Der Antarktisvertrag - Rachel Franklin - E-Book

Der Antarktisvertrag E-Book

Rachel Franklin

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  • Herausgeber: Benevento
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Eine Antarktis-Expedition gerät außer Kontrolle – Thriller-Spannung im Eismeer Ein neues Mittel der Firma Euroil verspricht, ausgetretenes Erdöl bei der Tiefseebohrung zu neutralisieren. Eine Forschungsexpedition soll dies überprüfen, für Mia die große Chance. Doch die Reise wird zum Albtraum, als ihr Kollege Henrik spurlos verschwindet. Wurde er ermordet? Wem kann Mia trauen? Rachel Franklin entwirft in ihrem Wissenschafts-Thriller ein bedrohliches Zukunftsszenario um Klimawandel, Ressourcenknappheit und den Kampf um das schwarze Gold. Soll der jahrzehntelang verbotene, höchst riskante Erdölabbau in der Antarktis erlaubt werden? Die junge Forscherin Mia Thorsen, Doktorandin der Meeresbiologie, gerät zwischen die Fronten von politischen Intrigen, skrupelloser Macht- und Geldgier. - Gefangen im Eis: packender Politthriller mit klaustrophobischem Setting - Fesselnder Krimi zur aktuellen Debatte um Klimakrise und Umweltschutz - Fundierter wissenschaftlicher Hintergrund - Für Leser von Marc Elsberg und Serienfans von "Fortitude" Die Zukunft unserer Erde steht auf dem Spiel Der Antarktis-Vertrag von 1961 legt fest, dass die unbewohnte Antarktis ausschließlich der friedlichen Nutzung und der Forschung vorbehalten bleibt. Militärische Übungen sind deshalb ebenso untersagt wie der Abbau von Bodenschätzen. So soll das ökologische Gleichgewicht gewahrt werden. Die Autorin Rachel Franklin ist promovierte Meeresbiologin und hat mehrmals an Forschungsexpeditionen teilgenommen. Der Schutz des fragilen Ökosystems Meer liegt ihr am Herzen. Ihre persönlichen Erfahrungen und ihr umfassendes Fachwissen fließen in diesen Thriller mit ein und machen das Buch zu einer ebenso hochspannenden wie aktuellen Lektüre!

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Seitenzahl: 313

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RACHEL FRANKLIN

DER ANTARKTIS VERTRAG

THRILLER

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältigerBearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2020Copyright Deutsche Erstausgabe © 2020 Benevento Verlagbei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Markeder Red Bull Media House GmbH, Wals bei SalzburgDieses Werk wurde durch die Verlagsagentur Lianne Kolf vermittelt.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags,der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung,auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftlicheGenehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischerSysteme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:Red Bull Media House GmbHOberst-Lepperdinger-Straße 11–155071 Wals bei Salzburg, Österreich

Lektorat: Antje SteinhäuserSatz: MEDIA DESIGN: RIZNER.ATGesetzt aus der Palatino, Veneer, Helvetica Condensed BQUmschlaggestaltung: www.zero-media.de, MünchenUmschlagfoto: Finepic ®, München

ISBN: 978-3-7109-0100-3eISBN: 978-3-7109-5105-3

Für Opa –der mit so viel Enthusiasmus meine Texte liest

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

EPILOG

DANKSAGUNG

1

Die Polizei war bereits im Morgengrauen ausgerückt und hatte sämtliche Zufahrtsstraßen in der Osloer Innenstadt gesichert. Wenig später hatten sich die ersten Demonstranten eingefunden. Lautstark Parolen brüllend, hatten sie sich zunächst vor dem Dom versammelt und waren anschließend langsam in Richtung Storting, dem Parlamentssitz, gezogen. Die Polizisten beobachteten die friedlich demonstrierenden Massen genau, sahen die verschiedenen Banner, die sie in die Höhe reckten. »Safe Antarctica« stand auf etlichen geschrieben, »Rettet die Antarktis«, und »Ingen utnyttelse av Antarktis«, »Keine Ausbeutung der Antarktis«. In ebenso vielen Sprachen wurden die Parolen gerufen, die der eisige, in diesem Jahr bereits früh einsetzende Herbstwind durch die Gassen trieb. Ganze Schwärme gelber Blätter wurden von den Ästen geweht und fielen auf die Kapuzen und Mützen der Demonstranten. Der Platz vor dem Storting war nicht annähernd groß genug, um den Massen, die der Osloer Polizeipräsident später auf etwa zwanzigtausend schätzte, genügend Platz zu bieten.

Die lautstarken Proteste der Umweltaktivisten und besorgten Bürger drangen bis ins Parlamentsgebäude und hallten gedämpft durch die Flure. Im Inneren von Saal H war davon allerdings nichts zu hören. Die dicken Türen schirmten die Vertreter der dreiundfünfzig Unterzeichnerstaaten, die zur Antarktiskonferenz zusammengekommen waren, von den Rufen der Umweltschützer komplett ab. Kein Laut der immer stärker werdenden Sprechchöre von den Straßen durchbrach die Stille, als Gunnar Hansen, der norwegische Umweltminister, ans Rednerpult trat.

Niels Andersson, CEO von Euroil, machte sich letzte Notizen auf der Kladde mit dem Emblem der norwegischen Regierung, während Gunnar Hansen die Konferenz eröffnete und allen für ihr Kommen dankte. Die Anwesenheit sämtlicher Vertreter hatte auch Niels Andersson erstaunt, hätte er doch erwartet, dass neben den neunundzwanzig stimmberechtigten Staaten nur wenige weitere Länder Abgesandte schicken würden, die dann eher eine Beobachter-, allenfalls eine Beraterrolle innehatten. Wie viele auch immer anwesend waren, er würde sie alle für seine Sache gewinnen können, da war er sich sicher. Von seinem Platz in der dritten Reihe aus musterte er die Regierungsvertreter. Viele lauschten andächtig ihrem norwegischen Kollegen. Der australische Umweltminister schien jedoch mehr von dem Emblem der norwegischen Regierung vor ihm auf dem Tisch angetan zu sein als von der Rede.

»Ich denke, wir sind uns einig, dass wir alle im gleichen Boot sitzen. Natürlich will niemand von uns das Ökosystem der Antarktis gefährden. Nichts läge mir oder meiner Regierung ferner, als diesem essenziellen Rückzugsraum so vieler Spezies Schaden zuzufügen. Allerdings müssen auch die Interessen der Menschen, unserer Bevölkerung, gewahrt werden.« Gunnar Hansen schaute aufmerksam in die Runde. Er registrierte vereinzeltes Nicken aus den Reihen der Anwesenden. Er wollte seine Eröffnungsrede dafür nutzen, die Lage zu sondieren und Verbündete für sein Anliegen zu gewinnen. Die zügige Einberufung der Konferenz und die Fischfarm-Krise in den letzten Wochen hatten ihm keine Zeit für strategische Treffen vor der Konferenz gelassen. Die Regierungen der anderen Unterzeichnerstaaten hatten sich allesamt vor der Presse bedeckt gehalten, hatten angegeben, dass sie erst die Konferenz abwarten wollten, bevor sie sich öffentlich äußerten. Kein schlechtes Zeichen für Gunnar Hansen.

»Die Lage hat sich in den letzten Jahren dramatisch geändert. Die großen Zuwanderungsströme aus dem Ausland, immer kältere Winter und steigende Wohnungspreise machen ein entschiedenes Handeln unabdingbar.« Er hielt kurz inne, um seine Worte wirken zu lassen. »Deshalb sehen wir es als unsere Pflicht, den Antarktisvertrag zu überdenken.«

Zufrieden sah er aus den Augenwinkeln, dass der russische und der japanische Außenminister sich leicht nickend Notizen machten. Auch der US-amerikanische Umweltminister schien an einer Neuverhandlung des Antarktisvertrags Interesse zu haben. Die drei waren es aber auch nicht, die ihm in den letzten Nächten den Schlaf geraubt hatten. Vielmehr machte sich Gunnar Hansen Gedanken über die Zustimmung der EU-Mitgliedsstaaten. Sie hatten in der vorigen Woche eine Vorverhandlung gehabt, sich aber nicht auf eine gemeinsame Abschlusserklärung einigen können. Traditionell war die EU jedoch dafür bekannt, eher im Sinne des Umweltschutzes zu handeln, statt ökonomisch zu denken. Es war von grundlegender Wichtigkeit, die Zweifler in den nächsten Stunden von seiner Position zu überzeugen.

»Wenn die Belange der Natur und die menschlichen Interessen wirkungsvoll miteinander vereint werden sollen, ist eine nachhaltige Lösung für die Nutzung der Ressourcen in der Antarktis unerlässlich.«

Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, machte er erneut kurz eine Pause. Sein Blick verharrte auf den Vertretern der EU-Mitgliedsstaaten. Wären die Bedenken hinsichtlich des Umweltschutzes erst einmal ausgeräumt, stünde dem wohl wichtigsten Projekt seiner politischen Laufbahn nichts mehr im Weg. Bei dem Gedanken daran fingen seine Finger an zu kribbeln. Traditionell war der Posten des Umweltministers nicht gerade prädestiniert dafür, sich einen Namen zu machen. Aber wenn ihm dieses Projekt gelang, dann würde er Geschichte schreiben! Seine innere Aufregung ließ er sich jedoch nicht anmerken, er strahlte nichts als professionelle Ruhe aus. Schließlich war er Vertreter des norwegischen Volkes und musste die Würde seines Amtes wahren, zumindest nach außen.

»Und da wir die Antarktis auch für künftige Generationen erhalten wollen, treten wir für eine nachhaltige Nutzung der Ressourcen in der Antarktis ein, die es uns erlaubt, den Lebensstandard der jetzigen Bevölkerung langfristig zu sichern.«

Die Ankündigung kam nicht überraschend. Obwohl in der offiziellen Einladung lediglich von einem Überdenken des bestehenden Vertrages die Rede gewesen war, war allen Anwesenden klar, was hier wirklich ausgehandelt wurde. Bei diesem Treffen würde es darum gehen, welche Seite stärker war – die Staaten, die an Norwegens Seite in eine moderne Zukunft gehen wollten, oder die Staaten, die den Fortschritt aus Angst vor Veränderung verhindern wollten. Gunnar Hansen war bereit, harte Verhandlungen zu führen, um sein Ziel zu erreichen. Mit entschlossener Miene machte er Platz am Rednerpult für Niels Andersson.

Auf den Zuschauerrängen oberhalb des Plenums hatten sich zahlreiche Pressevertreter aus aller Welt versammelt. Die Reden wurden dort von einem beharrlichen Tastengeklicke begleitet, das nur abschwoll, wenn auch am Rednerpult eine Pause eintrat. Die Journalisten tippten unermüdlich Notizen in ihre Notebooks, um ihre Artikel und News schnellstmöglich in die Welt hinauszuschicken. Bjarne Dahl fiel dabei aus der Reihe, er hielt seine Gedanken ausschließlich in einem kleinen, ledergebundenen Notizbuch fest. Seit Beginn seiner Karriere weigerte er sich, wichtige Notizen auf einem Notebook festzuhalten. Sein Chef und seine älteren Kollegen amüsierte das – ausgerechnet der Jüngste unter ihnen verweigerte sich der modernen Technik. Aber Bjarne hatte während des Studiums von genug Fällen von Hackerangriffen auf Journalisten und Magazine gehört, um beständig auf der Hut zu sein. Bis jetzt hatte er sich zu seiner großen Enttäuschung jedoch noch keine Notizen gemacht, die irgendjemand hätte hacken wollen. Seit er vor zwei Jahren direkt nach dem Studium bei der Tageszeitung Dagsavisen in der Redaktion Natur und Umwelt angefangen hatte, schrieb er hauptsächlich Artikel über die Wildtiere Norwegens. Auch wenn er es durchaus für wichtig erachtete, die norwegische Bevölkerung davon zu überzeugen, dass Bienen für das Überleben der Menschen essenziell waren, hatte er sein Studium damals mit anderen Ambitionen begonnen. Bjarne hatte seinem Redakteur zwei Geschichten mit Potenzial vorgeschlagen, einen Insiderbericht über den Antibiotika-Einsatz in Fischfarmen – ein Thema, das vor wenigen Wochen der Konkurrent Aftenposten veröffentlicht hatte, was einen Skandal nach sich gezogen hatte, der bis in Regierungskreise vorgedrungen war – und einen Bericht über den illegalen Handel mit Wolfspelzen ins osteuropäische Ausland. Beide Exposés waren von seinem Chef mit höflichen, aber bestimmten Worten abgelehnt worden.

Nun war Bjarne jedoch an etwas wirklich Wichtigem dran. Er konnte förmlich spüren, wie sich die Stimmung im Raum änderte, während die Umweltminister der Unterzeichnerstaaten den Ausführungen von Niels Andersson lauschten. Bjarne versuchte, die Minister im Auge zu behalten, um keine ihrer Reaktionen zu verpassen. Die Vertreter Deutschlands, Frankreichs und der Niederlande saßen allerdings mit dem Rücken zu ihm, sodass er sich allein mit dem zweifelnden Ausdruck des dänischen Umweltministers zufriedengeben musste.

Bjarne machte sich eifrig Notizen, um später jedes Detail ausgiebig zu recherchieren und einen Weg zu finden, Niels Anderssons zahlreiche Versprechen als haltlos zu entlarven. Nichts wünschte Bjarne sich mehr, als den CEO von Euroil zu enttarnen und aufzuzeigen, was dieser Mann wirklich war – ein profitgeiler Manager, der sich auf Kosten der Umwelt bereichern wollte, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an die Folgen für kommende Generationen zu verschwenden. Die Fingerknöchel seiner linken Hand, die das Notizbuch hielt, wurden immer weißer, je mehr Bjarne sie zusammenkrampfte. Es kostete ihn Mühe, dem Kollegen neben ihm nicht seine Meinung zu sagen, während Niels Andersson die Wirkungsweise der Chemikalie erklärte, die alle Probleme beseitigen sollte.

»Wie Sie in diesem kleinen Clip sehen können, löst Oilex auch Schweröl ohne Probleme in kleinste Tröpfchen auf, die im Anschluss leicht von Bakterien zersetzt werden können.«

Niels Andersson ließ den Politikern Zeit, den Clip erneut zu betrachten, den seine Assistentin mit den langen Beinen und dem kurzen Rock zusammengestellt hatte. Er sollte sie dafür belohnen, vielleicht mit einem Wochenende auf einer abgelegenen Skihütte? Der Clip endete, und Niels Andersson fuhr mit seiner Präsentation fort, während er den Gedanken an den tiefen Ausschnitt seiner Sekretärin auf später verschob.

»Oilex ist die sicherste Methode, Ölkatastrophen zu verhindern. Wie die Vergangenheit gezeigt hat, ist es so gut wie unmöglich, Öl chemisch abzubauen. Deswegen setzen wir darauf, der Natur zu helfen, sich selbst zu helfen. Durch die feinen Tropfen, die sich bei Kontakt mit Oilex bilden, haben die Bakterien eine unendlich größere Angriffsfläche, und ausgelaufenes Öl kann zügig abgebaut werden, ohne dass höhere Lebewesen zu Schaden kommen. Euroil bietet Ihnen hiermit ein Rundumpaket: Wir verlegen sichere Leitungen, und sollte es dennoch einmal ein Leck geben und Öl austreten, sind unsere Pipelines in regelmäßigen Abständen mit Depots ausgestattet, die Oilex automatisch freisetzen, um das ausgetretene Öl umgehend zu zersetzen. Das Verfahren wurde von unabhängigen Instituten überprüft, wie Sie hier sehen können.«

Stolz wies Niels Andersson auf die Folie hinter ihm, auf der sich dicht an dicht die Logos verschiedenster internationaler Umweltforschungsinstitute drängten. »Wir stehen für eine nachhaltige Nutzung der Ressourcen unserer Erde, unsere Verfahren sind sicher, und wie Sie sehen können, haben wir nichts zu verbergen. Euroil ermöglicht eine ökonomische Nutzung ökologisch sensibler Gebiete, ohne die Zukunft kommender Generationen aufs Spiel zu setzen.«

Mit einem gewinnenden Lächeln schaute Niels Andersson in die Runde.

Bjarne Dahl konnte ein Schnauben nur mit Mühe unterdrücken. Mit wie vielen Millionen Euro Fördergeldern er diese Umweltinstitute geschmiert hatte, darüber bewahrte Niels Andersson natürlich Stillschweigen. Bjarne drückte die Spitze seines Kugelschreibers tief in sein Notizbuch, sodass sie einen kleinen blauen Krater hinterließ. Er machte mit seinem Smartphone ein Foto von der Folie, um die Beziehungen zwischen Euroil und den angegebenen Forschungsinstituten später überprüfen zu können. Ob das allein genug sein würde, um seinen Chef davon zu überzeugen, dass Euroil die Politiker und die Öffentlichkeit mutwillig hinters Licht führte?

2

Mia Thorsen saß am Montagmorgen in einem gemütlichen grünen Kapuzenpullover, ihrem Lieblingsstück, mit angewinkelten Knien in der Küche am Frühstückstisch, ihre rötlichen Haare hingen ungezähmt in ihrem Rücken. Sie hielt den Kopf über die Tasse, die Lars ihr hinstellte, und sog genüsslich den Kaffeeduft ein. Lars setzte sich ihr gegenüber, ebenfalls mit einer dampfenden Tasse Kaffee vor sich. Im Gegensatz zu Mia war er schon eine Weile wach und sah in seinem gebügelten Hemd und den dunklen Jeans bereits bürofertig aus. Seine Haare hielt er kurz, ansonsten würden die Locken überhandnehmen und wären kaum noch in den Griff zu bekommen. Er schlug die Tageszeitung auf und reichte Mia den Umwelt- und Lokalteil. Stumm nahm sie ihn entgegen. Es hatte eine Weile gedauert, aber mittlerweile hatte Lars sich daran gewöhnt, dass sie am Morgen einfach noch nicht zum Plaudern aufgelegt war, und gab sich mit einem gelegentlichen Nicken von ihr zufrieden.

Mit halb geschlossenen Augen überflog Mia die Seiten. Der Bürgermeister von Bergen, der am Wochenende einen neuen Krankenhausflügel eingeweiht hatte, lachte ihr von der zweiten Seite entgegen. Sie sparte sich die Lektüre des dazugehörenden Artikels und blätterte weiter zum Umweltteil. Der Aufmacher war von Bjarne Dahl, von dem sie erst vor Kurzem etwas gelesen hatte, als er über die Walwanderungen vor Norwegens Küste berichtet hatte. »Eine Überarbeitung des Antarktisvertrags, oder: Wird die Politik je aus ihren Fehlern lernen?«, murmelte sie den Titel vor sich hin.

»Was?« Lars blickte von seinem Teil der Zeitung auf.

»Ein Artikel über die Antarktisversammlung in Oslo am Wochenende.«

»Haben die sich auf einen Beschluss einigen können?«

Mia überflog die ersten Absätze. »Scheinbar haben sie die Entscheidung vertagt.«

Lars zuckte mit den Schultern. Im Grunde hatte er nichts anderes erwartet.

»Gunnar Hansen scheint einige Leute auf seine Seite gezogen zu haben«, stellte Mia fest.

»Bei den Gewinnen, die die Förderung von Erdöl in der Antarktis verspricht, ist das doch auch kein Wunder«, gab Lars zurück.

»Bei all den Ökosystemen, die wir bereits unwiderruflich durch unsere Gier zerstört haben, aber schon.«

»Der Mensch hat seit Jahrzehnten nichts gelernt – warum sollte es jetzt bei der Antarktis anders sein?«

Mia verzichtete auf eine Antwort. Sie wollte sich nicht schon vor der ersten Tasse Kaffee mit Lars streiten. Manchmal ging er ihr mit seinem Realismus einfach tierisch auf die Nerven. Stattdessen las sie stumm den Artikel. Scheinbar hatten sich die beteiligten Staaten darauf geeinigt, eine Expedition unter norwegischer Flagge auszusenden, um die Wirkungsweise von Euroils Chemikalie Oilex unter realen Bedingungen zu testen. Das würde die Verabschiedung eines neuen Vertrags erst einmal hinauszögern. Was wiederum den Umweltorganisationen mehr Zeit geben würde, um Munition gegen eine Überarbeitung des bestehenden Vertrags zu sammeln. Mit schlechtem Gewissen überlegte Mia, wann sie zuletzt bei einem der Greenpeace-Treffen ihrer Lokalgruppe gewesen war. Sie nahm sich fest vor, zum nächsten Treffen zu gehen und herauszufinden, wie sie die Kampagne gegen Euroil unterstützen konnte.

Mia schaute von der Zeitung auf, und ihr Blick glitt durch die Tür ins Wohnzimmer. In der Mitte des Regals, das sich über die ganze Wand zog, stand eines ihrer Lieblingsbücher: eine Ausgabe von Roald Amundsens Bericht über die Eroberung des Südpols. Die Kanten des Buchrückens waren leicht angestoßen, und die Seiten waren durch das wiederholte Lesen so knittrig geworden, dass das Buch mit der Zeit an Volumen zugenommen hatte. Nicht zum ersten Mal beneidete Mia die Wissenschaftler, die bei Expeditionen in die Antarktis dabei sein durften. Eine Fahrt durch den südlichen Ozean, auf Amundsens Spuren! Natürlich war heutzutage alles moderner – allerdings auch sicherer. Mia wäre nicht bereit gewesen, ihr Leben für den Anblick des ewigen Eises und der Pinguinkolonien zu riskieren, aber heutzutage würde sie ohne zu zögern fahren.

Mia hatte die Hoffnung, irgendwann vielleicht selbst die Gelegenheit dazu zu bekommen. Das war mit einer der Gründe, aus denen sie sich nach ihrem Biologiestudium für eine Doktorandenstelle in der Polarforschung entschieden hatte. Die Arbeit mit Krill hatte ihr ohnehin Spaß gemacht, aber die Aussicht, eines Tages an einer Expedition ins ewige Eis teilnehmen zu können und ihre Experimente im Labor mit Feldstudien zu ergänzen, hatte den Ausschlag gegeben. Auch wenn die Arbeit ihr manchmal viel abverlangte, konnte Mia es immer noch nicht glauben, dass man sie dafür bezahlte, solch ein faszinierendes Lebewesen wie Krill überhaupt zu erforschen. Sie konnte stundenlang von der Bedeutung des Krills in den Polarmeeren als wichtigste Nahrungsquelle für höhere Lebewesen und dem immens komplexen Stoffwechsel dieser winzigen Tiere erzählen. Lars machte sich des Öfteren lustig über sie, wenn sie es wieder einmal übertrieb und ihm bis ins kleinste Detail von ihrer Forschung erzählte. Er liebte sie, aber diese Faszination würde er nie verstehen. Zwar hatte er sich nach seinem Informatikstudium eine Anstellung gesucht, die ihm Spaß machte und Abwechslung bot, trotzdem war sein Job für ihn nicht mehr als ein Mittel zum Geldverdienen. Er war in einer kleinen Beraterfirma für IT-Sicherheit gelandet, mit vorhersehbaren Abläufen und geregelten Arbeitszeiten. Mia konnte dagegen nicht so einfach abschalten wie Lars, wenn sie nach Hause kam. Lars wollte manchmal einfach nicht verstehen, dass Experimente nicht nur acht Stunden am Tag liefen, sondern auch manchmal in der Nacht Proben genommen werden mussten. Mias teils schwierige Arbeitszeiten waren ein ständiger Streitpunkt in ihrer Beziehung. Als Ausgleich zu ihren stark variierenden Arbeitszeiten arbeiteten sie beide manchmal zu Hause und bestellten sich mittags Pizza, die sie dann während einer ausgedehnten Pause je nach Wetterlage auf der Couch oder dem Balkon verspeisten.

Mia riss sich von ihren Tagträumen los und machte sich fertig für die Uni. Obwohl es September war, brachten die eisigen Nordwinde Schneeregen mit sich, sodass Mia sich in ihren Mantel und einen dicken Schal wickelte. Sie verabschiedete sich von Lars, der ein wenig später aufbrechen würde. Als Mia die Tür hinter sich schloss und ihre Kapuze weit ins Gesicht zog, um sich gegen den böigen Wind zu schützen, wünschte sie sich, sie könnte es sich auch heute neben Lars mit ihrem Laptop auf der Couch gemütlich machen.

Mia hatte es nicht weit, bereits nach einer Viertelstunde erreichte sie die Universität. Sie klopfte sich den nassen Schnee in der Eingangshalle von ihrem Mantel, bevor sie die Stufen in den vierten Stock hinaufstieg. Die vielen kleinen Schneematschhaufen, die sie auf dem hellen Marmorboden hinterließ, begannen rasch zu schmelzen.

Im Büro saß Friederike, ebenfalls eine Doktorandin ihrer Arbeitsgruppe, mit geröteten Augen an ihrem Computer. Sie hatte eine quietschgelbe Thermoskanne vor sich stehen, aus der Wasserdampf aufstieg, daneben einen Matebecher, den sie sich von einer Reise nach Peru mitgebracht hatte und auf dessen Boden die grünen Blätter ihr Aroma ins Wasser abgaben.

»Wie war die Demo?«, wollte Mia wissen.

»Na ja … wir sind nicht wirklich bis zum Storting vorgedrungen, weil die Polizei nur die ersten paar Tausend auf den Platz gelassen hat. Also standen wir in irgendeiner Nebenstraße. Und die Rückfahrt hat ewig gedauert, bis wir mal aus Oslo raus waren …«

Einerseits wünschte Mia sich, sie wäre mit Friederike und deren Freunden mitgefahren, um gegen eine Änderung des Antarktisvertrags zu demonstrieren. Sie wusste, dass sie mehr für den Umweltschutz tun könnte. In letzter Zeit hatte sie ihr Engagement für Greenpeace ziemlich zurückgeschraubt. Allerdings hatte sie die vorigen beiden Wochenenden gearbeitet und hatte Lars nicht auch noch am dritten Wochenende in Folge allein lassen wollen. Sie musste schließlich auch an ihre Beziehung denken. Und auch wenn Lars den Müll trennte und durchaus an einer nachhaltigen Nutzung der Natur interessiert war, hätte Mia ihn nie dazu überreden können, seinen Sonntag bei einer Demonstration für die Rettung der Antarktis zu verbringen.

Bevor Mia ihre Kollegin weiter ausfragen konnte, trat Henrik ins Büro. Seine blauen Augen funkelten, und trotz seiner kräftigen Statur und beachtlichen Größe von fast zwei Metern sah er aus wie ein kleines Kind an Weihnachten.

»Hast du die Nachrichten gelesen?«, fragte er Mia. »Sie wollen eine Expedition in die Antarktis aussenden.«

Mia nickte, kam jedoch nicht dazu, ihm zu antworten, weil er sie gar nicht zu Wort kommen ließ.

»Ich werde einen Antrag auf zwei Plätze auf dem Schiff einreichen. Ich will die Auswirkungen von Oilex auf die antarktische Krillpopulation untersuchen. Bis jetzt gibt es dazu nur lückenhafte Laborversuche mit arktischem Krill.«

»Na, dann drücke ich dir die Daumen, dass der Antrag durchgeht«, antwortete Mia.

Sie freute sich für Henrik. Auch nach Jahren in der Forschung konnte er sich noch unbändig über bestimmte Projekte oder Ergebnisse freuen und sie immer wieder mit seiner Euphorie anstecken. Erst letzte Woche hatte er ihr mit strahlendem Gesicht von seinen neuesten Experimenten erzählt und sie mit ins Labor gezogen, um ihr seine Versuchsreihen zu zeigen.

»Was hältst du davon, mich auf das Schiff zu begleiten?«, fragte er sie jetzt. »Wenn der Antrag durchgeht, könnte ich deine Unterstützung gut gebrauchen. Und ich denke, dass die Forschung an den Auswirkungen von Oilex auf die Schlüsselart in der Antarktis durchaus zwei Wissenschaftler rechtfertigt.«

Mia starrte Henrik für einen Augenblick an, während sie seine Worte verarbeitete. Dann nickte sie und begann mindestens genauso zu strahlen wie Henrik. »Das wäre fantastisch! Ich wäre auf alle Fälle dabei.«

Sie musste sich zwingen, mit diesem eifrigen Nicken aufzuhören, wenn sie nicht wie ein Wackeldackel aussehen wollte.

»Super … wir müssen uns umgehend um den Antrag kümmern. Die Deadline ist bereits nächsten Montag, das heißt, wir haben nicht viel Zeit.«

Mia nickte wieder eifrig und versuchte, die belustigten Blicke von Friederike zu ignorieren. »Nächsten Montag schon? Das wird wirklich eng. Aber egal. Was muss ich machen?«

Für einen Platz auf einem Schiff in die Antarktis hätte sie den Antrag auch im Alleingang geschrieben. Sie knetete ihren Schal, den sie immer noch in den Händen hielt, um ihre Aufregung zu verbergen. Es schien, als hätten ihr Henriks Worte einen Energieschub verpasst, und diese Energie wollte jetzt unbedingt an die Oberfläche. Am liebsten hätte sie Freudensprünge gemacht.

»Ich würde dich bitten, den Abschnitt über den Hintergrund zu verfassen – warum ist der Krill so wichtig, was bedeutet er für das Ökosystem Antarktis, wie anfällig ist er generell für Schadstoffe und was wurde bereits mit Oilex getestet – Konzentrationen, Temperaturbereiche, welche Lebenszyklen des Krills etc. Alles, was du herausfinden kannst.«

Mia stand über das Notizbuch auf ihrem Schreibtisch gebeugt und machte sich konzentriert Stichpunkte.

»Komm doch kurz mit in mein Büro, dann können wir die Einzelheiten besprechen.«

Mia folgte Henrik über den Flur, den Schal immer noch gedankenverloren in der Hand. Hinter seinem Rücken stahl sich ein breites Grinsen auf ihr Gesicht. Der Raum lag nur wenige Türen weiter, aber sein Bürofenster zeigte nicht zum Parkplatz hinaus, wie ihres, sondern zu der Grünfläche hinter dem Gebäude, die von der Uni vornehm als Park bezeichnet wurde. Von Henriks Schreibtisch aus konnte man die wenigen Studenten beobachten, die in ihre Jacken gehüllt über den Campus liefen. Weit dahinter, den Hügel hinunter, waren die bunten Häuser des Hafenviertels Bryggen zu erkennen.

Henrik hielt ihr ein beidseitig bedrucktes Blatt Papier hin. »Das sind die formellen Kriterien für den Antrag.«

Mia überflog die Zeilen und stellte fest, dass der Antrag insgesamt nicht mehr als fünf Seiten haben sollte – nicht viel, wenn sie ihr Projekt im Detail beschreiben wollten.

»Ich kümmere mich um den Methodenteil, die Zeitplanung und die Kostenaufstellung«, erklärte Henrik. »Wenn du außerdem noch einen Absatz schreiben könntest, warum genau du für dieses Projekt geeignet bist, wäre das super.«

Mia schluckte. Selbstlob gehörte nicht gerade zu ihren Stärken. Sie wollte Henrik jedoch nicht widersprechen.

»Das Forschungsschiff, die ›Kronprins Haakon‹, wird nächsten Monat in Richtung Kapstadt aufbrechen. Die anderen geplanten Expeditionen sind erst einmal auf Eis gelegt. Wirtschaft und Politik haben hier ein Thema entdeckt. Die Antarktis und die Auswirkungen von Oilex haben oberste Priorität.«

Mia konnte sich vorstellen, wie enttäuscht und wütend die betroffenen Wissenschaftler sein mussten. Monate, vielleicht sogar Jahre der Planung waren womöglich ins Leere gelaufen.

»Die Ausfahrt würde bereits Anfang Dezember beginnen«, erklärte Henrik weiter. »Das heißt, wenn wir bis Ende September den Antrag einreichen, bleiben uns noch sechs Wochen zum Packen. Die Regierung hat zugesagt, innerhalb von zwei Wochen über die Anträge zu entscheiden. Wir sollten also sicherheitshalber nächste Woche anfangen zu planen – zumindest für die Sachen, die wir noch bestellen müssen. Wenn du dazu kommst, überprüf doch bitte im Lager, was wir noch haben.«

Mia machte sich eine Liste mit ihren Aufgaben für die Woche. Die Ergebnisse ihres letzten Experiments würde sie diese Woche wohl nicht mehr mit Henrik besprechen.

»Die Kosten für die Ausfahrt werden zum Teil von Euroil getragen, trotzdem wird die Regierung über die Finanzierung der Anträge entscheiden, um eine unabhängige Begutachtung zu gewährleisten«, erklärte Henrik.

»Ist das ein internationaler oder ein nationaler Aufruf?«, fragte Mia. Sie hätte zu gern gewusst, wie ihre Chancen auf eine Finanzierung und damit auf einen Platz an Bord auf der Fahrt in die Antarktis standen.

»Der Aufruf gilt für alle Länder, die das Antarktisabkommen unterzeichnet haben. Wir müssen sehen, wer sich sonst noch bewirbt und ob die Regierung den Krill als wichtig genug ansieht.«

Mia nahm sich vor, die Bedeutung des Krills so deutlich hervorzuheben, dass auch dem letzten Politiker klar werden musste, wie wichtig ihre Teilnahme an der Expedition war. Während Henrik ihr noch weitere Formsachen erklärte, träumte Mia bereits vom ewigen Eis. Würde sie endlich in die Antarktis fahren? Sie, die Tochter zweier Lehrer, die ihren Sommerurlaub jedes Jahr in ihrem Ferienhaus in Schweden verbrachten, auf Amundsens Spuren! Vor ihrem inneren Auge sah sie sich in einem dicken Thermoschneeanzug über das Eis stapfen.

Henrik riss sie aus ihren Tagträumen. »Dann mal ab an die Arbeit.«

Mia nickte und ging zurück in ihr Büro, wo sie ihr Handy aus der Jackentasche kramte. Während sie darauf wartete, dass ihr altersschwacher Computer hochfuhr, schrieb sie Lars eine kurze Nachricht, um ihm von dem Antrag zu berichten. Auch wenn sie wusste, dass er vor der Mittagspause nicht auf sein Handy schauen würde, wollte sie ihm so schnell wie möglich davon berichten. Für Notfälle hatte sie zwar auch seine Büronummer, aber als Notfall konnte sie ihm ihre Situation schlecht verkaufen.

Mia versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie würde nie in die Antarktis fahren, wenn sie nicht einmal den Antrag fertigbekam. Aber bereits nach wenigen Minuten schweiften ihre Gedanken wieder ab, und sie fragte sich, wie sich wohl der eiskalte Wind der Antarktis auf ihren Wangen anfühlen würde.

Nachdem auch die zweite Tasse Kaffee des Tages nicht den gewünschten Erfolg brachte, gab Mia fürs Erste auf und ging ins Labor, um ihre Vorräte an Verbrauchsmaterialien in Augenschein zu nehmen. Nachdem sie eine Liste mit sämtlichen Spritzen, Filtern, Eppendorf-Röhrchen und Petrischalen erstellt hatte, schickte sie Henrik die Bestandsliste und machte sich mit aufgeräumten Gedanken an die Recherche für den Antrag. Den Absatz über die Bedeutung des Krills zu schreiben fiel ihr nicht schwer, hatte sie doch schon so oft in ihren Präsentationen und Artikeln ihre Forschung rechtfertigen müssen. Da Henrik sich nicht sicher gewesen war, ob die Anträge von einer rein wissenschaftlichen Kommission oder auch von Politikern beurteilt werden würden, bemühte Mia sich um einen dramatischen Einstieg in die Thematik, indem sie auf die Fehler, die die Menschheit in der Vergangenheit gemacht hatte, zu sprechen kam. Sie beendete den Absatz mit einer Beschreibung, wie sich das gesamte Ökosystem aufgrund von Überfischung unterschiedlicher Arten bereits vor Jahren dramatisch geändert hatte. Krill diente als grundlegende Nahrungsquelle für zahlreiche Jäger wie Robben, Wale, Meeresvögel und auch Pinguine im südlichen Ozean. Ein Einbruch der Krillpopulation zog in den meisten Fällen auch einen Einbruch der Jägerpopulation nach sich. Salpen, die sich ebenfalls wie Krill von kleinsten Algen ernährten und dem Krill so Konkurrenz machten, konnten seine ökologische Nische übernehmen. Diese fast durchsichtigen Meerestiere, die größtenteils aus einem Kiemendarm bestehen, der gleichzeitig zur Nahrungsaufnahme und Fortbewegung dient, sind allerdings weniger nahrhaft und werden von weniger Arten gefressen. Durch die Salpen-Konkurrenz konnte sich die Krillpopulation trotz drastischer Schutzmaßnahmen nur langsam erholen. Schließlich führte Mia aus, wie negativ sich die Reduktion ihrer Futterquelle auf die Walpopulationen auswirken würde.

Sie überarbeitete ihren Text, bis sie mit den Formulierungen zufrieden war. Im zweiten Durchlauf hatte sie ihre Wortwahl doch ein wenig abgeschwächt. Sie wollte nicht zu kämpferisch auftreten, schließlich schrieb sie kein Flugblatt für den WWF oder Greenpeace, sondern musste Politiker davon überzeugen, Geld in ihre Arbeit zu investieren.

Als sie schließlich einigermaßen zufrieden war, machte Mia sich daran, die Reaktionen von Krill auf Oilex zu recherchieren. Der erste Artikel, den sie fand, handelte von den Auswirkungen von Oilex auf die Wachstumsgeschwindigkeit von Krill. Die Zusammenfassung klang vielversprechend, und Mia klickte auf den Link, um den gesamten Artikel zu lesen, musste aber feststellen, dass der Artikel nicht öffentlich zugänglich und nur in Verbindung mit einem Jahresabo der Zeitschrift zu haben war. Also wandte sie sich dem zweiten Artikel zu, der die Wirkung von Oilex auf die Rate der Eiproduktion in weiblichem Krill untersuchte. Doch auch dieser Artikel war nicht öffentlich zugänglich, und mit den Zusammenfassungen allein konnte Mia wenig anfangen. Nicht anders erging es ihr mit dem dritten Artikel. Allmählich wuchs Mias Frustration.

Eine halbe Stunde später hatte sie die Zusammenfassungen sämtlicher Artikel zu den Auswirkungen von Oilex auf Krill gelesen. Kein einziger war öffentlich verfügbar. Sie beschloss, Henrik eine E-Mail zu schreiben, vielleicht verfügte er über einige dieser Artikel oder wusste zumindest, ob sie noch Budget zur Verfügung hatten, um sich Zugang zu den wichtigsten davon zu verschaffen. Keiner der Artikel war in den gängigen Fachzeitschriften erschienen, die die Universität abonniert hatte und die den Forschern kostenlos zur Verfügung standen.

Wenige Minuten später hatte Mia die ernüchternde Antwort von Henrik: Den Zugang in der Verwaltung zu beantragen würde zu lange dauern, ihnen blieb also nichts anderes übrig, als ihre Informationen aus den Zusammenfassungen zu beziehen, die es allesamt vermieden, konkrete Zahlen zu nennen. Also versuchte Mia so gut es ging, den Hintergrund der bisherigen Forschungen zu beschreiben, ohne allzu konkret zu werden. Immer und immer wieder formulierte sie den Absatz um, doch der Text wurde trotzdem keinen Deut konkreter.

Mias Laune hob sich ein wenig, als sie gegen Nachmittag einige Artikel über die generelle Wirkungsweise von Oilex fand. Dass die Artikel jedoch allesamt von der Euroil-Webseite stammten, fand Mia alarmierend. Wie zu erwarten war, stützten die Forschungen die Ergebnisse, die Mia am Morgen bereits in der Zeitung gelesen hatte. Oilex sollte mit den einzelnen Öltropfen wechselwirken (die genaue Physik dahinter verstand Mia nur ansatzweise) und dann das Öl in immer kleinere Tröpfchen aufteilen, damit anschließend Bakterien eine möglichst große Angriffsfläche hatten, um das Öl zu zersetzen. Indem Oilex sich direkt an die Öltropfen anlagerte, würden Wechselwirkungen zwischen Oilex und der Umwelt minimal gehalten. Mia war jedoch nicht überzeugt. Und die Anzahl an unabhängigen Studien war nur allzu überschaubar. Von ihren persönlichen Antarktisträumen abgesehen, kam Mia immer mehr zu der Überzeugung, dass eine unabhängige Prüfung der Auswirkungen von Oilex auf den Krill von essenzieller Bedeutung war.

Als Mia am Abend mit Lars am Esstisch saß, brachte sie vorsichtig das Gespräch auf den geplanten Antrag. Lars hatte noch nicht auf ihre Nachricht vom Vormittag reagiert. »Henrik will sich für zwei Plätze auf dem Schiff bewerben, das in die Antarktis fahren wird.«

»Und wer soll die zweite Person sein?« Lars sah sie forschend an.

Mia schluckte. Vielleicht hätte sie doch einen anderen Einstieg in das Gespräch wählen sollen. »Er hat mir den Platz angeboten. Immerhin bin ich die Einzige in der Gruppe, die mit Krill arbeitet, da ist es ja nur logisch, wenn er mich um Unterstützung bei einem Projekt über die Auswirkungen von Oilex auf Krill bittet.«

»Und wie lange wärst du weg?«

Mia konnte sich nicht entscheiden, ob Lars’ Stimme ehrliches Interesse oder zunehmende Gereiztheit verriet. Sie versuchte, optimistisch zu bleiben. »Die Ausfahrt wäre für ungefähr zwei Monate. Im Dezember und Januar.«

»Dann wärst du also über Weihnachten und Neujahr weg«, stellte Lars fest.

Mia wollte die Stille im Raum füllen, wusste aber nicht recht, was sie dazu sagen sollte. Also begnügte sie sich damit, aufmerksam Lars’ Gesicht zu studieren.

»Wir haben den anderen für das lange Wochenende in den Bergen zwischen Weihnachten und Neujahr schon zugesagt.«

Daran hatte Mia überhaupt nicht gedacht. Sie bezweifelte allerdings auch, dass einer ihrer Freunde es ihr übel nehmen würde, wenn sie die einmalige Chance wahrnehmen und lieber in die Antarktis statt in die Berge fahren würde.

»Ich weiß, aber du kannst ja trotzdem fahren.«

»Mit einem Haufen Pärchen?«

»Ach, so ist das doch gar nicht, wir würden sowieso viel in der Gruppe machen. Und ihr Männer würdet wahrscheinlich ohnehin meistens zusammen fahren, weil ihr viel schneller unterwegs seid. Wie viel Zeit würden wir schon zu zweit während des Urlaubs verbringen?«, versuchte Mia ihre Abwesenheit herunterzuspielen.

»Zumindest mehr Zeit, als wenn du auf der anderen Seite der Erde bist.«

Darauf fiel Mia keine Erwiderung ein, also schwieg sie.

»Ich will dich ja unterstützen«, nahm Lars nach einer gefühlten Ewigkeit das Gespräch wieder auf. »Und ich weiß, wie lange du schon davon träumst, in die Antarktis zu fahren. Es wäre nur schön gewesen, ein wenig früher vorgewarnt zu werden.«

»Ich weiß, aber es kam ja für uns alle ziemlich überraschend.« Mia ersparte es sich, genauer zu erklären, dass Henrik selbst erst am Wochenende von dem Aufruf für die Anträge erfahren hatte. Sie wollte nicht schon wieder mit Lars wegen der Arbeit streiten. »Wir können doch erst mal abwarten, wie die Bewerbung läuft. Wahrscheinlich wird unser Antrag sowieso nicht angenommen. Also brauchen wir jetzt nicht im Detail eine Sache zu diskutieren, die vielleicht gar nicht spruchreif wird.«

Lars nickte, und Mia begann das Gespräch auf andere, deutlich weniger heikle Themen zu lenken.

3

An einem verregneten Mittwochmorgen ein paar Wochen später, es war inzwischen Ende Oktober, stürmte Henrik in Mias Büro. »Der Antrag ist genehmigt worden!«

Mia brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass Henrik von dem Antarktisantrag sprach. Sie war gerade tief in einen Artikel über die Auswirkungen von steigenden Temperaturen auf die Vermehrungsrate von Krill vertieft gewesen.

»Ich habe heute Morgen die E-Mail bekommen, in vier Wochen geht es los! Wir haben noch viel zu packen und zu planen, und ich muss unbedingt mit Pål wegen der Inkubationskammern reden … Kannst du dich um die Zargesboxen und das Verbrauchsmaterial kümmern? Die Zollpapiere müssten auch schleunigst abgeschickt werden.«

In seiner Euphorie ließ Henrik Mia gar keine Möglichkeit, auf all die Neuigkeiten zu reagieren. Stattdessen notierte sie sogleich eine Liste mit den Dingen, die er ihr auftrug. Als Henrik wieder aus dem Büro verschwunden war, um sich an die weitere Organisation der Ausfahrt zu machen, drehte Mia sich zu Friederike um.

»Ich fahre in die Antarktis!«, platzte es aus ihr heraus. Jetzt erst realisierte sie voll und ganz, dass ihr Traum wahr werden würde. Sie stand auf und umarmte ihre Freundin und Kollegin. Am liebsten wäre sie eine Runde durchs Büro getanzt, aber das schien ihr dann doch unpassend. Auch wenn sie gerade eine lange Liste mit Aufgaben von Henrik bekommen hatte, an Arbeit war im Moment nicht zu denken. Stattdessen ging Mia in die Küche und machte für sich und Friederike Kaffee. Langsam und vorsichtig trug sie die Tassen zurück zum Büro. Ob Koffein in ihrem sowieso schon aufgekratzten Zustand eine gute Idee war, hatte Friederike zwar angezweifelt, aber Mia war durch jahrelangen intensiven Kaffeekonsum abgehärtet. Nachdem die beiden ausgiebig über die kommende Ausfahrt gesprochen hatten, wie die Kälte sich wohl anfühlte, ob sie Wale sehen würde und wie es mit den anderen Forschern an Bord sein würde, machte sich Mia im Labor daran, die ersten Kisten zu packen. Vier Wochen waren nicht viel Zeit. Zum Glück hatte Henrik bereits vor zwei Wochen alle größeren Anschaffungen bestellt. Ein Großteil des Verbrauchs-materials war schon eingetroffen und stand im Lager.

Mia zweifelte nicht daran, dass sie rechtzeitig mit den Vorbereitungen fertig würden. Seitdem sie die Nachricht bekommen hatte, dass sie tatsächlich in die Antarktis fahren würde, fühlte sie sich, als wäre alles möglich. Obwohl das auch bedeutete, dass sie am Abend mit Lars darüber reden musste, dass sie also tatsächlich nicht mit in den gemeinsamen Urlaub fahren würde. Sie wischte den Gedanken weg und konzentrierte sich auf ihre Aufgabe. Henrik und sie hatten gemeinsam eine Packliste erstellt, die Mia nun ausgedruckt neben drei offene Aluminiumkisten legte, um alles abzuhaken, was sie eingepackt hatte. Jeder Kiste hatte sie eine individuelle Nummer zugewiesen, die sie samt einer Inventarliste auf alle fünf sichtbaren Flächen klebte, damit sie ihre Kisten auf dem Schiff identifizieren konnten, auch wenn ihre Palette in der hintersten Ecke stand.

Zurück im Büro notierte Mia all jene Dinge, die sie für sich selbst noch besorgen musste und in die Kisten packen würde. Da Shampoo und Duschgel zwar nicht teuer, aber relativ schwer waren, wollte sie nicht für zwei Monate Vorräte im Flugzeug mitschleppen. Auf einer zweiten Liste hielt sie ihre persönlichen Sachen fest, die sie mit aufs Schiff nehmen wollte. Ein paar warme Pullover, extra Unterwäsche und ein Lautsprecher fürs Labor durften nicht fehlen.

Auf dem Heimweg ging Mia nach einem ausgiebigen Einkauf in der Drogerie beim Inder vorbei, um fürs Abendessen Chicken Tikka Masala und Aloo Gobi mitzunehmen. Vielleicht würde das Lars ein wenig besänftigen. Zu Hause richtete sie alles auf dem Esstisch an und stellte drei Kerzen dazu. Als sie Lars die Tür aufschließen hörte, entschied Mia kurzerhand, dass die Kerzen doch ein wenig übertrieben waren, und stellte sie schnell zurück in das Regal im Wohnzimmer. Außer zu Geburtstagen oder Feiertagen hatten sie nie Kerzen auf dem Tisch. Sie wollte Lars nicht reizen, indem sie auch noch feierte, dass sie ihn alleine in den Urlaub fahren ließ.

»Wow, Indisch, das riecht man ja schon im Treppenhaus«, freute sich Lars. »Hab ich irgendwas verpasst? Gibt es einen Anlass?«

Mia gab nur einen unbestimmten Laut zur Antwort, während sie Gläser aus dem Schrank holte.

Lars wickelte sich den Schal vom Hals, bevor er in die Küche trat und den Esstisch begutachtete.

»Heute wurde die Entscheidung vom Komitee der Antarktisexpedition bekannt gegeben«, begann Mia. Besser gleich aufs Wesentliche kommen, als lange drum herumzureden. Sie holte tief Luft. »Wir haben die beiden Plätze.« Unsicher sah sie Lars an.

»Wow.« Mia konnte keinerlei Regung in Lars’ Gesicht erkennen. »Das heißt, dein Traum geht in Erfüllung!«