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Frank Goldammer

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Beschreibung

Ein fesselnder Kriminalroman aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs Dresden im November 1944: Die Bevölkerung leidet unter den immer bedrohlicher werdenden Kriegsumständen ‒ da wird die grausam zugerichtete Leiche einer Krankenschwester gefunden. Schnell heißt es: Das war Der Angstmann, der nachts durch die Stadt schleicht. Kriminalinspektor Max Heller hat bei der fieberhaften Suche nach dem Täter mit dem Kriegschaos zu kämpfen – aber auch mit seinem linientreuen Vorgesetzten. Und die Hoffnung, der Frauenmörder sei bei dem katastrophalen Bombenangriff im Februar 1945 umgekommen, zerschlägt sich..  

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Frank Goldammer

Der Angstmann

Kriminalroman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Erster Teil

 

30. November 1944

Heller stemmte sich mühsam hoch. Mit seinen eins zweiundachtzig passte er gerade noch in den Beiwagen des BMW-Gespanns aus Wehrmachtsbestand. Ein anderes Fahrzeug hatte nicht mehr zur Verfügung gestanden. Heller stieg mit dem rechten Bein zuerst aus und zuckte zusammen, als sein Fuß das Kopfsteinpflaster berührte. Er wischte sich den eiskalten Sprühregen aus dem Gesicht, der während der Fahrt eingesetzt hatte, und schüttelte missbilligend den Kopf. Anstatt in den Hof zu fahren, hatte Strampe das Motorrad vor dem Tor abgestellt. Heller wertete das als Zeichen der Geringschätzung. Der junge SS-Mann konnte ihn nicht leiden.

Jetzt stand Heller vor dem Gebäude der Rudergesellschaft Dresden. Er klappte den Kragen hoch und vergrub seine Fäuste tief in die Taschen seines langen Mantels. So stand er mit hochgezogenen Schultern, ohne seine lederne Schiebermütze, und wusste nicht, wohin er gehen sollte. In seinem kurz geschnittenen, langsam ergrauenden Haar sammelte sich die Feuchtigkeit.

Die Elbe bot einen trostlosen Anblick, grau und verwaschen, an diesem letzten Nachmittag im November. Einige Bäume am Ufer, blattlos und schwarz von Feuchtigkeit. Elbaufwärts Rohre von Flakgeschützen, von denen Heller wusste, dass sie nur Attrappen waren. Die Wolken hingen tief, tauchten die Hänge am anderen Ufer in Nebelschleier. Es würde bald dunkel werden. Heller schniefte leise. Da löste sich aus dem schwarzgrauen Hintergrund der feuchten Putzwände eine Gestalt und kam auf ihn zu.

»Herr Kriminalinspektor?«, fragte der Uniformierte, warf dann eilig seine Rechte in die Luft. »Heil Hitler!«

Heller sah sich unversehens gezwungen, seine Hand aus der Tasche zu winden, erwiderte die Geste lustlos, ohne einen Ton zu sagen.

Der Schutzpolizist trat einen Schritt zur Seite, deutete eine Verbeugung an, mit der er Heller den Vortritt ließ. »In dem alten Ruderhaus«, fügte er erklärend hinzu.

Es war nicht weit, fünfzig Meter etwa, doch Heller, dem die Feuchtigkeit in die Knochen gekrochen war, haderte mit seinem rechten Fuß. Er tat jeden Schritt mit Bedacht und spürte die Ungeduld des Uniformierten hinter ihm.

Beim Ruderhaus angelangt blieb Heller stehen, um den Mann vorzulassen.

Doch der Polizist reagierte nicht. »Gehen Sie nur voran, immer geradeaus. Sie ist ganz hinten in der Werkstatt.«

Heller sah den Mann eine Sekunde lang emotionslos an, dann betrat er das Haus. Es war nicht mehr als eine Baracke, angeschlossen an eine große Garage, in der die Boote aufbewahrt wurden, die langen Ruder und weiteres Zubehör. Es roch nach brackigem Wasser, Öl und Metallabrieb.

»Da durch!«, erklärte der Uniformierte.

»Wären Sie doch einfach vorgegangen«, bemerkte Heller ungehalten. Zwar brannte ein Licht in dem Bootshaus, doch die Birne war schwach und trübe. Es war deprimierend, so wie alles derzeit.

»Es ist noch niemand da?«, fragte er. »Kein Fotograf?«

»Niemand, Herr Kriminalinspektor, aber alles angefordert.«

Heller nickte. Angefordert wurde viel. »War jemand am Fundort, hat jemand die Leiche berührt?«

»Nein, Herr …« Der Uniformierte prallte auf Heller, der unvermittelt stehen geblieben war.

Die Tür der Werkstatt stand offen, und das, was Heller dort sah, hatte er so nicht erwartet.

»Wer hat sie gefunden?«, fragte er heiser.

»Zwei Jungen. Sitzen drüben im Vereinshaus.«

»Also hat niemand den Raum betreten?« Heller riss sich vom Anblick der Leiche los und suchte den Boden nach Spuren ab. In der Mischung aus Staub und Öl müsste etwas zurückgeblieben sein, vermutete er. Das Blut war geronnen. In der Lache bildeten sich Risse, wie im Schlamm einer ausgetrockneten Pfütze.

»Ich brauche Licht hier, viel Licht und den Fotografen.«

»Dann müssen wir die Fenster verdunkeln.«

»Kümmern Sie sich darum!«

Der Schupo nickte knapp und verschwand. Heller betrachtete die Frau, die mit festem Strick an den Handgelenken an die Werkbank gebunden war, sitzend, die Arme weit ausgebreitet, wie Jesus am Kreuz. Ihre Bluse und das Unterhemd waren aufgerissen worden, ebenso der Rock. Ein Stück von demselben Strick diente als Fußfessel, ihr Unterleib war völlig entblößt. Die Unterhose und die langen Strümpfe waren ihr bis zu den Fußknöcheln hinuntergezogen worden. Der Kopf hing nach vorn, tief auf ihre Brust, und Heller konnte ihren Nacken sehen. Wieder wischte er sich über das Gesicht.

Mittlerweile war der Regen stärker geworden, begann auf das Blechdach zu trommeln und gluckste bald durch die Dachrinnen und Fallrohre. Heller ging in die Hocke, um zu sehen, ob die Frau geknebelt worden war. Er konnte es nicht erkennen, zu finster war es schon im Raum, und den Lichtschalter durfte er nicht berühren. Ihr Gesicht lag im Dunkel.

Endlich hörte Heller Motorengeräusche. Dann Männerstimmen. Er straffte sich und steckte die Hände in die Manteltaschen. Oldenbusch von der Spurensicherung kam herein, unter einem Arm ein Holzstativ, in der anderen Hand einen großen braunen Koffer. Da ihm niemand folgte, konnten sie sich den Hitlergruß ersparen.

»Geben Sie her, Werner.« Heller wollte nach dem Koffer greifen, doch Oldenbusch, dreißig Jahre alt, untersetzt und etwas dicklich, schüttelte den Kopf.

»Machen Sie mal Ihr Ding, Max, ich mach meins«, schnaufte er. »Gräulicher Anblick – hab schon gehört.«

Heller nickte. »Ein Elend.«

»Alles Elend heutzutage.«

Heller ging nicht darauf ein. Solcher Art Gespräche vermied man.

»Versuchen Sie jedes Detail aufzunehmen. Auch die Kleidungsstücke. Vorher aber den Boden nach Spuren absuchen, ich meine, da einen Schuhabdruck gesehen zu haben. Ich denke, an der Werkbank könnte es Fingerabdrücke geben und am Lichtschalter auch. Fremdhaare vielleicht auf der Kleidung des Opfers. Woher stammt der Strick? Und ich bin mir nicht sicher, aber ist das dort eine Sichel?« Heller deutete auf einen dunklen Halbmond halb unter der Werkbank.

Oldenbusch wiegte beruhigend den Kopf. »Schon klar, ich weiß, was zu tun ist. Zuerst aber muss ich Scheinwerfer haben. Blitzlichter sind auch knapp. Alles knapp. Klepp wollte erst gar nicht einsehen, warum ich hierherkommen sollte.«

Heller sah den Kriminaltechniker misstrauisch an. »Weshalb, wenn ich fragen darf?«

Oldenbusch grunzte nur, damit schien ihm alles gesagt. Schon war er wieder auf dem Weg nach draußen. Heller folgte ihm.

»Ich werde eine Weile brauchen. Kennen Sie den jungen Friedrich? Den haben sie letzte Woche eingezogen.«

Heller kannte ihn nicht. »Ich rede mal mit den Burschen. Wenn Sie mich suchen, ich bin im Vereinshaus.« Heller deutete mit dem Kinn auf das gegenüberliegende Gebäude.

 

Die beiden Jungen saßen artig an einem Tisch, den Tee in ihren Tassen hatten sie nicht angerührt. Beide trugen Mäntel, unter denen Heller die Kragen von Uniformen des Deutschen Jungvolks erkennen konnte.

Als er sich ihnen näherte, sprangen beide auf und ihre Arme gingen steif in die Luft. »Heil Hitler!«, quäkten sie im Chor.

Wie alt mochten sie sein, dachte Heller, keine zwölf. Hatten nie etwas anderes kennengelernt. Diesmal grüßte er vorschriftsmäßig. Bei Kindern musste man besonders aufpassen, sie waren oft die schlimmsten Denunzianten.

»Setzen!«, befahl er. »Was hattet ihr in dem Ruderhaus zu suchen?«

»Ha’m gespielt, Herr Kriminalrat!«, kam es wie aus der Pistole geschossen.

»Name!«

»Merker, Gustav.«

»Trautmann, Alwin.«

»Ihr seid eingebrochen!«

»Nein, Herr Kriminalrat! Die Tür war offen.«

Hellers Blick wanderte zum Nachbartisch, auf dem zwei einfache Holzgewehre lagen.

»Herr Kriminalinspektor, heißt es. Wissen eure Eltern, wo ihr seid?«

Beide schüttelten den Kopf.

»Erzählt, was ihr getan und gesehen habt. Lasst nichts aus. Du zuerst, Gustav.« Heller nahm durch das Fenster eine Bewegung wahr. Klepps Auto war auf den Hof gefahren.

»Wir haben gespielt. Wir sind oft hier. Wir wohnen da drüben auf der Gneisi, der Gneisenaustraße. Die Tür stand offen, so einen Spalt, und wir gingen rein, weil es kalt war und weil vielleicht ein Spion da drinnen war. Es hat gar nicht lang gedauert, da haben wir die Tote gesehen.« Gustav schien es nichts auszumachen, doch bei den letzten Worten war sein Freund zusammengezuckt.

»Habt ihr was gesehen? Lief jemand weg? Habt ihr Schreie gehört?« Das war Routine, die Frau war seit Stunden tot.

»Nein, da war niemand.«

»Habt ihr nichts angefasst? Die Tür, den Lichtschalter? Die Tote?«

»Nein, Herr Kriminaler, gar nichts!« Gustav und Alwin schüttelten eifrig die Köpfe.

»Wie hast du dann die Tür geöffnet?«

»Hab ich mit dem Gewehr aufgedrückt!«

Heller nickte. »Ihr geht jetzt heim, auf dem kürzesten Weg. Lügt ihr auch nicht, wegen der Namen? Ihr wisst doch, dafür gibt’s Zuchthaus.«

Wieder schüttelten beide heftig den Kopf.

»Gut, dann ab!«

Die beiden erhoben sich. Doch Alwin blieb stehen. »Das war der Angstmann, nicht?«

Heller sah auf. »Der Angstmann?«

»Mutter sagt, der Angstmann geht um.«

»Der Angstmann? Wer soll das sein?«

»Fängt kleine Kinder!« Alwin war es ernst und sein Kinn zitterte.

Heller erhob sich. »Geht heim. Angst gibt es genug, da braucht’s nicht noch den schwarzen Mann dazu.«

»Ob er uns jetzt folgen wird, weil wir die Frau gefunden haben?«

Heller griff dem Jungen fest an die Schulter. »Geh zu deiner Mutter. Wenn es der Angstmann war, dann hat er jetzt andere Sorgen, als sich um euch zwei Bengel zu kümmern.«

 

»Angstmann«, flüsterte Heller zu sich selbst, als er über den Hof zum Fundort der Leiche zurückkehrte. Was sollte er davon halten? Es war Krieg und da waren die Menschen anders als im Frieden. Wer fesselte eine Frau und richtete sie so furchtbar zu, ohne sich die Mühe zu machen, die Tat zu verbergen? Er hätte die Leiche einfach in die Elbe werfen, danach den Boden abspritzen können. Heller hatte im Bootshaus ein Waschbecken mit angeschlossenem Schlauch gesehen.

Als er das Bootshaus betreten wollte, kam ihm Klepp entgegen. Der Mann war fast so groß wie Heller, wog aber entschieden mehr und war ein paar Jahre jünger als er. SS-Obersturmbannführer Rudolf Klepp war sein Vorgesetzter, neuerdings. Und er war noch nie Polizist gewesen, stattdessen hatte er vor seiner SS-Laufbahn Fleischer gelernt.

»Schweinerei!«, murmelte er. Heller erwiderte nichts. Leute mit Totenköpfen an ihren Mützen sollten einen Anblick wie diesen aushalten können, dachte er sich.

»Ich fahre zurück ins Präsidium. Räumen Sie hier noch auf. Viel zu holen wird es wohl nicht geben.«

Heller blieb stumm, blinzelte nicht einmal, spürte, wie die Nässe sein Haar durchdrang, seine Mantelschultern, und ihm ins Genick lief. Bisher hatte er nur wenig mit Klepp zu tun gehabt. Man hatte ihn aus Polen geholt, von der Waffen-SS. Der Posten bei der Dresdner Polizei sollte wohl seine Belohnung sein. Was in Polen geschehen war, kannte man nur als Gerücht. Und Gerüchten hatte Heller noch nie Glauben geschenkt, erst recht nicht im Krieg.

»Ich würde die Leiche gern obduzieren lassen«, sagte er.

Klepp winkte ab. »Tun Sie, was Sie tun müssen. Ich denke, morgen werden Sie einen Abschlussbericht haben.« Er beugte sich vor und hetzte die wenigen Schritte zu seinem Wagen. Sein Fahrer, der die ganze Zeit regungslos im Regen gestanden hatte, riss die Tür auf.

»Einen Abschlussbericht?«, fragte Heller, doch in dem Moment warf der Fahrer die Tür zu, sodass Klepp die Frage nicht mehr hören oder zumindest vorgeben konnte, sie nicht gehört zu haben.

Heller sah dem wegfahrenden Wagen hinterher und ging dann zurück ins Bootshaus.

Oldenbusch schien bereits auf ihn gewartet zu haben. »Kommen Sie rein.« Er deutete auf etwas an der Wand neben Heller. Es war ein Besen. »Der Täter muss den Boden gefegt haben. Ich habe keine einzige Fußspur ausmachen können.«

Heller betrachtete den Stiel, auf dem sich heller Staub in feinen Schlieren abgesetzt hatte. Als er seine Hand danach ausstreckte, räusperte sich Oldenbusch.

»Der Besen muss noch nach Fingerabdrücken untersucht werden. Der Täter ist durch die Blechtür eingedrungen, die zur Elbe hinausgeht, hat das Schloss einfach aufgestemmt. Einbruchswerkzeug ist nicht zu finden. Die Spuren draußen hat der Regen schon fortgespült. Ansonsten das Opfer, keine Papiere, nichts«, sagte Oldenbusch weiter, ohne dass Heller fragen musste. Sie arbeiteten schon lange zusammen. »Nichts in der Kleidung. Arierin, trägt keinen Stern. Klepp meint …« Oldenbusch sah erschrocken auf, um sich zu vergewissern, dass Klepp nicht mehr anwesend war. »Er meint, es wäre eine Schlesierin, doch die Kleidung scheint mir nicht dazuzupassen.«

Heller deutete auf den Fuß der Toten. »Das sind Krankenhausstrümpfe.«

Oldenbusch schürzte die Lippen. »Aus dem Gerhard-Wagner-Krankenhaus?«

»Es läge in der Nähe. Oder der Diakonissenanstalt.«

»Die Sichel übrigens ist sauber, die Tatwaffe muss eine andere gewesen sein, ein sehr scharfes Messer, auf den ersten Blick. Ich habe ein Dutzend Bilder gemacht, die werde ich heute noch entwickeln.«

»Klepp spricht von einem Abschlussbericht?«

Oldenbusch warf Heller einen mitfühlenden Blick zu. »Eine Zufallstat, meinte er zu mir, von einem Durchfahrenden begangen.«

Heller sah Oldenbusch ein paar Sekunden an. »Lassen wir sie zum Gerichtsmediziner bringen.«

Oldenbusch schüttelte traurig den Kopf. »Alle an der Front. Doktor Kassner hat letzte Woche seinen Marschbefehl erhalten.«

Heller schnaubte, offenbar galten die UK-Bescheide auch nichts mehr. Irgendwann würden sie auch noch ihn an die Front schicken.

»Das kann so nicht weitergehen. Es wird alles den Bach runtergehen.« Noch während er sprach, bereute Heller seinen emotionalen Ausbruch und nahm sich sofort wieder zurück. »Kein zufällig durchreisender Mörder macht sich die Mühe, seine Spuren so sorgfältig zu verwischen. Er muss sich auch gewaschen haben. So eine Tat kann man nicht durchführen, ohne sich selbst zu besudeln. Lief er mit dieser Kleidung einfach hinaus?«

Oldenbusch zog die Mundwinkel nach unten. »Es wäre ein Leichtes, einen Mantel überzuwerfen. Er kann sich aber auch da am Waschbecken gewaschen haben, sofern es erforderlich war. Abdrücke gibt es allerdings keine.«

»Ich meine, er kannte sich aus, das war geplant! Der Ort, die Tat. Auch der Abgang.«

»Aber die Leiche ließ er einfach liegen!«

Heller zog Luft durch die Zähne. Genau dies machte ihm Gedanken.

»Machen Sie weiter hier, ich finde heraus, wohin wir sie bringen können!«

30. November 1944, Abend

Heller war von seinem Weg ins Krankenhaus vollkommen durchnässt. Er hatte sich seines Mantels entledigt und hoffte, dass dieser im Vorzimmer auf der Heizung ein wenig trocknen würde. Es war schwierig gewesen, einen Fachmann aufzutreiben. Das Krankenhaus war total überfüllt, das Personal überlastet. Besonders schwere Krankheiten häuften sich gerade, Verletzte von den Fronten trafen täglich ein, unterernährte Flüchtlinge mussten versorgt werden, die Läuseplage ging um. Heller war in das Arztzimmer beordert worden, wartete nun schon seit fast einer Stunde. Draußen war es mittlerweile dunkel geworden. Max Heller schob den Ärmel seines Jacketts hoch, sah auf die Armbanduhr. In diesem Moment öffnete sich die Tür.

Heller erhob sich, doch der Arzt schritt straff an ihm vorbei zu seinem Stuhl, raffte den weißen Kittel, setzte sich und gebot Heller mit einer knappen Geste, sich wieder zu setzen. Doktor Alfred Schorrer, wie es auf dem Namensschild auf seinem Schreibtisch zu lesen war, lehnte sich zurück. Er war etwa in Hellers Alter oder knapp darüber. Sein Haar war militärisch kurz geschnitten. Er trug einen kurz gestutzten Oberlippenbart, kaum mehr als ein silberner Schleier. Seine Augen waren grau, blickten hell und intelligent auf sein Gegenüber.

»Leider hatten Sie recht mit Ihrer Vermutung. Es handelt sich tatsächlich um eine unserer Krankenschwestern. Klara Bellmann. Sie ist, soweit ich weiß, nicht viel länger als ich hier im Krankenhaus, drei Monate. Sie arbeitete in der Frauenklinik.« Doktor Schorrer stützte seine Ellbogen auf die Armlehnen seines Stuhls und legte die Fingerspitzen der Hände zusammen.

»Ich fürchte, die junge Frau hat ein arges Martyrium hinter sich bringen müssen, ehe sie der Herr gnädig zu sich nahm. Keine ihrer Wunden scheint tödlich gewesen zu sein. Das Herz ist unversehrt. Es gibt einen Lungenstich, doch dies hat meist nur zur Folge, dass der betroffene Lungenflügel sich mit Blut füllt. Ein sehr langsamer Erstickungstod ist die Folge. Oft genug erlebt an der Front. Sie sind auch ein Frontkämpfer gewesen?«

Heller räusperte sich. »Ja, im letzten Krieg.«

Schorrer lebte sichtlich auf. »Da war ich auch schon dabei. Garde-Grenadier-Regiment Nr. 5. Und Sie?«

»Grenadier-Regiment Nr. 101«, erwiderte Heller. Mehr würde er dazu nicht sagen.

Schorrer schien das zu ahnen und kam augenblicklich zum Thema zurück. »Die Verletzung der Bauchdecke ist immer mit großen Schmerzen verbunden, die tiefen Schnitte in Armen und Beinen ebenso. Sie muss geschrien haben, es sei denn, sie ist bald bewusstlos gewesen. Ihr Tod trat entweder durch den Schock ein oder sie verblutete. Letzteres ist mir wahrscheinlicher.« Schorrer tippte die Fingerspitzen zweimal aneinander.

Heller vermied es, sich mit der Hand in den Nacken zu fahren, er wollte nicht unsicher wirken angesichts des souveränen Auftretens des Arztes. Doch er fühlte sich unwohl. Er fröstelte und rieb seine Schultern im Anzug. Er ahnte, dass er heute Nacht nur schlecht schlafen würde.

»Lässt sich nachvollziehen, ob sie alkoholisiert war? Oder anderweitig betäubt, besinnungslos, gelähmt? Hat sie sich nicht gewehrt? Sie wird doch nicht freiwillig das Bootshaus betreten haben.«

Schorrer beugte sich ein wenig vor, sah auf ein Formular. »Eine Blutabnahme wurde vorgenommen«, erwiderte er knapp. »Noch Fragen?«

»Sie leiten dieses Haus? Man sagte mir, Sie seien Pathologe.«

»Das bin ich. Doch das Gebot der Stunde erfordert besondere Maßnahmen, weshalb mein Wirkungsbereich über mein Fachgebiet hinaus erweitert wurde.« Schorrer öffnete die Handflächen. »Nun, Herr Kriminalinspektor, es gibt viel zu tun!«

Heller verstand und erhob sich. »Vielen Dank für Ihre kurzfristige Hilfe. Darf ich vielleicht auf Ihren Rat zurückkommen, falls er vonnöten ist?«

»Jederzeit, ich wohne hier auf dem Gelände. Man hat mir in der Schwesternschule zwei Zimmer frei gemacht.« Schorrer hatte sich ebenfalls erhoben, nun standen sie sich zum Abschied gegenüber und zögerten einen Moment.

»Heil Hitler.« Heller hob den Arm, doch er streckte ihn nicht ganz durch und ließ ihn augenblicklich wieder fallen.

Doktor Schorrer tat es ihm gleich und einen Moment lang sahen sie sich dabei forschend in die Augen. Im Vorzimmer gab ihm Schorrers Sekretärin den Mantel wieder, der angenehm warm geworden war. Heller bedankte sich und ging.

Auf dem Gang roch es nach Abendessen, nach Brühe und Brot. Er selbst hatte seit einem kargen Mittag aus ein paar Kartoffeln und salzigen Rüben nichts mehr gegessen. Das Personal ging ungerührt seiner Arbeit nach. Heller musste ein-, zweimal ausweichen, presste sich an die Wand, als Essenswagen und Betten an ihm vorbeigeschoben wurden.

Im Treppenhaus wartete er nicht auf den Aufzug, sondern nahm die Treppe.

»Sagen Sie«, sprach er eine vorbeilaufende Krankenschwester im Erdgeschoss an, »wo finde ich die Personalabteilung?«

»Das Verwaltungsgebäude ist da hinten, aber dort ist jetzt niemand mehr.« Die Schwester deutete auf ein Haus.

»Vielen Dank!«

»Bitte.« Die Schwester lief weiter und ging die Treppe hoch.

Dann durchfuhr es Heller heiß und er drehte sich noch einmal um. »Heil Hitler«, rief er.

Die Schwester hielt inne und sah sich langsam nach ihm um. Dann stieg sie, ohne den Gruß zu erwidern, die Treppen weiter hinauf.

 

»Was ist mit dir?«, fragte Karin und nahm Heller den Mantel ab. Sie hängte ihn auf einen Bügel und brachte ihn in die Küche, wo sie ihn neben den Ofen hängte. Dann kam sie in den Flur zurück. Währenddessen hatte Heller sich auf die kleine Bank gesetzt und zog mühsam seine Schuhe aus. Missbilligend sah seine Frau ihn an. »Deine Mütze?«

»Hab ich im Büro vergessen.« Der rechte Schuh rutschte ihm ruckartig über die Ferse, Heller verzog das Gesicht.

»Ach, du! Eine Erkältung können wir als Letztes gebrauchen!«

Heller schwieg. Er mochte es nicht, wenn sie so war, doch sie hatte ja recht und er ärgerte sich über sich. Dass er leicht fröstelte, verschwieg er lieber.

»Also, was ist?« Karin setzte sich neben ihn.

»Eine Frau ist ermordet worden. Nicht weit von hier, eine viertel Gehstunde. Eine furchtbare Tat. Wirklich grässlich. Jemand hat sie … aufgeschnitten …«

»Ein Raub?«

»Nein, Karin, um Raub ging es da nicht. Das war die Tat eines Wahnsinnigen!«

»Kannst du etwas tun?«

Heller schnaubte leise. »Keine Leute, kein Benzin, keine Blitzlichtbirnen, keine Zeit. Klepp meint wohl, das wäre ein Durchfahrender gewesen.«

»Ach der, dieser dumme Kerl!«

Heller legte seine freie Hand auf ihren Unterarm und drückte ihn sanft. Sie sollte nicht so laut sprechen, wenn sie im Flur waren.

»Ist doch wahr«, flüsterte Karin trotzig.

»Was gibt’s zu essen?«

»Eintopf mit Kartoffeln und Rüben.« Karin erhob sich und Heller folgte ihr in die Küche. »Vier Stunden hab ich bei Kiebels gestanden, weil es hieß, es gäbe Fett. Schon weit vor mir war es alle.«

»Und sonst?«, fragte Heller fast beiläufig.

»Nichts«, antwortete Karin, ohne ihn anzusehen.

Das war gut und schlecht zugleich. Das bedeutete, es war also kein Heldenbrief gekommen, in dem es hieß, einer ihrer Jungen sei für Führer, Volk und Vaterland gefallen. Das bedeutete aber auch, dass es keine Post von der Front gab. Seit Monaten schon. Ihre eigenen Briefe waren zurückgekommen, alle mit dem Vermerk: Zurück an Absender, weitere Nachricht abwarten.

Schweigend saßen sie am Esstisch, und es gab kein Geräusch außer dem leisen Klappern ihrer Löffel auf den Tellern. Das Radio blieb stumm. Eigentlich mochte Heller klassische Musik. Händel und Vivaldi, doch er konnte das dümmliche Geplapper zwischen der Musik nicht mehr hören. Immer nur die gleichen Phrasen.

Karin hatte zuerst aufgegessen, sie hatte sich viel weniger auf den Teller getan. Mit Bedacht legte sie den Löffel weg, sodass es keinen Laut verursachte. »Die Lehmann sagte heute, in Russland gingen sie wieder vor.«

Heller aß auf, kippte den Teller, um noch das letzte bisschen Brühe herauszulöffeln. Dann legte auch er ganz leise den Löffel ab. »Die Leute schwätzen nur noch dummes Zeug. Gingen sie in Russland vorwärts, hätten sie es längst laut verkündet.« Er erhob sich, um ins Wohnzimmer zu gehen. Um die Zeitung zu lesen, die nur noch aus ein paar Blättchen bestand und beinahe zur Hälfte mit Todesanzeigen gefüllt war. Karin würde aufwaschen und ihm in wenigen Minuten folgen, wo sie dann im Kerzenschein abwarten würden, ob es in der Nacht Alarm geben würde. Erst wenn sie sicher waren, dass der Engländer wegblieb, würden sie zu Bett gehen. In der Tür drehte sich Max Heller noch einmal um. »Hat die Lehmann schon einmal was vom Angstmann gehört?«

Karin räumte das Geschirr zusammen. Sie überlegte und schüttelte den Kopf. »Der Angstmann? Nein.«

Heller ärgerte sich, es überhaupt angesprochen zu haben. Genauso wie er sich ärgerte, der Krankenschwester dieses viel zu laute »Heil Hitler« nachgerufen zu haben. Heldenhafter Kampf, las Heller. Überall heldenhafter Kampf. Auch so eine Phrase. Jeder wusste – jeder müsste wissen –, was diese Nachrichten wert waren, nämlich nichts. Und doch gierte man danach zu lesen, suchte nach jedem kleinen Hinweis darauf, was tatsächlich vor sich ging. Auch in seinem Krieg hatten sie heldenhaft gekämpft. Heldenhaft hatten sie im Schlamm gelegen, heldenhaft hatten sie sich geduckt, wenn die Granaten um sie herum einschlugen, ihre Gesichter in den Schlamm gepresst.

»Was hat das zu bedeuten, der Angstmann?«

Heller zuckte zusammen. Er hatte Karin nicht kommen hören. »Die Frau heute, zwei Burschen haben sie gefunden, der eine war ganz verschüchtert. Er fragte mich, ob das der Angstmann gewesen sei. Mehr weiß ich nicht, Karin.«

Karin wechselte die Kerze auf dem Stubentisch, löschte das Deckenlicht, setzte sich dann auf das Sofa und schlug eine Decke um ihre Beine.

»Du sagst, er hat sie aufgeschnitten …« Sie zögerte. »Wer macht denn so etwas?«

Heller sah sie nachdenklich an. »Ich weiß es nicht. Aber das war kein normaler Mord. Kein Raub. Das ist etwas anderes. Ich fühle das.«

»Aber Max«, flüsterte Karin, und ihr Gesicht war kaum zu sehen, knapp außerhalb des Kerzenlichts, »halte dich bloß zurück, wenn dieser Klepp das so will.«

»Es ist ein Mord und ich habe meine Arbeit zu tun!«

»Max, es wäre nicht das erste Mal, dass du mehr tätest als nötig!«

»Ich habe immer nur getan, was nötig war.«

»Aber gerade jetzt …«

»Gerade jetzt gilt es, nicht alle Regeln über Bord zu werfen und jeden Anstand zu verlieren.«

»Fall mir nicht ins Wort, Max! Ich mache mir nur Sorgen. Nicht, dass du zum Schluss der einzige Anständige unter all den Verrückten bist.«

»Was willst du denn damit sagen? Soll ich auch verrückt spielen?«

Karin schüttelte ungehalten den Kopf. »Stell dich nicht dumm, du weißt, was ich meine!«

 

Dreiundzwanzig Uhr gab es Voralarm, wenige Minuten später Vollalarm. Heller, der im Sessel eingedöst war, erhob sich, holte seinen Mantel aus der Küche. Dann nahmen sie die Koffer, die sie bereits vor Wochen gepackt und die sie nun schon zwanzig Mal in den Keller getragen hatten.

Im Treppenhaus trafen sie ihre Nachbarn und die Mieter aus der obersten Etage. Sie murmelten einen Gruß und gingen in den Keller hinab. Niemand scherzte mehr oder wagte zu behaupten, dass Dresden verschont bleiben würde. Nicht seit dem siebten Oktober, als das erste Mal Bomben gefallen waren. Es waren nicht viele Flugzeuge gewesen, einige wenige Häuser waren eingestürzt und es hatte einige Dutzend Tote gegeben. Doch die wenigen Bomben hatten ausgereicht, alle Illusionen diesbezüglich zu zerstören.

Im Keller setzte sich jeder auf seinen angestammten Platz. Nur eine einzige Glühlampe brannte. Nun mussten sie wieder warten, bis die Entwarnung kam. Niemand sprach, nicht ein einziges Wort. Heller wusste, warum. Er war der Grund. Er war Polizist, und spätestens seit allen Polizisten nahegelegt worden war, der SS oder dem SD beizutreten, wollte ihm niemand mehr trauen, so wie er niemandem mehr traute.

1. Dezember 1944, früher Vormittag

»Tut mir leid, Herr Kriminalinspektor, Schwester Klara war aus dem Schwesternwohnheim ausgezogen. Ihre neue Adresse ist hier leider nicht vermerkt.« Die Frau mittleren Alters, deren Haar gescheitelt und zu einem strengen Kranz geflochten war, blätterte noch einmal die drei Seiten durch, welche den gesamten Umfang von Klara Bellmanns Akte darstellten, fuhr die Zeilen mit dem Finger ab. Sie tat das nur, um geschäftig zu wirken, wusste Heller. Ihr grauer Rock und die weiße, bis zum Hals zugeknöpfte Bluse strömten einen starken Geruch von Mottenkugeln aus. Unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Bestimmt schlief auch sie schlecht seit Monaten. Hinter ihr klackerten drei weitere Frauen auf ihren Schreibmaschinen. »Sie kam vor zwölf Wochen aus Berlin. Ich könnte im Schwesternheim anrufen oder in ihrer Abteilung.«

»Danke, Frau Schmitt, ich frage mich selbst durch.« Heller nahm seine Mütze vom Tisch und erhob sich. »Aber kann es denn sein, dass Schwester Klara ihren neuen Wohnort nicht bekannt gab? Ist die Notiz vielleicht falsch abgelegt worden?« Er wusste, dass er die Frage unglücklich formuliert hatte.

»Wenn Frau Bellmann ihrer Meldepflicht nicht nachgekommen ist, kann man das nicht mir zuschreiben!«, sagte Frau Schmitt dann auch sehr spitz.

Die anderen drei Frauen hielten ihre Köpfe gesenkt, wagten keinen Ton. Grußlos verließ Heller daraufhin das Büro.

»Sind Sie wegen Klara Bellmann hier?« Eine junge Frau in Schwesterntracht sprach ihn an. Sie musste hier auf ihn gewartet haben.

Heller musterte die junge Frau. Ihm fiel auf, dass sie nicht einmal einen Anflug von Sächsisch sprach. Komplett dialektfrei. »Sind sie nicht die Schwester von gestern Abend?«

»Sind Sie nun wegen Schwester Klara hier, ja oder nein?«

Heller war so einen respektlosen Ton nicht gewöhnt. »Ich bin Kriminalinspektor Heller. Und ja, ich war hier, um den Wohnort von Frau Bellmann zu erfahren, leider konnte man mir nicht weiterhelfen. Kannten Sie Frau Bellmann?«

Die Schwester nickte. »Wir hatten uns angefreundet. Ich weiß, wo sie untergekommen war.«

Heller nahm sein Notizbuch hervor und seinen Bleistift. Er leckte die Mine an. »Sagen Sie mir bitte Ihren Namen und die Adresse!«

»Stein ist mein Name, Rita Stein, und Klara wohnte seit ein paar Tagen bei Verwandten in der Jägerstraße siebzehn, Familie Schurig.«

Heller notierte schnell. »Sagen Sie, wann haben Sie Frau Bellmann zuletzt gesehen?«

»Vorgestern Abend, als unsere Schicht zu Ende war.«

»Hatte sie etwas vorgehabt? Hat sie irgendeine Bemerkung gemacht? Ein Gefühl vielleicht, dass jemand ihr folgte?« Heller betrachtete Schwester Rita genauer. Sie schien nicht ganz so jung, wie sie auf den ersten Blick gewirkt hatte. Er schätzte sie auf älter als dreißig Jahre. Unter ihrer Haube kam dunkles Haar zum Vorschein, ihre Augen waren hell, wirkten nicht müde, in ihnen war etwas, das Heller interessierte.

Rita Stein schüttelte langsam den Kopf. »Nichts, nein.«

»Warum blieb sie nicht hier im Schwesternheim, wie Sie?«

»Da jedes Zimmer gebraucht wird, wird gefordert, dass jeder, der woanders unterkommen kann, diese Gelegenheit auch wahrnimmt.«

»Die Jägerstraße ist doch in der Albertstadt. Kam sie mit der Bahn?«

»Sie fuhr mit dem Rad. Es war ein Herrenrad. Marke Diamant, in Silber. Das hat sie einer Frau abgekauft, die es nicht mehr brauchte.«

Es war klar, was dies bedeutete. Der Tatort lag also auf dem Heimweg von Klara Bellmann, denn der kürzeste Weg von der Klinik in die Albertstadt war über die Albertbrücke. Es war durchaus möglich, dass der Mörder sein Opfer über einige Tage hinweg ausgespäht hatte.

»Ein Rad haben wir nicht gefunden.«

»War es also ein Raub?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, der Täter hatte es nicht auf das Rad abgesehen. Warum kam sie aus Berlin?«

»Sie war ausgebombt worden, hat dort alles verloren. Ihr gesamtes Hab und Gut, selbst das Krankenhaus, in dem sie angestellt war, wurde zerstört. Weil sie hier Verwandte hatte, kam sie her.«

Nun stutzte Heller. »Warum kam sie dann erst im Schwesternheim unter?«

»Ich kann da nur eine Vermutung anstellen.« Rita Stein zog sich ein wenig zurück, so als wäre ihr wieder bewusst geworden, mit wem sie sprach.

»Wollen Sie mich daran teilhaben lassen?«, ermunterte Heller sie.

»Sie war mit einem rassisch nicht einwandfreien Mann verheiratet, hatte sich achtunddreißig scheiden lassen. Ihre Verwandten wollten sichergehen, ob dies auch stimmte, deshalb hatte sie in Berlin neue Scheidungsunterlagen angefordert, da all ihre Papiere bei dem Bombenangriff verloren gegangen waren.« Schwester Rita schloss den Mund schnell, als fürchtete sie, Heller könnte aus ihrer Art, darüber zu sprechen, falsche Schlüsse ziehen.

»Wie kam es zu Ihrer Freundschaft?«

»Ist das wichtig? Wie es eben so kommt, man entdeckt Gemeinsamkeiten. Teilt dieselben Sorgen.«

Heller klappte sein Buch zu, steckte es mitsamt dem Stift in die Manteltasche.

»Vielen Dank. Ich werde Familie Schurig später aufsuchen. Zuerst muss ich noch einmal zu Schorrer.«

»Doktor Schorrer? Ich muss auch zu ihm. Offenbar hat er von mir gehört und würde mich gerne in einer seiner Abteilungen beschäftigen.«

»Das ist ein Kompliment an Ihre Arbeit.«

»Ich weiß nicht, ich kenne ihn nicht sehr gut«, erwiderte Schwester Rita schroff. Dann ließ sie Heller stehen und steuerte mit schnellem Schritt auf das Treppenhaus zu.

Heller folgte ihr mit einigem Abstand die Treppen hinunter und schloss erst vor dem Haus wieder zu ihr auf. Schweigend passierten sie die verschiedenen Gebäude auf dem Weg zu Schorrers Klinik.

Plötzlich blieb Heller stehen und sagte laut: »Es war Ihr Rad!«

Rita Stein blieb nicht stehen, doch sie verzögerte ihren Schritt unmerklich. Erst an der Eingangstür machte sie halt.

»Mein Mann ist Oberfeldwebel. Artillerie. In Afrika. Seit fast zwei Jahren habe ich keine Nachricht von ihm. Er gilt als vermisst.«

»Das muss nichts heißen«, erwiderte Heller und versuchte aber gar nicht erst, aufmunternd zu lächeln.

Rita sah ihm fest in die Augen. »Ich mache mir da nichts vor«, sagte sie knapp und setzte ihren Weg fort.

 

Doktor Schorrers Verhalten machte Heller deutlich, was er von dieser Verschwendung seiner Zeit hielt. Trotzdem hatte Heller darauf bestanden, Klara Bellmann noch einmal zu sehen.

Sie lag auf dem Seziertisch, die Augen geschlossen. Ihr Kopf war unversehrt, doch vom Hals abwärts war der Körper mit tiefen Schnittwunden übersät. Das weiße Licht der Lampen entblößte jedes schreckliche Detail. Ein süßlicher Geruch stieg ihm in die Nase.

»Er hat sich nicht an ihr vergangen?« Heller zwang sich, alles zu betrachten, das kleinste Detail konnte von Bedeutung sein, selbst ein abgebrochener Fingernagel.

Schorrer stand mit auf dem Rücken verschränkten Händen da. »Ich bin zwar kein Gerichtsmediziner, doch ich meine mit ziemlicher Sicherheit zu wissen, dass dies nicht geschehen ist.«

»Und es liegt Ihrer Meinung nach auch kein kannibalischer Akt vor?«

Schorrer schüttelte missmutig den Kopf, so als fühlte er sich von der Frage beleidigt.

»Herr Kriminalinspektor, das Krankenhaus ist übervoll mit Patienten. Es ist eine schreckliche Tat, ohne Zweifel, doch denken Sie, meine Anwesenheit ist hier länger vonnöten?«

»Es geht dem Täter wohl darum, das Opfer leiden zu lassen. Er weidet sich an ihren Schmerzen, ihrer Angst. Ob dies eine gezielte Tat gegen Klara Bellmann war, dass der Täter seine Wut speziell an ihr ausließ?«

Schorrer steckte seine Hände in die Seitentaschen seines Kittels. »Ich bin kein Psychologe. Ich bin Arzt, ich versuche Kranke zu heilen und Verwundete zusammenzuflicken. Nichts anderes habe ich jahrelang an der Front getan. Ich frage schon lange nicht mehr nach dem Grund. Und ich habe so viele offene Körper gesehen, dass ich mir erlauben darf zu sagen, ich konnte keinen Unterschied erkennen zwischen einem arischen Körper, einem russischen und einem jüdischen. Ich denke nicht länger als ein paar Tage voraus, und mir fehlt es an allem. Bald wird nicht mehr nur Mangel herrschen, bald wird nichts mehr da sein. Wir rennen sehenden Auges in unser Verderben. Diese Tote hier ist für mich eine unter vielen, ihr Mörder ebenso!«

»Aber Sie verstehen, was ich hier tue?«, fragte Heller leise und bestimmt.

Schorrer nickte. »Selbstverständlich! Das ist mir natürlich klar. Es geht um die Regeln und Gesetze, die es einzuhalten gilt. Der Ordnung zuliebe. Gnade uns Gott, die Ordnung verfiele. Sie entschuldigen mich jetzt?«

Schorrer wartete gar keine Antwort ab, er ging einfach. Die Pendeltür klappte hinter ihm noch zweimal hin und her, ehe sie zum Stillstand kam.

Heller vermutete, dass man Doktor Schorrer aus gutem Grund die Leitung einer Station übertragen hatte. Mit seinen Fronterfahrungen war er sicherlich der richtige Mann, eine Klinik wie diese durch harte Zeiten zu manövrieren. Doch er war eben kein Kriminalist.

Er wartete kurz, dann ging er zum Seziertisch. Nachdenklich betrachtete er die rechte Hand der Toten. Er sah sich um. In einem Regal entdeckte er Gummihandschuhe und zog sie an. Vorsichtig hob er die Hand der Frau an und drehte ihre Handfläche nach oben. Am Daumenballen und am Handgelenk hatte sie einige Hautabschürfungen, wie man sie davontrug, wenn man vom Rad stürzte und mit den Händen aufkam. Sie schienen frisch zu sein. Heller beugte sich über den Tisch, nahm die andere Hand hoch, fand auf ihr dieselben Schürfwunden. Sie war also mit dem Rad unterwegs gewesen, war gestürzt oder zu Fall gebracht worden. Vielleicht lag das Rad noch irgendwo in der Nähe des Tatorts am Elbufer. Normalerweise hätte er längst jemanden dahin delegiert, genauso zu dieser Familie Schurig. Doch das musste nun erst mal warten.

Noch einmal beugte er sich über das Gesicht der Toten, betrachtete es eingehend und öffnete vorsichtig ihren Mund. Er zuckte zusammen. Der Frau fehlte die Zunge. Hatte Schorrer das übersehen? Heller bezweifelte mittlerweile, dass der Arzt seine Aufmerksamkeit überhaupt mehr als ein paar Minuten der Toten geschenkt hatte. Er zog sein Notizbuch hervor, hatte aber seine Not, die richtige Seite mit den behandschuhten Fingern aufzublättern, und notierte dann seine Beobachtungen.

Anschließend griff er erneut mit beiden Händen nach Kinn und Stirn der Toten und drehte den Kopf im Licht langsam hin und her. Dabei sah er etwas in einem der Nasenlöcher. Er griff sich aus dem Sezierbesteck eine lange Pinzette und entnahm der Toten eine feine, weiße Faser, kaum zwei Millimeter lang und dünn wie ein Haar. Gegen das Licht betrachtet, schienen beide Enden ausgefranst. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, angelte sich ein kleines Papiertütchen aus seiner Tasche und ließ das Fädchen hineinfallen. Dann klemmte er die Tüte in sein Buch.

Als er den Sektionssaal verließ, warteten schon zwei Schwestern. »Was sollen wir mit ihr machen? Können wir sie dem Bestattungsdienst überlassen oder den Verwandten?«, fragte eine.

»Sie soll noch hierbleiben. Und bitte sagen Sie mir, wo ich hier ein Telefon finde.«

»Den Gang vor, dann links!«

Heller nickte dankend und machte sich auf die Suche nach dem Telefon. Er wollte sich einen Fahrer bestellen. Während er den Flur hinablief und seine Absätze auf dem kalten gebohnerten Boden klackten, fiel ihm plötzlich auf, dass weder er noch Schorrer den Hitlergruß verwendet hatten.

 

Ein Fahrer hatte natürlich nicht zur Verfügung gestanden, weshalb Heller zuerst mit der Straßenbahnlinie 3 und dann der 9 zur Jägerstraße fahren musste, was kein Vergnügen darstellte. Die Bahnen waren voll, die Luft war zum Schneiden, viele Menschen husteten.

Auch auf den Straßen war viel los. Alle Welt war unterwegs. Menschen mit Handkarren und Rucksäcken. Unter ihnen Flüchtlinge auf Betteltour, zerlumpt, desillusioniert, weitab von ihren Durchgangslagern am Hauptbahnhof. Von den Einheimischen wurden sie misstrauisch beobachtet.

Auf dem feuchten Kopfsteinpflaster in der Jägerstraße lag altes Laub, es war glitschig und hinderte Heller am schnellen Laufen. Vorsichtig setzte er Schritt um Schritt, den Blick immer nach unten gerichtet.

»Wo wollen Sie denn hin?«, rief eine ältere Frau aus dem dritten Stock, als er in die Einfahrt der Hausnummer siebzehn einbog.

»Zu Schurigs«, antwortete er knapp.

»Sind nicht da. Seit heut Morgen. Soll ich etwas ausrichten? Von wem?«

»Danke, ich warte«, sagte Heller.

»Wollen Sie jetzt die ganze Zeit da stehen?«, fragte die Frau und leichtes Entsetzen schwang in ihrer Stimme mit. »Wenn Sie zu der Neuen wollen, die ist auch nicht da!«

Heller trat ein paar Schritte zurück, um seinen Kopf nicht so weit in den Nacken legen zu müssen. »Was ist mit der Neuen?«, fragte er.

»Das werden Sie wohl am besten wissen. Das war mal eine anständige Gegend!« Mit gehöriger Entrüstung schlug die Frau die Fensterflügel zu und verriegelte sie mit Nachdruck.

Heller zögerte nicht lange, betrat das Haus und ging die dreieinhalb Treppen hinauf, bis er vor einer Wohnungstür mit dem Namensschild »Werker« stand.

»Ich mach nicht auf!«, quiekte es von drinnen hysterisch. »Ich rufe die Polizei!«

Heller stand so nah an der Tür, dass er sie beinahe mit der Stirn berührte. »Frau Werker. Ich bin von der Polizei.«

»Wirklich?«

»Sie können gern durch den Briefschlitz sehen, ich zeige Ihnen meinen Ausweis.« Er hielt ihn vor die schmale Klappe. Tatsächlich wurde daraufhin die Kette abgenommen und die Tür öffnete sich. Heller betrat den großen Flur und staunte insgeheim über die Größe der Wohnung. Mindestens vier große Zimmer, dazu offensichtlich Bad und Küche.

»Darf ich Ihr Telefon benutzen?«, fragte Heller. »Es ist dringend!«

Frau Werker, ein grauhaarige Dame von etwa sechzig Jahren, nickte. Heller ließ sich zur Schießgasse vermitteln, zum Büro des Fahrdienstes. Er wollte noch einmal versuchen, einen Fahrer zu bekommen. Diesmal hatte er Glück. Es fand sich einer. »Soll vor dem Haus warten!«, wies Heller an und legte auf.

»Was wissen Sie über Frau Bellmann?«, fragte er Frau Werker unvermittelt. Ein großes Bild von Hitler zierte die Wand im Flur. Ringsherum Bilder eines Mannes in Uniform, das größte davon mit einem schwarzen Trauerband in der Ecke.

»Die war mit einem Juden verheiratet und kommt aus Berlin, angeblich ausgebombt, aber wer weiß, ob das stimmt. Wohnt erst zwei Tage hier und hatte schon Männerbesuch! Das muss man sich mal vorstellen. Wenn mein Mann das wüsste. Solche Zustände!«

Heller roch Kaffee, echten Kaffee. Den hatte er selbst schon seit Monaten nicht mehr bekommen.

Die Werker hatte wohl gesehen, wie er schnupperte, und stellte sich sofort zwischen ihn und die Küche, als fürchtete sie, er würde den Kaffee konfiszieren.

»Haben Sie denn gesehen, was für ein Mann das war?«

Die Frau winkte ab. »Nein, er kam im Dunkeln. Hören Sie, da kommen sie!« Dann lief sie zur Tür und riss sie auf. »Waltraud, die Polizei ist für euch da!«, rief sie sensationslüstern nach unten.

»Für uns?«, fragte Frau Schurig ungläubig.

Heller drängte sich vorbei ins Treppenhaus und ging die Treppe hinunter, wo Herr und Frau Schurig soeben mit der Beute des Tages ihre Wohnung betraten. In einer blechernen Milchkanne gluckerte es. Die Körbe waren voll, wenn auch nur mit Kartoffeln. Hoffentlich würde er es nicht noch einmal bereuen, statt nach Lebensmitteln angestanden zu haben, einem Mörder nachgelaufen zu sein, der vielleicht schon längst aus der Stadt entkommen war. Nicht seinetwegen machte er sich Gedanken. Wegen Karin, die Tag für Tag nichts anderes tat, als die Geschäfte abzuklappern, in der Hoffnung, etwas zu bekommen für ihre Marken.

»Sind Sie wegen der Klara hier?«, fragte Herr Schurig, ein kleiner grauer Mann im gleichen Alter wie die Werker. Er atmete schwer vom Tragen, holte ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, um sich damit die Stirn abzuwischen.

Heller betrat ungefragt die Wohnung und schloss die Tür hinter sich. »Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Klara tot ist. Sie wurde umgebracht, und ich muss Ihnen deshalb einige Fragen stellen.«

»Umgebracht?«, fragte Frau Schurig. Sie war eine verhärmte Frau mit harten Gesichtszügen.

»Hatte Frau Bellmann Besuch? Von Männern?«

»Sie wohnte erst ein paar Tage bei uns«, stieß Frau Schurig hervor.

Heller hob den Kopf und sah sie streng an, was Frau Schurig veranlasste, doch auf die Frage zu antworten. »Nein, von Besuch wissen wir gar nichts.«

»Sie war sehr zurückhaltend«, steuerte ihr Mann bei.

»Hat sie etwas gesagt, hatte sie etwas vor? Wollte sie sich mit jemandem treffen?«

Die Schurigs sahen sich einen Moment an, der Mann zuckte leicht mit den Achseln. »Nun, sie schien sich für die Heiratsannoncen in der Zeitung zu interessieren. Möglicherweise ist sie dabei an einen Schwindler geraten.«

»Oder an ihren Mörder!«, verbesserte Heller leise. »Hat sie die Annoncen markiert?«

»Nein, ganz sicher nicht. Das hätten wir bemerkt.«

»Wo sind die Zeitungen?«

Frau Schurig sah zum Ofen.

»Welche Zeitung lesen Sie?«

»Die Dresdener.«

Heller hatte bereits sein Notizbuch gezückt und notierte sich: Annoncen prüfen.

»War sie denn nach ihrer Schicht noch einmal zu Hause, ehe sie verschwand?«

»Nein, sie kam von ihrer Arbeit nicht heim.«

»Frau Werker meinte, sie hätte einen unbekannten Mann auf der Straße gesehen!«

Schurig winkte ab. »Die spricht auch mit ihrem verstorbenen Mann.«

»Ich muss einen Blick in die Sachen von Klara werfen.«

Schurigs zeigten Heller den Weg zu Klara Bellmanns Zimmer. Dort war gerade genug Platz für ein Bett und einen Kleiderschrank. Heller öffnete diesen, griff in die Fächer, zog Schubladen heraus, fand jedoch nichts außer ein paar Kleidungsstücken und einem schmalen Packen Papiere, Meldeformulare aus Berlin und Dresden, eine Bescheinigung, dass sie ausgebombt worden war, eine Notbescheinigung für ihre Berufsausbildung und die Kopie einer Scheidungsurkunde. Ihr Exmann hieß Daniel Kohn.

Heller notierte sich das.

»Wissen Sie, von wem die Scheidung ausging, hat man Frau Bellmann dazu gezwungen?«

»Das wissen wir nicht.« Schurig hob die Schultern.

»In welchem Verhältnis standen Sie zu ihr?«

»Sie war die Tochter einer Cousine. Oder war sie eine Cousine zweiten Grades?« Frau Schurig sah fragend ihren Mann an, doch der wusste es auch nicht.

»Und sie hat nichts gesagt? Keine Andeutung, sie würde verfolgt, jemand lauerte ihr auf? War sie vielleicht deshalb aus dem Schwesternheim hierhergezogen?«

Schurigs schauten ihn ratlos und stumm an. Offenbar hatten sie nicht viel Interesse am Schicksal ihrer Verwandten.

»Ich hinterlasse Ihnen eine Fernsprechnummer. Verlangen Sie Kriminalinspektor Heller, nur für den Fall, dass Ihnen doch noch etwas einfällt!« Er wollte sich verabschieden, da kam ihm Frau Schurig eilig hinterher.

»Da ist noch was! Also, ihre Lebensmittelkarten, die können wir doch behalten, ich meine, die nimmt uns doch jetzt niemand weg?«

Heller atmete tief durch. »Nein, behalten Sie die.«

 

Vor dem Haus musste Heller sich noch einige Minuten gedulden, bis der Fahrer auf seiner BMW gefahren kam. Es war wieder Strampe. Grußlos bremste der Unterscharführer ab, sah ihn auffordernd durch seine Schutzbrille an, und Heller kletterte, ebenfalls grußlos, in den Beiwagen.

»Also, wohin?«, fragte Strampe in unverschämtem Tonfall.

Heller fror in der nassen, kalten Luft und wäre am liebsten nach Hause gefahren, denn langsam begann er sich der Sinnlosigkeit seines Unterfangens bewusst zu werden. Er musste sich außerdem nicht gefallen lassen, wie dieser Bengel mit ihm sprach. Dann dachte er an Karins Worte. Nein, er würde sich zurückhalten.

»In die Klinik!«, befahl er schroff.

»Schon wieder? Reinste Benzinverschwendung!«

Strampe fuhr heftig an. Viel zu schnell schoss er in die nächste Kurve, und Heller ließ sich in den Beiwagen hineinrutschen, soweit seine langen Beine das zuließen, zog die Mütze tief in die Stirn und hielt sie mit zwei Fingern fest. Als sie auf die Bautzner Straße abbogen, verlor Strampe beinahe die Kontrolle über die Maschine, doch wie zum Trotz drehte er auf der darauf folgenden geraden Strecke erst richtig auf. Die Leute auf der Straße sprangen erschrocken zur Seite und schauten ihm kopfschüttelnd hinterher.

Heller saß zusammengekauert im Beiwagen und raste an den Menschen vorbei, sah, wie sie davonhasteten, allesamt mit Taschen und Beuteln, weil immer einer den Gerüchten glaubte, heute gäbe es Schmalz beim Fleischer, Rote Bete beim Gemischtwarenhändler, Briketts beim Brennstoffhandel. Die interessiert der Krieg nicht im Geringsten, dachte Heller, die wollen nur Essen und einen warmen Ofen, mehr nicht. Dahin war sie, die Euphorie der ersten Jahre, der feste Glaube an Adolf. Und mitten unter ihnen gab es jemanden, der eine Frau überfiel, sie fesselte und knebelte und sie am lebendigen Leibe aufschlitzte, ohne die Tat zu vertuschen. Wollte er, dass man sie fand?

Heller tippte dem Fahrer ans Bein, der beugte sich, ohne langsamer zu werden, ein wenig zur Seite.

»Halten Sie unterwegs auf der Gneisenaustraße!«, rief Heller in der Fahrtwind, und der Fahrer richtete sich wieder auf, ohne ein Zeichen zu geben, ob er verstanden hatte.

Aber Strampe hielt auf der Gneisenaustraße, und Heller quälte sich aus dem Beiwagen. »Fahren Sie auf die Schießgasse, ich gehe zu Fuß weiter!«

Der Fahrer tippte sich auf sein linkes Handgelenk. »Siebzehn Uhr ist Dienstschluss!«, blaffte er und ließ beim Anfahren den Motor aufheulen.

Heller nahm sein Notizbuch heraus und suchte die Namen und Adressen der Jungen. Alwin Trautmann wohnte im Haus Nummer vier. Das lag direkt vor ihm und die Haustür stand offen. Heller studierte die Namensschilder im Treppenhaus. Er musste in die vierte Etage.

Schon nach dem ersten Klingeln öffnete eine robuste, grauhäutige Frau mit einem Kopftuch.

»Frau Trautmann? Heller, Kriminalpolizei. Ist der Junge da? Alwin?«

»Im Kinderzimmer, wagt sich nicht mehr nach draußen seit gestern.«

»Waren Sie es, die ihm vom Angstmann erzählt hat?«

Frau Trautmann schüttelte den Kopf. »Die Kinder erzählen sich das.«

Heller nickte. »Hat der Junge noch irgendetwas erzählt?«

»Nein, er ist ganz ruhig, als ob er krank werden würde.«

»Ich will ihn sehen!«

Alwins Mutter deutete mit der Hand auf eine Tür. Heller ging hinein. Alwin saß auf einem Stuhl und sah aus dem Fenster. Auf dem Schoß lag sein Holzgewehr. Heller stellte sich neben ihn und sah ebenfalls hinaus.

»Wonach schaust du?«

»Ich schau nach dem Ami!«

»Schon einen erspäht?«

Alwin schüttelte den Kopf und ließ den Himmel nicht aus dem Blick.

»Konntest du schlafen diese Nacht?«

Der Junge erwiderte nichts.

»Was macht dir zu schaffen? Der Anblick der Frau? Der Angstmann?«

Stille.

»Wer hat dir von dem erzählt? Andere Jungs?«

Alwin nickte.

»Was tut er?«

Jetzt flüsterte Alwin etwas und Heller musste sich zu ihm hinunterbeugen, um ihn zu verstehen.

»Der schleicht herum, bei Alarm. Und wenn man nicht rechtzeitig im Keller ist, da kommt er und schnappt dich und macht dich tot wie die Frau.«

Heller richtete sich auf und legte dem Jungen die Hand auf die Schulter. »Das ist Mumpitz, Junge, ich bin Polizist, ich weiß das. Was der Frau geschehen ist, ist eine andere Sache. Aber du musst mir helfen, den Mörder zu finden.«

»Helfen? Wie denn?« Alwin sah ihn ängstlich an.

»Indem du nachdenkst. Seid ihr des Öfteren da beim Bootshaus?«

»Manchmal.«

»Und da habt ihr nie jemanden stehen sehen? Einen Mann? Irgendjemanden?«

Der Junge schüttelte den Kopf. »Da hätten wir uns ja nicht hineingewagt.«

»Und ein Fahrrad habt ihr auch nicht gesehen? Eine Frau mit Rad, an den Tagen zuvor?«

Alwin schüttelte beharrlich den Kopf.

»Und die Tür hinten, stand die schon lang offen? Oder habt ihr an dem Tag entdeckt, dass sie aufgebrochen war, und seid gleich eingestiegen?«

»So, wie Sie sagen, der Gustl hat’s gesehen und wir sind gleich rein.«

In dem Jungen arbeitete es, da war noch etwas, ahnte Heller.

»Man kann ihn aber hören manchmal«, wisperte der Junge.

»Wen?«

»Ihn! Er schleicht durch die Nacht, und manchmal lacht er und kichert und manchmal heult er den Mond an!«

Heller straffte sich. »Es ist genug jetzt!«

»Aber wirklich, ich habe ihn gehört, Mutter auch. Nicht wahr, Mutter?«

Heller sah zur Tür, wo die Frau stand, die hob unglücklich die Schultern, als wüsste sie nicht, ob sie ihren Sinnen trauen durfte.

1. Dezember 1944, Mittag

Das Krankenhausgelände war wie ein großer Trichter. Von allen Seiten strömten Menschen herbei, drängelten durch die Tore, sammelten sich vor den Eingängen der Gebäude, auf den Freiflächen und Wegen dazwischen. Sanitätswagen kamen aus der Stadtmitte, brachten Kranke, die sich unter Hustenanfällen krümmten. Die meisten sahen aus, als hätten sie eine lange, entbehrungsreiche Reise hinter sich. Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt verteilte Tee aus Kannen oder heiße Suppe. Rotkreuzhelferinnen liefen herum und notierten Namen und Krankheitssymptome, sortierten die schwersten Fälle aus. Immer entbrannte Streit darüber, wer vorgelassen werden sollte.