Der Alchimist - Paulo Coelho - E-Book + Hörbuch

Der Alchimist E-Book

Paulo Coelho

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Beschreibung

Santiago, ein andalusischer Hirte, hat einen wiederkehrenden Traum: Am Fuß der Pyramiden liege ein Schatz für ihn bereit. Soll er das Vertraute für möglichen Reichtum aufgeben? Santiago ist mutig genug, seinem Traum zu folgen. Er begibt sich auf eine Reise, die ihn über die Souks in Tanger bis nach Ägypten führt, er findet in der Stille der Wüste auch zu sich selbst und erkennt, dass das Leben Schätze bereithält, die nicht mit Gold aufzuwiegen sind.

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Paulo Coelho

Der Alchmist

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Cordula Swoboda Herzog und Maralde Meyer-Minnemann

Diogenes

Für J., der die Geheimnisse des Großen Werks kennt und von ihnen Gebrauch macht

Heilige Maria, ohne Sünden empfangen, bete für uns, die wir uns an dich wenden. Amen

Als sie weiterzogen, kam er in ein Dorf. Eine Frau namens Marta nahm ihn gastlich auf. Sie hatte eine Schwester, die Maria hieß. Maria setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seinen Worten zu. Marta aber war ganz davon in Anspruch genommen zu dienen. Sie kam zu ihm und sagte: Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester die Arbeit mir allein überlässt? Sag ihr doch, sie soll mir helfen! Der Herr antwortete: Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat den guten Teil gewählt, der wird ihr nicht genommen werden.

Lukas, 10: 38–42

Prolog

Der Alchimist nahm ein Buch zur Hand, das jemand, der mit der Karawane gekommen war, mitgebracht hatte. Das Buch hatte keinen Einband, dennoch konnte er den Autor ausmachen: Oscar Wilde. Beim Durchblättern fand er eine Geschichte über Narziss. Natürlich war dem Alchimisten die Sage des schönen Jünglings Narziss bekannt, der jeden Tag seine Schönheit im Spiegelbild eines Teichs bewunderte. Er war so von sich fasziniert, dass er eines Tages das Gleichgewicht verlor und ertrank. An jener Stelle wuchs am Ufer eine Blume, die den Namen Narzisse erhielt. Doch Oscar Wilde beendete seine Geschichte anders. Er erzählt, dass nach dem Tod des Jünglings Oreaden erschienen, Waldfeen, die statt eines Teichs mit süßem Wasser einen Tümpel voll salziger Tränen vorfanden.

»Warum weinst du?«, fragten die Feen.

»Ich trauere um Narziss«, antwortete der Teich.

»Oh, das überrascht uns nicht, denn obwohl wir alle hinter ihm herliefen, warst du doch der Einzige, der seine betörende Schönheit aus nächster Nähe betrachten konnte.«

»War Narziss denn so schön?«, verwunderte sich der Teich.

»Wer könnte das besser wissen als du?«, antworteten die Waldfeen überrascht. »Schließlich hat er sich täglich über dein Ufer gebeugt, um sich zu spiegeln.«

Daraufhin schwieg der Teich eine Weile. Dann sagte er: »Zwar weine ich um Narziss, aber dass er so schön war, habe ich nie bemerkt. Ich weine um ihn, weil sich jedes Mal, wenn er sich über meine Wasser beugte, meine eigene Schönheit in seinen Augen widerspiegelte.«

 

»Was für eine schöne Geschichte«, sagte der Alchimist.

Erster Teil

1

Der junge Mann hieß Santiago. Es fing bereits an zu dämmern, als er mit seiner Schafherde zu einer alten, verlassenen Kirche kam. Das Dach war schon vor geraumer Zeit eingestürzt, und ein riesiger Feigenbaum wuchs an jener Stelle, an der sich einst die Sakristei befand.

Er entschloss sich, die Nacht hier zu verbringen. Er trieb alle Schafe durch die zerfallene Tür und legte einige Bretter so davor, dass ihm die Tiere während der Nacht nicht entwischen konnten. Zwar gab es keine Wölfe in jener Gegend, aber einmal war ihm eines der Tiere während der Nacht davongelaufen, und er hatte den ganzen folgenden Tag mit der Suche nach dem verirrten Schaf verbracht.

Dann breitete er seinen Mantel auf dem Fußboden aus, legte sich hin und nahm das Buch, in dem er gerade gelesen hatte, als Kopfkissen. Vor dem Einschlafen überlegte er sich, dass er in Zukunft dickere Bücher lesen sollte, weil man länger etwas davon hatte und weil sie eine bequemere Kopfstütze abgaben.

Es war noch finster, als er erwachte. Als er nach oben schaute, sah er die Sterne zwischen den Dachbalken durchscheinen.

›Eigentlich wollte ich noch weiterschlafen‹, dachte er bei sich. Er hatte den gleichen Traum gehabt wie schon vor einer Woche, und wieder war er vor dem Ende aufgewacht.

Er stand auf und trank einen Schluck Wein. Dann nahm er seinen Hirtenstab und begann, die noch schlafenden Schafe zu wecken. Ihm war aufgefallen, dass die meisten Tiere, wenn er aufwachte, ebenfalls wach wurden, als ob ein geheimnisvoller Gleichklang sein Leben mit dem der Schafe verband, die nun schon seit zwei Jahren mit ihm auf der Suche nach Wasser und Nahrung übers Land zogen.

›Sie haben sich schon so an mich gewöhnt, dass sie meinen Rhythmus kennen‹, dachte er. Aber nach kurzer Überlegung kam er zu dem Schluss, dass es auch umgekehrt sein könnte: Er selbst hatte sich dem Rhythmus seiner Schafe angepasst.

Einige unter den Tieren brauchten etwas länger, um wach zu werden. Santiago stupste sie mit seinem Stab und rief dabei jedes beim Namen. Er hatte seinen Schafen schon immer zugetraut, dass sie verstanden, was er sagte. Darum las er ihnen auch gelegentlich Abschnitte aus Büchern vor, die ihn besonders beeindruckten, oder er philosophierte laut über die Einsamkeit und die Freuden eines Schafhirten oder kommentierte die letzten Neuigkeiten, die er in den Orten aufgeschnappt hatte, durch die er zu ziehen pf‌legte.

Seit zwei Tagen jedoch sprach er beinahe nur noch über eines: die Kaufmannstochter, die in einer Kleinstadt lebte, die sie in vier Tagen erreichen würden. Er war im vergangenen Jahr zum ersten Mal dort gewesen. Der Kaufmann war Tuchhändler und arbeitete mit einem Weber, und er bestand darauf, dass Schafe vor seinem Geschäft geschoren wurden, um jeden Betrug zu vermeiden. Ein Bekannter hatte den Laden empfohlen, und so brachte der Hirte seine Schafe jetzt dorthin.

2

»Ich möchte Wolle verkaufen«, hatte er damals zum Kaufmann gesagt. Der Laden des Mannes war voll Kundschaft, sodass der Händler den Schäfer bat, sich bis zum späten Nachmittag zu gedulden. Dieser setzte sich auf den Gehsteig vor dem Geschäft und nahm ein Buch aus seiner Tasche.

»Ich wusste ja gar nicht, dass Hirten lesen können«, bemerkte eine weibliche Stimme an seiner Seite.

Sie war mit ihren langen schwarzen Haaren und den dunklen Augen, die vage an die maurischen Eroberer erinnerten, ein typisches junges andalusisches Mädchen.

»Weil einem Schafe mehr beibringen können als Bücher«, erwiderte Santiago.

Sie unterhielten sich über zwei Stunden lang. Das junge Mädchen sagte, sie sei die Tochter des Händlers, und erzählte vom Leben in ihrem Ort, wo ein Tag dem anderen glich. Der Schäfer berichtete von den verschiedenen Gegenden Andalusiens und den Neuigkeiten aus den Ortschaften, die er besucht hatte. Er freute sich, mit jemand anderem als mit den Schafen reden zu können.

»Wie hast du denn lesen gelernt?«, wollte das Mädchen wissen.

»In der Schule, wie alle anderen auch«, erwiderte Santiago.

»Aber wenn du doch lesen kannst, weshalb bist du dann nur ein Hirte geworden?«

Santiago wich der Frage aus, weil er überzeugt war, dass das Mädchen ihn nicht verstehen würde. Stattdessen berichtete er weiter von seinen Reisen, und die dunklen Augen wurden vor Staunen und Verblüffung mal groß und mal ganz schmal. Und die ganze Zeit hoffte er im Stillen, dass dieser Tag nie enden würde oder dass der Vater des Mädchens ihn noch weitere drei Tage warten ließ. Er verspürte zudem einen ihm bisher unbekannten Wunsch – den Wunsch dazubleiben. Mit dem schwarzhaarigen Mädchen würden die Tage gewiss nie langweilig werden.

Doch dann erschien der Tuchhändler, forderte ihn auf, vier Schafe zu scheren, gab ihm seinen Lohn und bat ihn, im kommenden Jahr wieder vorbeizuschauen.

3

Jetzt war er nur noch vier Tagesreisen von dem Ort entfernt. Er war aufgeregt und zugleich verunsichert: Vielleicht hatte ihn das Mädchen auch längst vergessen, denn es kamen viele Hirten dort vorbei, um Wolle zu verkaufen.

»Das wäre auch egal«, sagte Santiago laut zu seinen Schafen, »Ich kenne schließlich auch noch andere Mädchen in anderen Orten.«

Aber im Grunde seines Herzens wusste er, dass es ihm nicht egal war. Und dass sowohl Hirten als auch Matrosen oder reisende Händler immer irgendeinen Ort kannten, wo es jemanden gab, bei dem sie die Freude vergaßen, frei durch die Welt zu reisen.

4

Der Tag brach an, und der Hirte trieb seine Schafe in Richtung Sonnenaufgang.

›Die müssen nie selber eine Entscheidung fällen‹, dachte er. ›Vielleicht bleiben sie auch deshalb bei mir.‹

Ihnen geht es nur darum zu trinken und zu fressen. Solange er sie auf die sattesten Wiesen Andalusiens führte, würden sie seine Freunde sein. Selbst wenn ein Tag dem anderen glich, die Stunden sich eintönig zwischen Sonnenaufgang und -untergang hinzogen, selbst wenn sie in ihrem kurzen Leben nie ein Buch lesen und nie verstehen würden, was sich die Menschen alles erzählten. Ihnen reichten Wasser und Nahrung. Im Gegenzug leisteten sie ihm Gesellschaft und gaben ihm Wolle und manchmal sogar ihr Fleisch.

›Wenn ich mich plötzlich in eine Bestie verwandeln und eines nach dem anderen abschlachten würde, würden sie es erst bemerken, wenn die Herde schon so gut wie ausgerottet wäre‹, dachte Santiago. ›Denn sie vertrauen mir und nicht länger ihrem Instinkt. Nur, weil ich sie mit Nahrung und Wasser versorge.‹

Der junge Mann wunderte sich über seine Gedanken. Vielleicht war die alte Kirche mit dem Feigenbaum irgendwie verhext gewesen. Immerhin war sie schuld daran, dass er einen Traum zum zweiten Mal träumte und sich über seine so treuen Gefährten plötzlich ärgerte. Er trank einen Schluck Wein, der noch von der Abendmahlzeit übrig geblieben war, und zog den Mantel enger um sich. Ihm war klar, dass es in einigen Stunden, wenn die Sonne senkrecht stand, zu heiß sein würde, um seine Schafe über die Felder zu führen. Dann hielt im Sommer ganz Spanien Siesta. Die Hitze dauerte bis in die Abendstunden an, und die ganze Zeit über schleppte er seinen Mantel mit sich. Aber jedes Mal, wenn er sich darüber beklagen wollte, fiel ihm wieder ein, dass er es ihm verdankte, wenn er morgens nicht fror.

›Wir müssen, was das Wetter betrifft, immer für alles gerüstet sein‹, dachte er und freute sich über das Gewicht des Mantels.

Sein Mantel hatte ebenso eine Bestimmung wie sein eigenes Leben. Nach zwei Jahren kannte er nun schon alle Orte Andalusiens in- und auswendig, und der Sinn eines Lebens bestand vor allem in einem: zu reisen. Er nahm sich vor, dem Mädchen diesmal zu erklären, warum ein einfacher Hirte lesen konnte: Bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr hatte er eine Klosterschule besucht. Seine Eltern wollten, dass er Priester wurde, worauf eine einfache Bauernfamilie stolz sein konnte. Denn auch sie waren wie seine Schafe bisher damit zufrieden gewesen, genug zu essen und zu trinken zu haben. So kam es, dass er Unterricht in Latein, Spanisch und Theologie erhielt. Doch seit seiner Kindheit träumte er davon, die Welt kennenzulernen, und das war ihm viel wichtiger, als mehr über Gott und die Sünden zu erfahren. Eines Nachmittags, als er seine Eltern besuchte, fasste er sich ein Herz und verkündete seinem Vater, er wolle nicht Priester werden, sondern reisen.

5

»Menschen aus der ganzen Welt sind schon durch diesen Ort gekommen, mein Sohn«, sagte damals sein Vater. »Sie kommen auf der Suche nach neuen Dingen, aber sie bleiben dabei dieselben. Sie gehen auf den Hügel, um die Burg zu besichtigen, und glauben, dass die Vergangenheit besser war als die Gegenwart. Sie haben blonde Haare oder dunkle Haut, aber im Grunde sind sie alle so wie die Leute in unserem Ort.«

»Aber ich kenne die Burgen in ihren Ländern nicht«, entgegnete Santiago.

»Wenn sie unsere Gegend und unsere Frauen kennenlernen, dann sagen diese Männer, dass sie am liebsten für immer dableiben möchten«, fuhr sein Vater fort.

»Auch ich würde gerne die Frauen und die Länder kennenlernen, aus denen sie kommen«, bekannte Santiago. »Denn schließlich bleiben sie am Ende doch nie.«

»Diese Männer haben die Taschen voll Geld«, sagte wieder der Vater. »Bei uns reisen nur die Hirten.«

»Dann werde ich Hirte.«

Darauf entgegnete der Vater nichts mehr. Am folgenden Tag gab er ihm eine Geldbörse mit drei alten spanischen Goldmünzen.

»Ich habe sie vor längerer Zeit auf dem Feld gefunden. Es sollte eigentlich für deine Aufnahme in die Kirche dienen. Kauf dir davon eine Herde und zieh durch die Welt, bis du gelernt hast, dass unsere Burg die bedeutendste ist und unsere Frauen die schönsten sind.« Und er gab ihm seinen Segen. Doch las der Sohn auch in den Augen des Vaters den Wunsch, in die Welt hinauszuziehen. Eine Sehnsucht, die offenbar in ihm fortlebte, trotz der Jahrzehnte, in denen er versucht hatte, sie zugunsten von Wasser und Nahrung und eines festen Platzes zum Schlafen zu vergessen.

6

Der Horizont färbte sich rot, und die Sonne ging auf. Santiago erinnerte sich jetzt an diese Unterhaltung mit seinem Vater und freute sich; er hatte inzwischen schon viele Burgen und viele junge Frauen kennengelernt – aber keine wie das junge Mädchen, das ihn in einigen Tagen erwartete. Er besaß einen Mantel, ein Buch, das er gegen ein anderes eintauschen konnte, und eine Schafherde. Das Wichtigste aber war, dass er jeden Tag den Traum seines Lebens verwirklichen konnte: zu reisen. Wenn er die Weiten von Andalusien satthätte, könnte er seine Schafe verkaufen und Seemann werden. Wenn er vom Meer genug hätte, könnte er all die Orte, die Frauen und all die Möglichkeiten zum Glücklichsein kennenlernen.

›Ich kann nicht verstehen, wie man Gott in einem Priesterseminar finden soll‹, dachte er, während er die aufgehende Sonne betrachtete. Wenn möglich suchte er sich immer neue Wege. Nie zuvor war er in dieser verlassenen Kirche gewesen, obwohl er da schon öfter vorbeigekommen war.

Die Welt war groß und unerschöpf‌lich, und wenn er seinen Schafen erlauben würde, ihn ein wenig zu führen, so würde er sicherlich noch mehr Interessantes entdecken.

›Allerdings bemerken sie nicht, dass sie täglich neue Wege beschreiten. Ihnen ist nicht bewusst, dass die Wiesen und auch die Jahreszeiten wechseln, denn sie sind einzig und allein mit der Suche nach Nahrung und Wasser beschäftigt. Aber vielleicht geht es uns Menschen ja genauso‹, dachte der Hirte. ›Sogar ich denke an kein anderes Mädchen mehr, seit ich die Tochter des Tuchhändlers kennengelernt habe.‹

Er sah zum Himmel hinauf und schätzte, dass er noch vor dem Mittag in Tarifa eintreffen würde. Dort konnte er sein Buch gegen ein dickeres eintauschen, seine Weinflasche nachfüllen, sich rasieren und sich die Haare schneiden lassen; er wollte schließlich vorbereitet sein für die Begegnung mit der Kaufmannstochter und mochte gar nicht daran denken, dass womöglich ein anderer Schäfer mit einer größeren Herde vor ihm da gewesen war und um ihre Hand angehalten hatte.

›Erst die Möglichkeit, einen Traum zu verwirklichen, macht unser Leben lebenswert‹, überlegte er, während er erneut zum Himmel hinaufsah und seine Schritte beschleunigte. Ihm war nämlich gerade eingefallen, dass es in Tarifa eine Alte gab, die Träume deuten konnte. Und vergangene Nacht hatte er zum zweiten Mal denselben Traum gehabt.

7

Die Alte führte den Besucher in einen Raum im hinteren Teil des Hauses, der vom Wohnzimmer durch einen Vorhang aus bunten Plastikstreifen abgetrennt war. Dort gab es einen Tisch, zwei Stühle und ein Bildnis vom Heiligen Herz Jesu.

Die Alte setzte sich und forderte ihn auf, ebenfalls Platz zu nehmen. Dann ergriff sie beide Hände Santiagos und betete leise. Es klang wie ein Gitano-Gebet. Er war unterwegs schon etlichen Gitanos begegnet. Auch sie reisten, obwohl sie keine Hirten waren und Schafe hüteten. Die Leute behaupteten, die Gitanos seien nur darauf aus, andere zu betrügen, dass sie im Bündnis mit den Dämonen wären und Kinder raubten und sie in ihren geheimnisvollen Lagerplätzen als Sklaven hielten. Als kleiner Junge hatte er immer schreckliche Angst gehabt, von den Gitanos verschleppt zu werden, und diese alte Erinnerung kam nun wieder hoch, während die Alte seine Hände festhielt.

›Aber sie hat ja ein Bild von Jesus an der Wand‹, versuchte er sich zu beruhigen. Er wollte nicht, dass seine Hände zu zittern begannen und die Alte womöglich seine Angst bemerkte. Im Stillen sprach er ein Vaterunser.

»Wie interessant«, bemerkte die Alte, ohne ihre Augen von seinen Händen abzuwenden. Und schwieg wieder.

Santiago wurde immer unruhiger. Seine Hände begannen unwillkürlich doch zu zittern, und die Alte bemerkte es. Schnell zog er sie zurück.

»Ich bin nicht hier, um mir die Hand lesen zu lassen«, sagte er und bereute schon, überhaupt gekommen zu sein. Für einen Augenblick dachte er, dass es besser sei, sofort zu zahlen und zu verschwinden, ohne etwas erfahren zu haben. Er hatte einem wiederkehrenden Traum einfach zu viel Bedeutung beigemessen.

»Du willst etwas über Träume erfahren«, antwortete die Alte. »Und Träume sind die Sprache Gottes. Wenn er die Sprache der Welt spricht, kann ich sie deuten. Aber wenn er die Sprache deiner Seele spricht, so kannst nur du selber sie verstehen. Dennoch werde ich die Beratung berechnen.«

›Das ist ein Trick‹, dachte der junge Mann. Trotzdem wollte er es wagen. Schließlich bestand für Hirten auch immer die Gefahr, mit Wölfen und Trockenheit fertigwerden zu müssen, und das machte seinen Beruf erst spannend.

»Ich hatte den gleichen Traum zweimal hintereinander«, sagte er. »Ich träumte, dass ich mit meiner Herde auf der Weide war, als plötzlich ein Kind erschien, das mit den Schafen zu spielen begann. Eigentlich mag ich nicht, wenn man meine Schafe stört, sie haben nämlich Angst vor Fremden. Aber Kinder können immer mit ihnen herumtoben, ohne dass sie sich erschrecken. Ich weiß nicht, warum. Wie können die Schafe wohl das Alter eines Menschen erkennen?«

»Komm endlich zur Sache«, unterbrach ihn die Alte. »Ich habe einen Topf auf dem Feuer. Außerdem hast du wenig Geld und kannst meine Zeit nicht so lange beanspruchen.«

»Das Kind spielte ein Weilchen mit den Schafen«, fuhr Santiago etwas beschämt fort. »Und auf einmal nahm es mich bei der Hand und führte mich zu den Pyramiden von Ägypten.«

Er machte eine kleine Pause, um die Wirkung seiner Worte abzuwarten. Doch die Alte blieb stumm.

»Dann, bei den Pyramiden von Ägypten«, die letzten drei Worte sprach er besonders betont, damit die Alte sie auch ja verstand, »sagte mir das Kind: ›Wenn du dorthin gelangst, wirst du einen verborgenen Schatz finden.‹ Und als es mir den genauen Ort zeigen wollte, wachte ich auf. Beide Male.«

Die Alte blieb noch eine Weile stumm. Dann griff sie erneut nach seinen Händen und begann, sie genauestens zu studieren.

»Ich werde dir jetzt nichts abverlangen«, sagte sie. »Aber ich möchte ein Zehntel deines Schatzes, wenn du ihn findest.«

Santiago lachte. Vor Freude. Er durf‌te um eines erträumten Schatzes willen das bisschen Geld behalten, das er noch besaß. Wie dumm die Alte doch war!

»Also gut, dann deute den Traum«, bat Santiago.

»Vorher musst du mir noch schwören, dass du mir tatsächlich den zehnten Teil deines Schatzes abgibst als Lohn für das, was ich dir sagen werde.«

Der junge Mann schwor, und die Alte bat ihn, den Schwur vor dem Christusbild zu wiederholen.

»Hier handelt es sich um einen Traum in der Sprache der Welt«, sagte sie. »Ich kann ihn deuten, und es ist eine sehr schwierige Auslegung. Darum ist es nur gerecht, wenn mir ein Teil deines Fundes zusteht. Die Deutung ist folgende: Du sollst zu den Pyramiden von Ägypten gehen. Ich habe zwar noch nie etwas von ihnen gehört, aber wenn dir ein Kind den Weg gewiesen hat, dann gibt es sie wirklich. Dort wirst du dann einen Schatz finden, der dich sehr reich macht.«

Santiago war erst überrascht, dann enttäuscht. Dafür hätte er nicht herkommen müssen. Doch schließlich brauchte er auch noch nichts zu bezahlen.

»Für diese Auskunft hätte ich meine Zeit nun wirklich nicht zu verschwenden brauchen«, meinte er.

»Darum sagte ich bereits, dass es sich um einen schwierigen Traum handelt. Die einfachen Dinge sind die ungewöhnlichsten, die nur die Gelehrten verstehen können. Da ich aber keine Gelehrte bin, muss ich andere Künste anwenden, wie beispielsweise das Handlesen.«

»Und wie soll ich nun nach Ägypten kommen?«

»Ich kann Träume nur deuten. Ich kann sie nicht in Wirklichkeit verwandeln. Darum muss ich auch von dem leben, was mir meine Töchter abgeben.«

»Und wenn ich nie nach Ägypten komme?«

»Dann bleibe ich ohne Bezahlung. Das wäre nicht das erste Mal.« Daraufhin schickte die Alte den jungen Mann fort, denn sie hatte schon genug Zeit mit ihm verloren.

8

Santiago zog enttäuscht davon und nahm sich vor, nie mehr einem Traum Glauben zu schenken. Ihm fiel wieder ein, dass er noch einiges zu erledigen hatte: Er besorgte sich Lebensmittel, tauschte sein Buch gegen ein dickeres ein, und dann setzte er sich auf eine Bank auf dem Marktplatz, um den Wein zu kosten, den er gekauft hatte.

Es war ein sehr heißer Tag, doch erstaunlicherweise erfrischte ihn der Wein dennoch. Die Schafe waren am Ortseingang, im Stall eines seiner neuen Freunde, gut aufgehoben. Er kannte überhaupt eine Menge Leute in dieser Gegend, und darum reiste er auch so gerne. Man konnte immer wieder neue Freundschaften schließen und musste nicht Tag für Tag mit denselben Leuten auskommen. Wenn man, wie im Priesterseminar, immer dieselben Menschen um sich hat, dann lassen wir sie zu einem festen Teil unseres Lebens werden. Und wenn sie dann ein fester Teil davon geworden sind, wollen sie unser Leben verändern. Und wenn wir dann nicht so werden, wie sie es erwarten, sind sie verärgert. Denn alle Menschen haben immer genaue Vorstellungen davon, wie wir unser Leben am besten zu leben haben. Allerdings wissen sie selber nie, wie sie ihr eigenes Leben am besten anpacken sollen. Wie jene Traumdeuterin, die nicht fähig war, die Träume Wirklichkeit werden zu lassen.

Er wollte noch darauf warten, dass die Sonne tiefer stand, bis er mit seiner Herde weiterzog. In nur mehr drei Tagen würde er bei der Tochter des Händlers sein.

Nun begann er das Buch zu lesen, das er vom Pfarrer von Tarifa bekommen hatte. Es war sehr dick und handelte gleich auf der ersten Seite von einer Beerdigung, und die Namen der Figuren waren sehr kompliziert. Wenn er eines Tages selber ein Buch schreiben würde, dachte er bei sich, so würde er immer nur jeweils eine Person nach der anderen in Erscheinung treten lassen, um den Leser nicht zu verwirren.

Als er sich endlich in die Lektüre vertiefen konnte – und sie gefiel ihm gut, denn sie handelte von einer Beerdigung im Schnee, was ihm unter dieser starken Mittagssonne ein Gefühl von Frische vermittelte –, setzte sich ein alter Mann zu ihm auf die Bank und begann eine Unterhaltung.

»Was machen all die Leute?«, fragte der Alte, während er auf die Menschen auf dem Marktplatz deutete.

»Arbeiten«, antwortete Santiago knapp und tat so, als sei er in die Lektüre vertieft. In Wirklichkeit aber dachte er jetzt daran, dass er die Schafe diesmal vor den Augen der Tochter des Händlers scheren würde, damit sie sah, was er für interessante Dinge beherrschte. Diese Szene hatte er sich schon öfter vorgestellt; und immer war das Mädchen verblüfft, wenn er ihr erklärte, dass Schafe von hinten nach vorne geschoren werden müssen. Auch versuchte er, sich an ein paar gute Anekdoten zu erinnern, die er ihr während der Arbeit erzählen könnte. Die meisten kannte er aus irgendwelchen Büchern, aber er wollte sie so erzählen, als hätte er sie selbst erlebt. Sie würde es nicht merken, weil sie nicht lesen konnte.