Der Andere - Träumereien eines Schizophrenen - Lothar Streblow - E-Book

Der Andere - Träumereien eines Schizophrenen E-Book

Lothar Streblow

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Beschreibung

Lothar Streblow befasste sich ausgiebig mit Studien über Verhaltensforschung und Psychologie. Von diesen Erkenntnissen inspiriert, entstanden zahlreiche Radiosendungen, Hörspiele und Essays, außerdem Umwelt- und Tiererzählungen. Er versuchte dabei stets dem sachkundlichen Anspruch gerecht zu werden. Gleichzeitig überzeugt er durch eine sehr bildhafte und lebendige Sprache und es gelingt ihm in die Gefühlswelt der Individuen einzudringen und diese darzustellen. Die Erzählung "Der Andere – Träumereien eines Schizophrenen" sind ein sehr schönes Beispiel dafür.-

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Lothar Streblow

Der Andere

Träumereien eines Schizophrenen

SAGA Egmont

Der Andere - Träumereien eines Schizophrenen

Copyright © 1961, 2018 Lothar Streblow und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711763650

1. Ebook-Auflage, 2018

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com

Einführung

Da sitzt ein Mann im Zug, im Zug der Zeit, im Zug der Vergänglichkeit sich selbst gegenüber. Das ist der Andere, jener seltsam mit sich selbst Austauschbare, dessen Stimme man eher fühlt als hört und der immer existent ist, bewußt oder unbewußt.

Seltsames erlebt der Mann im Zug, der dem Ende zueilt, der absoluten Endstation: Rudimente von Erinnerungen, aufsteigend wie schillernde Blasen, – gleitende Bilder von Geliebten, bruchstückhafte Szenen einer nun visionären Vergangenheit, Skizzen aus Traum und Realität; – und die Begegnung auf der roten Wiese, der Tanz der verdammten Mädchen, die auf Erlösung warten, auf Erlösung durch die Liebe, und die verdammt bleiben, wenn man sie täuscht, Verdammte einer unmenschlichen Wirklichkeit. Und auch der Mann wird Opfer, Opfer jener Wirklichkeit, die ihn formte, nun Opfer einer schwerwiegenden Fehlentscheidung: Der Andere saß im Zug, und er trug seinen Namen. – Hier wird die Leitformel erkennbar, die Lothar Streblow seiner Arbeit zugrunde legte: Sind wir nicht mit uns selbst identisch, handeln wir gegen uns.

Es ist die Frage nach der Identität des Ich, nach der Bewußtheit der eigenen Existenz, letztlich die Auseinandersetzung mit jener Sphäre in uns, die uns in den Augenblicken zwischen Wachen und Traum hemmungslos uns selbst ausliefert.

Der Zug fraß seine Straße in die Zeit, und die Gesichter der Lande versanken wie Bilder in einer schwarzen Truhe. Stationen saugten den Dampf der Lokomotive ein und spien Menschen aus, die Besitz nahmen vom Zug, gleichgültig, erwartungsvoll, aber immer ohne Ehrfurcht. Er ist ein Instrument des Daseins, dachten sie.

Ein Mann saß im Zug. Irgendwo hatte auch er seinen Besitz angetreten. Nun saß er in seinem Abteil. Nüchtern war es, wie die anderen, ein Zugabteil. Und es war leer. Nur der Mann gab seiner Bestimmung den Sinn.

Der Mann hatte die Augen geschlossen. Lange saß er so. Der Rhythmus der schlagenden Räder auf den Geleisen drang gleichsam in ihn ein, verschmolz sich mit dem sanften Ticken seines Blutes und bildete so das Schlagwerk eines Orchesters, dessen Melodie sich trumhaft über die Gepäcknetze spann. Und mählich erwuchsen aus dem Schatten der Resonanz wuchtige Bäume empor; sie wiegten sich leise im Takt und erzählten flüsternd den Weg jener Bank, auf der er saß. Es war ein raunendes Geschwätz gleich dem Summen großer Wälder. Und er schritt hindurch, schabte die Haut seiner Wange an der rissigen Borke, spürte das kalte Brennen der rauhen Berührung und legte ermüdet den Kopf in die knorrigen Wurzeln. Das Orchester tremolierte zwischen Harmonie und Dissonanz, die Pauken dröhnten, und ein schwarzer Ton setzte sich matt in den schillernden Regenbogen des letzten Akkords.

Dieser Augenblick war es, der ihm befahl, die bleichen Lider zu heben. Scharf hing der milchige Schein der Lampe im Abteil, drängte sich aus dem Vakuum seines gläsernen Hauses, aufdringlich und kalt. Harte Schatten lagen unter den Sitzen – wie träge Tiere in der Mittagssonne, dachte er, und ein schaler Geruch verwesten Tabakrauches strömte aus den Fugen der Holzverkleidung. Es war das Abteil in seiner faden Sachlichkeit, nichts weiter.

Langsam hob er den Blick. Das Gegenständliehe zog sich gemessen in seine Grenzen zurück, und er bemerkte, wie der Platz gegenüber in seinen Gesichtskreis trat. Es war wie ein schmales Verwundern, das sich sekundenlang gleich einem Netz auf seine sonst so befriedeten Züge legte; dann senkte sich wieder das milde Verstehen über sein Gesicht: Er hatte sein Gegenüber erkannt.

Der Andere neigte grüßend die Stirn und lächelte, und er tat ein gleiches.

Die Räder klopften eintönig, nur hin und wieder tanzte ein Signal über die Fensterscheiben. So fuhren sie eine zeitlang. Und die Minuten traten geruhsam in das Schweigen und gingen wieder, wie Spaziergänger an einem Sonntagnachmittag. Sie sammelten sich auf dem Platz vor dem alten grauen Rathaus und tränkten das klobige Pflaster mit dem Gewäsch vergangener Tage, klagten über die Zuchtlosigkeit der jungen Leute und das Steigen der Preise, feilschten um die Moral einer ledigen Nachbarin, die ein Kind bekommen hatte, und sonnten sich in dem fragwürdigen Glanz ihrer ausgefransten Tugend. Die Müßigkeit des Seins sammelte sich auf dem Boden der Vergänglichkeit zu fetten Stunden, und diese faßten die folgenden bei der Hand und zogen sie gleich einer langen Kette hinter sich her.

Das Lächeln seines Gegenüber vertiefte sich. Er mochte wohl noch an das Treiben vor dem Rathaus denken, und er schwieg. Die Geräusche des Zuges verkrochen sich in die Winkel des Abteils, und eine Stille hing sich darüber, gleich einem samtenen Vorhang – es schien ihm, als wollte sie das Kommende vor der Trivialität des Alltags bewahren, sie strömte eine kalte Feierlichkeit aus und wartete anscheinend auf etwas, das kommen mußte, unabänderlich wie ein Naturgesetz. Eine geringe Zeit schlich sich so durch den Raum, dann schlug es metallisch in die schwebende Leere: zwölfmal. Es war die Glocke einer fernen Dorfkirche. Und der Andere sprach:

„Es läutet den Tod des Gestern.“

Diese Stimme hatte einen weichen Klang, denselben weichen Klang, den der Mann so gut kannte; und es verlangte ihn, seine eigene Stimme zu hören. Die Glocke war verstummt, nur ein sacht verklingendes Schwingen erinnerte noch an sie. Und die Geräusche kamen wieder aus den Ecken hervor und produzierten sich, breit und behäbig.

„Die Geburt des Heute ist vollbracht.“

Es hat sonderbar geklungen, als ich das eben sagte, dachte der Mann, aber es war meine Stimme – und eigentlich wollte ich etwas anderes sagen.

Der Andere nickte bestätigend.

„Das Neue beginnt immer im Dunkel des Alten“, sagte er streng.

Der Mann sah sein Gegenüber lange an. Warum mußte dieser gerade diese Worte wählen? Warum? Er kannte ihn schon lange, viel länger als diesen einen Augenblick, und länger noch als jenes Mysterium, das man Zeit nannte. Aber nie hatte er mit ihm gesprochen, und nie hatte dieser das Wort an ihn gerichtet. Es mußte etwas Besonderes sein, daß es gerade heute geschah.

Und dann setzte sich das Schweigen zu ihnen auf die Bank, lautlos fast; nur das Holz knackte ein wenig und die Räder klopften, und Signale tanzten durch die Nacht. Ein weißer Schleier legte sich vor das Fenster. Es war ein sprödes Weiß mit dunklen Rissen, wie schmutzige Straßen in einer verschneiten Landschaft, und ein schwarzer unförmiger Klumpen bewegte sich mühsam vorwärts, ein Wagen, der im Schnee fast steckenblieb. Der Mann beugte sich vor, um besser sehen zu können, da riß der Zugwind die Dampffetzen der Lokomotive hinweg und ein Kohlestückchen rutschte träge über die feuchte Scheibe. Es könnte eine Fliege sein, dachte er, eine Fliege, die im Honig zappelt, oder eine Ameise in der Marmelade. Aber es müßte schwarzer Honig sein und schwarze Marmelade, schwarz wie die Scheibe, schwarz wie eine Wand aus Nacht.

Er fühlte plötzlich einen leisen Ärger in sich aufsteigen: Er stimmte nicht, der Vergleich; das Kohlestückchen zappelte nicht; es konnte gar keine Fliege sein und auch keine Ameise. Und was hatte sein Gegenüber vorhin gesagt: „Das Neue beginnt immer im Dunkel des Alten“? Das war gar nicht neu. Und warum hatten sie beide nur so entsetzlich pathetisch gesprochen: wie Dilettanten, die den schlechten Abklatsch einer griechischen Tragödie improvisieren wollten? –

Aber er fand bald eine Erklärung. Man machte das wohl immer so, wenn man sich eines Tages jemandem gegenüber sieht, für den man so eine Art unangenehme Hochachtung empfindet.

So war das auch damals gewesen, als er die Tante seiner Mutter kennenlernte. Sie kam von irgendeiner der Philippineninseln – den Namen hatte er vergessen –, und ihr Mann war Konsul gewesen. Er hatte seine Mutter gefragt, ob er sie ,gnädige Frau‘ oder ,Frau Konsul‘ anreden solle, aber die hatte es auch nicht gewußt; und ,Tante‘ wollte er nicht sagen. Vielleicht hätte sie das auch gar nicht gewünscht. Es war eine scheußliche Situation gewesen. Die Tante hatte eine weißgepuderte spitze Nase gehabt und ihn gefragt, was er denn treibe. Und er hatte geantwortet, daß er sich mit Studien befasse, ob Agamemnon grüne Schnürsenkel getragen habe oder nicht. Das war sehr dumm von ihm gewesen, denn nach Jahren, als sie einmal wiederkam, hatte sie ihn gefragt, ob er die grünen Schnürsenkel des Agamemnon schon gefunden habe. Da hatte er einen roten Kopf bekommen und schnell das Thema gewechselt, und die Tante hatte gegrinst wie ein Flußpferd im Mondschein. Aber die gab es wohl auf den Philippinen nicht. Er wußte das nicht so genau, und schließlich hatte er doch ,Tante‘ zu ihr gesagt.