Der Abiturbetrug - Katja Koch - E-Book

Der Abiturbetrug E-Book

Katja Koch

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Beschreibung

Das deutsche Abitur war jahrzehntelang ein Qualitätssiegel. Bildung »made in Germany« genoss hohes Ansehen in der Welt und versprach mit dem Abitur als ihrem schulischen Höhepunkt freien Hochschulzugang und gesellschaftlichen Aufstieg. Wird das Versprechen heute noch eingehalten? Das Bild, das die Schulen und die von ihnen vergebenen Abschlüsse bieten, gibt eine eindeutige Antwort: Kaum jemand kann noch darüber hinwegsehen, dass das Leistungsniveau in deutschen Schulen nicht nur in alarmierendem Maße sinkt, sondern im Vergleich der Bundesländer auch noch eklatante Unterschiede aufweist. Obwohl das bildungspolitische Chaos und die skandalöse Ungerechtigkeit im deutschen Bildungssystem offensichtlich sind, herrscht über die entscheidende Ursache für den Niedergang weitgehend Unklarheit. Katja Koch und Mathias Brodkorb zeigen, dass der mit guten Gründen vor siebzig Jahren eingeführte Bildungsföderalismus inzwischen absurde Blüten treibt: Während einige Bundesländer hohe Anforderungen stellen, machen es andere ihren Abiturienten leicht. So hängt das Abiturergebnis heute eher von der Gnade der Geburt als von der schulischen Leistung ab. Leidtragende sind nicht nur Schüler und ihre Eltern.

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Mathias Brodkorb/Katja Koch

Der Abiturbetrug

Vom Scheitern des deutschen Bildungsföderalismus

Eine Streitschrift

Mit Illustrationen von Clemens Decker

© 2020 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe · www.zuklampen.de

Umschlaggestaltung: Stefan Hilden · München · www.hildendesign.de

unter Verwendung mehrerer Abbildungen von www.shutterstock.com

Satz: Germano Wallmann · Gronau · www.geisterwort.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2020

ISBN 978-3-86674-751-7

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Einleitung

Unser Abitur: Niveaulos und ungerecht!

Der Morbus Germann oder: Das deutsche Abitur im Chaos

Bildungsföderalismus – 70 Jahre Scheitern

Der Bildungsföderalismus als Versicherungspolice

Wie die Öffentlichkeit über den Bildungsföderalismus denkt

Die Wissenschaft als Gummimauer des Bildungsföderalismus

Die Kultusministerkonferenz als Knautschzone des Bildungsföderalismus

Das heutige »Zentralabitur«: Ein bildungspolitischer Fake

Die Output-Steuerung als Kanon-Killer

Der bundesweite Aufgabenpool: Ein Lottospiel mit wenigen Treffern

Drei Antworten auf die Misere

Warum der Bildungsföderalismus Unsinn ist und wir eine zentralstaatlich gesteuerte Bildungspolitik brauchen

Warum wir zu viele Abiturienten haben und deshalb die Quote halbieren müssen

Warum wir einen Bildungskanon brauchen

Abitur auf dem Bierdeckel – Gebrauchsanleitung für ein bundesweites Zentralabitur

Legt die Entscheidung in die Hände des Volkes!

Ein Gruß an unsere Kritiker

Anmerkungen

Literatur

Die Autoren

Weitere Bücher

Vorwort

Es gibt viele Bücher über Bildung. Vermutlich sogar viel zu viele. Warum fügen wir den Unmengen ein weiteres hinzu? Was unterscheidet es von anderen? Ganz einfach: Wir sprechen klar aus, wie die Lage ist und was getan werden müsste, um sie zu ändern. Wir müssen auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen. Nicht auf Wahlen, nicht auf die Vergabestellen lukrativer Forschungsaufträge. Und vor allem wollen wir uns nicht damit zufrieden geben, in einem maroden Gebäude bloß die Wände neu anzustreichen. Das marode Gebäude, der Bildungsföderalismus, gehört abgerissen.

Die Einwände, die gegen dieses Buch formuliert werden dürften, sind unschwer zu erahnen. Dem Autor, einst Bildungsminister von Mecklenburg-Vorpommern, wird man vor allem im politischen Raum sofort die süffisante Frage stellen: »Ja, was hat der Herr, der nun so eifrig kluge Ratschläge gibt, eigentlich die ganzen Jahre selbst getan, um die Lage zu verbessern?« Zwar gäbe es dazu einiges zu sagen, aber hierauf sei verzichtet, weil es nur von der Sache selbst ablenken würde. Lesen Sie das Buch, und Sie werden sehen: Deutschlands Bildungsprobleme wurzeln in Systemfehlern. Sein Bildungssystem ist eine Geisel der föderalen »Vetokratie«.1 Einzelne Akteure können Entscheidungen blockieren, obwohl diese den übergroßen Wählerwillen zum Ausdruck brächten und dem Gemeinwohl dienlich wären.

Der Autorin, einer Professorin für Sonderpädagogik, dürfte ihrerseits aus dem wissenschaftlichen Umfeld die Frage begegnen: »Was weiß denn schon eine Sonderpädagogin, die sich ansonsten um die Ausbildung von Förderschullehrern kümmert, vom Olymp der schulischen Bildung, dem Abitur?« Diese Frage wäre nur dann berechtigt, wenn das deutsche Schulsystem in erster Linie unter einem wissenschaftlichen Erkenntnisproblem litte und es daher wissenschaftliche Spezialisten bräuchte, um die bestehenden Probleme zu erkennen. Deutschlands Schulsystem leidet allerdings nicht unter einem wissenschaftlichen Erkenntnisproblem, sondern unter einer politischen Handlungsblockade. Es ist ja nicht so, dass unbekannt wäre, was zu tun ist. Die Fakten hierzu liegen alle auf dem Tisch. Seit Jahrzehnten sind die dafür erforderlichen Bücher und wissenschaftlichen Analysen geschrieben. Es fehlt schlicht an der politischen Bereitschaft und am Mut, aus diesen Analysen die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen – und diese Bereitschaft ist im bestehenden System kaum herzustellen. Um das zu erkennen, braucht es kaum mehr als gesunden Menschenverstand. Eine Professorin für Sonderpädagogik könnte insofern geradezu als überqualifiziert gelten.

Allerdings unterliegt dieser Text einer Gefahr. Fast täglich ändern sich die Meinungen der zuständigen Verantwortungsträger, ereilen uns neue Beschlüsse der zuständigen Gremien. Auch dies hat seine Ursache nicht in intellektueller Überforderung. Es ist die unvermeidliche, oft nahezu panikartige Anpassungsreaktion eines Systems samt seiner Akteure, die ganz genau wissen, was falsch läuft und daher immer wieder Versuche unternehmen müssen, die beklagenswerten und offensichtlichen Widersprüche durch Kompromisse und Ausweichbewegungen unter einem Tarnmantel vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Die Debatte über einen »Nationalen Bildungsrat« sowie einen »Bildungsstaatsvertrag«, die auch Gegenstand dieses Buches ist, legt hiervon beredt Zeugnis ab.

Wir können daher nicht ausschließen, dass just in dem Moment, in dem die Drucker und Buchbinder ihre Arbeit an diesem Buch abgeschlossen haben, sein Inhalt an der einen oder anderen Stelle schon wieder unaktuell scheint, weil gerade wieder eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird. Lassen Sie, liebe Leserinnen und Leser, sich dadurch aber nicht irre machen, denn in einem können Sie ganz sicher sein: Grundsätzlich bessern wird sich nichts, solange der Bildungsföderalismus lebt.

Schwerin/Rostock, im Januar 2020

Einleitung

Hurra! Sabine hat ihr Abitur in der Tasche. Wer hätte das gedacht? In den letzten beiden Schuljahren in Mathe und Deutsch 5, in den Abiturprüfungen sogar eine 6 – aber geschafft ist geschafft. Für Thomas lief es leider nicht so gut. Zu dumm, dass er ausgerechnet in Bayern lebt. Und Maria? Die hat einen Durchschnitt von 1,2. Das wird ihr für einen Studienplatz in Medizin aber auch nicht helfen. Absolventen mit solchen Durchschnitten gibt’s inzwischen viele. Bei Manuel wäre es fast schief gegangen. Zum Glück konnte er zwei miserable Zeugnisnoten durch eine »Facharbeit« ersetzen. Die hat er zwar zu Hause geschrieben, dabei halfen ihm das Internet und seine Freundin – aber das weiß ja niemand. Absurd? Natürlich ist das absurd! Aber im bildungsföderalen Deutschland ist es genau so möglich. Und das, obwohl gerade hier die Abiturnote maßgeblich darüber entscheidet, an welche Stelle im sozialen Gefüge Sabine, Maria, Thomas und Manuel im Laufe ihres Lebens gelangen können. Ob sie für ein Medizin- oder Jurastudium eine Pole-Position oder keine Chance haben, ob sie in München, Berlin oder Hildesheim studieren werden – all das entscheidet sich vor allem an ihrem Abiturdurchschnitt.

Allerdings ist die Aufregung groß, wenn irgendetwas dabei schiefläuft. Jüngstes Beispiel sind die Schülerproteste im Sommer 2019. In zahlreichen Bundesländern verbündeten sich jeweils tausende Abiturprüflinge und starteten Protestnoten in Richtung Kultusministerien. Die Aufgaben im Fach Mathematik seien zu schwer gewesen, der Notenschlüssel müsse deshalb angepasst werden. Im Klartext: Die Mathematiknoten sollten durch politischen Beschluss künstlich aufgehübscht werden. Allein darüber kann man sich schon wundern. Aber richtig kurios wird die Sache erst dadurch, dass sich die Proteste je nach Bundesland auf ganz verschiedene Aufgaben bezogen. Schließlich sind Prüfungen ja Ländersache.

Und wie ging die Geschichte aus? Natürlich verschieden: Während Länder wie Hamburg oder Bremen dem Flehen nachgaben, schalteten Bayern und Mecklenburg-Vorpommern auf stur. So richtig diese Entscheidung in der Sache war, um fachliches Niveau in den Prüfungen zu garantieren, so ungerecht ist sie für die Schüler aus Bayern und Mecklenburg-Vorpommern. Sie verlassen die Schule mit schlechteren Noten und haben damit ungünstigere Startbedingungen im Wettbewerb um spätere soziale Positionen.

Damit wären wir bei den beiden wesentlichen Problemen des Abiturs in Deutschland: Erstens sein fragwürdiges Niveau und zweitens die mangelnde Vergleichbarkeit der Abschlüsse. Und aus dieser mangelnden Vergleichbarkeit zwischen den Bundesländern folgt ein eklatantes Gerechtigkeitsproblem für unsere Schüler. Genau genommen schlummert hierin ein staatspolitischer Skandal. Das Grundgesetz verpflichtet die staatlichen Organe der Bundesrepublik Deutschland in Artikel 3 dazu, ihre Bürger nach gleichen und sachlich begründeten Maßstäben zu behandeln. Beim Abitur aber wird diese Pflicht seit Jahrzehnten erkennbar verletzt. Inzwischen haben wir 16 vollkommen unterschiedliche und zudem kaum durchschaubare Systeme. Deren Steuerung ist teuer und ineffizient. Gleichzeitig ist, als Folge einer jahrelang politisch gewollten Steigerung der Abiturientenquote, das Niveau der Abschlüsse offensichtlich verfallen. Ein fadenscheiniges »Zentralabitur« soll Niveau und Gerechtigkeit retten. Aber das ist nichts anderes als eine Nebelbombe zur Beruhigung der Öffentlichkeit. In Wirklichkeit geht es um die Rettung eines gescheiterten Bildungsföderalismus, bei dem Länderinteressen weit mehr gelten als die gesamtstaatliche Verantwortung für Bildung.

Im Bereich des Abiturs liegt somit ein doppelter Fall von systematischer, durch den Staat organisierter Täuschung vor. Erstens wird mit dem Abiturzeugnis die allgemeine Studierfähigkeit vorgegaukelt. Doch die bringen längst nicht mehr alle Abiturienten mit. Das Zertifikat hält also nicht, was es verspricht. Und zweitens wird der Eindruck erweckt, der Staat sichere die Vergleichbarkeit des Abiturs in Deutschland bereits durch verschiedene Maßnahmen, so dass wir uns quasi auf dem Weg hin zu einem gerechten und vergleichbaren Zentralabitur befinden. Auch das ist nicht der Fall. Insofern ist es zwar hart, von einem »Abiturbetrug« zu sprechen, in der Sache aber richtig.

Im Grunde müssen wir den aufbegehrenden Abiturienten vom Sommer 2019 dankbar sein. Ihre Proteste haben die ganze bildungspolitische Misere wie mit einem Scheinwerfer ausgeleuchtet. Dank des nachträglichen Eingriffs einiger Kultusministerien in die Notengebung dürfte auch dem Letzten klargeworden sein: Die Abiturnote ist weit mehr als nur ein Leistungszertifikat, sie ist ein Politikum. Beliebigkeit, Inflation und Ungleichwertigkeit dieser Note enthüllen nicht weniger als das Scheitern des Bildungsföderalismus. Doch obwohl eine große Mehrheit der Bevölkerung damit unzufrieden ist, bleibt der Bildungsföderalismus eine heilige Kuh. Wenn aber Politik, Verwaltung und Wissenschaft auf Dauer gegen den Willen der Bevölkerung handeln, ohne dafür überzeugende Argumente auf ihrer Seite haben, steht die Demokratie vor einem Problem.

Wir halten den Bildungsföderalismus für gescheitert. Bildung gehört in den wichtigsten Fragen in Bundeshand. Aber um die bestehenden Ungerechtigkeiten wirklich zu beenden und mit dem Abitur gleichzeitig ein Zertifikat zu haben, das seinen Namen wert ist, sind zwei weitere Maßnahmen erforderlich. Zum einen müssen wir das Niveau des Abiturs wieder anheben, was die Abiturientenquote deutlich senken würde. Das ist zwar unbequem, aber letztlich profitierten alle davon: die Hochschulen, die wieder auf hohem Niveau lehren und forschen könnten und weniger Studienabbrecher hätten; die Schulen mit gymnasialen Bildungsgängen, die sich wieder an herausfordernde Unterrichtsinhalte wagen könnten; die Mittelschulen, die wieder über eine breite Leistungsspitze verfügen würden; das Handwerk, das wieder ausreichend gut qualifizierten Nachwuchs finden könnte. Zum anderen brauchen wir wieder mehr Verbindlichkeit in den Lerninhalten. Egal ob »Bildungskanon« oder »Lehrplan« genannt – entscheidend ist die Verbindlichkeit. Nur eine solche Verbindlichkeit kann das fachliche Niveau des Abiturs sicherstellen und einen für alle gleichen Maßstab liefern.

Das alles ist nur zu machen, wenn Bildung nicht mehr allein Ländersache ist. Dies zu ändern aber hieße, nicht nur Wände neu anzustreichen, sondern das marode Gebäude des Bildungsföderalismus durch ein neues zu ersetzen. Geordnet werden könnte dann übrigens nicht nur das Abitur, sondern letztlich alle Schulabschlüsse. Denn bei denen sieht es nicht besser aus. Aber damit verschonen wir Sie in diesem Buch. Das ganze Elend unseres Schulsystems auf einen Schlag auszubreiten wäre denn doch zu viel.

Unser Abitur: Niveaulos und ungerecht!

Viele von Ihnen werden es kennen: Während sich Ihr Kind am Gymnasium für gute Noten abmühen muss, gleitet die Cousine in einem anderen Bundesland ohne erkennbare Anstrengung durch den Matheleistungskurs. Obwohl sie keinesfalls klüger ist. Während Sie Ihr Kind ermutigen, das Beste aus sich herauszuholen, schreibt ein Bekannter in Hamburg beflissen an der Facharbeit seines Sohnes mit. Während Sie die Nachhilfe für Physik bezahlen, konnten die Freunde Ihres Kindes im benachbarten Bundesland das Fach längst abwählen…

Dass ein Kind in Sachsen oder Bayern vermutlich mehr lernt als anderswo, hat seinen Preis. Dummerweise wird die Plackerei nicht immer mit den besten Chancen belohnt. Den begehrten Studienplatz nämlich bekommt man nicht mit dem größten Wissen, sondern mit den besten Noten. Und dafür wohnt man dann besser in Thüringen oder Hamburg als in Bayern oder Sachsen. Sieht so ein gerechtes Bildungssystem aus?

Es gibt wohl keinen Schulabschluss, bei dem die staatlich organisierte Bildungsungerechtigkeit deutlicher zutage tritt als beim Abitur. Das liegt daran, dass Studienbewerber bundesweit mobil sind und sich daher in einer bundesweiten Konkurrenzsituation befinden. In zahlreichen Studiengängen kommt es für die Platzvergabe auf die Abiturnote an. Und zwar aus Gerechtigkeitsgründen!

In Deutschland allerdings wird die Gerechtigkeitsdebatte fast ausschließlich vom Motiv der sozialen Gerechtigkeit bestimmt.2Beginnen wir mit dem, was hinlänglich bekannt ist: Die Bildungschancen sind auch im deutschen Schulsystem ungleich verteilt. Bei gleichem Leistungsvermögen macht ein Kind aus einem Akademiker- oder Beamtenhaushalt mit größerer Wahrscheinlichkeit das Abitur als ein Kind aus einem Arbeiterhaushalt. Mit anderen Worten: Der Bildungserfolg der Schüler hängt auch vom sozialen, vor allem aber vom kulturellen Hintergrund der Eltern ab. Selbstverständlich ist es ein ehrenwertes und wichtiges Ziel, soziale Ungerechtigkeit im Bildungssystem zu verringern. Zur Wahrheit gehört aber auch: Dieses Ziel wird niemals vollständig erreichbar sein. Hierzu müsste die Schule alle sozialen und kulturellen Unterschiede ausgleichen, mit denen Kinder in ihren Familien aufwachsen. Da Bildungsprozesse spätestens mit der Geburt beginnen, schrittweise aufeinander aufbauen und Lehrkräfte nicht in die Vergangenheit reisen können, ist dies illusorisch: »Die Ungleichheiten sozialer Herkunftsmilieus lassen sich weder wegtherapieren noch wegsozialisieren.«3

Wer ein gerechtes und leistungsfähiges Abitur haben will, muss daher drei entscheidende Fragen beantworten:

1. Wozu soll das Abitur eigentlich befähigen und welches fachliche Niveau ist folglich angemessen?

2. Wie kann der Staat seinem gesetzlichen Auftrag gerecht werden, alle Bürger gleich zu behandeln?

3. Was kann der Staat tun, um sozial bedingte Ungerechtigkeiten zu verringern?

Keine dieser Fragen ist verzichtbar. Vor allem aber gilt: Die Rangfolge dieser Fragen darf nicht verändert werden. Soziale Gerechtigkeit im Bildungswesen nützt herzlich wenig, wenn zugleich das Niveau der schulischen Bildung gesenkt wird und der Staat die Bürger bei der Vergabe der Bildungsabschlüsse ungleich behandelt. In Deutschland aber wurde in den letzten Jahrzehnten die drittwichtigste Frage zur wichtigsten. Und das blieb nicht ohne Folgen.

Das Gymnasium als Schule für jeden

Sieht man sich die Entwicklung der Abiturientenquote seit der Wiedervereinigung an, kann man sich nur verwundert die Augen reiben. Im Jahr 1992 legte nur fast jeder Vierte eines Altersjahrgangs das Abitur ab. Rund 25 Jahre später waren es mit rund 40 Prozent fast doppelt so viele.

Da die Reifeprüfung vor allem auf ein anspruchsvolles Studium vorbereiten soll, bleiben zur Erklärung für diese Entwicklung nur zwei Möglichkeiten: Entweder ist es in den vergangenen Jahren gelungen, die Begabungsreserven der jüngeren Generation besser auszuschöpfen als jemals zuvor, ohne dass das fachliche Niveau des Abiturs Schaden erlitten hat. Oder aber die Leistungsfähigkeit der Gesamtbevölkerung ist nicht beliebig steigerbar – dann wäre die Zunahme an Abiturienten mit einem Niveauverfall an Deutschlands Gymnasien und Gesamtschulen erkauft worden.

Noch interessanter als der bloße Anstieg der Abiturientenquoten sind allerdings die Unterschiede zwischen den Ländern. Das Abitur wird nämlich keinesfalls gleich häufig vergeben. Die niedrigsten Abiturientenquoten von rund 32 beziehungsweise 34 Prozent gab es im Jahr 2018 in Bayern und Sachsen-Anhalt, die Spitzenreiter waren Hamburg und Berlin mit rund 55 beziehungsweise 51 Prozent. Die Chancen eines Schülers auf ein Abitur sind in den beiden Stadtstaaten folglich um rund 70 Prozent größer als in den beiden Flächenländern.

Wem das Abitur zu schwer ist, kann die Fachhochschulreife erwerben. Sie berechtigt zwar nicht zu einem Studium an einer Universität, aber zum Studium an einer Fachhochschule. Immerhin fast elf Prozent erwarben im Jahr 2018 diesen Abschluss. Damit erreichte letztlich jeder zweite Schulabsolvent die Hochschulreife, in Hamburg und im Saarland waren es insgesamt sogar über 60 Prozent. Die Unterschiede zwischen den Ländern sind hier noch gravierender als beim Abitur: Während in Mecklenburg-Vorpommern nur vier Prozent eines Altersjahrgangs die Fachhochschulreife erwerben, sind es im Saarland mit 23 Prozent fast sechsmal so viele.

Mit den im Grundgesetz garantierten gleichwertigen Lebensverhältnissen in Deutschland hat dies nicht mehr viel zu tun. Selbst dann nicht, wenn man die im Bildungsstreben traditionellen Unterschiede zwischen Stadt und Land in Rechnung stellt.

Das Niveau sinkt – Die Noten werden besser

Nun könnten die Anhänger des Bildungsföderalismus jedoch ein Wettbewerbsargument stark machen und einwenden, dass diese Unterschiede durchaus gewollt seien. Das Bundesland mit dem besseren Bildungssystem wäre dann eben einfach auch erfolgreicher. Allerdings verträgt sich dies nicht mit der Realität. Bayern müsste dann nämlich angesichts der Abiturientenquoten über eine geringere Anzahl leistungsstarker Schüler verfügen als beispielsweise Hamburg. Das ist zwar theoretisch möglich, würde aber voraussetzen, dass die Leistungen in den Ländern eklatant unterschiedlich verteilt sind. Alle verfügbaren Daten widersprechen dieser Annahme.

Zwar liegen für Deutschlands Abiturienten keine aktuellen Vergleichsstudien aus allen Ländern vor, dafür aber für die Gymnasiasten der neunten Klassen. Und man darf mit einiger Berechtigung annehmen, dass die Leistungen der Schüler in der neunten Jahrgangsstufe einen gewissen Vorhersagewert für die Leistungen im Abitur haben. Die Befunde dieser Studien sind eindeutig. Ob Mathematik oder Naturwissenschaften, ob Deutsch oder Englisch: Die bayerischen Schüler liegen im Westen und die sächsischen im Osten in der Regel ganz vorne, während sich die Schüler aus Berlin und Hamburg häufig auf hinteren Plätzen wiederfinden.4 Die Forscher kamen außerdem zu einem anderen interessanten Ergebnis. Je mehr Schüler das Gymnasium besuchen, desto geringer sind in den meisten Bundesländern ihre Leistungen: »Mit steigender Gymnasialquote gehen niedrigere durchschnittliche Kompetenzen einher.«5 Überraschen kann das nicht. Die steigende Abiturientenquote hat also ihren Preis. Und der heißt: Niveauverlust!6

Wenn nun aber immer mehr junge Menschen das Abitur ablegen und zugleich das Leistungsniveau der Gymnasiasten gesunken ist, müssten auch die Abiturnoten schlechter geworden sein. Aber weit gefehlt! Berlin, Hamburg, Bayern und Sachsen-Anhalt liegen trotz großer Leistungsunterschiede unerklärlich dicht beieinander. Außerdem ist der Durchschnitt in den letzten Jahren in ganz Deutschland immer besser geworden. Allein von 2006 bis 2018 steigerte er sich von 2,53 auf 2,42. Nur Baden-Württemberg bildet hier eine Ausnahme.

Absoluter Spitzenreiter ist übrigens seit Jahren das Land Thüringen. Seine Abiturienten erreichten im Jahr 2018 einen traumhaften Notendurchschnitt von 2,16 und freuen sich über die besten Chancen beim Zugang zum Wunschstudium. Bei rund 40 Prozent der Abiturienten aus Thüringen steht beim Abiturdurchschnitt eine Eins vor dem Komma. Und auch der Anteil der Abiturienten mit einem Notendurchschnitt von 1,0 ist deutschlandweit nicht zurückgegangen, sondern hat sich im genannten Zeitraum fast verdoppelt, in einzelnen Ländern fast versechsfacht. Während Baden-Württemberg auch hier eine Ausnahme bildet, ist Thüringen wiederum spitze! Kein Wunder also, dass auch das Bundesverfassungsgericht die »eingeschränkte länderübergreifende Vergleichbarkeit«7 der Abiturnoten beklagt.

Die Daten sprechen also eine deutliche Sprache: Wenn Sie wollen, dass Ihre Kinder wirklich etwas lernen, dann schicken Sie sie im Osten am besten in Sachsen und im Westen in Bayern aufs Gymnasium. In allen anderen Fällen können wir Ihnen den Besuch eines Gymnasiums in Berlin oder Hamburg wärmstens empfehlen. Dort sind die Chancen mit mittelmäßigen oder gar schlechten Leistungen am größten, dennoch das Abitur abzulegen. Wenn Ihr Kind eigentlich recht klug ist, aber kein Überflieger und unbedingt Medizin studieren will, dann am besten ab nach Thüringen. Da lässt sich der Notendurchschnitt am besten aufpolieren. Und wenn Sie merken, dass es mit dem Abitur knapp werden könnte, ist das Saarland eine gute Möglichkeit für den sicheren Erwerb der Fachhochschulreife.

Die Befunde zeigen zweierlei: Es kann nicht gerecht sein, wenn ausgerechnet die Länder mit den höchsten Abiturientenquoten zu jenen mit den schlechtesten Schülerleistungen gehören. Jedenfalls dann, wenn man an einem »echten« Abitur festhalten will. Und: Wenn sich die Zahl der Abiturienten in wenigen Jahren drastisch erhöht und sich zugleich die Durchschnittsnoten nicht verschlechtern, sondern sogar verbessern, muss