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Ein Leichenfund im Altöttinger Forst führt die Mühldorfer Kriminalpolizei ins Kapuzinerkloster St.Konrad in Altötting. Vor dem Kloster hören sie Schüsse, die eindeutig aus einem der angrenzenden Devotionaliengeschäfte kommen. Das Opfer liegt am Boden, die vermeintliche Täterin hat die Waffe noch in der Hand – aber sie hat nicht geschossen…
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
Vorwort
Anmerkung
1.
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Bisher im Verlagshaus Wanninger erschienen:
Über die Autorin Irene Dorfner:
Der
Abzocker
Krimi
Irene Dorfner
Copyright c 2025
Verlagshaus Wanninger e.K., Eichenweg 8a, 84556 Kastl
www.verlagshaus-wanninger.de
All rights reserved.
ISBN: 978-3-98738-216-1
Lektorat:
FTD-Script Altotting,
Earl und Marlies Heidmann, Spalt
Sabine Thomas, Stralsund
Layout und Satz
Autoren-Zuckerl, Kastl
www.autoren-zuckerl.de
Leo Schwartz hat seinen 51. Fall gelöst, auch ohne Hans
Hiebler (mit ihm gibt es eine separate Thriller‐Reihe, am
1. Thriller arbeite ich gerade).
Auch im 51. Fall Der Abzocker haben wieder reale
Personen mitgespielt:
Michael Schmitt
Gina Radecker
Silke Liebhaber
Waltraut Burow
Sylvia Böcker
Axel Bereths
Vielen Dank an euch alle, dass ihr den Spaß
mitgemacht habt!!
Ihr wisst ja, dass eine Rolle in meinen Krimis nichts mit der
Realität zu tun hat. Das ist meine Fantasie, die manchmal
mit mir durchgeht. Meine Figuren werden lebendig und
entwickeln ein Eigenleben, auf das ich kaum Einfluss habe.
Einen besonderen Dank gilt meinen Lesern für die Treue
und das Interesse an Leo Schwartz & Co.! Die Reise geht
auf jeden Fall weiter, Fall 52 ist geplant.
Euch ganz viel Spaß mit Fall 51!!
Viele Grüße aus Altötting
Irene Dorfner
Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen
(Ausnahme: Die genannten Personen im Vorwort)
sind rein zufällig.
Auch der Inhalt des Buches ist reine Phantasie der Autorin.
Auch hier sind Ähnlichkeiten rein zufällig.
Die Örtlichkeiten wurden den Handlungen angepasst.
Und jetzt geht es auch schon los…
Hof Schildmann, Kastler Höhe, Donnerstag 26. Juni
„Du hast wohl gedacht, dass wir dich hier nicht finden, oder? Denkst du wirklich, dass wir so blöd sind und uns von deiner Fake-Adresse blenden lassen? Wir waren in deinem Haus und haben sofort gemerkt, dass du dort nicht lebst. Das hier ist also dein echtes Zuhause. Übel, Schmitt, sehr übel. Du verkriechst dich in dem alten Schuppen und meinst, dass du hier sicher vor uns bist. Vergiss es! Du bringst uns die Kohle, und zwar schnell! Hast du verstanden?“
„Ja, ich habe verstanden, aber ihr versteht mich nicht! Meine Freundin hat den Schlüssel geklaut, ich komm nicht an das Geld ran.“ Michael Schmitt wimmerte. Den Schlag, den er in den Magen bekam, würde er noch sehr lange spüren.
„Das mit deiner Tussi interessiert uns nicht. Wir wollen die Kohle, alles andere ist uns egal. Du hast Zeit bis heute Abend. Wenn das Geld nicht da ist, wirst du uns von unserer unfreundlichen Art kennenlernen.“
„Aber…“
„Du kapierst es nicht, oder? Die Frau ist dein Problem. Wir wollen heute Abend unser Geld! Es gibt keinen weiteren Aufschub. Verarschst du uns, wirst du es bereuen!“
Die beiden Männer gingen und ließen Schmitt zurück. Der stand unter Schmerzen auf und ging in die Küche. Wütend schöpfte er die Suppe in den Teller und warf die Wasserflasche aufs Tablett. Seine Gedanken kreisten um den Schlüssel und um das Problem, wie er an ihn rankam. Gina hatte ihn gestohlen, obwohl sie das immer abstritt. Aber es konnte nur sie gewesen sein. Niemand sonst kam in der fraglichen Zeit an seinen Geldbeutel, sie musste den Schlüssel haben. Gina war heute fällig. Ab sofort bettelte er nicht mehr, sondern forderte, was ihm gehörte. Notfalls musste er Gewalt anwenden.
„Hier, iss das!“ Michael Schmitt schob das Tablett in den dunklen Raum. „Und halt ja den Mund, verstanden? Ich bin weg, komme erst heute Abend wieder.“
Sylvia kauerte apathisch in der Ecke des Raumes, der schon immer ihr Zuhause war. Sie hörte den Mann, verstand aber nicht, was er sagte. Ihr Wortschatz war sehr eingeschränkt, sie hatte nie gelernt zu sprechen. Trotzdem verstand sie mehr, als ihr bewusst war. Sie sog jedes Wort wie ein Schwamm auf, auch wenn sie den Sinn nicht verstand. Als ihre Mutter noch lebte, hörte sie sie oft durch die verschlossene Tür und das verbarrikadierte Fenster reden. Sie sprach von Sonne, vom Duft der Rosen und von vielen anderen Dingen, die sie selbst noch nie gesehen und erlebt hatte. Was war die Sonne? Was waren Rosen? Und was war Duft? Sylvia wusste es nicht. Ihre Mutter sprach nur sehr selten mit ihr, und wenn, dann verstand sie auch das nicht. Sie sprach irgendwann von einem Mann und benutzte das Wort Vater, beides war ihr fremd. Sie verstand nicht, was das bedeutete. Da sie mit Worten nur schlecht umgehen konnte, sprach sie schon lange nicht mehr, zumal ihre Mutter immer ungeduldig und unbeherrscht war. Es gab Schläge, die sie nicht riskieren wollte, auch deshalb blieb sie lieber stumm und kauerte sich in die schützende Ecke. Als der fremde Mann irgendwann kam und ihr sagte, dass ihre Mutter gestorben sei und er sich jetzt um sie kümmern würde, verstand Sylvia auch das nicht. Ihre Mutter kam nicht mehr, dafür war der Mann da. Sie nahm es hin, daran ändern konnte sie sowieso nichts. Es würde sich nichts für sie ändern. Sylvia vermisste den Geruch ihrer Mutter, den sie immer hinterließ, wenn sie aus dem Zimmer ging. Das war jetzt vorbei, jetzt war er da. Er brachte Essen und Trinken, leerte den Eimer und brachte Kleidung. Aber er sprach mehr mit ihr, als es ihre Mutter getan hatte. Sylvia merkte sich jedes Wort und wiederholte es wieder und wieder, sobald sie allein war. Ob das Sinn ergab, was sie sagte? Sie wusste es nicht, aber diese Worte waren ihr einziger Zeitvertreib. Dass sie größer wurde, bemerkte sie, aber sie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Anfangs empfand sie ihr Bett als riesig, inzwischen füllte sie es fast vollständig aus. Ihre Haare waren sehr lang, das des Mannes kurz. Die Haare ihrer Mutter waren sehr schön gewesen. Wenn sich die Tür öffnete, blendete sie das Licht, das von draußen zu ihr drang. Trotzdem bemerkte sie, dass sich der Glanz des Lichtes im Haar ihrer Mutter spiegelte. Ob ihr Haar auch glänzte? Sie wusste es nicht, denn sie hatte sich noch nie selbst gesehen.
Sylvia stand auf und ging zielsicher zur Tür. Trotz der Dunkelheit kannte sie jeden Zentimeter ihres Zimmers. Sie nahm den Teller und roch daran. Gemüsesuppe. Mit ihrer Zunge ertastete sie verschiedene Stücke, die sie zuordnen aber nicht benennen konnte. Sie aß langsam, sie hatte jede Menge Zeit.
Dann kauerte sie wieder in ihrer Ecke und versuchte, sich an die Worte des Mannes zu erinnern. Wort für Wort wiederholte sie, was er sagte. Er sprach heute sehr viel und sie musste sich konzentrieren. Trotzdem schaffte sie es, alles zu wiederholen, auch wenn sie nicht sicher war, ob die Reihenfolge stimmte. Das war ihr Zeitvertreib, mehr hatte sie nicht. Wann der Mann wiederkam? Es war ihr egal. Was mit ihr geschah, wenn er nicht mehr käme? Auch das war ihr egal.
Dass Michael Schmitt nie wieder kommen würde, wusste Sylvia nicht. Ihr Leben stand ab diesem Zeitpunkt am Abgrund, denn die Zeit arbeitete gegen sie.
Noch bevor Michael Schmitt in seinen Wagen steigen konnte, klingelte sein Handy. Als er die Nummer erkannte, stöhnte er. Schon wieder diese Frau.
„Was willst du?“, brummte er unfreundlich.
„Guten Morgen, mein Liebling. Hast du gut geschlafen?“
Schmitt musste sich zusammenreißen, schließlich war die hässliche, fette Frau eine wahre Goldgrube, auch wenn sie ihm jetzt schon tierisch auf die Nerven ging und er sich vor ihr ekelte. Bei ihr gab es viel zu holen, er musste sie sehr gut behandeln, damit sie ihm vertraute – so wie all die anderen dummen Frauen vor ihr. Dass er ein Talent hatte, Frauen zu umgarnen, sie für sich zu gewinnen, um den Finger zu wickeln und ihnen dann all ihr Geld und den schönen Schmuck abzunehmen, merkte er nach dem Tod seiner Lebensgefährtin, Sylvias Mutter. Damals war er am Boden, konnte mit der Trauer und dem Verlust nur schwer umgehen. Aber durch diese Frauen fand er zurück ins Leben, konnte seinen Lebensunterhalt bestreiten und hatte bereits einiges zur Seite geschafft. Nicht auf die Bank, denen vertraute er nicht. Alles, was er hatte, war sicher im Haus versteckt. Und die hässliche Frau, die er aktuell an der Hand hatte, würde seinen Reichtum deutlich vergrößern.
„Ich habe sehr schlecht geschlafen, deshalb war ich auch so unfreundlich. Es tut mir leid, mein Engel.“
„Das macht doch nichts. Was hast du heute vor?“
„Heute werde ich leider keine Zeit für dich haben, was mich sehr traurig macht, denn ich sehe so gern in dein engelsgleiches Gesicht und verliere mich in deine wunderschönen Augen.“
„Du Schmeichler.“
„Ich sage nur die Wahrheit, mein Engel. Morgen habe ich den ganzen Tag Zeit für dich, und wenn du möchtest, auch die ganze Nacht.“
Das folgende Kichern der Frau sagte Schmitt, dass alles wieder in Ordnung war.
„Ich wünsche dir einen wunderschönen Tag, mein Schatz. Bis morgen, ich kann es kaum erwarten.“
„Bis morgen. Küsschen, mein Engel. Ich liebe dich.“
Das Gespräch war beendet und Schmitt stieg in seinen Wagen. Die Frau war schnell vergessen, es gab jetzt Wichtigeres. Er sah auf die Uhr. Gina war schon lange im Geschäft, er musste dringend zu ihr. Ohne den Schlüssel brauchte er heute Abend nicht auftauchen, das war klar. Diese Leute, mit denen er sich nur wegen des Geldes eingelassen hatte, verstanden keinen Spaß. Er übernahm Kurierdienste, ganz normale Botengänge, die sehr gut bezahlt waren. Das Procedere war sehr einfach. Man übergab ihm eine Tasche mit Geld, die er in einem Schließfach zu hinterlegen hatte. Nach Aufforderung musste er die Tasche dann an einen Ort bringen, der ihm telefonisch mitgeteilt wurde. Keine große Sache und sehr leicht verdientes Geld. Aber dann war der Schlüssel weg, und den hatte nur er. Niemand sonst kam an das Geld, das wusste er. Der Schlüssel war immer in seiner Brieftasche, aber vor zwei Monaten bemerkte er, dass er weg war. Natürlich verdächtigte er sofort Gina, eine der Frauen, die er so ausnahm wie alle anderen auch. Gina war immer wieder aufgetaucht und belästigte ihn. Nur sie war es, die immer in seiner Nähe war – und nur sie hatte die Möglichkeit, an seine Brieftasche zu kommen. Und die Frau war jetzt fällig. Wütend fuhr er nach Altötting. Sein Ziel war das Devotionaliengeschäft, in dem sie arbeitete.
Leo Schwartz und Charly Dallmeyer starrten beide auf die Leiche eines Mannes in einem abgelegenen Teil des Altöttinger Forstes, die dort noch nicht lange lag. Der Verwesungsprozess war noch nicht weit fortgeschritten. Da die Leiche seitlich lag, konnte man die große Wunde am Hinterkopf sehr gut sehen.
„Erschlagen?“
Friedrich Fuchs, Leiter der Spurensicherung, nickte.
„Todeszeitpunkt?“
„Schwer zu sagen, ich bin kein Pathologe.“
„Und wenn Sie schätzen müssten?“
„Sie wissen doch, dass ich das nicht mag“, brummte Fuchs und sah Leo an. Aber der würde so schnell keine Ruhe geben, das wusste Fuchs. „Etwa 2-3 Monate.“
„Papiere?“
Fuchs zeigte auf einen Beutel in seinem offenen Koffer. Leo zog Handschuhe an, nahm den Beutel an sich und zog die Brieftasche heraus.
„Xaver Prechtl, wohnhaft in Altötting, Bruder-Konrad-Platz 5“, murmelte Leo und sah Charly an, dem die Adresse auch nichts sagte, obwohl er seit Monaten mitten in Altötting wohnte.
Fuchs sah die Kollegen an und schüttelte fassungslos den Kopf.
„Ihnen sagt die Adresse nichts? Das ist doch nicht zu fassen! Ich hätte Ihnen mehr Allgemeinwissen zugetraut. Bei der Adresse handelt es sich um das Kapuzinerkloster St. Konrad. Noch nie was davon gehört?“
„Ich nicht. Und du?“, sah Charly den Kollegen Leo an.
„Ich schon. Aber da ich mit Kirchen nichts am Hut habe, kenne ich die Adressen zu den zugehörigen Kirchen auch nicht auswendig.“
„Banausen!“, sagte Fuchs und widmete sich wieder seiner Arbeit.
Leo und Charly sagten nichts dazu, schließlich kannten sie beide Fuchs‘ Laune nur zu gut – und die war heute wieder sehr schlecht.
„Wer hat die Leiche gefunden?“
„Fragen Sie den Kollegen der Altöttinger Polizei. Das ist der Mann dort hinten, der mit der Presse spricht und der nach meinen Informationen auch die Kripo gerufen hat. Der Kollege kann Ihnen Auskunft geben. Er scheint zuerst hier gewesen zu sein, zumindest war er sehr viel früher hier als Sie beide.“ Charly hörte den leisen Vorwurf, Leo war das egal. „Ich an Ihrer Stelle würde dem Kollegen verbieten, der Presse gegenüber Auskunft zu geben, aber das ist nur meine Meinung. Und jetzt bitte ich darum, mich in Ruhe zu lassen, schließlich habe ich hier einen Job zu erledigen, von dem Sie mich abhalten!“
„Der ist ja heute wieder super drauf“, schimpfte Charly, der nicht übel Lust hätte, sich mit Fuchs anzulegen. Leo winkte nur ab. Fuchs‘ Befinden interessierte ihn nur am Rande, viel wichtiger war die Leiche.
Charly und Leo gingen zielstrebig auf den Kollegen zu, auf dessen Brust der Name
Georg Tandler stand.
„Wenn ich Sie bitten dürfte?“, zog Leo den Mann zur Seite. Auch, um weitere Informationen an die Presse zu vermeiden, da war er mit Fuchs ganz einer Meinung. Die drei gaben ein lustiges Bild ab, denn Leo und Charly mit ihren stattlichen Größen überragten den untersetzten Tandler um fast einen halben Meter, weshalb sie immer nach unten und Tandler nach oben sehen musste.
„Schwartz mein Name, das ist der Kollege Dallmeyer.“
„Haben Sie Kaffee mitgebracht?“, sagte Tandler lachend.
„Wieso?“
„Wegen dem Namen Dallmeyer.“ Jetzt lachte Tandler noch lauter.
„Wie ich sehe, sind Sie mit einem sonnigen Humor gesegnet, sonst würden Sie sich in Gegenwart der Leiche nicht so benehmen.“ Charly war sauer, aber Leo konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Es kam nicht selten vor, dass sich Charly wegen seines Namens einen dummen Spruch anhören musste, was Leo insgeheim sehr lustig fand.
„Sie meinen, ich müsse mich zusammenreißen und darf in Gegenwart einer Leiche keine Witze machen? Kommen Sie, das ist doch lächerlich. Es gibt vielleicht Kollegen, denen das an die Nieren geht, die sich sogar übergeben müssen. Bei mir ist das nicht so. Leichen machen mir nichts aus. Wenn doch, dann hätte ich meinen Beruf verfehlt. Es gibt echt Schlimmeres. Erst vor wenigen Tagen wurden wir im Falle häuslicher Gewalt gerufen, das war heftig. Aber das hier“, zeigte er auf die Leiche, „ist dagegen harmlos. Sie hätten die Frau sehen sollen. Sie war blutüberströmt und konnte kaum laufen. Der Mann hat nicht etwa randaliert und war frech, sondern saß wie ein Häufchen Elend auf der Couch und hat sich selbst bedauert.“
„Schlimm“, sagte Leo, der das sehr gut nachvollziehen konnte. Aber wegen der Geschichte waren sie nicht hier. „Sie waren heute zuerst vor Ort?“
„Als der Anruf reinkam, fuhren wir sofort hierher. Ich bin ortskundig, bin in Altötting geboren und aufgewachsen. Außerdem bin ich regelmäßig im Altöttinger Forst, hier gehen meine Marie und ich gerne spazieren.“
„Ihre Frau?“
„Nein, mein Pudel.“
„Wer hat die Leiche gefunden?“
„Der Mann dort hinten. Er sagt, dass er jeden Tag hier joggt“, sagte Georg Tandler.
„Er machte eine Pinkelpause?“, hakte Leo nach, da er nicht verstand, wie man so weit vom Waldweg entfernt über eine Leiche stolpern konnte.
„Nicht direkt“, druckste Tandler herum.
„Was soll das heißen?“
„Er hat Durchfall und hat sich hier erleichtert“, zeigte er auf einen Punkt, der etwa drei Meter entfernt war.
„Er hat in den Wald geschissen?“ Charly sah den Polizisten mit großen Augen an.
„Ja, die Hinterlassenschaft ist noch da.“
„So eine Sau“, maulte Charly und verzog das Gesicht.
„Was soll er machen? Sich in die Hose kacken?“, meinte Leo und schüttelte den Kopf. Für ihn war das ein menschliches Bedürfnis, nicht mehr und nicht weniger. „Hat er die Leiche angefasst?“
„Er sagt nein, aber sicher bin ich mir nicht. Ich kenne Menschen und ihre Reaktionen, das bringen der langjährige Dienst und die Erfahrungen mit sich. 34 Jahre“, fügte er nicht ohne Stolz hinzu. Leo könnte mit seinen sechzig Jahren inzwischen auch einiges an Dienstjahren auffahren, was er aber nicht tat, während Charly mit siebenunddreißig Jahren der Jüngste war und noch einiges vor sich hatte. Beide Kripobeamte sagten nichts dazu, warum auch?
„Sie halten sich zu unserer Verfügung, Kollege Tandler. Und kein Wort mehr an die Presse, verstanden? Wenn ich morgen Interna in der Zeitung lese, werde ich ungemütlich.“
„Ich habe nichts gesagt, ich schwöre!“
Georg Tandler wurde panisch. Was hatte er der Presse gegenüber gesagt? Doch nicht etwa zu viel? Er hielt Ausschau nach dem Mann, mit dem er vorhin gesprochen hatte – aber so, dass er von den beiden Kriminalbeamten nicht dabei gesehen wurde.
„Mein Name ist Schwartz, das ist der Kollege Dallmeyer“, wiesen sich die beiden aus. „Haben wir Ihre Personalien?“
Der Mann nickte.
„Sie haben den Toten gefunden?“, setzte Leo nach.
„Das ist mir so peinlich, ich kann es Ihnen nicht sagen! Ich habe Darmprobleme, schon seit ich heute aufgestanden bin. Trotzdem wollte ich das Training nicht vernachlässigen. Ich laufe beim Halbmarathon am 21. September mit. Im letzten Jahr war ich unter den besten zwanzig Läufern, aber das Ergebnis ist mir nicht gut genug. Deshalb trainiere ich so oft ich kann und es das Wetter erlaubt, schließlich will ich mir nicht den Tod holen.“
„Wann sind Sie heute losgelaufen und wann haben Sie die Leiche gefunden?“, kam Leo aufs Thema zurück.
„Ich lief um halb acht vom Parkplatz Huberstadl los, die Leiche fand ich gegen neun Uhr. Ich bin tief in den Wald rein, da sich mein Magen meldete. Ich wollte wirklich aushalten, habe es aber nicht geschafft. Ich habe mich erleichtert, worauf ich nicht stolz bin. Aber was hätte ich tun sollen?“
„Schon gut, machen Sie sich darüber bitte keine Gedanken mehr. Und was geschah dann?“
„Als ich die Hose hochzog, habe ich die Leiche gesehen. Ich bin so erschrocken, das kann ich Ihnen gar nicht beschreiben. Wer rechnet denn mit so etwas? Eigentlich wollte ich nur meine Runde drehen und finde dabei eine Leiche. Das muss man sich mal vorstellen! Ich habe noch nie im Leben eine Leiche gesehen. Und dann noch eine, die nicht mehr ganz frisch ist. Haben Sie die Augen gesehen? Es schien, als würde mich der Mann direkt ansehen. Diese Augen werde ich nie wieder vergessen.“
„Unser Psychologe kümmert sich um Sie. Bitte bleiben Sie und versuchen Sie, sich zu beruhigen.“
„Sie haben gut reden. Für Sie ist ein Leichenfund vielleicht normal, aber nicht für mich. Das werde ich nie wieder vergessen“, wiederholte der Mann. „Und in den Wald gehe ich ab sofort auch nicht mehr, das steht fest. Der Halbmarathon ist das doch alles nicht wert.“
Leo klopfte ihm auf die Schulter und nickte Charly zu. Der rief den Psychologen an, der bereits informiert wurde und unterwegs war.
„Fahren wir zum Kloster und überbringen die Nachricht“, sagte Leo, dem diese Aufgabe besonders schwerfiel. Auf diesen Teil seines Jobs könnte er sehr gut verzichten.
In der Kirche des Kapuzinerklosters St. Konrad war die Messe gerade vorbei, als Leo und Charly eintraten. Sie gingen auf den Mann zu, der heute den Gottesdienst hielt. Ob er hier der Chef war? Charly und Leo wussten es beide nicht.
„Schwartz, Kripo Mühldorf, das ist der Kollege Dallmeyer.“
„Endlich“, sagte der Mann erleichtert. „Wir warten bereits sehnsüchtig auf Sie. Kommen Sie, meine Herren, die Mitbrüder sind im Speisesaal.“
Leo und Charly folgten dem Mann, auch wenn sie über die Reaktion irritiert waren. Hatte der Leichenfund bereits die Runde gemacht? Wussten die Klosterbrüder bereits, dass einer der ihren tot war? Aber wie war das möglich?
Im Speisesaal angekommen standen ihnen vier Mitbrüder gegenüber, alle in braune Kutten gekleidet. Am Herd befand sich eine ältere Frau und rührte im Topf.
„Die Polizei ist endlich hier, man schickt uns sogar die Kriminalpolizei. Wir haben die Ehre mit den Herren Schwartz und Dallmeyer.“ Alle Mitbrüder nickten. „Setzen wir uns. Tee? Berta sei so gut und bring unseren Gästen Tassen und schenk uns allen nach.“ Die Frau tat, worum sie gebeten wurde. Leo und Charly wollten protestieren, ließen aber alles laufen. Warum nicht? Trotz der warmen Juni-Temperaturen tagsüber war es heute früh noch frisch, weshalb eine Tasse Tee nicht schlecht war.
Alle Augen waren auf Leo und Charly gerichtet. Die Frau ging zurück an den Herd und rührte wieder im Topf, sah aber auch zu ihnen. Man spürte, dass sie keine Sekunde von dem, was gesprochen wurde, verpassen wollte.
„Wir haben Bruder Egidius und unseren Xaver seit drei Monaten nicht mehr gesehen“, begann einer der Mönche. Der Kapuziner Paulus war völlig aufgelöst. An seiner Seite saßen die Mitbrüder Siegmund, Andreas und Godehard.
Leo Schwartz sah sich die Männer genau an. Mit den identischen Kutten konnte er sie nur schwer auseinanderhalten.
„Wer ist hier der Chef? Sind Sie das?“, wandte er sich an Paulus.
„Nein, natürlich nicht, das ist Pater Eduard. Er hat einen Termin mit dem Bürgermeister. Er wäre selbstverständlich anwesend, wenn wir gewusst hätten, wann Sie zu uns kommen.“
Leo überhörte den leisen Vorwurf und nickte nur.
„Sie sprachen gerade von einem Xaver. Handelt es sich dabei um Xaver Prechtl?“
„Selbstverständlich!“ Die Kapuziner sahen sich verwirrt an. Sie verstanden nicht, worauf der Polizist hinauswollte.
„Xaver Prechtl wurde heute früh tot aufgefunden.“ Diese Worte kamen Leo nicht leicht über die Lippen. „Unser aufrichtiges Beileid.“
Die Kapuziner bekreuzigten sich erschrocken und sahen Leo fragend an. Niemand wollte die Frage stellen, die alle interessierte, aber Godehard traute sich schließlich.
„Wie ist er gestorben?“
„Nach ersten Erkenntnissen wurde er erschlagen. Näheres können wir erst nach der Obduktion sagen.“
„Xaver wurde ermordet? Aber wie ist das möglich? Xaver war ein gutmütiger Mensch, der niemandem etwas zu Leide tat. Er war vielleicht etwas naiv und geschwätzig, aber deshalb bringt man doch niemanden um!“
„Wo wurde er gefunden?“ Die Frage kam von Bruder Andreas, der die Tränen nicht zurückhielt.
„Im Altöttinger Forst.“
„Dorthin fuhr er gerne mit dem Rad, um Fotos zu machen. Xaver liebte es, loszuradeln und alles mit dem Smartphone festzuhalten, was ihm gefiel.“
„Er hatte ein Smartphone?“
„Das haben wir ihm im letzten Jahr geschenkt. Es war kein neues, aber erfüllte seinen Zweck. Xaver hat sich riesig darüber gefreut. Ohne sein Smartphone ging er nirgendwohin, das kann Ihnen jeder bestätigen.“
„Wir haben kein Smartphone gefunden.“
Minutenlang herrschte Schweigen.
„Wir brauchen die Nummer.“
Godehard zog sein eigenes Smartphone aus der Tasche, suchte nach Xavers Kontakt, notierte die Nummer und schob Leo mit zitternder Hand den Zettel zu.
„Das ist eine Tragödie! Ich kann immer noch nicht glauben, dass Xaver tot ist, dass er ermordet wurde. Was ist mit Egidius?“
„Wer ist das?“
„Einer unserer Mitbrüder, er verschwand zur selben Zeit wie Xaver. Ist er auch tot?“
„Das weiß ich nicht. Wir sind nur wegen Xaver Prechtl hier.“
Es entstand Unruhe, alle sprachen durcheinander. Leo musste Ruhe und Struktur in das Gespräch bringen, denn er verstand kein Wort.
„Wenn ich bitten dürfte“, sagte er laut und langsam wurde es tatsächlich ruhiger. „Sie haben die Polizei erwartet. Warum?“
„Weil unser Xaver und Bruder Egidius vermisst werden.“
„Ich verstehe. Seit wann vermissen Sie Ihre Mitbrüder?“
„Das ist ein Missverständnis, Herr Schwartz. Xaver ist kein Mitbruder, er ist Gast in unserem Haus, vielleicht sogar mehr ein Freund. Wir haben ihn vor Jahren aufgenommen, als er obdachlos und hungrig vor unserer Tür stand. Er hat sich nützlich gemacht, wo er nur konnte. Wir beschlossen, ihn bei uns wohnen zu lassen, Platz haben wir mehr als genug. Egidius hingegen ist ein Mitbruder, er gehört unserem Orden an. Er ist seit Monaten ebenfalls Gast in unserem Haus und verschwand am selben Tag wie Xaver.“
Leo spürte, dass der Mann nicht alles sagte.
„Was verschweigen Sie uns? Es geht um Mord. Sie müssen alles sagen, was Sie wissen“, hakte er deshalb nach.
„Egidius mochte unseren Xaver nicht und hat ihm das Leben bei jeder Gelegenheit erschwert.“ Paulus bemerkte erst jetzt, dass er zu viel gesagt hatte und sah seine Mitbrüder voller Scham an.
„Du sollst über Tote nicht schlecht reden, Paulus!“
„Ich muss die Wahrheit sagen. Vielleicht ist das Verhältnis der beiden nicht unwichtig, um den Mord aufzuklären und Egidius doch noch zu finden. Wir müssen alles sagen, was wir wissen, das ist unsere Pflicht,“, versuchte sich der zu verteidigen.
„Das ist richtig“, sagte Leo, um die Diskussion unter den Brüdern zu unterbrechen. „Wir haben keine Ahnung, was mit Ihrem Mitbruder Egidius passiert ist, wegen ihm sind wir auch nicht hier. Es geht jetzt einzig und allein um Xaver Prechtl. Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?“
Die Kapuziner waren sich darüber einig, dass man Xaver vor Ende März zuletzt gesehen hatte.
„Er nahm sein Rad und fuhr los. Wir nehmen alle an, dass er wieder in den Altöttinger Forst wollte, womit wir offenbar richtig lagen.“
„Oder er fuhr einfach durch die Gegend, das machte er auch sehr gern.“
„Auf keinen Fall wollte er zum Kapellplatz, dorthin ging er immer zu Fuß.“
Die Informationen überschlugen sich. Die Männer wollten so exakt wie möglich Auskunft geben, was aber ein heilloses Durcheinander ergab. Charly und Leo konnten trotzdem folgen, für die beiden machten die Aussagen durchaus Sinn. Xaver fuhr am späten Abend mit dem Fahrrad los. Wohin er wollte, wusste niemand. Seitdem wurde er von den Männern nicht mehr gesehen.
„Was ist mit Ihnen?“, wandte sich Leo an Berta, die immer noch erschrocken und unter Tränen in dem großen Topf rührte.
„Ich sah Xaver ebenfalls am frühen Abend, danach nicht mehr.“
„Was ist mit den Fotos? Arbeitete Xaver an einem Computer?“
„Ja, an meinem“, rief Paulus und rannte davon. Kurz darauf kam er mit dem Laptop wieder zurück. „Xaver hat die Fotos bearbeitet und in einem Ordner gespeichert. Er war sehr geschickt in dieser Arbeit. Wenn ich Zeit hatte, habe ich ihm geholfen.“
„Den müssen wir beschlagnahmen“, sagte Leo und nahm den Laptop an sich.
„Was wissen Sie über Xaver Prechtl. Hatte er Familie oder Freunde? Wo kam er her?“
„Wir haben keine Fragen gestellt. Xaver sprach nie über die Vergangenheit und wir haben ihn nicht gedrängt. Wir fühlten uns wohl in seiner Gegenwart und waren froh darüber, dass wir ihn hatten. Sehen Sie uns an. Wir sind nicht die Jüngsten, manche Arbeiten sind uns einfach zu schwer. Xaver war sich für nichts zu schade. Er packte an, wo er nur konnte. Ein freundlicher, höflicher und hilfsbereiter Mensch. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wer den liebenswerten Xaver getötet haben soll.“ Wieder bekreuzigten sich die Männer.
„Wenn Sie uns zu dem Opfer nichts mehr sagen können, würden wir uns gerne sein Zimmer ansehen.“
Das relativ frisch renovierte Zimmer in der ersten Etage des Klosters war spärlich eingerichtet. Außer einem kleinen Schrank, einem Bett und einem Stuhl an einem kleinen Tisch gab es keine anderen Möbelstücke. Der Schrank war mit wenigen Kleidungsstücken bestückt. An der Innentür hing ein Foto einer älteren Frau, das Leo an sich nahm. Charly untersuchte das Bett, fand aber nichts.
„Dann bleibt uns nur der Laptop. Wollen wir hoffen, dass er darin Spuren hinterlassen hat, die uns weiterhelfen.“
Die Klosterbrüder begleiteten die Kriminalbeamten bis zum Ausgang.
„Und was ist mit unserem Bruder Egidius? Wird nach ihm gesucht?“
„Da bin ich mir ganz sicher.“
In dem Moment hörten Leo und Charly einen Knall, der ihnen nicht unbekannt war.
„Da schießt doch jemand!“, rief Charly und drückte einem der Kapuziner den Laptop in die Hand, damit er beide Hände frei hatte.
Die beiden Kriminalbeamten rannten los. Sie konzentrierten sich nicht auf das, was um sie herum geschah, sondern nur auf die Geräusche. Dann folgte ein weiterer Knall.
„Das kommt von dort!“, rief Leo, zog seine Waffe und rannte den Anstieg zum Kapellplatz nach oben direkt auf eines der Devotionaliengeschäfte zu. Charly überholte ihn und war nur wenige Schritte vor ihm am Ziel angekommen, wobei auch er seine Waffe im Anschlag hielt. Die Schreie und die Panik um sie herum nahmen sie wahr und riefen abwechselnd: „In Deckung! Weg hier!“
Leo und Charly standen neben dem Eingang des Geschäftes, atmeten tief durch und nickten sich zu.
„Hände hoch! Polizei!“, riefen sie abwechselnd und betraten mit ihren gezogenen Waffen das Geschäft.
Hinter dem Verkaufstresen stand eine Frau, die auf den Boden sah und nicht auf die Zurufe reagierte.
„Polizei! Hände nach oben!“, schrie Charly die Frau an. Aber sie schien ihn nicht zu hören.
Erst jetzt bemerkte Leo die Waffe in der Hand der Frau. Im Augenwinkel sah er einen Mann auf dem Boden liegen. Da die Frau auf Charly und seine Aufforderungen nicht reagierte, versuchte es Leo mit einer anderen Taktik.
„Wir sind von der Polizei. Das ist der Kollege Dallmeyer, ich bin Leo Schwartz. Bitte geben Sie mir die Waffe“, sagte Leo so ruhig wie möglich, wobei er jederzeit darauf gefasst war, seine Waffe zu benutzen und die Frau zu erschießen. Eine falsche Bewegung und sie war tot, das war beiden Kriminalbeamten bewusst. Wieder und wieder sprach Leo sehr ruhig auf die Frau ein, die aber immer noch nicht reagierte. Die Zeit drängte. Charly und er mussten die Situation endlich klären. „Sehen Sie mich an! Können Sie mich verstehen? Geben Sie mir die Waffe!“, drängelte Leo und schrie jetzt laut. Das war ein letzter Versuch, die Frau irgendwie abzulenken, danach mussten sie handeln.
Die Frau reagierte endlich, sie drehte langsam den Kopf und sah Leo an.
„Geben Sie mir die Waffe!“ Leo musste sich zusammenreißen, nicht hektisch zu werden und so ruhig wie möglich weiterzusprechen, auch wenn ihm klar war, dass die Situation jeden Moment eskalieren könnte.
Die Frau bewegte den Arm und Leo griff zu. Er hatte die Waffe und steckte sie in den Hosenbund. Leo und Charly war die Erleichterung anzusehen.
„Kommen Sie zu mir, es ist alles gut“, sagte Leo und atmete tief durch.
„Ja, alles ist gut“, flüsterte die Frau und sah Leo an. „Die Drecksau ist endlich tot.“
Friedrich Fuchs wurde noch auf dem Weg vom Altöttinger Forst zum Kapellplatz gerufen. Dass es sich um einen weiteren Tatort mit einem Todesopfer handelte, war nicht wichtig, obwohl er sehr verwundert war. Zwei Leichen an einem Tag waren außergewöhnlich. Aber das war sein Job und den übte er gemeinsam mit seinen Kollegen gewissenhaft aus. Auch hier am Kapellplatz sperrte er weiträumig ab. Routiniert machte er sich mit seinen Kollegen an die Arbeit.
Leo und Charly führten inzwischen die mutmaßliche Täterin zur Seite, abrufbereit stand ein Sanitäter parat.
„Wie ist Ihr Name?“
„Gina Radecker“, flüsterte sie und sah Leo an. Je länger sie hier war, desto ruhiger wirkte sie. „Ich bin froh, dass er tot ist.“
„Sagen Sie so etwas nicht, schon gar nicht ohne Ihren Anwalt. Sie kennen das Opfer?“
„Sehr gut sogar. Sein Name ist Michael Schmitt. Keine Ahnung, ob das sein richtiger Name ist, aber so hat er sich vorgestellt und seitdem ging es mit mir bergab. Michael hat mir alles genommen, ich habe nichts mehr. Keinen Cent hat er mir gelassen. Und meine Würde hat er mir auch genommen. Ich war eine starke, selbstbewusste Frau, die mitten im Leben stand. Ich war vermögend, sehr vermögend. Ich gab ihm alles. Er hat mit mir gespielt, mich um den Finger gewickelt. Als er alles hatte, nahm er noch mehr, indem ich für ihn Schulden machte. Ich hatte noch nie Schulden, aber jetzt muss ich sie bis an mein Lebensende abzahlen. Aber Michael reichte das nicht, er wollte immer mehr. Als ich nicht mehr wollte und endgültig einen Schlussstrich zog, hat er mich fallenlassen und verspottet. Niemand verspottet mich, das habe ich nicht verdient!“
„Natürlich nicht“, sagte Leo. „Sie haben den Mann verfolgt und dann erschossen?“
„Nein, das habe ich nicht. Sie sehen die Lage völlig falsch. Ich arbeite hier und er kam plötzlich in den Laden. Er stand einfach vor mir und war unverschämt.“
„Sie sind hier angestellt?“
„Seit fünf Monaten, da ich irgendwie mein Leben finanzieren und wieder auf die Beine kommen muss. Die Arbeit ist gut, der Verdienst ist lausig, aber ich komme zurecht. Meine Schulden kann ich damit zwar nicht abzahlen, aber zum Leben reicht es. Außerdem kam ich wieder zur Ruhe, konnte sogar einige Nächte ruhig schlafen. Nach all den Monaten stand er plötzlich vor mir. Er war unverschämt und bedrohte mich. Ich wollte, dass er geht, aber er schikanierte mich. Und dann diese herablassende Art und dieses hämische Lachen, das ich nicht mehr ertrug.“
„Dann haben Sie geschossen?“
„Geschossen? Ich? Vermutlich, denn er ist tot. Das ist er doch wirklich, oder?“
„Ja, er ist tot.“
„Gott sei Dank!“
„Sagen Sie das nicht mehr. Wir sind Polizisten und müssen das zu Protokoll geben, wenn Sie das nochmal wiederholen. Woher haben Sie die Waffe?“
„Das weiß ich nicht. Sie lag einfach da und da habe ich sie genommen.“
„Das ist nicht Ihre Waffe?“
„Nein, ich habe keine. Die Waffe lag da und ich nahm sie.“
„Das reicht“, sagte Charly zu Leo. „Wir haben ihr Geständnis.“
„Irgendetwas stimmt hier nicht. - Fuchs! Herkommen!“, rief Leo den Leiter der Spurensicherung, worauf der sofort erschien, auch wenn er nicht erfreut darüber war.
„Was gibt es so Dringendes?“
„Machen Sie bitte bei der Dame einen Schmauchtest?“
Fuchs hinterfragte nicht, das machte er nie. Wenn der Kollege Schwartz etwas anwies, das wie jetzt keinen Sinn zu machen schien, dann ging er dem trotzdem nach. Fuchs nickte nur, ging zu seinem Wagen und kam mit einem Koffer wieder zurück.
„Warum der Schmauchtest? Denkst du wirklich, dass die Frau nicht geschossen hat? Sie hat es doch eben selbst zugegeben.“ Charly wirkte genervt.
„Hat sie das wirklich zugegeben? Ich sehe das anders.“
Charly und Leo sahen Fuchs an, der in aller Ruhe und der gewohnten Routine seine Tests durchführte.
Die Minuten vergingen und kamen vor allem Charly wie eine Ewigkeit vor.
„Und?“, drängelte er.
„Negativ. Die Frau hat nicht geschossen. Das ist zwar nur ein Schnelltest, trotzdem ist er eindeutig.“
„Das kann nicht sein!“ Charly war außer sich. „Machen Sie den Test nochmal!“
„Das brauche ich nicht, das Ergebnis ist eindeutig, das sagte ich bereits. An Händen und Kleidung gibt es keine Schmauchspuren. Diese Frau hat nicht geschossen. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“
„Vielleicht hat sie Handschuhe getragen und sie hat sich umgezogen?“
„Wir haben keine Handschuhe oder andere Kleidungsstücke gefunden.“
„Haben Sie die Toilette untersucht? Schon mal davon gehört, dass man dort Dinge runterspülen kann? Was ist mit den Mülleimern? Haben Sie die alle durchsucht?“
„Wir machen unseren Job nicht zum ersten Mal, Kollege Dallmeyer. Wenn ich sage, dass wir keine Handschuhe und auch keine Kleidungsstücke gefunden haben, dann ist das so. Und bevor Sie nochmal mit der Theorie der Toilette anfangen - es gibt hier keine Toilette. Die Angestellten müssen das Café oben an der Ecke aufsuchen.“
„Ist das erlaubt?“
„Dazu kann ich nichts sagen, das interessiert mich auch nicht. Diese Frau hat nicht geschossen, das steht fest. Ein Kollege hat vorhin den Schusswinkel überprüft. Wo stand die Frau, als Sie sie fanden?“
„Hinter dem Verkaufstresen.“
„Von dort aus wurde nicht geschossen, sondern von ihr aus mindestens zwei Meter weiter links.“
„In dem Fall müsste sie geschossen und dann rasch hinter den Tresen gegangen sein. Möglich ist das“, sagte Charly.
„Hören Sie mir nicht zu? Die Frau hat nicht geschossen!“, maulte Fuchs.
„Wird das Geschäft videoüberwacht?“
„Bisher haben wir keine Kamera gefunden, aber wir suchen weiter. Die neuen Kameras sind so winzig, dass sie überall sein könnten.“
Leo zog Charly zur Seite, nachdem er einen Sanitäter bat, sich um Frau Radecker zu kümmern.
„Wenn sie nicht geschossen hat, wer dann?“ Charly war völlig ratlos. Für ihn war klar, dass es diese Frau war. Aber nach dem Schmauchtest und der Aussage des Kollegen Fuchs war das ausgeschlossen.
„Das gilt es herauszufinden. Was war hier los? Was ist hier passiert? Wir müssen ganz von vorn anfangen und dürfen uns nicht davon leiten lassen, dass wir die Täterin bereits haben.” Leo sah sich um. Die vielen Schaulustigen, die sich inzwischen hinter der Absperrung einfanden, waren kaum mehr zu überblicken. Er atmete tief durch und sah Charly an. „Machen wir uns an die Arbeit.“
„Und was machen wir mit dem Toten im Altöttinger Forst?“
„Ich informiere die Kollegen, sollen die sich um die Hintergrund-Informationen kümmern. Und später kann sich Max den Laptop vornehmen. Aber jetzt machen wir unsere Arbeit hier vor Ort.“
Inzwischen bei der Polizeiinspektion Mühldorf am Inn…
Nicole Bruckner und Max Saxeder saßen schweigend an ihren Rechnern.