Schrammstein - Frank Goldammer - E-Book

Schrammstein E-Book

Frank Goldammer

4,3

Beschreibung

Hauptkommissar Falk Tauner erhält Besuch von seinem älteren Bruder Ralf. Er war Tauners großes Vorbild, bis zu jenem Tag im Jahre 1988, als Ralf in den Westen rübermachte und damit sogar Falks Polizeilaufbahn gefährdete. Als sein Bruder plötzlich verschwindet und kurz darauf tot aufgefunden wird, versucht Tauner den Fall auf eigene Faust aufzuklären und kann nicht glauben, in welche Machenschaften sein Bruder verwickelt war …

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Frank Goldammer

Schrammstein

Kriminalroman

Zum Buch

Kainkomplex Kurz vor der Wende floh Hauptkommissar Falk Tauners Bruder Ralf in den Westen. Falk fühlte sich verraten, die Republikflucht gefährdete kurzzeitig sogar seine Anstellung bei der Polizei. Die Brüder entfremdeten sich mit den Jahren. Und nun steht Ralf mit seiner Frau plötzlich vor seiner Tür. Einfach so. Schnell wird klar, dass sich auch nach so langer Zeit keine Eintracht zwischen den beiden einstellen will. Sie streiten, unversöhnlich, bis die Situation eskaliert – und Ralf kurz darauf verschwindet. Als er bald darauf tot im Elbsandsteingebirge gefunden wird, stellen die Ermittler der Mordkommission fest: Ralfs Tod fügt sich in eine Reihe weiterer tödlicher Unfälle in der Sächsischen Schweiz. Falk Tauner, als Angehöriger außen vor, widersetzt sich den Befehlen der Staatsanwaltschaft und ermittelt auf eigene Faust. Er will wissen, ob Ralf nur zufällig zum Opfer geworden ist. Doch schon bald ist er der Gejagte …

Frank Goldammer wurde 1975 in Dresden geboren und ist gelernter Maler- und Lackierermeister. Mit Anfang 20 begann er zu schreiben. Der alleinerziehende Vater lebt mit seiner Familie in seiner Heimatstadt.

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Alle Rechte vorbehalten

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © busdriverjens / photocase.de und © klafrog / photocase.de

ISBN 978-3-8392-4618-4

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1

Tauner warf einen skeptischen Blick auf sein Navigationsgerät. Er hatte die Försterlingstraße in jedem anderen Stadtteil erwartet, nur nicht hier in Niedersedlitz, von wo es keine fünf Autominuten mehr bis zur Stadtgrenze zu Heidenau waren. Uhlmann neben ihm schien sich nicht zu wundern, oder er schlief. Tauner wagte einen kurzen Blick zur Seite.

»Was?«, knurrte Uhlmann.

»Nichts«, murrte Tauner.

»Gut«, brummte Uhlmann. »Da musst du rein!«

Ach was, dachte Tauner, dann bog er rechts ab. Im Rückspiegel sah er einen kleinen Konvoi, der ihm folgte.

»Da ist es«, sagte Uhlmann leise. Sie hatten ein paar kleinere Mehrfamilienhäuser passiert, dann wich das Gelände ein wenig zurück. Ein sechsstöckiges, mit blauem Glas verkleidetes Gebäude erschien in Tauners Blickfeld. Es war ein typischer Zweckbau aus DDR-Zeiten, rechteckig, ohne jeglichen Anhaltspunkt fürs Auge. Einstmals jedenfalls. Nun bot es genügend Blickpunkte, Graffiti, zerschlagene Fensterscheiben und Unkraut, das auf Fenstersimsen gedieh. Das Gelände war noch vor Kurzem vollkommen verwildert gewesen, bis schweres Gerät Tabula rasa gemacht, die Erde gewendet und geebnet hatte. Nur ein paar große Haufen graubraunes Geäst erinnerte an den Wildbewuchs.

»Jetzt haben die wohl nach 20 Jahren endlich einen Investor gefunden«, schnaubte Uhlmann und ließ Tauner nicht wissen, ob er das nun gut fand oder schlecht.

»Kann ja nicht schaden«, meinte Tauner.

Uhlmann winkte ab und schickte sich an, aus dem Auto zu steigen. Tauner machte es ihm gleich, war aber viel schneller. Seine frische Beziehung mit der Gerichtsmedizinerin tat ihm körperlich ganz gut, wenn sie ihm auch seelisch ein wenig unbefriedigend vorkam. Sein geschmeicheltes Ego hatte ihn Sport treiben lassen und seinen Alkoholkonsum auf ein vorzeigbares Maß eingeschränkt.

Er wartete nicht auf Uhlmann, sondern winkte die Autos, die ihnen gefolgt waren, an den Straßenrand. Aus dem größten der weißen Transporter stieg Martin, der Chef der Spurensicherung.

»Da wird nicht viel zu sichern übrig sein«, meinte er sogleich und deutete mit dem Kinn auf das verschlissene Gebäude. Jetzt erst sah Tauner, dass ein riesiger Bagger mit einem langen Greifarm dem Gebäude schon ein gutes Sechstel abgekniffen hatte.

Tauner seufzte und sah sich um. Bisher war ihm noch keine Ansprechperson entgegengekommen. Die zwei Polizisten der Streife, von denen sie gerufen worden waren, konnte er nicht entdecken. Er sah auch keinen Arbeiter, nur den ruhenden Bagger. »Arbeiterwohnheim« las er über dem Eingang des abgewetzten Gebäudes. »Da kann man doch jetzt nicht mehr rein, oder?«

Martin hob die Schultern. Bis vor ein paar Monaten noch hatte ein langer Zopf seinen Kopf geschmückt. Nun waren die Haare kurz und Martin hatte sich nie so recht dazu geäußert. Man sprach von einer verlorenen Wette. Aus dem reservierten Verhalten ihm gegenüber schloss Tauner, dass er selbst ein nicht unwesentlicher Bestandteil dieser Wette gewesen sein mochte.

»Da drüben!«, sagte Martin jetzt und machte Tauner auf einen Streifenwagen aufmerksam, der hinter einem Wohncontainer parkte.

»Wenn die da drin hocken und Kaffee trinken, mach ich die zur Sau«, knurrte Tauner.

»Da bin ich mir sicher!«, erwiderte Martin und zog fröstelnd die Schultern hoch. Der Frühling stand vor der Tür, doch noch schaffte das Thermometer es kaum über fünf Grad; immerhin gab es keinen Tagfrost mehr.

Tauner ließ den Chef der Spurensicherung stehen und machte sich auf den Weg zum Baucontainer.

»Herr Hauptkommissar!«, rief ihn jemand von der Seite an, kaum dass er einige Meter gelaufen war. Tauner erkannte eine junge Streifenpolizistin, sie hatte unterhalb des Haupteingangs Posten bezogen. Falk Tauner ging zu ihr hin.

»Ich dachte, Sie hätten mich gesehen«, entschuldigte sie ihre laute Anrede.

Uhlmann und Martin hatten alles mitbekommen und näherten sich gemächlichen Schrittes.

Tauner nickte der jungen Obermeisterin zu. »War wohl zu sehr von der überwältigenden Ästhetik dieses Prachtbaus beeindruckt«, versuchte er witzig zu sein, doch die junge Frau hatte kein Lächeln dafür übrig. Das erinnerte Tauner daran, weshalb sie hier waren. »Wo ist Ihr Kollege?«, fragte er deshalb, um die Peinlichkeit zu überspielen.

»Der sichert den Hintereingang. Einer der Arbeiter hat mir gesteckt, dass jemand die Zeitung angerufen hat.«

»Idioten.« Tauner schüttelte den Kopf und sah sich vorsichtshalber schon mal um. Bislang war kein Reporter zu sehen. »Drinnen ist aber keiner?«, fragte er misstrauisch.

»Nein, deshalb stehen wir hier.« Die junge Polizistin versuchte, nicht beleidigt zu sein.

»Waren Sie schon im Gebäude?«

»Nur um uns zu überzeugen, ob die Arbeiter recht hatten. Wir haben nichts angefasst und genug Abstand gelassen. Da gibt es schon lang nichts mehr zu helfen.« Die Polizistin verzog den rechten Mundwinkel zu einem unglücklichen Grinsen.

Tauner sah die Muskulatur unter ihrem rechten Auge zucken. Ihm wurde gewahr, wie bleich sie aussah.

»Wenn Sie hier warten, hole ich eben den Polier«, schlug sie vor.

Als sie sich umdrehte, hielt er sie kurz fest. »Gut gemacht!«, sagte er und suchte nach weiteren aufmunternden Worten, doch es fiel ihm nichts Passendes ein. Er ließ die Beamtin los und sah seine Kollegen Uhlmann und Martin an. Sie warteten schweigend, bis die Polizistin mit einem behelmten großen Mann in orangener Arbeitskluft zurückkam. Beide trugen gelbe Helme in ihren Händen.

»Hülser!«, stellte sich der Polier vor und teilte Helme aus. »Normalerweise sollte nichts passieren, von dem Gebäudeteil, in dem sie liegen, wurde bisher nur eine Wand weggerissen. Die Stahlträger sind noch alle intakt.«

»Sollte nichts passieren«, wiederholte Uhlmann leise grummelnd und versuchte, sich den Helm aufzusetzen, ohne dabei wie die Karikatur eines Bauarbeiters auszusehen.

»Ich kann gern mitkommen, wenn Sie das beruhigt«, erklärte der Polier emotionslos. »Lohnt es sich für uns, heute noch hierzubleiben?«

»Ich schätze, Sie können heimfahren«, sagte Tauner nach einem kurzen Blick auf Martin, der unmerklich mit dem Kopf geschüttelt hatte.

Hülser nickte. »Ich bring Sie noch rein. Dann sag ich meinen Leuten, dass die abdampfen können.« Hülser war ein sehr großer Mann, nicht so massig wie Uhlmann, jedoch ebenso ein Schwergewicht. Tauner fand den Gedanken tröstlich, ihn in dem Gebäude dabeizuhaben. Wenn unter seinem Gewicht nichts zusammenbrach, würde wohl tatsächlich nichts passieren.

»Waren Sie es, der die Zeitung angerufen hat?«, fragte Tauner ihn.

»Hab ich.«

»Und wieso? Sie können sich sicher denken, wie wenig hilfreich das für uns ist«, sagte Tauner, dem die Kälte in die Knochen geschlichen war, was ihm ein wenig den Elan raubte.

»Es ist nicht verboten«, murrte der Polier, drehte sich um und schickte sich an, die Haupttreppe zum Eingang zu erklimmen.

Tauner sah seine Kollegen nicht an. Er brauchte keinen Spott, er wusste selbst, wann er dumm stehen gelassen worden war. Tauner setzte sich seinen Helm auf den Kopf und betrat nach Hülser das Gebäude. Zuerst bogen sie nach links ab, über ein Treppenhaus stiegen sie schweigend und schnaufend zwei Stockwerke nach oben. Tauner schmeckte Staub in der Luft und versuchte nur wenig zu atmen, was ihm umso weniger gelang, je mehr er daran dachte. Er fragte sich, wie viel Asbest hier verbaut worden war.

Aus dem Treppenhaus kommend bogen sie wieder nach links ab und gingen auf eine offene Tür zu.

»Da!«, sagte Hülser nur, als er die Tür erreicht hatte, und deutete auf die linke Wand.

Tauner trat vor und warf einen Blick in den Raum, dem nun eine Wand fehlte. Er konnte den Bagger sehen, dessen Arm sich unter der Abbruchkante befand, so als ob er die Hauswand stützen musste. Hier hatte sich der Staub weitestgehend gelegt, die Fußspuren, von den uniformierten Kollegen verursacht, waren kaum noch zu erkennen. Deutlicher dagegen zeichnete sich das dunkle Bündel gegen den hellen Hintergrund ab, warf scharfe Schatten. Tauner trat einen vorsichtigen Schritt in den Raum. Noch einmal blickte er zurück. Hülser nickte ihm aufmunternd zu.

Tauner fasste sich ein Herz, bis er keine drei Meter mehr vor der Bruchkante stehen blieb. Da lagen sie, zusammengedrängt, dort, wo einstmals die hinterste Ecke des Gebäudes gewesen war.

Es mussten der verstaubten Kleidung nach zwei junge Frauen sein. An Händen und Füßen gefesselt, den Mund geknebelt. Tauner hätte sich liebend gern abgestützt. Warum hältst du das nicht aus?, fragte er sich. Was ist los mit dir, wirst du weich? Oder erinnern sie dich zu sehr an deine Töchter?

»Die können schon seit zehn Jahren hier liegen, so wie die aussehen«, sagte Martin, der mit Uhlmann näher gekommen war. Er schoss Dutzende Fotos aus verschiedenen Winkeln und gab dann mit einem Nicken die Toten zur näheren Besichtigung frei.

Tauner sagte nichts dazu, konnte seinen Blick nicht losreißen von den grauen mumifizierten Gesichtern, den blonden Haaren, die nun aussahen wie makabre Perücken, den Ohrringen, die abgefallen waren, den Ringen an den ausgedörrten Fingern.

Uhlmann hatte heute bessere Nerven. Er ging umständlich in die Hocke, stützte sich an der noch intakten Wand ab und betrachtete die grausige Szenerie aus der Nähe. »Auf den ersten Blick sind weder Einschüsse noch Schnitt- oder Stichwunden zu erkennen.« Er holte eine kleine Taschenlampe hervor, leuchtete die Hälse der Toten ab und schob vorsichtig das Haar beiseite, um besser sehen zu können. »Offenbar wurden sie auch nicht stranguliert. Vielleicht vergiftet.«

»Ich sag dir was.« Tauner räusperte sich. Es war ihm nicht wohl bei diesem Anblick, es war, als hätte ihn eine düstere Vorahnung beschlichen, leise knisternd wie altes Pergament. »Die sind verhungert und verdurstet.«

»Glaub ich nicht«, murmelte Uhlmann.

Tauner verzog den Mund. Das war ihr Umgangston. Widerworte bei jeder Gelegenheit. Doch heute hatte er keine Lust dazu. »Dann glaubst du es eben nicht.«

»Seid ihr erst mal so weit?«, fragte Martin. »Dann lass ich meine Leute rein.«

Tauner nickte und bot Uhlman die Hand, um ihm aufzuhelfen. Uhlmann übersah sie geflissentlich und stemmte sich mit einem Ächzen in die Höhe. »Weißt du, was mich gerade am meisten stört?«, fragte er Tauner, der seine Hand schnell in der Jackentasche hatte verschwinden lassen. Tauner zuckte mit den Achseln.

»Der Reporter«, erklärte Uhlmann.

»Ist doch gar keiner da.« Tauner runzelte die Stirn.

»Genau das meine ich, zwei Tote scheinen heute nicht genug.«

2

Die beiden toten Frauen hatten es am nächsten Tag in den Lokalteil der Regenbogenpresse geschafft. Eine Randmeldung. Tauner ahnte, dass mindestens die Hälfte dieser Meldungen sowieso frei erfunden war.

Johannesburg:

Hund rettet Mann vor dem Ertrinken in der Toilette.

Delhi:

Brennende Katze verursacht Feuer in Fabrik.

Toulouse:

Abstürzendes Modellflugzeug tötet Rentnerin beim Spaziergang.

Wahrscheinlich gab es ein Computerprogramm, welches immer dann solche Meldungen generierte, wenn es eine kleine Lücke zu füllen galt. Anscheinend war den Redakteuren der Fund von zwei Frauenleichen nicht spektakulär genug, als dass es für mehr gereicht hätte. Tauner faltete die Zeitung zusammen. Es war kalt im Büro. Bestimmt hatte Pia vorhin ordentlich durchgelüftet. Bestimmt tat es dem Raumklima gut. Ihn jedoch fröstelte.

»Man wird aus dir nicht schlau«, meinte Pia und stellte ihm eine Tasse Kaffee auf den Tisch. Sie betrachtete ihn seit einigen Jahren als ihr Studienobjekt, lotete an ihm die gesamte Bandbreite der männlichen Empfindungen aus.

Tauner zuckte mit den Achseln. »Das hat mich gestern ganz schön geschlaucht«, murmelte er. Pia gegenüber konnte er das zugeben.

»Kann ich mir denken«, meinte seine Schreibkraft und setzte sich auf Uhlmanns Stuhl, der Schlimmeres gewohnt war. »Da werdet ihr nichts groß ausrichten können, oder?«

Tauner schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, nein. Wir haben herausgefunden, dass das Gebäude seit mehr als zwölf Jahren leer steht. Ich denke, dass die Leute, die damals in dieser Branche arbeiteten, längst nicht mehr im Geschäft sind. Zumindest hier.«

»Du meinst Prostitution?«

»Ich meine Menschenhandel.«

»Das weißt du doch aber gar nicht, ob es Menschenhandel war. Vielleicht war es nur ein dummer Streich, der schiefgegangen ist.«

Tauner sah sie streng an. Weiter brauchte er dazu nichts zu sagen. Es erstaunte ihn nur immerzu, wie Pia niemals die Kraft verlor, an das Gute im Menschen zu glauben.

Uhlmann betrat den Raum. »Bestimmt war es Selbstmord. Sie haben sich selbst geknebelt und gefesselt«, gab er bekannt und Pia erhob sich schnell von seinem Stuhl, um nicht unter diese Menschlawine zu geraten. Uhlmann hatte also schon mitgehört.

»Was du dir immer denkst, Pia, möchte ich wissen.« Uhlmann entledigte sich seiner Jacke und ließ sich in seinen Stuhl fallen. »Dem Kleidungsstil nach kamen die irgendwo aus Osteuropa. Hast du schon Bericht von Martin?«

»Nichts Verwertbares. Ich hoffe, die Rensing hat heute etwas für uns.«

»Die Rensing!«, wiederholte Pia und schüttelte ihren frisch rot gefärbten Kurzhaarkopf. »Wie du schon wieder redest.«

»Damit trenne ich nur die Arbeit vom Privaten«, erklärte Tauner halbherzig.

»Das kannst du nie wieder trennen, egal was passiert.«

Tauner nickte. Pia ging ihm, so lieb, fürsorglich und intelligent sie auch immer es meinte, manchmal gehörig auf die Nerven. Sie sah immer das Große und Ganze und verknüpfte sein Seelenheil irgendwie auch mit ihrem. Seine Liaison mit der Gerichtsmedizinerin passte nicht recht in ihr Konzept, sie träumte unverzagt von der großen Wiedervereinigung der Familie Tauner. Vielleicht spielte er die Hauptrolle in ihrer persönlichen Seifenoper, dachte Tauner mürrisch.

Annemarie Rensing war selbst in ihrem weißen Kittel und mit den straff zusammengebundenen Haaren eine tolle Frau. Sie lächelte aufrichtig erfreut, als Tauner ihr Büro betrat, und kam ihm entgegen, um ihm einen Kuss zu geben. Da Uhlmann ihm auf dem Fuß folgte und er Martin im Büro sitzen sah, drehte Tauner seinen Kopf schnell zur Seite. Aus dem Kuss auf den Mund wurde so ein verunglückter Wangenkuss.

»Was ist mit dir?«, fragte Doktor Rensing; die Bayerin in ihr hörte man deutlich heraus.

»Nichts, wieso?« Falk Tauner tat erstaunt.

»Es ist ihm peinlich!«, erklärte Uhlmann.

Rensing hob spöttisch die Augenbrauen. Dann schaltete sie um und wandte sich der Arbeit zu. »Martin, du zuerst!«

Martin unterdrückte ein Gähnen. »Keine der Frauen trug einen Ausweis oder einen anderen Identitätsnachweis bei sich. Es gibt keinerlei Hinweise auf ihre Herkunft, vermutlich ehemaliger Ostblock. Die Kleidung stammt aus China und Pakistan, Massenware, gibt es überall auf der Welt. Spuren gibt es, wie schon vermutet, überhaupt nicht. Nicht einmal den kleinsten Anhaltspunkt. Von mir könnt ihr also keine Hilfe erwarten.« Er hob entschuldigend die Schultern und verwies auf Rensing.

»Ich kann leider auch nicht viel mehr Hinweise geben. Es besteht zwar die Möglichkeit, dass sie aktiv erstickt worden sind, etwa indem man ihnen die Nasen zuhielt oder ein Kissen aufs Gesicht presste, doch wahrscheinlich kamen sie durch Verdursten ums Leben. In ihren Mägen befanden sich keinerlei Speisereste. Sie waren gefesselt, mit Stricken und Klebeband, außerdem waren sie aneinandergebunden, sodass sie sich nicht gegenseitig befreien konnten. In ihren Mündern befanden sich geknüllte Stofffetzen. Sie waren mit Klebeband geknebelt.« Doktor Rensing hielt inne und sah Tauner mit ernstem Blick an.

Der verarbeitete das Ganze ein paar Sekunden lang und stellte fest, dass es, obwohl er es von Anfang an vermutet hatte, die Sache für ihn keineswegs leichter machte. »Jemand hat sie also gefesselt, versteckt und vergessen. Oder absichtlich liegen gelassen.«

Martin regte sich. »Oder sie sind versehentlich erstickt. Eine Nase verstopft schnell, vor allem wenn man in Panik gerät.«

»Dann hat der oder haben die Täter sie tot gefunden und schnell das Weite gesucht?« Tauner sah zu Boden und versuchte an seine Arbeit zu denken, ohne sich die Panik und die Angst auszumalen, die die beiden Mädchen ausgestanden haben mussten.

»Oder derjenige, der sie versteckt hatte, wurde zwischendurch verhaftet, oder war verhindert und konnte nicht mehr helfen, weil er sich sonst verraten hätte.« Nun sahen sie alle Uhlmann an. »Es wäre eine Möglichkeit«, fügte der hinzu.

»Der Todeszeitpunkt war vor etwa zehn Jahren«, fuhr Rensing fort. »Es könnten aber auch zwei mehr oder weniger sein.«

»Viel mehr wahrscheinlich nicht, wenn die Bude seit zwölf Jahren leer steht.« Martin erhob sich. »Meine Leute sind noch im Gebäude und suchen alle Gänge und Räume ab. Aber mach dir keine großen Hoffnungen. Sieh lieber nach, wen du damals verhaftet haben könntest.«

»Warum ich?«, fragte Tauner erstaunt.

»Oder irgendwer.« Martin winkte knapp und trat ab.

»Das ist ein Zeitfenster von vier, fünf Jahren«, stöhnte Uhlmann.

»Wir müssten die Verhaftungen im Rotlichtmilieu prüfen, das schränkt die Suche ein.«

»Stell dir nur vor, wir haben den eingebuchtet, der die beiden …«

Tauner unterbrach seinen Kollegen unwirsch. »Ich hab schon darüber nachgedacht! Komm, fahren wir ins Büro und sehen uns mal ein paar alte Akten an. Wenn es ums Rotlicht geht, wird uns die Sitte bestimmt helfen können.«

3

»Ich brauche Urlaub!«

»Wieso?«, fragte Hans Uhlmann einen weiteren Tag später und drehte sich gewichtig in seinem Drehstuhl.

Hauptkommissar Tauner blies die Wangen auf. Es war kurz nach halb acht. Der Frühling enttäuschte ihn aufs Neue, heute Morgen hatte ihm der Wind einmal mehr kleine Schneeflocken ins Gesicht getrieben. Die würden in ein paar Minuten wieder verschwunden sein, seine schlechte Laune aber nicht. Die schmolz nicht wie Schnee im frühen April. Tauner wusste, man konnte ihm nie etwas recht machen, und gleich würde er sich wieder anhören müssen, welch ein Ekel er war. »Mein Bruder kommt.«

Pia kam aus dem Nebenzimmer, hatte eine Tasse Kaffee für ihren Chef und einen neugierigen Gesichtsausdruck. Ersteres begrüßte Tauner.

Uhlmann runzelte die Stirn. »Warum so grimmig, hast du was gegen deinen Bruder?«

Pia, die Tauner schon länger und besser kannte, hatte auch etwas für ihren zweiten Chef: ein hastiges, warnendes Kopfschütteln.

»Du willst mich doch nur provozieren«, erwiderte Tauner niedergeschlagen. Er hatte keine Lust auf Streitgespräche und dumme Bemerkungen.

Pia sah ihn besorgt an. Tauners fehlende Kampfbereitschaft war ein guter Indikator für seinen seelischen und körperlichen Zustand. »Fehlt dir was?«, fragte sie deshalb.

Tauner schenkte ihr ein halbes Kopfschütteln und nahm sich einen Aktenordner hervor. Pia hatte bereits alles sauber abgeheftet. Tschechien, Polen, Rumänien, Bulgarien, Russland – es gab unzählige Vermisste, doch nur sehr vage Angaben. Wenn nicht zufällig ein Gebissabdruck vorlag und dieser mit einem der Toten übereinstimmte, würden sie niemals herausfinden, wer die beiden Mädchen waren. Vielleicht waren deren Eltern schon tot, hatten längst aufgegeben zu suchen, sie schlimmstenfalls selbst verkauft.

»Also was?«, brachte Uhlmann sich wieder ins Gespräch.

»Lass mich doch mit meinem Bruder in Ruhe!«, fuhr Tauner auf, sank aber gleich wieder in sich zusammen.

»Falks Bruder ist 88 in den Westen abgehauen«, erläuterte Pia ungefragt. »Falk hätte deshalb beinahe nicht Polizist werden dürfen. Er ist sogar von der Stasi eingesammelt und verhört worden!«

»Zwei Tage lang!«, knurrte Tauner und fuhr mit dem Finger unzählige unscharfe Fotos und kaum leserliche Namen ab, in der Hoffnung, doch noch etwas zu erkennen, einen der Ohrringe vielleicht oder wenigstens die Frisur.

»Und deshalb kannst du ihn nicht mehr leiden?«, fragte Uhlmann skeptisch.

Pia näherte sich Uhlmann, als müsste sie ihm bei der nächsten Bemerkung körperlich ins Wort fallen. »Hättest du zwei Tage auf der Bautzner Straße festsitzen wollen?«

Falk Tauner mischte sich ein. »Es geht nicht nur darum!«

»Worum denn dann?«

»Er ist so …« Tauner schüttelte den Kopf, wusste keine rechten Worte dafür und ließ es bleiben.

Aber Uhlmann war keiner, der schnell lockerließ, wenn es galt, Tauner auf den Nerv zu gehen. »Wusstest du denn, dass er rübermachen würde?«

Tauner zog die Mundwinkel nach unten. »Vielleicht hätte ich es mir denken sollen. Er machte Urlaub in Ungarn, das haben viele als Sprungbrett genutzt.«

»Nimmst du es ihm nun übel?«

»Hans!«, mahnte Pia und ihr rotes Haar flammte drohend.

Tauner wollte sich von ihr nicht helfen lassen. »Er hätte mich warnen können, was weiß ich. Als die Stasileute mich aufgriffen, wusste ich zuerst gar nicht, worum es ging. Ich hatte ein paar Abende zuvor getrunken und dumme Witze gemacht. Ich dachte, die wollten mich fragen, warum jemand, der Volkspolizist werden möchte, Unflätiges über Erich Honecker erzählt. Ich hatte echt Angst. Die waren damals sehr empfindlich. Aber vielleicht gehörtest du ja mit dazu!«

Uhlmann winkte ab und lachte. »Ich war gerade zwei Jahre Streifenpolizist und so groß!« Er deutete mit Daumen und Zeigefinger einen sehr kleinen Abstand an.

»Jedenfalls haben die mich erst einen ganzen Tag in eine Zelle gesetzt. Da saß noch jemand drin und keiner wagte zu fragen, warum der andere einsaß, denn es konnte ja ein Spitzel sein. Dann haben sie mich rausgeholt und ein paar Stunden lang befragt. Ich konnte denen aber nicht weiterhelfen.«

»Durftest du deshalb erst nicht Polizist werden?«

»Doch, die Wende kam mir zu Hilfe.«

»Also hast du doch gar keinen Grund, sauer auf deinen Bruder zu sein. Es war sein Leben und er konnte damit tun, was er wollte.«

»Ich bin auch nicht deshalb sauer auf ihn, ich …« Wieder fehlten die Worte. Tauner nippte an seinem Kaffee.

»War er nicht schon mal zu Besuch?«, fragte Pia. Ein sanfter Versuch, das Gespräch aus den Untiefen herauszulotsen.

»Das war vor 15 Jahren. Da war er einen Tag auf der Durchreise.«

»Aber ihr wart ihn schon mehrmals besuchen, oder?«, sprach Pia und verzog sogleich das Gesicht.

Tauner strahlte sie in falscher Dankbarkeit an. ›Ihr‹ bedeutete in diesem Fall: er und seine Frau. Seine Frau aber hatte sich von ihm scheiden lassen. »Ja, wir waren ihn besuchen. Dreimal schon, immer wenn er ein neues Haus hatte.«

»Er wohnt in Mannheim, stimmt’s?« Pia hielt tapfer aus.

»Ja, und jetzt frag mich noch nach dem Stadtzentrum und du bist mich los. Es ist herrlich da, Menschen, wohin man nur blickt!«

Pia schüttelte traurig den Kopf und verzog sich in ihr Büro.

»Das hast du hier auch«, bemerkte Uhlmann. »Egal, ob du zur Frauenkirche gehst oder zum Zwinger oder nach Moritzburg oder zur Bastei – überall Menschen!«

Tauner trank seinen Kaffee aus und knallte die Tasse ein wenig härter als nötig auf den Tisch. »Und macht es das jetzt besser?«

Uhlmann sah ihn an und seine Augen blitzten spöttisch. »Also ich kenne deinen Bruder nicht, aber ich vermute, er ist offen, freundlich, erfolgreich und hat eine schöne Frau und merkt gar nicht, wie sehr er dir auf den Keks geht!«

»Volltreffer!«, rief Pia aus dem Nebenzimmer.

Tauner tat, als hätte er nichts gehört, und blätterte weiter in den Akten, ohne wirklich etwas zu sehen. Alles, was sein Bruder tat, schien richtig zu sein, alles schien so leicht zu sein. Tauner konnte es nicht ertragen, wenn andere Menschen sich an Dingen erfreuten, die er für banal und oberflächlich hielt. Autos, Häuser, Schmuck und teure Kleidung. Und warum musste sein Bruder sich ausgerechnet jetzt und so kurzfristig ankündigen?

»Ich kann dir nur raten: Mach was Schönes daraus, fahr mit ihm irgendwohin, wo du schon lang nicht mehr gewesen bist, und versuch dich mal ein wenig zu entspannen«, sagte Uhlmann.

Es hörte sich an, als ob er es wirklich gut meinte.

4

»Falk!«

Ralf Tauner erhob sich von seinem Stuhl, er war ein bisschen größer als Falk und gerade so vollschlank, dass man ihn nicht als dick bezeichnen konnte. Er trug seine Haare ziemlich lang, hatte sie mit Fön und Haargel zu einer Frisur geformt, die sich in einem Film mit Musketieren gut gemacht hätte. Sein Gesicht strahlte, die Fingernägel waren manikürt. Ralf hatte sich eines der teuersten Hotels in Dresden ausgesucht. Das Foyer glänzte im Clubambiente, die weißen Ledercouches reflektierten das angenehm orange Licht der Barbeleuchtung. Die Rezeption war nicht gleich als solche zu erkennen, dezente Musik dudelte im Hintergrund und Leute sprachen miteinander, als wäre ihr schlimmstes Problem, dass das Cremeweiß des Teppichs zu Hause nicht ganz zum Sandbeige der Gardinen passte.

Falk kam sich sogleich schäbig vor, auch wenn seine Jeans und seine Jacke nicht gerade billig gewesen waren. Ralf hatte sich vollständig mit Lacoste verkleidet. Falk Tauner mochte dieses Label nicht, denn es stellte Kleidung her, die nach nichts aussah, deren kleines Emblem jedoch wie eine Parteinadel war, die jedem zeigte, welcher Schicht man angehörte. Ralfs Frau sah unverschämt teuer aus in ihrer glänzenden Kleidung. Ihre blonden Haare waren hochgesteckt, um den schweren Ohrringen mehr Geltung zu verschaffen, ihr Körper war dank ihrer Kleidung in eine gute Form gepresst, und Ralf schien stolz auf sie. Auch sie erhob sich; Falk gehorchte den alten Anstandsregeln und begrüßte sie zuerst. Sie drückte ihn sacht an sich und gab ihm einen angedeuteten Kuss auf die linke Wange. Ihr Parfüm kratzte ihm in der Nase und er verkniff sich eine garstige Bemerkung darüber, ob sie den Begriff »dezent« schon einmal gehört hätte.

»Falk, du siehst …«, sie hielt ihn ein wenig von sich, sah an ihm herunter und stockte.

»Danke, du auch, Heidrun«, erwiderte Falk. Dann gab er seinem Bruder mit steifem Arm die Hand, um nicht in die Verlegenheit zu geraten, ihn an sich drücken zu müssen. »Wie ich hörte, wart ihr schon bei Elke?«

»Nur weil ihr geschieden seid, heißt das nicht, dass wir sie nicht besuchen dürfen!«, sagte Heidrun ein klein wenig spitz. Obwohl sie ursprünglich aus Berlin kam, hatte sie sich einen hessischen Dialekt angeeignet. Ralf dagegen konnte sein weiches Sächsisch nie ganz überspielen.

»Ich hab doch nur gefragt«, murmelte Falk, und doch wurmte es ihn. Offenbar waren sie lieber zu seiner Exfrau gefahren und mussten ihn nun wie einen Pflichttermin hinter sich bringen. Warum dann aber das Ganze?, fragte Falk sich. Er hatte keine Lust darauf und seine Gegenüber genauso wenig. Nur weil sie Brüder waren, konnte sie niemand zwingen, sich zu mögen und Zeit miteinander zu verbringen. »Und eure Kinder?«, fragte Tauner schließlich, um das betretene Schweigen zu durchbrechen. »Ich dachte, sie wären mitgekommen!«

»Die haben Besseres vor!«, sagte Ralf.

Falk unterstellte ihm pauschal, dass er es nicht böse gemeint hatte. Für fast 20-Jährige war alles verlockender, als einen geschiedenen Onkel zu besuchen.

»Also, was machen wir?« Ralf sah gespannt aus.

»Ich dachte, das hättet ihr euch schon ausgekaspert.« Falk setzte sich gerade und versuchte, so gut es ging, seinen Unmut zu verbergen.

»Wir verlassen uns da auf dich. Ich bin nicht mehr ganz auf dem neuesten Stand, was die Stadt betrifft, war schließlich fast 25 Jahre nicht mehr hier. Hab nur immer von der neuen Brücke gehört, wir dachten ja, die sei riesig, aber pfff …« Ralf winkte ab. Wir bei uns haben viel größere Brücken, schien die Geste zu sagen.

Falk sagte nichts, er überlegte krampfhaft, wie er ein halbwegs interessantes Tagesprogramm aus dem Hut zaubern konnte. »Wie wäre es mit Frauenkirche, Fürstenzug, Zwinger, Mittagessen und …« Er verstummte, denn er war mit seinem Latein schon am Ende.

Ralf nickte gönnerhaft, als hätte er Falk nur ausreden lassen wollen. »Das neue Stadion würde ich gern mal sehen, kommen wir da rein?«

Heidrun verdrehte die Augen. »Ich habe eigentlich keine Lust, den ganzen Tag durch die Stadt zu laufen.«

Ralf klopfte ihr beschwichtigend auf das rechte Knie. »Aber wenn wir schon mal hier sind … Heute Abend kannst du doch shoppen gehen!«

Er redete mit ihr wie mit einem Kind, dachte Falk, das machte er schon immer, so als ob sie ein bisschen dumm wäre; er hatte nie so mit seiner Frau geredet.

Ralf sah wieder seinen Bruder an. »Und, wie sieht es nun aus mit dem Stadion?«

»Wir kommen da nicht rein, was denkst du? Dass ich meinen Dienstausweis vorzeige, und schon öffnen sich alle Türen?«

Ralf hob abwehrend die Hände. »War auch nur eine Frage!«, sagte er und lachte.

Jetzt redete er auch schon so mit ihm, dachte Falk missmutig, das konnte ja noch heiter werden.

»Wolltest du nicht in die Berge?«, fragte Heidrun.

»Berge?«, fragte Falk Tauner verblüfft. Zum Skifahren war es nun selbst im Erzgebirge ein klein wenig zu spät.

Ralf klopfte seiner Frau wieder auf das Knie. »Sie mag die Berge!« Er lachte und Falk fragte sich, was nur aus dem Kerl geworden war, der früher aus dem Hochhaus Leute mit rohen Eiern beworfen hatte. Was war aus dem Kerl geworden, der ihn zum Fußballtraining gebracht und jeden verprügelt hatte, der seinem kleinen Bruder zu nahe kam? Erst hatte er ihn verraten, einfach verlassen, und dann? Dann war aus dem schmalen aufsässigen Kerl mit viel zu langen Haaren einer geworden, der Autoteile verkauft hatte und damit reich geworden war und der sich ein kleines Frauchen gesucht hatte, die er behandeln konnte, als wäre sie ein wenig zurückgeblieben. Falk konnte seinen Unmut kaum noch verbergen. An dieser Stelle wäre seine Frau spätestens eingeschritten, wusste er. Nicht einmal die Kinder waren da. Trostloser hätte Falk sich nicht fühlen können.

»Was für Berge?«, brachte er hervor und hörte selbst den gequälten Ton in seiner Stimme.

»Die Sächsische Schweiz!«, erklärte Ralf. »Aber nicht auf die Bastei, wo nur die Touristen hinfahren, ich dachte an die Schrammsteine oder so.«

Er brauchte Alkohol, dachte Falk. »Gut, fahren wir morgen in die Sächsische Schweiz«, murmelte er und wandte sich Heidrun zu. »Dann wirst du aber etwas anderes anziehen müssen!« Er versuchte ein Lächeln, stieß aber auf Granit.

»Ich weiß, ich bin ja nicht dumm!«

Wem sagte sie das, dachte Falk.

Erschöpft fiel er Stunden später auf seine Wohnzimmercouch. Das konnte er nicht noch einen Tag aushalten. Es gab keinen Grund, warum sie sich das antun mussten. Dass Heidrun ihn nicht mochte, wussten sie nicht erst seit heute, sondern seitdem sie sich das erste Mal getroffen hatten. Dieses Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit, wobei Falk nicht genau definieren konnte, warum er sie nicht mochte. Sie war eine schöne Frau, nur ein wenig zu aufgetakelt. Sie war nicht dumm, wahrscheinlich war sie in der Lage, Ralf so zu manipulieren, dass er jedes Mal glaubte, es wäre seine Idee gewesen, wenn er tatsächlich ihr einen Gefallen tat. Wahrscheinlich mochte er Heidrun einfach deshalb nicht, weil sie seinen Bruder geheiratet hatte.

Tauner hob den Kopf ein wenig und sah auf die Uhr. Dann verdrehte er die Augen. Ralf hatte zum Abendessen im Steigenberger geladen. Falk befürchtete, keinen angemessenen Anzug für dieses Etablissement zu besitzen, das war schon mal ein schlechter Start. Und selbst wenn: Menschen wie Ralf schienen von innen heraus zu glänzen, man roch offenbar ihr Geld. Falks Blick wanderte zu seiner Hausbar. Er musste eigentlich noch Auto fahren, doch wie sollte er nur die nächsten Stunden überstehen? Er hatte er eine grandiose Idee, nahm sein Telefon hervor und wählte eine Nummer.

»Pia, du wolltest doch schon immer mal im Steigenberger essen gehen!«, behauptete er.

»Nein, nicht unbedingt, aber deinen Bruder würde ich gern mal kennenlernen.« Pia schien amüsiert und hörte sich an, als hätte sie etwas Derartiges erwartet.

»Danke, Pia, ich hole dich in einer halben Stunde ab. Ich hoffe, du kannst das verstehen. Ich halte es einfach nicht aus!«

»Es gibt Menschen, die halten dich nicht aus! Bis dann, Falk!«

Tauner legte auf und seufzte erleichtert.

»Als ich in Gießen ankam, hatte ich wirklich nichts. Ich hatte zwar eine Reisetasche mit ein paar Sachen darin, aber mein Rucksack mit meinem Ausweis war in Ungarn verloren gegangen. Fragt nicht, was ich an der Grenze zwischen Ungarn und Österreich ausgestanden habe. Ich dachte, die sperren mich ein deswegen, oder schicken mich zurück. Ich hab mir schon alles Mögliche ausgemalt. Aber die Ösis sahen das ganz locker und stellten mir einen Hilfsausweis aus. Mit dem konnte ich dann in die BRD einreisen. War echt eine ganz seltsame Stimmung da.« Ralf trank einen winzigen Schluck Wasser.

Falk seufzte still und bestellte sich mit einem Wink ein neues Bier. Er wagte nicht, Wodka zu trinken, weil er vor Heidrun und auch vor Pia nicht als Säufer dastehen wollte.

»Zuerst waren natürlich alle froh und euphorisch, rausgekommen zu sein. Die haben gesungen und gejubelt, aber das ließ schnell nach. Zwar haben wir viel Unterstützung bekommen, aber schließlich machte sich doch jeder so seine Gedanken, wie das alles werden sollte. Viele fingen auch an zu heulen, weil sie die Familie zurückgelassen hatten, manche sogar ihre Kinder. Die konnten ja damals nicht wissen, wie bald sie sie wiedersehen würden.«

Und, hatte er auch geheult?, fragte Tauner sich. Oder war er froh gewesen, sie alle los zu sein? Er hatte es sicher kaum erwarten können, endlich Geld zu machen.

»Ich meine, das ist schon hart, oder? Die Kinder zurücklassen? Was sollen die denn denken? Selbst wenn sie die nach einem Jahr wiedergesehen haben, die Kinder müssen doch einen Knacks fürs Leben bekommen haben. Also das konnte ich beim besten Willen auch nicht nachvollziehen. Abhauen gut und schön, aber nicht so.« Ralf trank wieder einen Schluck; fast sah es aus, als ob er ins Sinnieren geriete. Doch noch ehe jemand etwas sagen konnte, war er wieder bei der Sache.

»Manche jedenfalls hatten Verwandtschaft im Westen, bei der sie unterkommen konnten. Ich hab gesagt, ich will nach Mannheim.«

»Warum gerade dahin?«, entfuhr es Falk. Diese Frage hatte er ihm noch nie gestellt, obwohl er sich darüber schon immer gewundert hatte.

»Weil Großvater mal dagewesen war.«

Falk tippte sich an die Stirn. »1945, er ist da in Gefangenschaft geraten!«

Ralf lachte und hob entschuldigend die Schultern. »Ich weiß doch auch nicht. Als man mich fragte, fiel es mir als Erstes ein. Ich habe eine Sozialwohnung bekommen, mir aber gleich gesagt, dass ich dem Staat nicht auf der Tasche liegen kann. Ich bin nicht hierhergekommen, um Arbeitslosengeld zu kassieren!«

Falk rieb sich über sein Gesicht und bestellte mit flehendem Blick ein weiteres Bier. Der Barkeeper hob die Augenbrauen und deutete mit seinen Augen auf das Glas vor Tauner, welches noch halb voll war. Oder halb leer, wie Tauner dachte.

Jetzt ging das schon wieder los, dachte er, die Erfolgsgeschichte eines armen Ossis, der im Westen Millionär geworden war. Er hob den Kopf und sah die Blicke der Umsitzenden auf sich ruhen. Hatte er laut gedacht?, fragte er sich und bewegte sich unbehaglich in seinem Jackett.

»Ob du die Geschichte überhaupt noch hören kannst?«, wiederholte Pia Ralfs Frage.

»Die was? … Oh, ja, ja!« Falk Tauner winkte ab. Er musste nicht hier sein, dachte er verzweifelt. Er könnte in den Urlaub fliegen, irgendwohin, Australien, Neuseeland, Kanada. Einfach raus und sehen, was passiert. Vielleicht fragte er morgen mal die Rensing. Annemarie, verbesserte er sich in Gedanken.

»Jedenfalls, ich hatte wirklich nichts, ich hab mir geschworen, schon im nächsten Monat die Miete selbst zu zahlen. Da bin ich einfach losgelaufen. Bin durch die Stadt und hab mich umgesehen. Bei einer kleinen Autowerkstatt bin ich hängen geblieben. Ein kleiner Hof, ein paar Autos. Eine freie Werkstatt, wisst ihr. Hassan Özgir hieß der Besitzer. Er kam raus und fragte, ob ich ein Auto kaufen wolle, der hatte nämlich drei, vier Schrottkarren dastehen. Dann wollte er mich verjagen, weil ich sagte, ich käme aus dem Osten und hätte kein Geld. Er wollte mich verjagen, versteht ihr.« Ralf lachte und klopfte sich zur Abwechslung mal auf den eigenen Schenkel. »Ich hab ihm gesagt, dass ich ihm eins der Autos so aufmotzen könnte, dass er es zum doppelten Preis verkaufen kann. Es war ein Passat, beige, die Farbe gibt es gar nicht mehr heutzutage. Er sagte, er brauche keinen mehr in der Werkstatt. Da hab ich gesagt, ich mach es umsonst, und wenn es ihm gefällt, soll er mich einstellen. Er schlug ein. Ich hatte keine Sicherheiten, einfach nur sein Wort als Ehrenmann. Ich hab an der Karre also rumgeschraubt und sie auf Hochglanz poliert, und er hat statt 3.000 Mark fast 8.000 bekommen. Da hat er mich eingestellt. Ich sag dir, du kannst über Türken sagen, was du willst, aber wenn sie dir ihr Wort geben, halten sie es auch.«

Und er, dachte Falk wütend. Hatte er ihm nicht auch sein Wort gegeben? Er setzte sich auf und begann mit den Fingern auf dem Tisch zu trommeln, er musste diese Wut irgendwie ablassen.

Ralf merkte nichts davon, Heidrun und Pia wechselten unverhohlen sorgenvolle Blicke.

»Das nächste Auto war ein Ford Scorpio, der war noch gar nicht so alt, hatte aber einen verzogenen Rahmen wegen eines Unfalls, ich hab ihn aber hingekriegt. Was man einmal gelernt hat, hat man eben gelernt. In der DDR musste man ja immer sehen, wie weit man kam. An meinem Trabi hab ich oft schrauben müssen, der war, glaub ich, 18 Jahre alt. Da hatte ich jedes Teil schon zehnmal in der Hand.«

Falk nahm sein Glas und trank es in einem Zug leer.

»Hassan hat mir gutes Geld bezahlt, hat mich am Verkaufsgewinn beteiligt. Die Werkstatt wollte er seinem Sohn vermachen, Hassan war schon 60, als er mich einstellte. Als sein Sohn die Werkstatt aber nicht haben wollte, hat er sie mir angeboten, 145.000 Mark wollte er haben. Ich hab einen Kredit aufgenommen und hab sie gekauft. Das macht kein Türke sonst, wisst ihr, die verkaufen nicht einfach an Deutsche, das war ein Familienunternehmen. Ihm zu Ehren hab ich seinen Namen im Firmentitel belassen. HTA – Hassan und Tauner Automobile. Klingt doch gut, oder?«

»Fantastisch!«, knurrte Falk.

Heidrun nutzte die Chance. »Ihr beide seid zusammen?«, fragte sie wie beiläufig, um vom Thema abzulenken.

Falk hatte Pia nicht als seine Freundin, sondern als Kollegin vorgestellt. Pia schüttelte den Kopf und wollte etwas erwidern, doch sie war zu langsam.

»Ich hab Heidrun auch über die Arbeit kennengelernt. Einer unserer Zulieferer hat mich mal zu einer Weihnachtsfeier eingeladen, da hab ich sie gesehen, war im Einkauf tätig. Also hab ich sie gefragt, ob sie nicht bei mir anfangen will. Mir war gerade einer abgesprungen, der ist zur Konkurrenz. Jetzt ist er arbeitslos, mit 55 haben sie ihm gekündigt. Heidrun jedenfalls wollte erst nicht, dann hat sie es sich aber anders überlegt.«

»Hast du ihr mehr Geld geboten?«, fragte Falk und wagte einen Blick zu Pia. Die sah ihn streng an. Es hatte nicht den Anschein, als wäre sie von Ralf genervt.

Nein, er war das, dachte Falk, er war derjenige, der nervte. Aber merkte das denn keiner, wie der schwafelte, wie der sich wichtigmachte und verzweifelt versuchte, sein Geld auszugeben? Wo war denn da der Sinn?

»Klar, bei mir hat sie fast doppelt so viel verdient. Na ja, aber nach einem halben Jahr hat es gefunkt, wenn ihr wisst, was ich meine. Da musste ich mir wieder jemand neuen fürs Geschäft suchen.« Ralf sah in die Runde, als ob er einen großen Witz gelandet hätte.

Falk beschloss abzubrechen, er konnte es nicht mehr aushalten. Er musste hier raus, sollten sie denken, was sie wollten; da stellte ihm die Kellnerin ein neues Glas vor die Nase.

»95 dann bot man mir an, Sonderanfertigungen für einen großen Händler in der Nähe …«

»So schlimm war es doch gar nicht!«, sagte Pia leise. Sie spürte, dass mit ihrem Chef nicht nur etwas nicht in Ordnung war. Dazu kannte sie ihn schon zu lang. Und sie hatte diesen Satz bewusst gesagt, so dumm und naiv er sich anhörte. Ihr Chef musste es rauslassen. Sie stellte den Motor ihres kleinen Toyotas ab.

»Es ist nie schlimm für Außenstehende«, murmelte Tauner nur.

»Eigentlich ist er ja ganz nett!«

»Das ist er ja auch!« Hauptkommissar Tauner machte keine Anstalten auszusteigen.

»Ich meine, er ist offen und scheint keine Hintergedanken zu haben. Er erzählt eben einfach nur. Hört sich gern reden. Aber davon gibt es viele!«

Tauner lachte, es klang wie Raucherhusten. »Noch so einen Tag und ich bring mich um«, knurrte er. Früher hätte Pia darüber gelacht.

»Ich kann mir einen Tag freinehmen. Du brauchst nur meinen Urlaubsschein zu unterschreiben. Oder wir nehmen Hans mit!«

»Hans würde sich mit Ralf nur gegen mich verbünden!«

»Wie du redest, ›verbünden‹ – das ist doch kein Krieg. Du kannst deinen Bruder eben nicht ausstehen, das ist Pech. Du müsstest das alles gar nicht tun!«

Tauner sah sie traurig an. »Ich weiß, Pia. Ich müsste ihn nicht treffen. Ich könnte so tun, als gäbe es ihn nicht. Doch auch ich bin an die üblichen Konventionen gebunden. Ihm gegenüber bin ich nicht verpflichtet, unseren Eltern aber. Und vielleicht ist es kindisch, aber wenn es zum Streit kommt, will ich nicht derjenige sein, der angefangen hat. Ich bin schon oft genug der Böse, ich will es nicht auch noch in der Familie sein.«

»Aber das ist nicht so konsequent, wie ich dich kenne. Du selbst hast einmal zu mir gesagt, wenn man sich nimmt, was man braucht, wenn man sich durchsetzen will, muss man mit den Auswirkungen leben. Du willst deinen Bruder nicht sehen, dann sag es ihm und euren Eltern und lebe einfach damit!«

»Das kann ich den Eltern aber nicht antun.«

»Dann mach auch nicht so einen Aufstand wegen der zwei Tage!«

Tauner wollte etwas Garstiges erwidern, doch dann hielt er den Mund. Er hatte sich selbst an die Wand argumentiert. Was regte er sich auf wegen dieser Sache? Noch einen Tag und sie würden ihn in Ruhe lassen, würden abreisen zu ihren Eltern, die weit außerhalb der Stadt wohnten.

Pia kostete ihren Triumph nicht aus. »Ich nehme Urlaub morgen, ich habe kein Problem, wenn er mich vollquatscht. Und außerdem war ich schon lang nicht mehr in der Sächsischen Schweiz.«