, wenn jemand sieht, was ich tue. Aber dann denke ich wieder, dass es sowieso niemand mitbekommt. Ich trage meistens lange Ärmel, lasse mir nichts anmerken und ich habe ohnehin niemanden, der mir nahesteht. Umso einfacher für mich, mir nichts anmerken zu lassen.

Was mache ich eigentlich noch hier?

Vielleicht sollte ich das Ganze langsam beenden. Es interessiert sowieso niemanden und ob ich nun lebe oder tot bin, hat eh keine Auswirkungen auf mein Umfeld.

Gute Nacht

Vielleicht für immer...

-2-

Samstag, 23.März 2019, 2:56 Uhr

Anna öffnete die Augen. Sie wurde von den blauen Lichtern geweckt, die ihr Zimmer immer wieder erhellten. Sie legte die Decke bei Seite, stand auf und ging zum Fenster. Ihre Füße berührten den eiskalten Laminatboden, bis sie den kuscheligen, warmen Teppich erreichte, den sie letzten Winter mit ihrem Freund, mittlerweile Ex-Freund, kaufte. Schrecklicher Kerl.

Sie zog die Gardine weg, um besser sehen zu können, was sich dort draußen auf der anderen Straßenseite abspielte. Die Laterne gegenüber flackerte noch immer. Seit zwei Monaten wartet sie nun darauf, dass sie endlich repariert wird.

Noch immer im Halbschlaf, beobachtete sie den Krankenwagen, der in der Einfahrt des Wohnhauses der Nachbarn stand. Doch das Blaulicht kam nicht vom Krankenwagen, sondern von dem Polizeiauto, das an der Straße stand. Zwei Polizisten standen daneben und unterhielten sich. Der eine, ziemlich groß und mit Brille, zeigte seinem Kollegen seine Aufzeichnungen. Vermutlich aus irgendeiner Befragung. Obwohl Anna geistig noch nicht ganz da war, was natürlich an ihrer Müdigkeit lag, erkannte sie den anderen Polizisten wieder.

Vor ein paar Wochen hatte sie mit ihrem alten Ford einen kleinen Unfall, als sie nachts, im dichten Nebel, eines der Rehe anfuhr, das grade die Straße überquerte. In und um Derbersdorf herum, so hieß dieses kleine, idyllische Örtchen, in dem sie lebte, war es nicht unüblich nachts ein paar Rehen, Wildschweinen oder gar einer

entlaufenden Kuh zu begegnen. Oft traf man diese auch tagsüber. So ist das nun mal auf dem Land.

Eigentlich wusste Anna, dass hier immer viele Rehe oder generell viel Wild unterwegs ist, weshalb sie meist vorsichtig fährt, aber diesmal war das Glück nicht mit ihr gewesen und leider erwischte sie das letzte Reh der achtköpfigen Gruppe, die Ortsausgang hinter der Bushaltestelle des Dorfes wieder im Gebtisch verschwanden.

Das Reh lief ihr gegen das, erst vor kurzem gekaufte, Auto und es ertönte ein dumpfer Knall, der Anna durchfuhr.

Sie stieg damals schockiert aus ihrem Wagen, betrachtete das am Boden liegende Reh, welches am ganzen Körper zitterte und sie förmlich anstarrte. Ähnlich wie auch sie zitternd vor dem Reh stand und es ansah. Sie hatte gehofft, das Reh wenigstens direkt getötet zu haben, um ihm jegliche Qualen zu ersparen, weil es ohnehin nur selten passierte, dass ein Reh einen solchen Unfall überhaupt überlebte.

Hinter dem Fahrersitz holte sie das Warndreieck heraus, das sie bisher noch nie benötigte. Sie öffnete die Verpackung, zumindest versuchte sie es mit zittrigen und vor allem kalten Händen. Das Warndreieck war zusammengeklappt und sie musste erst herausfinden, wie man es richtig aufstellte. Hier biegen, da ziehen und da einrasten. Nach einer, für sie, gefühlten Ewigkeit, hatte sie es geschafft und stellte das Warndreieck weiter vorne an die Straße. Sie ging zurück zum Auto. Mit zitternden Händen suchte sie ihr Smartphone in ihrer, wie immer unaufgeräumten Karre, zwischen etlichen McDonalds Verpackungen und haufenweise

Pfandflaschen. Eigentlich wollte sie ihr Auto mal wieder reinigen und den ganzen Müll entsorgen, aber sie fand bisher keine Zeit. Schnell tippte sie die Notruf Nummer in das zerkratzte Display ihres Smartphones ein und wartete auf die Stimme am anderen Ende. Hektisch erklärte sie die Situation, ließ sich die weitere Vorgehensweise erklären und legte, ein wenig beruhigt, aber immer noch gestresst und aufgewühlt, auf. Sie kontaktierte den derzeitigen Jagdpächter, der sich später um das Reh kümmern sollte. Normalerweise würde das die Polizei erledigen, aber da Anna den Jagdpächter persönlich Kannte, tat sie das selbst.

Kurze Zeit später trafen Polizei und Jagdpächter ein und betrachteten das Auto, sowie das Reh, das noch immer zitternd vor dem Auto lag.

Dabei sprach Anna auch mit besagtem Polizisten, der in dieser klaren Nacht gegenüber ihrem Hause bei ihrer Nachbarin stand. Es fiel ihr damals noch nicht auf, aber der Polizist sah gar nicht so schlecht aus. Er war groß, relativ gut gebaut, was seine Muskeln anging, hatte dunkle, kurze Haare und ein unfassbar schönes Lächeln, welches sie noch immer in Erinnerung hatte, wie sie grade feststellte. Bei der Befragung nach ihrem Wildunfall, welchen das Reh übrigens nicht überlebte, was Anna bis heute leidtut, lächelte der Polizist sie immer wieder an.

»Verdammt, wie hieß der denn nochmal?«, fragte sich Anna und dachte nach. Sie verdrängte die Situation, die sich draußen vor ihrem Haus abspielte, komplett und dachte nur noch über den Namen des süßen Polizisten nach. »Es liegt mir auf der Zunge!«, sagte sie zu sich selbst. Sie dachte weiter nach. Und weiter und weiter...

Ein kalter Luftzug, der sie erschrecken ließ, riss

sie aus ihren Gedanken und sie beobachtete wieder das Nachbarhaus. Wo kam nur dieser Luftzug her?

Das Fenster war geschlossen und die Tür war auch nicht offen. Sie konzentrierte sich wieder auf die Situation draußen. Von dem Polizisten völlig abgelenkt, bemerkte sie erst jetzt den Leichenwagen, der unter der immer noch flackernden Laterne stand. Der Wagen war offen und zwei Männer, die gerade aus dem Haus kamen, hoben einen Sarg in das Auto. Anna war schockiert. War etwa jemand verstorben? Natürlich. Warum sonst der Leichenwagen? Aber wer soll bitte gestorben sein? Indem Haus lebten eine Familie und dieses Mädchen, dass Anna nicht allzu gut kannte, da sie noch nicht lange hier wohnte. »Wie alt war sie nochmal?«, fragte sie sich. Sie erinnerte sich, gehört zu haben, dass das Mädchen etwa Anfang 20 sei.

Anna zog sich ihre Jacke über, zog rasch ihre Schuhe an und ging nach draußen, auf die andere Straßenseite zu den Polizisten.

»Was ist passiert? Wer ist gestorben? Was ist hier los?«, fragte sie hektisch. Einer der Polizisten, nicht der süße, kam auf sie zu, zückte seinen Notizblock aus seiner Hemdtasche und klackte mit dem Kugelschreiber.

»Guten Abend, Schneider mein Name. Sind sie die Nachbarin von Vanessa Peters?«, fragte er und deutete mit seinem Kugelschreiber auf Annas Haus.

Anna guckte verdutzt.

»J-j-ja«, stotterte sie unsicher vor sich hin, weil sie sich nicht ganz sicher war.

»Ja, ich wohne hier gegenüber.« Sie zeigte hinter sich auf ihr Haus, welches auch mal wieder einen neuen Anstrich vertragen könnte.

»Okay. Wie lautet ihr Name noch gleich?«

»Anna Krüger«, antwortete sie hektisch.

»Also folgendes: Es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber ihre Nachbarin, hat sich, so wie es aussieht, heut Nacht das Leben genommen.«

Anna war schockiert.

»Das ist ja furchtbar!«

»Ja das ist es. Sagen Sie, kannten sie Frau Peters gut und könnten mir vielleicht ein paar Fragen beantworten?«, fragte er vorsichtig.

Sie dachte nach.

»Es tut mir leid, aber ich kenne, Entschuldigung, kannte Vanessa leider nicht allzu gut. Ich habe sie manchmal den Müll rausbringen sehen, aber viel mehr auch nicht. Sie müssen wissen, sie wohnte noch nicht lange hier. Ein halbes Jahr, wenn es hochkommt«, erklärte sie, noch immer ein wenig schockiert und mit zitternden Knien.

»In Ordnung. Trotzdem danke für die Informationen. Ich wünsche Ihnen dennoch eine gute Nacht«, verabschiedete sich der Polizist und ging zurück zu seinem Kollegen, um ihm das Ergebnis seiner neusten Befragung mitzuteilen.

»Gute Nacht«, flüsterte Anna, noch immer sichtlich geschockt. Sie stand wie angewurzelt da, beobachtete die zwei Männer beim Leichenwagen, die die Türen des Wagens schlossen. Für sie fühlte es sich an wie Stunden, die sie einfach dastand und nachdachte. Suizid? Hier? Warum hatte sie das getan? Was waren ihre Gründe? Ging es ihr wirklich so schlecht? Natürlich, sonst hätte sie das vermutlich nicht gaten...

Anna wurde von einem vorbeifahrenden Auto aus ihren Gedanken gerissen.

Sie erschrak kurz, ordnete ihre Gedanken, schaute noch einmal auf das Nachbarhaus und das brennende Licht in einem der Zimmer, welches wohl Vanessa gehörte. Dann drehte sie sich um und ging zurück in ihr Haus.

In ihrem Zimmer angekommen, zog sie die Gardine zu, um das Licht nicht mehr sehen zu müssen. Sie hing ihre Jacke an die Haken an der Tür, zog ihre Schuhe aus und stieg wieder in ihr Bett. Langsam legte sie sich hin, schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Fragen schossen ihr durch den Kopf.

Warum sie?

Warum?

Wie hat sie es gemacht?

Das war eine Frage, die man sich lieber nicht stellen sollte. Anna war ohnehin nicht der Mensch, der Blut sehen konnte. Dennoch ließen ihre Gedanken die Frage nicht los. Wie hat sie sich umgebracht? Hatte sie eine Waffe, mit der sie sich in den Kopf hätte schießen können? Nein, das hätte Anna bestimmt gehört. So einen Schuss hört man hier ja nicht alle Tage, es sei denn, man wohnt außerhalb des Dorfes in der Nähe des Waldes, in dem ab und zu mal ein Schuss ertönt, welcher für ein Reh oder Wildschwein bestimmt ist. Ansonsten ist es in Derbersdorf eher ruhig, es sei denn, einer der nachtaktiven Landwirte treibt mal wieder sein Unwesen.

Wie könnte sie sich noch das Leben genommen haben?

Gesprungen ist sie sicherlich nicht, dass hätte man »gesehen«. Anna hasste sich für die Gedanken, die ihr gerade durch den Kopf schossen. Wie konnte sie nur so denken?

Sollte sie sich erhängt haben?

Ein einfacher Strick um den Hals?

Oder doch anders?

Während sie weiter nachdachte, wie Vanessa sich umgebracht haben könnte, wurden die Gedanken und Vorstellungen immer blasser und verschwammen immer weiter, bis sie nicht mehr nachdachte und einschlief.

-3-

Am nächsten Morgen wachte sie auf und fühlte sich direkt, als hätte sie die ganze Nacht durchgemacht oder ein paar Gläser Wein zu viel getrunken. Auch das kommt in Annas Leben nicht sehr selten vor, da sie sich fast jedes Wochenende mit ihren Freundinnen auf ein Glas Wein und eine Runde Monopoly trifft. Eigentlich auch dieses Wochenende wieder, aber bisher glaubte sie, dass das aufgrund des gestrigen Vorfalls nicht stattfinden würde. Das ist aber auch nicht schlimm, denn manchmal geriet das Monopoly spielen etwas außer Kontrolle...

Sie legte ihre Bettdecke bei Seite, ging zum Fenster und öffnete es, um ein wenig frische Luft hereinzulassen. Sie strich mit den Fingern durch ihre noch nicht gekämmten, braunen Haare und es ertönte ein kurzes »Aua!«, da sie mit dem Zeigefinger an einem der Knoten in ihren Haaren hängen blieb. Sie löste den Knoten vorsichtig, riss sich dabei allerdings ein, zwei Haare aus, die sie auf den Boden fallen ließ. Später am Tag wollte sie sowieso noch Staub saugen.

Die Sonne schien ihr mitten ins Gesicht als sie den Vorhang des Fensters bei Seite zog und sie wich zurück, um nicht noch weiter geblendet zu werden. Nach einer kurzen, in Gedanken versunkenen Phase, in der Anna nur aus dem Fenster auf das Nachbarhaus starrte, sammelte sie ihre Gedanken wieder und zog sich an. Nachdem sie sich noch ihre verknoteten Haare gekämmt und sich im Bad fertig gemacht hatte, ging sie in die Küche, um zu frühstücken.

Während sie die Treppe nach unten stieg,

beobachtete sie die Bilder, die an der Wand hingen. Schöne Erinnerungen aus den letzten Jahren. Der Urlaub in Barcelona mit ihrer Freundin Jacky, bei dem sie so sternhagelvoll war, dass sie im falschen Hotel gelandet ist. Das Foto, das sie als Kind zeigte, wie sie vor der Wiese steht und freudestrahlend auf die dortigen Kühe zeigt. Eine der Kühe kam damals zu ihr und leckte ihr die komplette Hand ab. Sie mochte Kühe und half manchmal auf einem der vielen Höfe im Dorf.

In der Küche angekommen holte sie sich etwas zu Essen. Viel Auswahl gab der Kühlschrank nicht her, sie müsste bald wieder Einkaufen fahren. Zwei Scheiben Brot, keine Butter mehr und nur noch ein paar Scheiben Käse. Also baute sie sich ein trockenes Käsebrot zusammen und kochte einen Tee. Während sie am Esstisch saß, schreib sie ihre Einkaufsliste, die sie nachher brauchen würde. Brot, Butter, Wurst, Gemüse, .... Die Liste schien kein Ende zu nehmen, denn es fiel ihr immer etwas Neues ein, was sie noch einkaufen wollte. Wein, Süßigkeiten, Cracker (Falls ihre Freundinnen am Abend doch ein Gläschen Wein trinken möchten). Sie schrieb alles auf, was ihr einfiel, biss dabei ab und zu in ihr Käsebrot und nippte an ihrem Tee, der mittlerweile schon fast kalt war. Nach etwa einer halben Stunde, während der sie aß, ihren Tee trank und gedankenversunken ins Leere starrte, räumte sie den Tisch ab und fuhr zum Einkaufen nach Kingsbach. Anna stand vor dem Regal, in dem die Kekse lagen. Vor ihr sah sie einen Pappaufsteller in Keksform, auf welchem stand:

»Verkrümel dich - Mit unseren Cookies! Cookies & Crumbs, die Kekse aus der Nachbarschaft«

Die Kekse wollte sie schon ewig mal probieren, hatte es bisher nur immer wieder vergessen. Da kam ihr dieser Pappaufsteller grade recht.

Erst auf den zweiten Blick bemerkte Anna, dass der Pappaufsteller nicht nur ein Keks war, sondern ein Keksmännchen, das eine der Kekspackungen in den Händen hielt und sie stolz präsentierte. Etwas albern, aber sie fand den Pappaufsteller auch irgendwie lustig.

Er erinnerte sie an früher, wenn sie bei ihrer Oma zu Besuch war und sie gemeinsam Kekse gebacken haben. Anna war gern bei ihrer Oma, auch wenn ihr Opa nicht der netteste war... Heute würde Anna ihn als herzlos, egoistisch und narzisstisch bezeichnen. Wie er mit ihrer Oma umging, war für Anna als Kind unbegreiflich.

Er briillte sie wegen Kleinigkeiten an, schlug sie sogar des Ofteren. In diesem Moment musste Anna an ein spezielles Wochenende bei ihren Großeltern denken. Sie war damals, so glaubte sie sich zu erinnern, etwa sieben Jahre alt und kam an diesem kalten Freitag im November von der Schule zu ihrer Oma gefahren. Sie war das letzte Kind im Schulbus, der ein paar Minuten Fußweg vom Haus ihrer Oma entfernt anhielt. Als sie ausstieg begann es zu schneien, weshalb Anna die Kapuze ihrer Jacke über sich zog. Ein wenig Schnee lag schon auf dem Boden. Anna formte sich daraus einen kleinen Schneeball. Sie betrachtete kurz den glitzernden Schnee und die schöne Landschaft um sie herum. Oma wohnte etwas abgelegen vom Dorf, wo man außer ihrem Haus viele Felder und ein paar vereinzelt

stehende Bäume betrachte konnte.

Sie warf den Schneeball so weit sie konnte nach vorne und traf einen Baum, der links vom Weg stand. Ein glitzernder, weißer Fleck zierte nun die Rinde des kahlen Baumes, der noch ein paar verwelkte Blätter an seinen Ästen trug. Anna ging weiter und hinterließ Fußspuren mit Sternchen in der Mitte der Sohle. Die Schuhe hatte ihre Mutter eine Woche zuvor gekauft und Anna war so stolz darauf, dass sie sie am nächsten Tag all ihren Freunden zeigen musste.

Sternenspurenhinterlassend lief sie weiter den Weg entlang. An diesem Tag, war dort noch keiner hergelaufen, denn Annas Spuren, waren die ersten im frischen Schnee. Sie liebte das Geräusch, das entstand, wenn sie durch den Schnee stapfte. Auch heute liebte sie dieses Geräusch noch und vor allem liebte sie den Winter. Sie lief weiter.

Während es schneite, schaute sie nach oben, öffnete ihren Mund und versuchte einzelne Schneeflocken mit ihrer Zunge zu fangen.

Ein paar Minuten und viele, viele Sternenspuren und Schneeflocken später, kam sie zum Haus ihrer Großeltern. Sie öffnete die Tür, legte ihren Schulranzen, ihre dicke Jacke und die knallrote Bommelmütze in den Flur. Dort roch es schon nach dem leckeren Mittagessen, dass ihre Oma immer kochte. Der Duft von frischem Kartoffelpüree und Sauerkraut stieg ihr in die Nase. Anna liebte dieses Essen, vor allem, wenn ihre Oma es kochte. Sie flitzte in die Küche und sah ihre Oma am Herd stehen, wie sie dem Pürce einen letzten Schliff verpasste. Sie begrüßten sich. Opa saß am Küchentisch und wartete ungeduldig auf das Essen. Seinem Hemd fehlte ein Knopf und er schaute genervt durch seine

Brille hervor.

»Ach, bist du auch endlich da? Dann können wir ja jetzt endlich essen. Hat ja lange genug gedauert, dafür, dass es wahrscheinlich so fad schmeckt wie immer!«

Anna war diesen Ton von ihrem Opa gewohnt und versuchte ihn zu ignorieren. Oma stellte das Essen auf den Tisch, den sie zuvor mit den hübschen Tellern gedeckt hat, die sie zur Hochzeit bekommen hatte, wie sie Anna immer erzählte. Anna setzte sich freudestrahlend an den Tisch und konnte es kaum erwarten zu essen. Auch Oma setzte sich nun dazu. Einen Moment war es still. Anna probierte die erste Gabel voll mit Kartoffelpüree und war wie immer begeistert, wie gut es ihr doch schmeckte.

Sie genoss das Essen und lächelte zwischendurch immer wieder ihrer Oma zu. Sie grinste zurück.

Auch Opa probierte seine erste Gabel. Kaum hatte er das Essen im Mund, schon spuckte er es wieder aus und schmiss die Gabel auf den Boden.

»Das schmeckt ja grauenhaft! Wer soll das denn essen?«, schimpfte er wutentbrannt.

Anna gefiel das alles langsam nicht mehr. Sie versuchte immer die gehässigen und gemeinen Kommentare ihres Opas zu ignorieren, aber diesmal ging es ihr zu weit! Oma hatte sich so viel Mühe gegeben und es schmeckte alles so lecker. Wie konnte Opa es also wagen, alles schlecht zu reden, was Oma kochte?

»Nein!«, sagte Anna selbstbewusst.

Opa schaute sie wütend an.

»Wie bitte?«

»Ich sagte NEIN! Omas Essen ist superlecker und es schmeckt gar nicht grauenhaft! Hör auf Oma immer zu schimpfen!«

Opa guckte verdutzt. Erst verstand er nicht ganz, was da grade geschah, doch dann begriff er. Seine siebenjährige Enkelin verbot ihm seine Frau zurecht zu weisen.

»Ich glaube du spinnst! Hat meine Tochter dir keine Manieren beigebracht? Naja, ... Ist ja genauso unfähig wie deine Oma!«

Anna standen die Tränen in den Augen. Wie konnte ein Mensch nur so gemein sein?

»Du kannst nicht immer alle beschimpfen, Opa!«, sagte sie etwas lauter, aber mit zittriger Stimme.

»Was ich alles kann!«, sagte er, stand auf und beugte sich zu Anna rüber. Er holte mit der rechten Hand aus.

»Ich bring dir noch Manieren bei! Du hast hier nichts zu sagen, das ist MEIN Haus und ich lasse mich nicht von einem mickrigen, kleinen Mädchen beschimpfen und zurechtweisen!«

Anna hielt den Atem an und kniff die Augen zusammen. Schützend hielt sie sich die zitternden Hände vors Gesicht. Doch die brauchte sie gar nicht, denn ihre Oma stand blitzschnell auf und packte Opa am Arm. Er raste vor Wut, riss sich von Oma los und schlug sie mit der flachen Hand ins Gesicht, sodass ihre Wange nun von einem knallroten Fleck geziert wurde. Tränen standen ihr in den Augen und sie musste sich kurz fangen, um vom Schlag nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie fasste sich an die Wange und sah Anna dabei an.

»Lauf schnell nach Hause zu Mama und Papa!«, sagte sie.

Anna schaute die beiden noch kurz an und lief dann schnell in den Flur, packte ihre Sachen beisammen und rannte aus dem Haus.

Ihre Eltern wohnten nicht weit weg, nur ein

paar Minuten Fußweg. Anna kam der Weg so kurz vor. Sie rannte so schnell sie konnte, dachte immer wieder an Oma, die mit tränenden Augen in der Küche stand. Hätte sie bei ihr bleiben sollen? Was wenn Opa sie, anstatt Oma geschlagen hätte? Warum tut Opa so etwas überhaupt?

Völlig außer Atem kam sie zu Hause an und erzählte ihren Eltern alles.

Nach diesem Tag sah sie ihre Großeltern eine, für sie, ziemlich lange Zeit nicht mehr.

Als ihr Opa dann ein Jahr später an einem Herzinfarkt starb, durfte sie endlich wieder zu ihrer Oma und freute sich so sehr darüber, dass sie weinen musste. Im Gegensatz zur Beerdigung ihres Opas, bei der sie keine Träne vergossen hatte, obwohl Anna dazu neigte, schnell zu weinen. Auch heute noch.

Sie erinnerte sich gerne an ihre Oma zurück, die leider vor ein paar Jahren friedlich einschlief, nachdem sie 92 Jahre alt wurde. Nur an ihren Opa erinnert sie sich nicht gerne. Er war ein schlechter Mensch und manchmal fragte sich Anna...

»Hey! was schaust du denn so bedrtickt?«

Anna wurde aus ihren Gedanken gerissen. Sie hatte völlig vergessen, dass sie noch immer Im Supermarkt vor dem Keksregal stand. Sie erschrak kurz und realisierte dann, dass eine ihrer Freundinnen, Nele, vor ihr stand.

Anna packte schnell eine der Keks-packungen von Cookies & Crumbs in ihren Einkaufswagen und wandte sich Nele zu.

-4-

»Was schaust du denn so erschrocken?«, fragte Nele, während sie einen Lippenbalsam aus der Hosentasche holte und ihn dünn auftrug.

»Hey Nele«, antwortete Anna noch immer leicht abwesend,

»Ich war grade etwas in Gedanken... schön dich zu sehen!«

»Ja, das waren wohl ziemlich fesselnde Gedanken«, stellte Nele grinsend fest, »Wer ist er? Wie heißt er? Wo wohnt er?«

Anna sah sie verdutzt an.

»Hä? Was? Wovon redest du?«

Dann verstand sie, was Nele meinte.

»Achso, nein nein... Solche Gedanken waren das nicht«, sagte Anna, leicht amüsiert.

»Hm, schade. Ich würde dir wieder einen Freund an deiner Seite wünschen.«

»Ach, alles gut. Ich komm auch gut allein zurecht«, beschwichtigte sie.

»Naja, wenn du meinst«,

sagte Nele, mit einem leicht enttäuschten Unterton.

»Du sag mal, wollen wir uns heute eigentlich zum Mädelsabend treffen?«, fragte Anna neugierig.

»Ja klar, wie immer um 19 Uhr bei dir«, entgegnete Nele verwundert,

»Das machen wir doch immer so!«

»Nattirlich, aber ich dachte, naja..., weil doch...«, sie stutzte, war sich unsicher, wie sie es sagen sollte, »weil doch meine Nachbarin letzte Nacht verstorben ist...«

»Ja, das ist natürlich traurig und auch irgendwie schockierend, aber wir wollen uns

doch nicht den Spaß von so einer vermiesen lassen, oder?«

Anna war ein wenig von der Einstellung ihrer Freundin schockiert, wollte aber auch nicht dagegen angehen. Sie war sich etwas unsicher, was sie nun antworten sollte.

»Naja, vielleicht hast du Recht... Ich kannte sie ja auch eigentlich gar nicht.«

Nele lächelte.

»Na siehst du! Also, hast du Wein und Knabberzeugs? Alles am Start?«, fragte Nele voller Vorfreude, während sie sich erneut etwas Lippenbalsam auftrug.

Anna schaute in ihren Einkaufswagen.

»Hm, also ein paar Sachen fehlen noch, aber das hole ich jetzt noch schnell und bereite gleich zu Hause alles für heute Abend vor.«

Nele freute sich und klatschte dabei in die Hände, wie ein kleines Kind.

»Juhu! Und denk an die Pizza, du weißt ja, was ich gerne esse!«, sagte sie und verabschiedete sich daraufhin von Anna.

Anna winkte Nele nochmal kurz zu und setzte ihren Einkauf dann fort.

Sie kaufte die restlichen Lebensmittel und vor allem das Knabberzeugs und die Pizza, auf die sich Nele so freute.

Noch ein paar Flaschen Wein und etwas Sekt und der Einkauf war erledigt. Naja fast, Anna musste noch bezahlen.

Sie schob ihren halbvollen Einkaufswagen zur Kasse. Komischerweise erwischte sie immer den Wagen, der sich am schlechtesten schieben ließ.

Anna stellte sich ans Ende der Warteschlange und erkannte an der Kasse nebenan einen Mann.

Er war dunkel gekleidet, trug eine beige Kappe auf dem Kopf und war der nächste an der Kasse.

»Na Kurti, wie geht's dir?«, fragte ihn der Kassierer. Scheinbar kannten sie sich gut.

»Ach, wie immer. Haste das mit dem jungen Mädel mitbekommen?«, antwortete Kurth, alias Kurti, während er seinen Einkauf in den Wagen räumte.

Anna verstand die beiden gut, es war nicht viel los im Supermarkt.

»Ja, schrecklich, nicht wahr?«

»Naja, die hatte doch wahrscheinlich nen richtigen Knall. Welcher normale Mensch bringt sich um?«, sagte Kurti abwertend und gehässig.

»Sie hatte bestimmt Probleme«, entgegnete der Kassierer.

»Ja und? Kein Grund sich gleich umzubringen! Meinst du ich konnte noch einschlafen, nachdem die Polizei und der RTW durchs Dorf gefahren sind?«

Kurti wurde etwas lauter, während der Kassierer versuchte ihm Verständnis beizubringen.

»Aber Kurti, du kannst doch nicht so schlecht über das arme Mädel sprechen...«

Kurti bäumte sich auf.

»Und ob ich das kann. Die Jugend von heute hat doch andauernd mickrige Probleme und bringen sich direkt wegen jedem Scheiß um. Sowas hat's früher nicht gegeben! Sowas geht mir auf die Nerven, das sag ich dir!«

»Ach Kurti, ich glaub da sind wir verschiedener Meinung«, sagte der Kassierer ruhig, »Ich bekomm dann übrigens 32,12€ von dir.«

Kurti kramte in seinem Geldbeutel und bezahlte den Betrag.

Anna stand fassungslos da. Wie konnte man nur so eine Meinung haben?

Kurti, der auch in Derbersdorf wohnte,

erinnerte sie in einer gewissen Weise an ihren Opa. Gehässig, gemein und uneinsichtig.

Sie kannte ihn zwar kaum, wusste nur wo er ungefähr wohnte und wie er hieß, aber einen guten Charakter hatte er scheinbar nicht.

Anna räumte ihren Einkauf auf das Band, war vorsichtig, damit die Sekt- und Weinflaschen nicht gegeneinander rollten und zerbrachen. Was wäre das für ein Desaster, wenn sie ihren Mädelsabend ohne ein Glas Wein vollziehen müssten? Grade für Marleen, eine der Mädels, die an diesem Abend zu Anna kommen würde, wäre der Abend ohne Wein sicherlich gelaufen. Sie ist eine vollkommene Weinliebhaberin, zumindest bezeichnet sie sich selbst als solche. Annas Meinung nach, liebt sie einfach nur den Alkohol, denn von Wein an sich, hat sie keinerlei Ahnung. Jahr, Anbau, Sorte ist Marleen alles egal, Hauptsache der Wein hat genug Umdrehungen. Sie ist keine Alkoholikerin, nein, nur beim Mädelsabend besteht sie eben auf ihr Gläschen roten Rebensaft. In etwa, wie Nele auf ihre Tiefkühlpizza bestand.

Anna war das alles eigentlich egal, solange sie ihre Freundinnen sah und mit ihnen Spaß haben konnte.

Sie bezahlte ihren Einkauf, schlenderte aus dem Supermarkt und räumte ihre Tüten voller Wein, Pizza und Knabbereien in ihren kleinen schwarzen Flitzer, den sie liebevoll Hugo nannte, weil er eben irgendwie, wie ein Hugo aussah. Das meint zumindest Jacky, die auch zur fünfköpfigen Gruppe Mädels gehörte, die regelmäßig ihren gemeinsamen Abend bei Anna verbrachten.

Wie sie auf den Namen kam? Keine Ahnung... Es kam ihr wohl irgendwie in den Sinn, ihn so zu

nennen. Und da sie das immer öfter tat, war der Name, mit der Zeit, etabliert.

Jacky war sowieso ein leicht verrücktes Huhn, zumindest aus Sicht von Anna. Wie man jeden Morgen um fünf Uhr aufstehen und Joggen gehen konnte (jeden Morgen!) war für sie ein Rätsel. Aber so war Jacky eben schon immer. Sportlich und immer gut drauf. Ob da ein Zusammenhang bestand? Anna wusste es nicht, war aber auch zu faul, dass für sich selbst rauszufinden. Sie kannten sich schon seit Kindertagen, was wohl daran lag, dass Jackys Haus direkt neben Annas Haus lag. Zumindest früher. Heute wohnen sie etwa drei Straßen voneinander entfernt, aber das war immer noch nah genug.

Zusammen stellten sie immer etwas an, wobei Anna oft ein schlechtes Gewissen, wegen der ganzen Scherze hatte. Sie war eher das nette Mädchen von nebenan, das keiner Fliege was zuleide tun könnte.

Allerdings erinnert sie sich an einen ihrer Streiche nur zu gerne zurück...

Als die beiden etwa acht Jahre alt waren, haben sie Jackys Mama heimlich ihre Handcreme aus der Handtasche gestohlen. Sie haben die Tube ausgeleert und mit Ketchup wieder aufgefüllt. Als Jackys Mama dann den Ketchup, statt der gut tiechenden Creme auf der Handfläche verteilte, konnten sich Anna und Jacky vor Lachen nicht mehr halten und machten sich so sehr drüber lustig, dass sie sich vor Lachen auf dem Boden krümmten. Jackys Mama fand das ganze zwar nicht so witzig wie die beiden, aber sie rächte sich ein Jahr später mit einem ähnlichen Streich an den beiden.

Während sie die letzten Einkäufe ins Auto legte,

sah sie Kurth, wie er in sein Auto stieg. Gehässig sah er aus und genervt dazu.

Anna setzte sich ins Auto und fuhr zurück nach Derbersdorf. Auf dem Weg dorthin, kam ihr ein blaugrauer Ford entgegen, dessen Fahrerin ihr begeistert zu winkte. Anna erkannte ihre Freundin Thea leider zu spät und schaffte es nicht mehr sie zu grüßen. Thea war das neueste Mitglied des Mädelsabends. Seit etwa einem halben Jahr gehörte sie dazu, nachdem sie im gleichen Restaurant arbeitete wie Anna. Sie lernten sich dort schnell kennen und etwa genauso schnell lud Anna sie zu sich ein. Thea war meist etwas schüchtern und zurückhaltend. Aber das lag wahrscheinlich daran, dass sie sich noch nicht so gut kannten, wie die anderen Mädels.

-5-

Anna fuhr in die Einfahrt, stellte Hugo ab und trug ihre Einkäufe in die Küche.

Sie sah auf die Uhr. 14:53 Uhr. Schon so spät? Wo war bloß die Zeit hin? Anna wollte noch so viel erledigen.

Schnell räumte sie alles ein, stellte die Getränke kalt, legte die Pizza in den Tiefkühlschrank und den Rest ließ sie auf dem Küchentisch stehen.

Sie ging nach oben, legte ihre Sachen aufs Bett und zog sich aus, um ein Bad nehmen zu können.

Aus dem Schrank schnappte sie sich schnell ein großes Handtuch und wickelte es sich um den Körper. Ein kalter Luftzug wehte durch ihr Schlafzimmer. Sie bekam eine Gänsehaut. Wo kam der her? Alle Fenster und Türen waren geschlossen. Egal, dachte sie sich und marschierte ins Badezimmer.

Sie ließ sich ein heißes Schaumbad ein, stieg in die Wanne und versuchte sich zu entspannen.

Ihre Gedanken kreisten immer wieder um Vanessa. Warum hat sie das getan? Warum hat sie nie mit jemandem geredet? Sie hatte doch bestimmt Familie? Oder nicht?

Anna unterbrach ihre Gedanken. Nele hatte Recht, sie sollte sich ihr Leben nicht durch ihre Nachbarin, die sie ohnehin kaum kannte, nicht vermiesen lassen. Anna stieg in die Wanne und fühlte wie das warme Wasser sie umgab und sie wie eine wohlige, kuschelige Decke wärmte.

Sie betrachtete genüsslich die Schaum-berge, die vor ihr herumschwammen. Der Schaum glitzerte im Licht. Es roch nach Kokosnuss, Annas Lieblingsduft.

Während sie da so in der Wanne lag, hörte man nebenbei etwas Musik. Anna hatte ihre liebste Playlist gestartet und entspannte sich nun zu den Klängen von Billy Talent und Rise Against. Ihre Freundinnen meinen zwar, dass man sich dabei nicht entspannen kann, aber Geschmäcker sind ja verschieden.

Ihre Freundinnen hörten lieber aktuelle Charts, aber für Anna war das meistens nichts. Ab und zu war vielleicht mal ein schönes Lied dabei, aber den Rest mochte sie einfach nicht.

Anna stieg aus der Wanne und zog sich an.

Sie sah auf die Uhr und stellte fest, dass sie doch noch genug Zeit hatte, weshalb sie sich dazu entschloss, noch ein wenig zu lesen. Sie schnappte sich ihr derzeitiges Buch, erst vor ein paar Tagen gekauft. Der Einband sah noch ziemlich unberührt aus, obwohl sie schon ein paar Kapitel gelesen hatte. Es war ein Fantasyroman, den eine ihrer Arbeitskolleginnen ihr empfohlen hatte. Anna liebte Fantasy. Herr der Ringe, die Tintenherz-Trilogie, Eragon. Alles hatte sie gelesen und regelrecht verschlungen. Sie fühlte sich wohl in diesen, leider nicht existenten Welten. Schon seit ihrer Kindheit verbrachte sie Stunden damit, mit Drachen zu fliegen, geheime Welten zu entdecken und den einen Ring zurück zum Schicksalsberg zu bringen. Es waren wunderschöne Welten, die sie schon besucht hatte. In ihrer Fantasie war sie schon an so vielen Orten. Im Auenland, Alagaésia, Westeros, Narnia...

Sie ließ die Seiten des Buches durch ihre Finger gleiten und genoss den Geruch des fast neuen Buches. Das Lesezeichen lag noch weit vorne, aber schon jetzt fesselte sie der Roman.

...Fortis und Usus kamen aus der Bibliothek. Nachdem sie stundenlang Bücher wälzten und auf den holzgeflochtenen Stühlen saßen, hatten sie nun endlich eine Lösung gefunden. Zumindest hofften sie, dass sie so die Elfen in ihr Königreich zurückdrängen könnten, um endlich wieder frei leben zu können, ohne die Unterjochung des Elfenkönigs.

Um die Elfen besiegen zu können, blieb den beiden Überlebenden des alten Zirkels nur eine Möglichkeit:

Sie mussten schnellstmöglich den Magierkönig finden, um sich die Herrschaft und das Land zurück holen zu können...

Anna wurde aus dem Buch gerissen, als sie das kurze Summen ihres Smartphones hörte: »Du Anna, ich komme heute Abend ein bisschen später, ich hoffe das ist in Ordnung! Bis denne, Jacky«

Anna las die Nachricht, antwortete schnell und sah dann erschrocken auf die kleine Anzeige oben rechts. 18:34 Uhr. So spät?! Wie lange hatte sie bitte gelesen? War sie so in die Welt des Buches versunken gewesen?

Sie legte das Buch schnell wieder ins Regal und lief ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Was wollte sie nochmal anziehen? Schnell schnappte sie sich ihr schwarzes Shirt und die zerrissene Hose, die sie so gerne trug. Sie benutzte noch etwas Mascara und Lippenstift, sprühte sich Haarspray in ihre wilde Mähne und lief dann nach unten in die Küche.

Dort stellte sie die Knabbereien und Getränke bereit, denn gleich würden die Mädels vor der Tür stehen.

Marleen würde wahrscheinlich die erste sein und schon innerhalb der nächsten - Anna schaute auf ihre roséfarbene Armbanduhr - zehn Minuten vor der Tür stehen.

Sie heizte noch schnell den Ofen für die Pizza vor und wollte danach Gläser auf den Tisch stellen.

Sie griff ins Regal, in dem die Weingläser standen, die Marleen ihr letztes Jahr geschenkt hatte. Frei nach dem Motto: Schenke immer etwas, dass du selbst auch brauchst!

Anna griff nach einem Glas und zeitgleich fiel eines der anderen Gläser runter, genau auf ihre linke Hand, mit der sie sich auf der Küchenzeile abstützte. Das Glas zerbrach in hunderte kleine Glassplitter und nach dem ersten Schreck, sah Anna das rote Blut an ihrer Hand herunterlaufen.

Sie fühlte die Wärme und das Pochen ihrer Hand. Eine kleine Scherbe, keinen Zentimeter groß, steckte ein paar wenige Millimeter in ihrem Handrücken.

Sie zog ihn vorsichtig heraus, wodurch es noch mehr zu bluten begann. Neben ihr lag ein Tuch, dass sie sich schnell um die Hand wickelte, um das Blut nicht noch auf dem Küchenboden zu verteilen.

An der Tür klingelte bereits das erste der Mädels.

»Ich komme gleich, einen Moment noch!«, rief sie voller Hektik. Sie lief ins Badezimmer, wo sie ihren kleinen Verbandskasten verstaute. Nachdem sie sich das Blut von der Hand gewaschen hatte, griff sie nach dem Verband und wickelte ihn um ihren Handrücken, wodurch das Bluten langsam aufhörte. Sie befestigte den Verband noch schnell mit einem Pflaster und ging dann zur Haustür, um diese zu öffnen.

-6-

Marleen war die erste, die vor Annas Hausttir stand und wartete, bis sie aufmachte.

»Was hast du denn gemacht?«,

fragte Marleen erschrocken, wahrend sie Annas Hand betrachtete, die mit einem Verband umwickelt war.

»Ach, mir ist eben ein Glas runtergefallen, alles gut!«,

erwiderte sie unsicher, denn irgendwas war komisch. Sie hatte das Glas nicht einmal berührt, wie konnte es runtergefallen sein?

»Komm doch erstmal rein«, sagte Anna und ging mit Marleen in die Küche, um dort auf die anderen zu warten.

»Und, wie war deine Woche so?«, fragte Marleen, nachdem sie ihre Jacke ausgezogen und es sich am Küchentisch gemütlich gemacht hatte.

Anna wischte noch das restliche Blut von der Küchenzeile und räumte die Scherben weg.

»Ach, wie immer eigentlich. Viel Stress an der Arbeit, aber das bin ich ja gewohnt. Ich bin froh, dass ich heute frei bekommen habe. Du weißt ja, wie das bei mir sonst an Wochenenden ist... Und wie war deine Woche so?«,

entgegnete sie, während sie die Scherben in den Mülleimer beförderte.

»Naja, das Studium macht mir etwas zu schaffen, aber du weißt ja, wer Sorgen hat, der hat auch Wein! Apropos, wo ist der eigentlich?«, fragte sie ungeduldig.

Anna stellte ihr die Flasche Wein hin und setzte sich dann zu ihr an den Tisch.

»Ich hätte ja auch gerne Literatur studiert. Ich

liebe Literaturgeschichte, Poesie, Ästhetik. Da hätte ich bestimmt Spaß dran gehabt...«, schwärmte Anna.

»Ich denke nicht... Da kannst du auch dein Leben lang ungesalzene Mahlzeiten essen. Sei froh, dass du Köchin bist!«,

sagte Marleen beneidend.

»Wenn du meinst«, seufzte sie.

Es klingelte erneut an der Tür.

Nele und Thea standen freudestrahlend vor Annas Haustür und zogen sich bereits ihre Jacken aus, während sie noch draußen standen. Sie begrüßten sich und bevor Nele sich an den Küchentisch setzte, trug sie wieder ihren Lippenbalsam auf.

Nun saßen die vier Mädels da und warteten auf die letzte in ihrer Runde.

»Wo ist Jacky?«, fragte Nele verwundert.

»Sie hat mir gesimst, dass sie später kommt«, sagte Anna, während sie aufstand, um ihre Musikbox anzuschalten.

»So, wer will heute Musik machen?«, fragte sie und zeigte den Mädels die schwarze Box.

Marleens Hand schoss in die Höhe. Sie zückte ihr Smartphone und startete ihre Musik. Scheinbar war es für alle in Ordnung, denn niemand erwiderte etwas.

Anna schenkt all ihren Freundinnen ein Glas Rotwein ein und zusammen stießen sie an.

»Sagt mal, habt ihr das von diesem Mädchen mitbekommen?«, fragte Thea kleinlaut.

Anna sah sie an.

»Naja, sie ist - entschuldige - war meine Nachbarin... Ich habe mit der Polizei gesprochen, nachdem es passiert ist.«

Die Mädels schauten alle ein wenig bedrückt nach unten, bis auf Nele.

»Och Leute, müssen wir jetzt schon wieder über diese Depri Tusse sprechen? Das zieht uns doch alle nur runter! Sie ist tot und gut ist's! Meine Güte, wir können doch auch nichts dafür, geschweige denn was dran ändern!«, schimpfte sie.

»Du hast ja Recht«, pflegte Marleen ihr bei und hob ihr Glas erneut, »Apropos Polizei... War da zufällig auch dieser...na...wie heißt der noch... Irgendwas mit A... Nein E....Nein, Moment...«

»Meinst du vielleicht Oliver?«, fragte Nele ungeduldig.

»Ja! Genau...es lag mir auf der Zunge!«

»Ist klar Marleen«, lachte Anna und trank einen Schluck Wein.

»Sei du mal ganz still«, sagte Marleen neckisch,

»du stehst doch auf diesen Polizisten! Das hast du selbst gesagt!«

Anna lächelte verlegen.

»Ja... also... weißt du...«, stotterte sie vor sich hin, »so ganz schlecht find ich ihn jetzt nicht...«

»Da haben wir's doch!«, rief Nele, »endlich ein Kerl für Anna!«

»Komm schon, raus mit den Infos! Wie findest du ihn genau? Hast du schon seine Nummer? Was ist dein Schlachtplan? Wie-«

Marleen wurde durch das Klingeln der Haustür in ihrem Verhör unterbrochen.

Anna stand auf und öffnete Jacky, die sich um eine halbe Stunde verspätete, die Tür.

»Jacky!!! Wir haben einen Kerl für Anna!«, ertönte Neles Stimme aus der Küche.

Jacky, die grade ihren bordeauxfarbenen Mantel auszog und an die Garderobe hing, sah Anna verwundert an.

»Warum weiß ich davon nichts?«, fragte sie Anna schelmisch, während sie dabei eine

Augenbraue nach oben zog.

Anna lächelte verlegen.

»Weil du nichts verpasst hast.«

Die beiden gingen zurück in die Küche und setzten sich zu den anderen.

Marleen stützte sich mit den Armen auf den Küchentisch, um ihr Verhör fortzuführen.

»Also, dieser Oliver...Wie findest du ihn?«

Thea sah skeptisch in die Runde.

»Marleen, musst du Anna so verhören? Vielleicht möchte sie gar nicht darüber sprechen«, sagte sie leise und sah nach unten.

»Naja an Verhöre muss sich Anna gewöhnen, wenn sie sich auf einen Polizisten einlässt«, antwortete Nele.

»Ob er wohl der gute oder der böse Bulle ist?«, fragte Marleen mit einem leicht erotischen Unterton.

Anna schlug ihr leicht auf den Arm.

»Was denn?«, fragte Marleen unschuldig, »das ist eine berechtigte Frage!«

Sie versuchte ernst zu klingen, musste aber grinsen.

»Nagut, also wenn ihr es unbedingt wissen wollt...«,

die anderen Mädels rückten gespannt näher,

»Ich finde ihn ganz nett. Aber ich habe weder seine Nummer, geschweige denn »einen Plan« wie ich ihn für mich gewinne.«

Nele, Marleen und Jacky sahen etwas enttäuscht aus, wohingegen Thea sich kaum an der Polizistendiskussion beteiligte.

Sie sah weiter unter sich, blieb still.