Der Arkanist (Band 3): Der Lord der Dunkelheit - Pascal Wokan - E-Book

Der Arkanist (Band 3): Der Lord der Dunkelheit E-Book

Pascal Wokan

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Beschreibung

Wisst Ihr, was das Interessante an Träumen ist? Jeder kann mit ihnen die Welt verändern. Wenn wir es zulassen. Es ist bedauerlich, wie sehr wir uns äußeren Zwängen beugen und uns dabei selbst verraten, anstatt den Mut aufzubringen, unseren Träumen nachzugehen. Ich hatte von wahrer Macht gekostet und wollte diese um keinen Preis wieder hergeben. Aber meine Absichten waren rein, obwohl die Welt alles dafür tat, mich und meine Träume kleinzuhalten. Ich versichere euch, sobald wir das Ende meiner Geschichte erreichen, fällt der Vorhang und der Schleier lüftet sich. Die einzige Wahrheit tritt ans Licht. Wir werden Lügen enttarnen und von den größten Höhen die tiefsten Abgründe erforschen. Und dabei werden wir uns zwei Fragen stellen, die sich durch alle Ereignisse ziehen: Was unterscheidet Träume von der Wirklichkeit? Und wann ist ein Gott ein Gott? Beginnen wir.

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Seitenzahl: 619

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Kapitel 1 - Die Geschichte des Dunklen Lords

Kapitel 2 - Der Beginn

Kapitel 3 - Das Laster des weisen Mannes

Kapitel 4 - Rückkehr

Kapitel 5 - Alchemie

Kapitel 6 - Allein

Kapitel 7 - Der Hüter des Sanktuars

Kapitel 8 - Pfad der Träume

Kapitel 9 - Die Drachen

Kapitel 10 - Sich beweisen

Kapitel 11 - Heilsigille

Kapitel 12 - Die Zeit verfliegt

Kapitel 13 - Zwischenspiel: Geheimnisse

Kapitel 14 - Missetaten

Kapitel 15 - Die verbotenen Archive

Kapitel 16 - Erinnerungen

Kapitel 17 - Normalität

Kapitel 18 - Ein neues Sigill

Kapitel 19 - Lord und Diener

Kapitel 20 - Ein eiserner Entschluss

Kapitel 21 - Zwischenspiel: Abschiede

Kapitel 22 - Das alte Leben

Kapitel 23 - Sehnsucht

Kapitel 24 - Der Unerreichbare

Kapitel 25 - Ein Tor

Kapitel 26 - Der Hort eines Drachens

Kapitel 27 - Schatten der Vergangenheit

Kapitel 28 - Prodigium

Kapitel 29 - Ein Idiot

Kapitel 30 - Träume

Kapitel 31 - Der Stolz eines Arkanisten

Kapitel 32 - Das Böse

Kapitel 33 - Gebunden in Blut

Kapitel 34 - Jene, die mir folgen

Kapitel 35 - Brandsatz

Kapitel 36 - Grenzen ziehen

Kapitel 37 - Der rote Faden

Kapitel 38 - Siegen und scheitern

Kapitel 39 - Die Nachricht

Kapitel 40 - Öl und Wasser

Kapitel 41 - Der Verbündete des Feuers

Kapitel 42 - Feind der Götter

Kapitel 43 - Es endet

Kapitel 44 - Die Schlacht

Kapitel 45 - Opfer

Kapitel 46 - Schwarzer Zorn

Kapitel 47 - Der Tod der Götter

Kapitel 48 - Die Barriere

Kapitel 49 - Die Wahrheit

Nachwort

Glossar

 

Pascal Wokan

 

 

Der Arkanist

Band 3: Der Lord der Dunkelheit

 

Fantasy

 

 

 

 

Der Arkanist (Band 3): Der Lord der Dunkelheit

Wisst Ihr, was das Interessante an Träumen ist? Jeder kann mit ihnen die Welt verändern. Wenn wir es zulassen. Es ist bedauerlich, wie sehr wir uns äußeren Zwängen beugen und uns dabei selbst verraten, anstatt den Mut aufzubringen, unseren Träumen nachzugehen.

Ich hatte von wahrer Macht gekostet und wollte diese um keinen Preis wieder hergeben. Aber meine Absichten waren rein, obwohl die Welt alles dafür tat, mich und meine Träume kleinzuhalten.

Ich versichere euch, sobald wir das Ende meiner Geschichte erreichen, fällt der Vorhang und der Schleier lüftet sich. Die einzige Wahrheit tritt ans Licht. Wir werden Lügen enttarnen und von den größten Höhen die tiefsten Abgründe erforschen. Und dabei werden wir uns zwei Fragen stellen, die sich durch alle Ereignisse ziehen: Was unterscheidet Träume von der Wirklichkeit? Und wann ist ein Gott ein Gott?

Beginnen wir.

 

 

Der Autor

Pascal Wokan, geboren 1986 in Frankfurt am Main, ist Maschinenbau-Ingenieur und arbeitet an einer Technischen Universität. Seit einiger Zeit veröffentlicht er regelmäßig Bücher, die Topplatzierungen in den Amazon-Bestsellerlisten besetzen. Er lebt mit seiner Familie in Weilburg, Hessen und widmet sich in seiner Freizeit nicht nur dem Schreiben neuer Romane, sondern auch der grundlegenden Frage, warum die Pizza immer auf der belegten Seite landet.

 

 

www.sternensand-verlag.ch

[email protected]

 

1. Auflage, Dezember 2025

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2025

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski

Lektorat: Lektorat Laaksonen | Stefan Wilhelms

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-384-4

ISBN (epub): 978-3-03896-385-1

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

»Wer die Wahrheit hören will,

den sollte man vorher fragen,

ob er sie ertragen kann.«

 

Ernst R. Hauschka

 

 

Kapitel 1 - Die Geschichte des Dunklen Lords

 

»Auf ein Wort, Richterin Mavia«, sagte Siros.

Mavia sah von der Waschschüssel auf. Sie nahm ein bereitliegendes Tuch, tupfte sich das Gesicht ab und ließ sich dabei Zeit. Offenbar wollte man ihr nach all den jüngsten Ereignissen nicht einmal einen Moment der Ruhe gestatten, ehe sie sich wieder dem Grund der Zusammenkunft widmen musste.

Der Verurteilung des Dunklen Lords.

»Mir bleibt lediglich eine halbe Kerze, um mich vorzubereiten, Richter Siros.« Sie strich sich das dunkle Haar aus der Stirn und schenkte dem älteren Arkanisten einen ungehaltenen Blick. »Kann das warten?«

»Ich fürchte, das kann es nicht.« Seine farblosen Lippen beschrieben eine dünne Linie und der stechende Blick aus seinen dunklen Augen durchbohrte sie wie ein Pfeil.

Siros war ein stolzer Mann; ein Richter, eingesetzt von der Krone Aldanums höchstpersönlich, um in ihrem Namen dem Prozess beizuwohnen. Dafür bedurfte es nicht einmal der goldenen Spange in Form einer Flamme, die seinen roten Umhang am Halsansatz geschlossen hielt – eine Auszeichnung als Wächter des Feuers für besondere Dienste.

Sein streng zurückgekämmtes, graues Haar, der ordentlich gestutzte Bart und die zerfurchten Züge weckten in jedem schwachen Mann den Wunsch, ehrfürchtig auf die Knie zu gehen.

Aber Mavia war weder schwach noch ein Mann.

»Und ich fürchte, Richter Siros, alle Absprachen, die in Abwesenheit des Verurteilten stattfinden, sind nicht rechtskräftig.« Sie gestattete sich ein schmales Lächeln. »Ich nehme an, das wisst Ihr bestimmt.«

Siros blinzelte nicht einmal, als er ihr eine Schriftrolle mit ungebrochenem Siegel zeigte. Darauf prangte ein flammender Greif, das Insigne des Königs.

Anstatt die Rolle entgegenzunehmen, wies Mavia gelassen den Korridor entlang, der abwechselnd in Licht und Schatten getaucht war, und bemühte sich, ihre Aufregung zu verbergen.

Ein paar Staubflusen tanzten durch Lichtbalken, die das Abendrot durch die hohen Fensterschlitze hereinwarf und den fugenlosen, glatten Stein erhellten, der wie aus einem Guss wirkte. Die Luft war kühl und trocken, schmeckte abgestanden und nach etwas anderem, das Mavia nicht zuordnen konnte. Wie ein Geheimnis, das sich ihr selbst nach einem ganzen Tag nicht enthüllen wollte. Bereits am Morgen, als sie diesen unwirklichen Ort aufgesucht hatte, war ihr dieser seltsame Umstand aufgefallen. Es glich einem Zupfen an ihrem Bewusstsein. Mit jeder Kerze, die sie hier verbrachte, wurde der Eindruck stärker, als wartete das Geheimnis nur darauf, sich zu offenbaren.

Die Frage war bloß, welchen Ursprung es nahm.

Es hieß, die Arkanisten uralter Zeiten hätten die Verliese Aldanums einst in ihrer großen Voraussicht erschaffen; ein zweckmäßiger, schlichter und abgelegener Ort, der allein dem Zweck diente, abtrünnige und verbrecherische Arkanisten hierherzubringen – es sei denn, ein Urteil sollte auf ungewisse Zeit aufgeschoben werden.

In diesem Fall konnte es durchaus sein, dass mehrere Jahrzehnte ins Land gingen, ehe der abschließende Prozess gemacht wurde. Eine Himmelsinsel, die sich so weit von den Erdlanden entfernt befand wie nur möglich, über den Wolken, sogar noch höher hinaus. Eine Insel, die wie ein ausgestreckter Finger das Himmelszelt durchbohrte, um jenem Reich näher zu sein, in dem einst die Götter gethront hatten.

Bevor der Dunkle Lord sie getötet hatte.

Die beiden Wachen, die in diesem abgelegenen Bereich postiert waren, rührten sich nicht, während Mavia sie an der Seite von Siros passierte. Es galt als außerordentliche Ehre, in den Verliesen seine Pflicht zu verüben. Ein heiliger Schwur, der die Männer auf Lebenszeit band, zur Verschwiegenheit verpflichtete und selbst den Verfügungen der Krone nicht unterworfen war. Hier, an diesem abgelegenen Ort, herrschten andere Gesetze. Kein König entschied über das Schicksal der Insassen und kein Wächter durfte den Turm ohne Erlaubnis betreten.

Hier waren die auserkorenen Richter die Götter.

Mavia sah stur geradeaus und wollte lieber nicht über die Anweisung in Siros’ Schriftstück nachdenken. Die Nachricht war ein schlechtes Omen und nahm ihr einen großen Teil der Sicherheit, die sie bis eben noch zusammengekratzt hatte. Denn das Schriftstück war ein Zeichen für die Unruhe der Obrigkeit. Die Krone wagte, an einem uralten Fundament zu rütteln.

Wäre sie sogar fähig, sich über die Beschlüsse zu erheben?

In den Verliesen Aldanums waren die schlimmsten und grausamsten Arkanisten untergebracht, die ihrem Durst nach Macht erlegen waren und nicht davor zurückscheuten, zu morden. Doch im Vergleich zu jenem, dem sie den Prozess machen sollte, waren sie bloß Kinder im Angesicht eines Erwachsenen.

Unwillkürlich schüttelte Mavia sich.

Der Dunkle Lord übertraf alles, was sie je von ihm gehört hatte. Und doch war er nicht der Mann, den sie sich stets vorgestellt hatte; nicht das Ungeheuer, das die Welt so lange in Schrecken gehalten hatte.

Er war ein Mensch, der nichts mehr besaß außer seiner Geschichte.

Als sie eine Weile stumm durch den abgedunkelten Korridor nebeneinanderher gegangen waren, blieb Mavia stehen und stellte sich dem, was sie erwartete. Kurzerhand nahm sie die Schriftrolle entgegen, brach das Siegel und überflog die Zeilen. Mit jedem Wort verfinsterte sich ihr Gesicht, bis sie schließlich die Nachricht sinken ließ. Das Schwert, das über ihrem Nacken schwebte, hätte kaum schärfer sein können.

Siros verschränkte die Hände hinter dem Rücken und straffte sich wie ein Richter vor dem Verurteilten. »Nun?«

»Ihr kennt meine Antwort darauf bereits.« Unwirsch hielt sie ihm das Schriftstück hin. »Das Wort der Krone hat in diesem Prozess keine Bewandtnis.«

Siros nahm es nicht entgegen. »Seid Ihr sicher, dass Ihr Euch der Verfügung widersetzen wollt?«

»Das bin ich.«

Der Richter musterte sie. »Bedenkt, welche Konsequenzen Eure Entscheidungen haben könnten.«

»Ist das eine Drohung?«

»Eine Feststellung.«

»In diesem Fall sind wir hier fertig.« Sie zerknüllte das Papier und steckte es in ihre Tasche. Dabei streifte sie unbewusst die schwere, schwarze Münze darin. »War das alles?«

Keine Verwunderung. Kein Ärger. Nicht einmal eine Andeutung darauf, was er dachte. Siros hielt seine Fassade meisterhaft aufrecht. Ein wahrer Aristokrat. »Ihr habt nichts dazu zu sagen?«

Mavia kräuselte die Lippen. »Wisst Ihr, wie lange ich darauf hingearbeitet habe, diesen Prozess zu leiten?« Bedächtig strich sie über die gesprungene Stelle in der Münze. Ein Sigill, mächtiger als jedes, das je existiert hatte. »Wie viele Opfer ich gebracht habe? Wie oft ich mich beweisen musste, um dem höchsten Richtergremium Aldanums anzugehören?«

Sein wächsernes Gesicht blieb ausdruckslos. »Eure persönlichen Belange haben hier nichts zu suchen, Richterin Mavia. Was in diesem Prozess geschieht, übersteigt Eure Befugnisse. Die Krone ist sehr daran interessiert …«

»Die Krone«, unterbrach sie ihn eine Spur schärfer, »hat bei der Festnahme des Dunklen Lords verfügt, dass die Verliese Aldanums als unabhängige Instanz gelten. Ein Gremium, das über jeden Zweifel erhaben ist. Selbst über dem des Königs.«

Sein Nicken ging kaum als solches durch. »Eure Worte sind ebenso großer Weise wie unvorsichtig.«

»In diesem Fall bin ich wohl der Tor unter den Weisen, denn ich wurde von der Hohen Kammer dazu berufen, den Dunklen Lord zu verurteilen.« Sie nahm das Blatt wieder heraus, zerriss es und ließ die Schnipsel vor Siros zu Boden fallen. »Als Wahrheitssucherin werde ich nicht aufgeben, ehe ich ihm nicht all seine Geheimnisse entlockt habe.«

Siros musterte sie gelassen, als wollte er sich jedes Detail an ihr einprägen. »Ihr habt Euch in ein gefährliches Spiel begeben, Richterin Mavia. Ein Spiel, dessen Regeln Ihr nicht versteht.«

»Dennoch ist es ein Spiel, das ich leite.«

Sein Mundwinkel zuckte. »Offensichtlich.«

Eine Haarsträhne fiel ihr in die Stirn. Sie band sie in dem strengen Knoten fest und ging weiter. Es brauchte lange, bis sie ihre Gedanken sortiert hatte, und noch länger, um die richtigen Worte zu finden. »Caelden besitzt Antworten auf Fragen, die wir uns nicht einmal trauen zu stellen.«

»Darin stimme ich Euch zu.«

»In diesem Fall solltet Ihr auch zu derselben Schlüsselfrage gekommen sein.« Sie warf ihm einen knappen Blick zu. »Wie konnten die Götter sterben?«

»Indem er sie ermordete«, erwiderte er trocken.

»Was ihre Allmacht widerlegt.« Sie blieb stehen und wandte sich ihm zu. »Wie konnte eine Macht existieren, die größer ist als sie?«

Ein Schatten vertiefte das Schwarz in Siros’ Augen. »Ihr seid befangen.«

Mavia stutzte. »Nein, ich bin nicht …«

»Der Dunkle Lord hat Euren Vater ermordet.« Er trat einen Schritt auf sie zu. Nur noch eine Armlänge trennte sie voneinander. »Er hat Euch alles genommen.«

Jedes Wort drang wie ein eisiger Stachel in ihr Herz. Sie legte die Hand auf ihre Brust und zwang sich, ruhig zu atmen. »Wollt Ihr mir die Führung der Verhandlung entziehen? In dieser Hinsicht muss ich Euch leider enttäuschen, Richter Siros, denn es gibt keinen Menschen in Aldanum, der keinen Verlust durch Caelden zu beklagen hat. Wir alle sind befangen.«

»Ist das so?«

»Denkt an die Himmelsinsel, die durch den Kampf gegen die Götter zerschmettert wurde. Erinnert Euch an Alt-Aldanum.«

Der Schatten glitt weiter, ließ die Falten und Furchen in Siros’ Gesicht noch tiefer erscheinen. »Ist Euch bewusst, dass Ihr ihn häufig beim Namen nennt?«

Sie biss sich auf die Zunge, um unbedachten Worten zuvorzukommen. Siros wollte sie reizen und ihre Autorität untergraben. Die Krone wollte Einfluss auf den Prozess nehmen und äußerte den Wunsch, Siros die Verantwortung zu übertragen. Es war nicht unüblich, einem anderen Richter Befangenheit vorzuwerfen, um dessen Einfluss zu begrenzen. Allerdings hatte sie dieses Spiel zu oft gespielt, um sich von jemandem wie ihm unterjochen zu lassen.

Sie könnte ihren Stolz überwinden und nachgeben – andernfalls bestand durchaus die Möglichkeit, sich bald auf der anderen Seite der Zellentür wiederzufinden. Es wäre ein Leichtes für die Krone, erdichtete Beweise gegen ihr Urteilsvermögen zu finden und sie außerhalb der Verliese festnehmen zu lassen. Doch hier, an diesem Ort fern irdischer Gesetze, konnte nichts und niemand sie treffen. Hier war sie wahrhaft unbestechlich.

Ich kann meinem bestehenden Pfad folgen und Caelden seine Geschichte erzählen lassen, bevor er durch mich zum Tode verurteilt wird.

Und damit erkannte sie, dass sie sich längst entschieden hatte.

Anscheinend hatte Siros die Veränderung in ihrer Haltung bemerkt. Er löste die Spange von seinem Umhang und hielt sie beschwörend hoch. »Wisst Ihr, was das ist?«

Mavia umklammerte die Münze in ihrer Manteltasche. Irgendetwas daran gab ihr Kraft. »Eine Anerkennung Eurer Dienste als Wächter des Feuers.«

»Ja, in der Tat.« Er brachte die Spange wieder an und schloss den roten Umhang, der mit goldenen Bändern durchzogen war wie Weinranken, die von ihm abtrieben. »Doch die Spange ist weitaus mehr als das. Sie ist ein Symbol für meine Stellung. Ein Symbol dafür, dass ich mit der Stimme der Götter spreche.«

»Die Götter sind tot.« Sie war selbst erstaunt, wie ruhig sie klang, obwohl die Aufregung eine Schlinge um ihren Hals legte.

»Zweifellos.« Mit ausholender Geste wies er den Korridor entlang und schritt los wie ein König auf dem Marsch zu seiner Krönung. »Ein Reich, das allein auf die Führung der Krone und der Hohen Kammer vertraut. Schulden wir es nicht dem gemeinen Volk, alle Möglichkeiten auszuschöpfen?«

Mavia starrte zu dem erlösenden, hellen Viereck, das sich in der Ferne abzeichnete. Sie dürstete danach, mehr über Caeldens Vergangenheit zu erfahren, aber zugleich ängstigte sie sich davor. »Sprecht es aus.«

»Ihr verliert die Kontrolle, Richterin Mavia.«

Die Worte lasteten wie ein Stein auf ihrem Herzen. Doch sie hatte nicht so lange gelitten, Prüfungen bestanden und sich emporgekämpft, um beim kleinsten Gegenwind abzuknicken wie ein unbedeutender Grashalm. Ihre Wurzeln reichten tief und es bräuchte einen Sturm, um sie auszureißen.

»Ich besitze jederzeit die Kontrolle, Richter Siros«, entgegnete sie gefasst. »In den Verliesen befinden sich Hunderte Arkanisten, mehr als doppelt so viele Wachen und …«

»Verzeiht, aber wir wissen beide, dass all das kaum ausreichen wird, wenn er beschließt, sich dem Urteil nicht zu beugen.« Siros blieb stehen und durchbohrte sie mit seinem Blick. Es war einer, der ihr sehr vertraut war – ihr ganzes Leben lang hatten andere sie so angesehen, als wäre sie nicht gut genug. Als hätte sie ihre Erfolge und Errungenschaften gestohlen. Wie eine Diebin, die es nicht verdiente, Arkanistin zu sein.

»Er hat sich gestellt.« Ihre Stimme klang eisern. »Er übersandte uns eine Nachricht. Und er versprach, seine Geheimnisse zu lüften.«

»Dennoch …«

»Dennoch steht Ihr hier, bringt mir diesen Wisch und versucht, meine Autorität zu untergraben?« Sie hielt ihm stand – ganz so, wie sie es schon früher getan hatte. »Überlegt Euch gut, was Ihr nun antwortet, Richter Siros!«

Das Leben war ein Kampf. Selbst jetzt, als einberufene Richterin zur Verurteilung des mächtigsten Arkanisten aller Zeiten, musste sie allen Widrigkeiten trotzen und an ihrem Plan festhalten; sie musste einem Günstling der Krone die Stirn bieten, um zu erfahren, was der Dunkle Lord wusste.

Das hatte sie beim Grab des Erzmagisters geschworen.

Längst ging es nicht mehr allein um Caeldens Geschichte.

Durch all die Geschehnisse zog sich eine Wahrheit wie ein roter Faden; eine Wahrheit, die so schrecklich war, dass es einen ganzen Tag bedurfte, um zu ihr vorzudringen. Denn wie Caelden sagte, war sie wie feine Keramik. Wenn nicht umsichtig mit der Wahrheit umgegangen wurde, zerbrach sie.

Siros schwieg, regte sich nicht, sah sie kühl unter seinen schweren Augenlidern an, als wäre er nicht ganz sicher, was er von ihr halten sollte.

Nicht zum ersten Mal gewann sie den Eindruck, sich in einem Kammerspiel zu befinden.Der Verhandlungsraum war die Bühne. Caelden und die Richter die Akteure. Doch wer stand im Hintergrund und gab die Anweisungen?

»Wie lautet Eure Antwort an die Krone?«, fragte Siros schließlich.

»Die Antwort lautet Nein.« All ihre Überzeugung lag in ihrer Stimme, was den Richter allerdings nicht zu verunsichern schien.

»Ich bin nicht Euer Feind, Richterin Mavia.«

»Natürlich.«

Höflich neigte er den Kopf. »Ihr seid Euch in vollem Umfang der Konsequenzen dieser Entscheidung bewusst?«

Mavia ballte die Faust schmerzhaft fest um die Münze. »Als Richterin bin ich zur Neutralität verpflichtet, ungeachtet dessen, über wen ich richte und welcher Taten er sich schuldig gemacht hat.« Die Kanten bohrten sich in ihr Fleisch. »Es existiert ein Abkommen zwischen dem Dunklen Lord und den Richtern. Ein Abkommen besiegelt durch einen Schwur. Er erzählt seine Geschichte in vollem Umfang und offenbart uns seine Geheimnisse. Am Ende werden wir darüber verfügen, welcher Verbrechen er schuldig gesprochen wird und welche Bestrafung ihn erwartet.«

»Die einzige Bestrafung für ihn ist der Tod.«

»Ihr dürft der Krone gerne meine Antwort überliefern, Richter Siros.« Sie wandte sich ab und marschierte davon.

»Euch verbindet mehr mit dem Dunklen Lord, als es das bloße Auge erkennen mag«, erklang Siros’ trockene Stimme hinter ihr.

Wie angewurzelt blieb sie stehen. Er wusste es. »Woher?«

Seine Stiefel knirschten, als er hinter sie trat. »Ich bin ein Wächter des Feuers, Richterin Mavia. Eure niedere Geburt als Bürgerliche ist ein offenes Geheimnis.«

Sie wandte sich ihm wieder zu und hatte Mühe, ihre Wut im Zaum zu halten. »Diese Stellung wurde mir nicht geschenkt. Ich habe sie mir mit Blut, Schweiß und Schmerz erarbeitet.«

»Daran hege ich keinen Zweifel. Dies ist es, was Euch an der Geschichte des Dunklen Lords fasziniert, nicht wahr? Ihr erkennt Euch selbst darin. Ihr könnt nachempfinden, was er durchlitten hat. Es ist, als würdet Ihr in einen Spiegel blicken.«

»Ihr wisst gar nichts über mich!«

»Ich weiß, dass der Dunkle Lord Euren Vater ermordet hat.«

Ein eiskalter Schauder rann über ihren Nacken. Alles in ihr schrie danach, ihn für diese Worte zu maßregeln. Siros hatte längst seine Kompetenzen überschritten. Doch sie konnte nicht. Denn sein Vorwurf entsprach der Wahrheit – so einfach und doch voller Logik.

»Ihr, Richterin Mavia, seid das leuchtende Beispiel dafür, dass die Welt aus der Asche wiederauferstanden ist.« Er beugte sich zu ihr. Wie es der Zufall wollte, fiel ein Streifen Helligkeit auf sein Gesicht, teilte es in hartes Licht und tiefe Schatten. »Ich möchte Euch eine Frage stellen: Habt Ihr Euch je gefragt, ob die Welt bereit ist für die Wahrheiten des Dunklen Lords?«

Ja. Jeden einzelnen Augenblick hatte sie sich das gefragt. Aber allmählich wurde sie den Verdacht nicht los, dass weitaus mehr hinter alldem steckte. Der Mann, der Caelden zum Abschluss seines zweiten Schuljahres angegriffen und beinahe getötet hatte, war ein Wächter des Feuers gewesen. Ein Wächter wie Siros.

Ein Wächter wie ihr Vater.

»Offensichtlich habt Ihr das.« Siros richtete sich auf. »Ich bin sicher, die Krone wird Verständnis für Eure Lage haben. Die Zeit wird beweisen, wer von uns beiden richtig lag.« Damit wandte er sich ab und ging davon.

Kapitel 2 - Der Beginn

 

Der Abend war weit vorangeschritten, als Mavia den Verhandlungsraum erreichte. Beim Übertreten der Schwelle knackten ihre Ohren und es lag ein ungewöhnlicher Druck auf ihrer Brust. Erst als sie sich auf dem mittleren Platz hinter den Richtertischen einfand und gegen die Lehne sinken ließ, konnte sie wieder aufatmen. Die Anstrengungen des Tages forderten allmählich ihren Tribut. Höchste Zeit, dass die Geschichte des Dunklen Lords ihr Ende fand.

Außerhalb des sigillverstärkten Fensters, das einen großen Bereich der fugenlosen Wand einnahm, erstreckte sich weit unter der Himmelsinsel ein tiefschwarzes Wolkenmeer, in dem es gelegentlich blitzte und grollte – leise, dumpf und weit entfernt. Selbst Naturgewalten konnten nicht bis hierauf gelangen. Die Verliese waren ein Wunderwerk arkaner Künste.

Ein Großteil des runden Raums war in spiegelglattem Obsidian gekleidet. Angeblich dämmte er das Arkan, allerdings gab es bislang keinen Beweis dafür. Ganz im Gegenteil. Der Angriff der Arkanisten hatte gezeigt, dass vieles von dem, was die Akademie lehrte, nicht gänzlich den Tatsachen entsprach.

An einigen Stellen war der Obsidian im Boden abgetragen, zerkratzt und heruntergeschliffen. Offenbar hatte dort ein Netz aus Säulen das Kuppeldach getragen. Nur wenn man ganz genau hinschaute, konnte man die kreisrunden, verblassten Ränder der Stellen im Boden erkennen, an denen sie einst zur Decke hingestrebt hatten.

Wer auch immer diesen Raum gefertigt hatte, hatte wohl anderes im Sinn gehabt, als über den mächtigsten Arkanisten der Welt zu richten.

Mavia sortierte den Stapel Papier, berührte die Feder in dem Glas, die mit einem Schwebe- und Tintsigill versehen war, und speiste diese mit Arkan. Mit einer Geste stieg die Feder wie von Geisterhand empor und schwebte nun über dem Papier. Ein leeres Blatt. Unbeschrieben. Voller Möglichkeiten. Bevor die Worte des Dunklen Lords darauf für die Nachwelt festgehalten wurden. Bevor Geheimnisse ans Licht kamen, die sie zugleich in Staunen versetzten und zutiefst erschütterten. Und bevor die Geschichte an ihr Ende gelangte.

Caelden saß zusammengesunken am Boden, das Kinn auf der Brust und das wirre, angesengte Haar stand zu allen Seiten ab. Die grauen Kleider lagen viel zu weit auf seiner ausgemergelten Brust, seine Finger, Füße, sogar sein abgehärmtes Gesicht waren mit Rußflecken bedeckt. Er zählte mehr als fünfzig Winter, aber sah trotz seiner Verwahrlosung aus, als hätte er gerade erst das dreißigste Lebensjahr erreicht.

Die Ketten an Armen und Handgelenken waren an einem Ring am Boden festgemacht und mit Dutzenden Bannsigillen versehen, die in geisterhaftem Licht glühten. Die vorherigen Ketten hatte er mit scheinbarer Mühelosigkeit zerrissen. Vermutlich würden diese ihn nicht daran hindern, die Verdammnis über den Versammelten hereinbrechen zu lassen, sollte er es beabsichtigen. Aber sie vermittelten wenigstens ein Gefühl von Sicherheit.

Der Dunkle Lord regte sich nicht, war völlig in Gedanken versunken, während sich eine Auswahl Arkanisten und Wachen an den Wänden postierte.

Siros setzte sich neben Mavia und nickte ihr zu. Kein Wort darüber, was eben zwischen ihnen vorgefallen war.

Auf der anderen Seite ließ sich Richter Caley nieder, den sie seit ihrer Jugend kannte. Er war ein schlaksiger Mann mittleren Alters, mit gewelltem, haselnussbraunem Haar, schmalen Gesichtszügen, hohen Wangenknochen und sturem Kinn. Genau wie sie trug er ein blaues Richtergewand, ähnlich einem Talar. Vor vielen Jahren waren sie Kontrahenten gewesen. Nun sollten sie gemeinsam über das Schicksal eines Mannes entscheiden, der zahllose Menschenleben auf dem Gewissen hatte.

Als sich alle eingefunden hatten, räusperte sich Mavia. Die Verhandlung konnte endlich weitergeführt werden. Allerdings gedachte der Dunkle Lord, zuerst das Wort zu ergreifen.

»Sagt, was wisst Ihr über Träume, Richterin Mavia?«

Sie wägte die Worte gut ab. Inzwischen wusste sie, dass er Offenheit zu schätzen wusste. »Im Traum geht man auf Wanderschaft in die eigene Seele.« Gleich, nachdem die Worte sie verließen, spürte sie die Schlinge um ihren Hals.

Caelden betrachtete seine Hände, öffnete und schloss sie. Dicke Brandnarben durchzogen die Haut und formten mehrere Sigille. »Das sind Aramils Worte.«

»Der Erzmagister lehrte sie mich.«

Er hob den Kopf und sah sie an. »Wisst Ihr, was das Interessante an Träumen ist? Sobald man sich auf die Suche nach sich selbst begibt, findet man jemand völlig anderen vor.«

»Der Erzmagister betonte stets, wie wichtig sie sind.« Mit einem Wink senkte sich die Feder auf das Papier. »Bis heute zog ich nicht einmal die Möglichkeit in Betracht, ein Sigill könnte uns dazu verhelfen, in sie einzutauchen.«

Caelden lächelte. »Oh, dafür benötigen wir kein Traumsigill, Richterin Mavia. Jeder Mensch ist dazu in der Lage, unabhängig seiner Herkunft, seines Standes oder seiner Begabung. Wir alle«, die Ketten klirrten, als er die Arme spreizte, »sind dazu fähig. Wir alle können mit unseren Träumen die Welt verändern. Wenn wir es zulassen.«

Siros räusperte sich. »Demnach dienten Eure Absichten allein der Verbesserung der Welt?« Seine Stimme troff vor Verachtung.

»Welch hehren Ideale sollte ein junger, unerschütterlicher Mann sonst dienen?« Klirr. Caelden ließ die Arme sinken. Klirr. »Meine Absichten waren rein, obwohl die Welt alles dafür tat, mich kleinzuhalten. Der Hochadel befahl meine Ermordung. Salden verlor durch einen Unfall sein Leben. Mazen wurde im dritten Semester als Thronerbe mein neuer Rivale.« Er lächelte bitter. »Es ist bedauerlich, wie sehr wir uns äußeren Zwängen beugen und uns dabei selbst verraten, anstatt den Mut aufzubringen, unseren Träumen nachzugehen.«

Caley trommelte mit einem Stift auf seinem Blatt. »Ihr wurdet zum Kind der Prophezeiung ausgerufen.«

»Von den Magistern der Himmelsakademie.« Belehrend hob Caelden den Finger. »Bis dahin war mir allerdings nicht bewusst, wie sehr die Krone und der Hochadel darum kämpften, ihren Einfluss über die Akademie zu bewahren. Es war ein steter Kampf um Macht. Und meine Ausbildung war der Schlussstein, der all ihre Bemühungen zunichtemachen könnte.«

Mavias Feder kratzte über das Papier. Jeder Satz, jedes Wort, jede Handlung wurde darauf festgehalten. Sie musste sich nicht einmal darauf konzentrieren, da ihre Gedanken über das Sigill mit der Feder verbunden waren. »Weshalb?«

»Die Akademie bildete angehende Arkanisten aus, die den Frieden und Wohlstand in den Himmels- und Erdlanden wahrten. Vor allem war Ersteres von ihrem Interesse. Kontrolle über die Akademie bedeutet …«

»Kontrolle über Arkanisten mit unvorstellbaren Kräften.«

Er neigte den Kopf. »Der Hochadel fürchtete die Veränderung. Stellt Euch einmal vor, welche Wellen es geschlagen hätte, wenn herausgekommen wäre, dass ein mittelloser Bürgerlicher aus niedersten Verhältnissen alle angehenden Arkanisten übertrumpft?«

»Zu damaligen Verhältnissen?« Sie hielt inne. »Chaos.«

Nachdenklich sah er aus dem Fenster. »Ja, in der Tat. Ich vereinte dieses Chaos in mir.« Seine Stimme wurde leise; so leise und blass wie ein Windhauch. »Macht war meine Versuchung und mein Untergang.« Er seufzte, dann sah er sie wieder an. »Ich geriet zwischen zwei Fronten, ohne zu ahnen, was ich mit meinen Taten auslöste. Salden stammte aus dem Hause Castra. Sein Vater Galen hatte alles dafür getan, den Anspruch seiner Familie zu bekräftigen und jedwede Konkurrenz aus dem Weg zu räumen, worüber selbstverständlich niemand offen redete. Als sein Erstgeborener starb, machte dies all seine Bemühungen zunichte. Er war rasend vor Wut. Und Wut«, Caelden zögerte, »lässt die Finsternis, die sich in jedem von uns verbirgt, herausbrechen wie ein Leuchtfeuer.«

»Habt Ihr ihn deshalb ermordet?«, fragte Siros unterkühlt.

Stille.

Bedauern zeichnete Caeldens Züge. »Es mag Euch überraschen, aber der Wächter des Feuers wurde nicht von Galen entsandt. Er war ein wahrer Aristokrat. Ein schlauer Mann, der seinen Willen wie eine Klinge zu gebrauchen wusste. Um mich unter Druck zu setzen, übte er Gewalt auf etwas aus, das mir wichtiger war als mein eigenes Leben.«

»Yenna«, flüsterte Mavia.

Er nickte. »Yen. Ihr mögt Euch erinnern, wie wir im letzten Abschnitt meiner Geschichte übereinkamen, getrennte Wege zu gehen. Sie wurde zur Adligen. Ich verbarg mich im Untergrund der Erdlande. Mein Überleben war allein den Bemühungen des Schmugglers Solodin und einiger gutgläubiger Magister der Akademie zu verdanken.« Er lachte leise. »Ich will nicht lügen, es war eine interessante Zeit, denn ich hatte mich längst an die Bequemlichkeiten meines neuen Lebens gewöhnt. Ratten und Kakerlaken wurden zu meinen Freunden. Jedes Apfelstück im Brei ließ mein Herz vor Freude hüpfen, ein Laken zum Schlafen war kaum mit Gold aufzuwiegen und ein freundliches Gesicht war so selten wie Tageslicht.« Er zog die Stirn kraus, als müsste er die Erinnerungen erst zusammensuchen. »Mein Bewusstsein schreckt vor dieser Zeit zurück, denn dort lauern Zurückweisung, Zorn und Schmerz. Vor allem Scham. Aramil, Feldrid und Adford setzten ihr eigenes Leben für mich aufs Spiel, doch ich verhielt mich wie …«

»Ein Heranwachsender«, vollendete sie seinen Satz.

Abermals seufzte er. »Ich war siebzehn Jahre alt, hatte ein Geheimnis über eingebrannte Sigille entdeckt, einen mächtigen Arkanisten bezwungen, meine große Liebe abgewiesen, meinen besten Freund verloren und unbeabsichtigt jemanden getötet. Außerdem ruhte das Auge der Götter auf mir, nachdem ich zum Kind der Prophezeiung ausgerufen wurde, und musste ganz nebenbei den Torheiten der Jugend widerstehen.« Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen. »Ich hatte von wahrer Macht gekostet und wollte diese um keinen Preis wieder hergeben, wenngleich der Hochadel nach meinem Tod trachtete.«

Caleys Stifttrommeln setzten aus. »Es geht das Gerücht, Ihr hättet zu dieser Zeit das Blutsigill erschaffen.«

Das spöttische Lächeln wandelte sich zu abgrundtiefem Schmerz, als der Dunkle Lord den Kopf hängen ließ. »Eine meiner ersten Torheiten. Ich stieß eine Tür auf und bedachte nicht, was sich dahinter verbarg.«

»Demnach habt Ihr wirklich das Sigill zwischen Müll und Abfall erschaffen?«

Caelden lachte hohl. »Ich hatte drei Monate nichts zu tun. Was hättet Ihr an meiner Stelle getan?«

Der Richter schwieg.

»Die Magister versorgten mich mit Büchern, da meine Ausbildung sehr wichtig war, auch wenn ich kein Arkan anwenden durfte. Denn stets bestand die Gefahr, dass es andere wie mich mit dem Talent gab, das Arkan eines anderen zu spüren.«

Siros richtete sich auf wie ein Herrscher, der ein Urteil fällen wollte. »Ihr seid nicht der Einzige«, sagte er mit langsamer Betonung.

War er schon die ganze Zeit so groß gewesen?

Caelden schmunzelte. »Zweifelsohne. Ich denke, wir sollten nun mit der Geschichte fortfahren. Es stehen viele Fragen im Raum wie die losen Enden eines Wandteppichs. Ich versichere Euch, sobald wir das Ende erreichen, werden sie alle ihren Platz finden, um einen Blick auf das große Ganze erhaschen zu können.« Er regte sich, dann saß er wieder still. »Wir machen deshalb einen Sprung und begeben uns zu meiner Rückkehr an die Himmelsakademie, die sowohl Furcht als auch Hoffnung in mir weckte. Die Geschichte nimmt Fahrt auf und wird viele Jahre umfassen. Jahre, in denen ich mich selbst fand, die Lüge in allem, was uns umgibt, enttarnte und von den größten Höhen die tiefsten Abgründe erforschte. Dabei werden wir uns der Frage stellen, was Träume von der Wirklichkeit unterscheidet.«

Mavia lehnte sich zurück, widerstand dem Drang, die gesprungene Münze anzufassen, und atmete tief durch. Wenn dies ein Kammerspiel war, würde sich jetzt endlich zeigen, was sich hinter alldem verbarg.

»Prodigium.« Caeldens Erzählerstimme klang majestätisch. »Wisst Ihr, was dieser sehr alte Begriff bedeutet, der irgendwann in den Windungen der Geschichte verloren ging?«

»Nein«, antwortete sie. »Bitte erleuchtet uns.«

»Wir werden darauf noch zu sprechen kommen. Prodigium. Merkt Euch diesen Begriff. Der Vorhang fällt. Der Schleier lüftet sich. Die einzige Wahrheit tritt ans Licht. Und am Ende werden wir alle nicht mehr dieselben sein. Denn am Ende sind wir alle bloß Morgennebel, der sich unweigerlich lichten wird.«

Er blickte die Anwesenden der Reihe nach an, als suchte er nach etwas.

Etwas, das allen anderen verborgen blieb, aber Mavia bereits bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen war. Etwas, das alles in ein ganz anderes Licht rückte.

Er lächelte warm. »Beginnen wir.«

Kapitel 3 - Das Laster des weisen Mannes

 

Der Hafen Alt-Aldanums übte seit jeher eine Faszination auf mich aus. Das hatte nichts mit den Schiffen zu tun, die an den vielen Piers vertäut waren. Auch nicht mit den Fischern, die im Morgennebel umherwanderten wie graue Geister, ihre Netze in die Boote schafften und Kisten über die glitschigen Planken schleppten. Selbst das Schmatzen der Wellen an den von Salz zerfressenen Stegen oder das Krächzen der Möwen am dunstverhangenen Himmel waren für mich kaum von Interesse.

Es war das Gefühl von Freiheit.

Die weiße Gischt am Ufer, die im fahlen Licht glitzerte wie eine Schatulle voller Gold. Der Ozean, der sich endlos weit bis über den Horizont erstreckte und mit Geheimnissen lockte, die ein junger Arkanist lüften wollte. Ein Aufbruch ins Abenteuer, ohne zu wissen, wohin es führte.

Allerdings machte das Wetter nicht mit.

Der Morgen war bloß ein leichter Anflug von Helligkeit inmitten des milchig grauen Nebels, der die Kanäle, schiefen Gassen und schwankenden Schiffe in seinen Dunst hüllte.

Mit gesenktem Kopf und eingezogenen Schultern folgte ich einer säulenartigen Gestalt durch diese Traumwelt.

Die Kapuze meines verschlissenen, schwarzen Mantels bedeckte meine obere Gesichtshälfte, aber selbst wenn ich weiter als drei Schritt hätte sehen können, wäre es wohl kaum einem vorüberziehenden Passanten möglich gewesen, mich zu erkennen. Gern hätte ich einen Moment innegehalten, um mich an dem Anblick des Hafens zu erfreuen, allerdings wollte ich den Anschluss an meinen Führer nicht verlieren. Selbst hier, zwischen den Zeughäusern und Schiffswerften, hing der Geruch nach Fisch und Bilgenwasser schwer in der Luft, und der Qualm der Raffinerien aus den umliegenden Vierteln beschmutzte den Morgenhimmel mit seinem salzigen Schleier. Die Sonne wirkte weniger wie ein Juwel, denn wie eine gelbliche Blase, die aufgeschnitten gehörte. Wer einen genaueren Blick auf den Hafen der größten Stadt der Erdlande riskierte, wollte so schnell wie möglich weg.

Hier lebten die Bürgerlichen und arbeiteten Tag für Tag, damit Adlige auf den Himmelsinseln jenseits der drohenden Wolken ihr morgendliches Brot verspeisen konnten.

Ich huschte der Gestalt hinterher, die so unbeirrbar dahinschritt, als gäbe es nichts auf dieser Welt, das ihr trotzen konnte. Wie ein unerschütterlicher Fels in der Brandung teilte sie die trübe Suppe, den Blick stur nach vorn gerichtet und der strahlend weiße Talar trotz aller Widrigkeiten gänzlich frei vom Schmutz. Das Rätsel, wie er ihn derart sauber halten konnte, hatte ich bislang nicht gelöst.

Magister Adford. Mein Vormund. Ein älterer Mann mit einem so ausdruckslosen und wächsernen Gesicht wie eine Porzellanmaske. Drei Monate lang hatten er, Feldrid und Aramil mich eingekerkert, meines Arkans beraubt und im Geheimen von einem Ort zum anderen gebracht – obwohl ich nicht darum gebeten hatte. Ich verachtete sie im gleichen Atemzug dafür, wie ich ihnen zutiefst dankbar war. Doch jedes Mal, wenn ich den Mund aufmachte, brachte ich es nicht über mich, meinen Gedanken Ausdruck zu verleihen.

Ich war ein Gefangener ohne Zukunft. Ein Getriebener, der sich nach dem Licht sehnte. Ein Mörder, weil ich nicht akzeptiert hatte, einfach zu sterben. Ich kannte jeden Schlupfwinkel Alt-Aldanums, jedes Rattenloch, jeden schimmeligen Keller. Dabei hatte Adford alles getan, damit ich überlebte – was an und für sich schon eine Besonderheit war, denn der gesamte Hochadel wollte mich einen Kopf kürzer machen. Allerdings war Adford von einem mildtätigen Vormund so weit entfernt, wie ich davon, ein demütiger Arkanist zu sein. Wenn ich darauf wetten sollte, ob eher einem Gemälde oder Adford Gelächter entlockt werden konnte, könnte ich mich nicht entscheiden.

Der Magister wartete weiter vorne, bis ich zu ihm aufgeschlossen hatte. Kein Wort, nicht einmal ein aufmunterndes Lächeln, ehe er weitermarschierte und auf einen schmalen Steg zuhielt, dessen Planken vom vielen Gebrauch quietschten und ächzten. Mir brannte schon die ganze Zeit die Frage auf der Zunge, wohin er mich zu bringen gedachte, doch ich kannte die Antwort bereits, die stets dieselbe blieb: »Geduld.«

Leider war mein Brunnen an Geduld bis zum Grund ausgeschöpft, nachdem ich drei Monate lang davon hatte zehren müssen. Inzwischen konnte ich der Versuchung kaum noch widerstehen.

Am Ende des Stegs war ein kleines Fischerboot vertäut, ein schwarzer, schlanker Kutter, derart ramponiert, mit Schiffspocken, Muscheln und Algen bedeckt, dass er höchstens noch dazu taugte, versenkt zu werden.

Ein älterer, gebeugter Mann erwartete uns dort. Der Zinken in seinem Gesicht wurde lediglich durch die buschigen, weißen Augenbrauen übertroffen, die derart zusammengezogen waren, als wäre der Mann das Misstrauen in Person.

Adford drückte ihm einen Beutel in die Hand – das Klimpern war so verräterisch wie das Lachen eines Kindes. Der Fremde steckte diesen ein und winkte nachlässig in den Kutter.

Ich hatte mir abgewöhnt, die Menschen zu grüßen oder gar auszufragen, wer sie denn nun waren und ob sie mir wirklich wohlgestimmt waren. In den vergangenen Monaten hatte ich so viele zwielichtige Gestalten kennengelernt, dass ihre Gesichter in einem schwindelerregenden Strudel an Eindrücken verloren gingen. Ohnehin würde ich nichts über sie erfahren und musste … vertrauen. Vertrauen. Ein dreckiges, verlogenes Wort. Ein Wort, das Geschichtenerzähler verwendeten, um ihre Zuhörer gefügig zu machen. Ein Wort, das Könige an ihr Volk richteten, während sie dieses ausbeuteten. Vertrauen – jedes Mal, wenn ich das hörte, verspürte ich das unbändige Verlangen, davonzulaufen.

Wie weit könnte ich schon kommen?

Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube kletterte ich in den Kutter und ließ mich auf einem Sitz ganz am Ende nieder. Als Adford und der Fischer hereintraten, schwankte der Kutter so sehr, dass ich fürchtete, er könnte umkippen.

Adford ließ sich an der Seite nieder, der Fremde hingegen stellte sich an den Bug. Dann saß ich da, meine wenigen Habseligkeiten im Schoß, darunter meine Uniform, die schon bessere Zeiten gesehen hatte. Außerdem eine Kette auf meiner Brust mit einer Glasperle, in der ein Teil meiner Seele steckte, damit ich nicht mehr über Impulssigille angegriffen werden konnte, ein halb angebissenes Brot, das ich mir gut einteilen musste, ein Satz frisch geprägter Münzen sowie Gürtel und Ledermappe für meine Werkstattarbeiten und zuletzt meine abgegriffenen Bücher. Das Wichtigste verbarg ich in einer Manteltasche. Aramil, der Erzmagister der Akademie, hatte es mir geschenkt, und es war für mich in den letzten Monaten wie ein Stern am Nachthimmel gewesen.

Der Grimoire der Dunkelsigille.

Die Zeit verstrich, während der Fremde wie ein stummer Wächter über die schwankende hohe See hinausblickte.

Ich wusste nicht, was er dort sah, aber bis auf dunstige Feuchtigkeit war da einfach nichts. Ein undurchdringliches, graues Nichts, einem Spiegel meiner Stimmung gleich.

Allmählich zeigte sich die gelbe Blase immer deutlicher am Himmel, allerdings hielt sich der Nebel noch tapfer. Ich wurde unruhig und untersuchte meine Münzen, allerdings gemahnte mich Adfords strenger Blick dazu, meine Finger unter Kontrolle zu halten. Die Münzen glühten nicht. In ihnen steckte ebenso wenig Arkan wie in mir selbst, nachdem ich die ganze Nacht damit zugebracht hatte, jeden Tropfen meiner Quelle zu entladen. Die Münzen, die sich nun daran erfreuen durften, befanden sich in der Tasche meines Vormunds. Getreu dem Gesetz der Halbwertszeit würde sich das Arkan zunehmend verflüchtigen, bis auch diese Münzen leer waren. Ungenutzt. Ohne meinen Zugriff. Ein Hohn meiner Fähigkeiten. Welch eine Verschwendung. Doch hatte ich keine andere Wahl, als dem Magister zu gehorchen.

»Magister Adford, sollten wir nicht im Schatten des Nebels …«

Adford gebot mir mit erhobener Hand, zu schweigen.

Der Blick des Fremden peitschte über seine Schulter zu mir. »Halt die Klappe, Junge!«

Der Junge war siebzehn Jahre alt und galt nach Maßstäben der Erdlande längst als erwachsen. Außerdem war er verdammt wütend, da er stets um sein Leben fürchten musste und an jeder Stelle eine Gefahr vermutete. Doch inzwischen hatte dieser Junge verstanden, wann es sich geziemte, besser zu schweigen, um nicht noch mehr Wut auf mich zu lenken. Also begnügte ich mich damit, dem Fremden wortlos alle möglichen Verwünschungen an den Hals zu hetzen.

Man musste es mir verzeihen. Die letzte Zeit war nicht gerade ein Zuckerschlecken gewesen. Ich hatte keine Abfälle essen müssen, aber bei dem, was mir vorgesetzt worden war, hätte wohl nicht nur mein Freund Damsey angewidert das Gesicht verzogen.

Unsicher zupfte ich an meinem Hemd, das viel zu locker auf der Brust lag und an den Armen zu kurz war – ebenso wie meine Hose. Trotz der schlechten Ernährung war ich ein ganzes Stück gewachsen, hatte allerdings beträchtlich an Gewicht verloren.

Um meine Hände zu beruhigen, nahm ich das Astrolabium heraus. Eine goldene Scheibe, die mit winzigen Verzahnungen, Metallelementen, Zeigern und Bögen versehen war. Ich hatte es von Virit erhalten, dem Magister von Kosmologie. Wann immer die Langeweile mich beherrscht hatte, denn ich hatte nun einmal meine Verstecke nicht verlassen dürfen, hatte ich es erforscht und mir vorgestellt, der sternbestäubte Nachthimmel wölbte sich über mir.

Obwohl der Nebel die Sicht erschwerte, drehte ich auf der Rückseite die Alhidade. Dann schob ich die Rete zurecht, bis der Zeiger des Polarsterns über demjenigen in der Almukantarate lag – dafür benötigte es einige Vorstellungskraft, denn ich konnte den Stern nicht sehen. Um die genaue Ortszeit zu bestimmen, stellte ich den Ostensor – ebenfalls ein kleiner Stift – über die Ekliptik auf das aktuelle Datum ein.

Die Zeiger drehten sich und zeigten in verschiedene Richtungen. Ich hielt das Astrolabium höher. Der Kerzenkreis des Limbus zeigte die sechste Kerze an.

Ich lehnte mich zurück und träumte vor mich hin. Die Vorstellung, zu dem Ort zurückzukehren, der mir wie ein Zuhause geworden war, ließ mich aufgeregt zurück, aber füllte zugleich meine Eingeweide mit Eis.

Tatsache war, ich war aufgeregt.

Dafür gab es mehrere Gründe.

Wie würden andere Adepten auf mich reagieren, nachdem sich bestimmt herumgesprochen hatte, was auf der Schweifinsel geschehen war? Die Erinnerungen an den Kampf gegen den Arkanisten waren verhangen, allerdings hatte sich mir ein Bild besonders ins Gedächtnis gebrannt: die Macht, die ich entfesselte, und der Arkanist, der tot zu meinen Füßen lag.

»Mörder …«, murmelte ich.

Fragen entluden sich in meinem Kopf wie ein Sommergewitter. Gestattete Magister Dranus mir wieder Zugriff auf die Werkstatt? Was war mit meinen Freunden? Ich hatte nicht einmal Briefe mit ihnen austauschen dürfen und zuletzt hatte ich sie gesehen, als sie von drei Arkanisten weggebracht worden waren. Konnte ich überhaupt noch studieren, nach allem, was vorgefallen war?

Ich war mir der Gefahr bewusst und was andere von mir hielten, war für mich schon seit meinem ersten Tag an der Akademie unbedeutend. Doch der größte Grund, weshalb ich gespannt auf meine Rückkehr war, betraf das Schriftstück in meiner Tasche. Ein zerknüllter Zettel mit einer wahllosen Anordnung bestimmter Sigille, die für den gewöhnlichen Betrachter kaum von Bedeutung waren.

Mein Schaffensprozess der letzten drei Monate.

Der Fremde nickte Adford zu. Dann hob er langsam die Arme.

Mit einem Ruck setzte sich das Schiff in Bewegung.

Verwundert hielt ich mich am Rand fest. War das Boot etwa mit Sigillen versehen? Götter, war der Mann etwa ein Arkanist?

Die Fragen beantworteten sich von selbst, als der Kutter plötzlich aus dem Wasser abhob und durch die Luft wirbelte. Ein Schrei klebte auf meinen Lippen, den ich vor Begeisterung nicht hervorbrachte.

Wie eine Klinge schnitten wir durch den Nebel, schossen höher hinauf, bis wir daraus hervorbrachen und die Morgensonne uns begrüßte.

Ich hielt mein Gesicht in den Wind, genoss es, wie er mit meinem schulterlangen, schwarzen Haar spielte und mich mit einem kühlenden Kuss bedachte. Jeder Lichtstrahl war die reinste Wonne, nachdem ich drei Monate lang in der Dunkelheit mit nichts als ein paar Kerzen verbracht hatte.

Rasch sah ich zurück. Unter uns erstreckten sich die Erdlande, ein Meer schiefer und krummer Gebäude und verwinkelter Gassen inmitten des Dunstes.

Der Hafen war kaum zu sehen, dafür aber die Prachthäuser, die wie Türme aus dem Teppich zusammenkauernder Häuser hervorstachen. Die Anwesen der Adligen, die in Alt-Aldanum ihre Geschäfte tätigten.

Ich verzog das Gesicht und verdrängte den Groll, der in meiner Kehle aufstieg. Es sollte mir gleich sein, aber die vergangenen Monate hatten meine Meinung zum Hochadel eher gefestigt. Und das hatte einen Plan in mir reifen lassen, der mich das nächste Semester lang begleiten würde.

Ein Plan, um zum mächtigsten Arkanisten aller Zeiten zu werden.

Wir segelten immer höher empor, während die Erdlande unter uns wegsackten. Ich erfreute mich an dem Flug wie ein Vogel, der nach langer Zeit die Flügel ausbreitete. Über uns kamen wir den Wolken näher, einer dunklen Decke, die gelegentlich aufbrach, um einen Lichtschimmer hindurchdringen zu lassen.

Dann tauchten wir ein und alles wurde dunkel, feucht und kalt. Ich mochte diesen Moment, wenn ich aus dem Blick der gesamten Welt verschwand. Hier gab es nur noch mich und das unbändige Gefühl von Freiheit.

Über uns lichtete sich der Nebel. Dann drangen wir hervor und grelles Licht blendete mich. Ich schirmte mein Gesicht ab und blinzelte in die Morgensonne. Allmählich wurde es besser, bis ich die Hand sinken ließ und den Ausblick auf mich wirken ließ.

Wir schwebten Dutzende Schritt jenseits des Wolkenmeeres, das sich endlos weit über den gesamten Horizont erstreckte. Ein tristes, grenzenloses Nichts, schwer wie geschmolzenes Blei.

Das Reich der Himmelsinseln.

Am liebsten hätte ich mich über den Rand des Kutters geschwungen, um losgelöst zu sein von den Fesseln, die mir stets auferlegt wurden. Doch ich war so leer wie der Trinkschlauch eines Säufers. Für diese Erkenntnis brauchte es nicht einmal Adfords mahnenden Blick.

»Caelden, komm her.«

Ich wankte neben den Magister, der seelenruhig eine weit entfernte Insel betrachtete, die sich aus dem Dunst schälte wie ein geheimnisvolles Gemälde, das langsam enthüllt wurde. Graue Wellen lappten in langsamer Dünung an der Küste, deren dunkle, scharf umrissenen Felsen von einigen Landzungen erweitert waren, an denen Schwebeplattformen oder Reittiere andocken konnten. Die Mauern ragten steil empor, eine weiße Klippe fugenlosen Steins, hinter denen schwindelerregende Türme hervorragten, als drängten sie in die Unendlichkeit hinauf. Zwar standen die goldenen Pforten offen, aber ich wusste, dass niemand sie überwinden könnte, sobald sie geschlossen waren. Uralte, riesige Bannsigille waren darin eingelassen, in einem komplizierten Netz angeordnet, das ineinandergriff wie die Zahnräder einer von Hurlens Uhren.

Die Gebäude hinter den Mauern erzählten Geschichten aus vergangenen Zeitaltern – es war wie Geflüster. Ein Bollwerk, das die Jahrhunderte überdauert hatte.

Eine Festung, die keine Macht durchbrechen könnte. Ein Hort des Wissens, in dem Hunderte Arkanisten ausgebildet wurden, um dem Reich zu dienen. Der einzige Lichtblick in meinen Monaten der Einsamkeit.

Die Akademie des Himmels.

Mein Herz schlug schnell und ein Hochgefühl überkam mich. Selbst in meinem dritten Jahr konnte ich mich an dem Anblick kaum sattsehen, der mich erfüllte wie das Meisterwerk einen Künstler.

Adford war in tiefes Schweigen versunken, als wollte er die Geheimnisse der Akademie ergründen. Tatsächlich zeigte sich eine Falte in seinen sonst undurchsichtigen Zügen. Es war eine der Besorgnis.

Gütige Götter, jetzt musste ich mir wirklich Sorgen machen!

»Magister Adford?«, flüsterte ich.

»Mir ist bewusst, wie schwer die vergangenen Monate für dich waren.« Er sprach langsam und mit Bedacht, als wäre jedes Wort von gesonderter Beachtung. »Mir ist ebenso bewusst, dass du dich ungerecht behandelt fühlst.« Er machte eine Pause. »Du verdienst es, ein Leben wie jeder andere junge Mann zu führen. Du verdienst es, unter den gleichen Voraussetzungen wie deine Mitadepten die Arkanistik zu erforschen. Und du verdienst es, Fehler machen zu dürfen, um daraus zu lernen.« Seine Augen durchbohrten mich wie Dolche, die direkt in meine Seele drangen. »Doch du bist nicht wie andere. Du musst härter als andere arbeiten, deine Fehler wiegen schwerer und deine Fähigkeiten sind eine Bedrohung für jene, die Veränderungen fürchten und an Traditionen festhalten.«

Ich hielt seinem Blick stand, obwohl seine Worte die Wunden in meinem Herzen aufrissen. »Ich bin mir der Gefahr bewusst.«

»Diese Gefahr betrifft nicht nur dich, sondern auch jene, die dir wichtig sind.«

Meine Eingeweide verkrampften sich. »Meine Freunde.« Ich ließ den Kopf hängen. In einem langen Atemzug hob ich ihn wieder. »Ich verstehe.«

Keine tröstende Geste, keine warmen Worte der Zuversicht. Der Pfad des Kindes der Prophezeiung war von Einsamkeit und Herausforderungen bestimmt, denn am Ende meiner Geschichte stand nicht weniger auf dem Spiel als das Schicksal der gesamten Welt.

Ein Wunder, dass ich unter der Bürde nicht zusammenbrach.

»Trage deine Herkunft wie einen Schild.« Adford wandte sich der nahenden Himmelsinsel zu, die jetzt deutlich zu sehen war. »Dann wird dich niemand verletzen können.«

Das war mehr, als er mir sonst gegeben hatte, und ein Teil in mir drängte mich dazu, mich bei ihm zu bedanken. Aber mein Stolz überwog. Adfords Ratschläge hatten mir nicht dabei geholfen, den Zwist zwischen Salden und mir zu beenden – eher war es einer der Kiesel gewesen, die eine Lawine ins Rollen gebracht hatten.

Was einen einzigen Schluss zuließ: Adford war ebenso wenig fehlbar wie ich.

Ich griff in meine Tasche, berührte das Papier, das all meine Hoffnungen barg. Seitdem der Fremde, der mich auf der Schweifinsel angegriffen hatte, mich mit einer viel mächtigeren Form als einem gewöhnlichen Bannsigill kontrolliert hatte, konnte ich diesen Moment der Ohnmacht nicht vergessen. Ich musste verstehen, wie es ihm gelungen war.

Mein unersättlicher Hunger nach Wissen.

»Der Fremde …« Ich nickte mit dem Kinn zu dem verhüllten Mann am Bug. »Er ist ein Arkanist.«

»Stelle deine Frage.«

»Arkanisten sind Adlige und tragen eine große Bürde. Wieso geht er das Risiko ein, mich in die Himmelsakademie zu schmuggeln und damit zum Ziel des Hochadels zu werden?«

Adfords wächserne Züge blieben gelassen. »Analysiere die Situation. Wäge ab und triff eine klare Aussage.«

Ich senkte meine Stimme. »Gold.«

Er nickte einmal.

»Sollten Arkanisten nicht als göttliche Streiter über weltlichen Dingen stehen und sich dem Dienst des Weltenrunds verschreiben?«

»Ist das denn der Fall?«

Ich seufzte. »Nein.« Tatsächlich kannte ich kaum einen Arkanisten wie meinen Ziehvater Domin, Aramil oder Adford, die das Abbild eines wahren Arkanisten verkörperten. Und das warf ein ganz neues Bild darauf, welchen Regeln und Gesetzen die Welt unterstand.

»Wir sind bald da.« Adford wies auf die Rückbank. »Ziehe die Kapuze über und halte dich an die Anweisungen. Bist du dazu in der Lage, deinen Stolz zu unterdrücken?«

Was für eine Frage. Natürlich nicht. Aber ich schuldete es den Magistern, die mich die gesamten Ferien über beschützt hatten, und kam deshalb widerstandslos seiner Anweisung nach.

Ja, ich war lernfähig.

Wir kamen der Akademie näher. Da die Schwebeplattformen mit den Adepten erst zur achten Kerze erwartet wurden, war es ungewohnt, die Stege und den Platz vor den Toren verlassen vorzufinden. Sonst herrschte dort großer Trubel; das Geschnatter und Geplapper der Neuankömmlinge drang einem bereits von Weitem entgegen. Jetzt herrschte Stille.

Vorsichtig nahm ich den Zettel heraus – das Papier, das mich Monate der Vorbereitung gekostet hatte. Links war ein Egelsigill aufgeführt. Ein Dunkelsigill, das einem Widersacher Arkan raubte. Eine linksherum angeordnete Spirale, auf der sich zahllose Symbole der vier Elemente befanden, die stetig kleiner wurde, je näher sie dem Zentrum kamen. Im Zentrum jedoch befand sich ein einziges, winziges Wassersigill – drei Wellen.

Aramil hatte es mich vergangenes Semester gelehrt, bevor wir einen abtrünnigen Arkanisten davon abgehalten hatten, eine Gruppe Kinder mit instabilem Arkan für seine Zwecke zu missbrauchen. Das war meine erste Begegnung mit einem leibhaftigen Gott gewesen.

Weiße Flamme.

Der Feuerschmied.

Gleich neben der Darstellung befand sich mein ausgearbeitetes Sigill, eine umgekehrte Darstellung des Egelsigills. Die Spirale wuchs ausgehend vom Zentrum rechts herum. Den Berechnungen zufolge, die ich anhand von Aramils Buch durchgeführt hatte, sollte es mir Kontrolle über das Arkan eines anderen verleihen – gesetzt den Fall, dass ich mich nicht verrechnet hatte. Und diese Wahrscheinlichkeit war leider sehr hoch. Arithmetik zählte nicht gerade zu meinen Stärken.

Da ich nicht wahllos Sigille erschaffen und ausprobieren konnte, musste ich zuerst die Auswirkungen kennen und diese in meinen Gedanken Gestalt werden lassen. Außerdem war die Art und Weise, wie es geladen wurde, in welcher Konstellation es stand, wie schnell es entfesselt und welcher Richtung es zugeordnet war, von entscheidender Bedeutung. Die Möglichkeit, unwissentlich und allein aus einer Vorstellung heraus ein Sigill zu erschaffen, war deshalb so eingeschränkt, dass niemand den Versuch wagte. Denn man könnte nicht nur sich selbst, sondern auch viele andere Menschen in Gefahr bringen.

Sofern man sich an bestehende Grenzen hielt.

Ich steckte den Zettel zurück und lächelte grimmig. Dieses Semester wollte ich herausfinden, ob mein Kontrollsigill dazu fähig war, seine Wirkung zu entfalten. Außerdem existierte eine ganz bestimmte Tür in den Archiven der Akademie, in denen ich als Gehilfe des Archivars mein Studium durch das Katalogisieren alter Schriften verdienen sollte. Jorvak machte bestimmt Luftsprünge, wenn ich wieder vor ihm stand, um ihn zu unterstützen.

 

Es war die siebte Kerze, als wir an einem Steinsteg anlegten, der weit in den Himmel hinausragte – wie ich mich anhand meines Astrolabiums versicherte.

Als Adford und ich hinausgeklettert waren, verschwand der Fremde ohne ein Wort des Abschieds und sauste mit seinem Kutter auf die Erdlande zu. Erst jetzt entdeckte ich ein kompliziertes Sigillnetz unterhalb des bewachsenen Rumpfes. Die perfekte Tarnung. Ein Himmelsschiff.

Der Gedanke entlockte mir ein Grinsen.

Adford wartete nicht auf mich und marschierte los. Ich eilte ihm hinterher, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und meine Habseligkeiten an meine Brust gedrückt.

Während wir auf die hohen Pforten zuhielten, kam mir das alles seltsam falsch vor – falsch in einer Weise, die ich nicht beschreiben konnte. Wie ein Feigling, der sich nicht traute, der zu sein, der er war. Ein Heranwachsender, der sich vor der Gefahr versteckte, anstatt ihr offen gegenüberzutreten.

Ich ging aufrechter, beschwingter, ausgreifender.

Die Sigille in den goldenen Pforten glühten. Rumpelnd und polternd schwangen die Flügel auf und enthüllten einen Blick in eine Welt, die alles darstellte, was ich jemals erlangen wollte. Ein Hort des Wissens, den die Akademie hütete wie eine Greifenmutter ihre Küken.

Wir waren die Einzigen, die sich der Akademie näherten, dennoch verspürte ich auf einmal einen Trotz, den ich nicht länger unterdrücken konnte.

Ich hatte einen ausgebildeten Arkanisten bezwungen und Göttern die Stirn geboten, und jetzt stahl ich mich heimlich an den Ort, an den ich rechtmäßig gehörte?

Mein Atem fuhr rasselnd durch meine raue Kehle, ich schwitzte wie verrückt, mein Herz trommelte im Marschbefehl und ich ballte die Fäuste schmerzhaft fest. Die Unzufriedenheit weckte den schlummernden Drachen in mir, der sich reckte und witternd die Schnauze hob.

Ohne nachzudenken, warf ich die Kapuze zurück und schritt aufrecht neben Adford her. Er sagte nichts, aber der stumme Vorwurf in seinen Augen brannte sich in mich hinein.

»Nein.« Ich ging schneller. »Ich werde nicht nachgeben. Sie wollen mich kleinhalten? Mir drohen? Mich verängstigen? Sie sollten es sein, die sich fürchten!«

»Stolz ist das Laster des weisen Mannes«, erwiderte Adford leise.

»Ich bin kein weiser Mann. Sondern ein Junge, der seinen Wissensdurst stillen will.«

»Ja, das bist du.« Er nickte langsam und sein unergründlicher Blick verunsicherte mich. »Das bist du in der Tat.«

Ich passierte das Tor und gelangte an den Ort, der mir helfen würde, alle Grenzen zu überwinden. Zum ersten Mal seit vielen Monaten konnte ich wieder richtig aufatmen. Und lächeln. Ich war in die Himmelsakademie zurückgekehrt.

In mein Zuhause.

Kapitel 4 - Rückkehr

 

Bei meiner Rückkehr in die Akademie hatte ich mit vielem gerechnet. Stattdessen erwies sich mein erster Tag als erstaunlich unspektakulär.

Ich bezahlte meine Studiengebühren beim Archivar, einem kauzigen, alten Mann mit buschigen Brauen und einem zerfurchten Gesicht, das von immerwährender schlechter Laune sprach. Jorvak war so freundlich, mich darauf hinzuweisen, dass er mich am Abend in den Archiven erwartete, um die Inventur bestehender Bücher fortzusetzen – und zwar so lange, bis er mit meiner Arbeit zufrieden war. Das wiederum versprach einen beschwerlichen Tag.

Anschließend begab ich mich zum Adeptenwohnheim, das sich an der Westseite der Himmelsinsel befand. Das Gebäude zählte zu den neueren, auch wenn der schlichte, graue Klotz keineswegs einen willkommenen Eindruck erweckte. Als ich den Schlüssel im Schloss zu meinem Zimmer drehte und die Tür langsam öffnete, schlug mir ein Schwall abgestandener, leicht muffiger Luft entgegen.

Es war wie ein Nachhausekommen.

Mich erwartete ein fensterloses Zimmer mit einem Bett, einem Nachtschränkchen, auf dem eine Waschschüssel und eine Sigillkerze standen, und einer Ablage für meine Sachen. Klein. Geräumig. Übersichtlich. Es passte zu mir wie zwei eingelaufene Schuhe. Offenbar konnte die ganze Welt untergehen, mein Heiligtum blieb stets dasselbe.

Ich warf meine wenigen Habseligkeiten auf das Schränkchen, legte mich ausgestreckt auf das Bett – die Hände hinter dem Kopf verschränkt – und starrte zur schmucklosen Decke, die schon seit meinem ersten Aufenthalt einen großen Fleck zierte. Vermutlich hatte der Adept in dem Zimmer über mir irgendwann einmal eine Schüssel ausgekippt und so hatte sich über die Jahre die Feuchtigkeit durch die Decke gegraben. Aber selbst der Fleck blieb so unveränderlich wie der Rest meines Zimmers.

Die Aufregung trieb mich schließlich wieder hinaus aus meinem Refugium. Da sich die ersten Adepten zur Begrüßung vor den Toren trafen, um sich über ihre Erlebnisse während der Semesterferien auszutauschen, waren kaum welche auf dem Innenhof unterwegs – und die, die sich dort umhertrieben, waren ohnehin mit ihren eigenen Sachen beschäftigt.

Daher eilte ich zum Brett im Hauptgebäude, einem großen, rechteckigen, weißen Bau, dessen Flügel über die Jahre in die Breite gewuchert waren.

Ich dachte überhaupt nicht daran, den Kopf einzuziehen, als ich an einer Gruppe Adepten vorbeimarschierte, die mir verunsicherte Blicke zuwarfen. Damit bestätigte sich meine Vermutung, erneut zum Gegenstand der allgemeinen Gerüchteküche zu werden.

Wie hätte es auch anders sein können?

Nicht zum ersten Mal spielte ich mit dem Gedanken, den Schweifinseln einen Besuch abzustatten, um mir anzusehen, was mein Kampf gegen den Arkanisten angerichtet hatte. Allerdings endete dort die Zuständigkeit der Akademie und über mir schwebte nicht länger die schützende Hand der Magister. Stattdessen hing dort eine Klinge, die direkt auf meinen Hals zielte.

Der Blitz, den ich mit einer Synergie kombiniert hatte. Mein Feind. Seine Leiche. Der Wirbel in seinen Augen, bevor das Leben aus ihm gewichen war …

Mein Unterbewusstsein schreckte sofort davor zurück. Die Erinnerungen waren wie hinter einem Vorhang verborgen und ich traute mich nicht, einen Blick dahinter zu werfen. Dort lauerte etwas, das ich nicht wecken wollte.

Ich wandte mich dem großen Brett zu, auf dem die Kurse ausgehängt waren. Dank einiger Tintsigille konnte ich mit einer Berührung auf den entsprechend betitelten Kurs einen genaueren Blick darauf werfen. Die Tinte zerfloss und formte das Bild eines Magisters, der vor seinem Hörsaal einen Vortrag hielt. Es war lediglich ein Ausschnitt, wie eine festgehaltene Erinnerung in dem Sigill. Ich war schon immer davon begeistert gewesen und sah eine Weile Adford dabei zu, wie er über Recht und Ordnung im aldanumischen Reich berichtete, als wäre ich tatsächlich dort.

Knochentrockener Stoff.

»Auch das noch.« Ich ließ die Kombination aus Tint- und Erinnerungssigill los. Unwillkürlich huschte mein Blick ganz nach links, wo die Seminare der Erstsemester eingetragen waren. Grundlagen der Sigille. Kampfkünste. Schwebetechnik.

Ich schmunzelte. Es kam mir wie ein anderes Leben vor, als ich zum ersten Mal dort gestanden hatte, nichts ahnend, welche Prüfungen mir noch bevorstanden. Seitdem war viel geschehen.

Für mein vorletztes Semester musste ich wie zuvor vier Pflichtfächer in meine Liste eintragen, darunter Kampfkünste III und Höhere Bindungen II bei Feldrid.

Mein Blick wanderte hinab. Das dritte Pflichtfach war Recht und Gesetz bei Adford – jener Kurs, den ich mir eben angesehen hatte. Und zuletzt Angewandte Arkanistik bei Magister Rowen. Bislang hatte ich ihn nicht kennengelernt, obwohl ich mehr als einmal dem Magisterrat vorgeführt worden war.

Ich trug mich in die Listen ein und überblickte die Wahlfächer, von denen es eine rege Auswahl gab – weitaus mehr als in den letzten Semestern. Kosmologie II bei Virit.

Nein, das Fach war mir zu abstrakt, auch wenn es eine nette Abwechslung gewesen war. Werkstoffkunde bei Dranus. Gern, aber ich bezweifelte, dass er mich unterwies, nachdem ich seinen Glauben mit einer winzigen, selbst erschaffenen Himmelsinsel erschüttert hatte. Dennoch trug ich mich ein und hoffte auf das Beste.

Arithmetik II, Geschichte der Arkanistik II, noch einmal Verteidigung gegen Fabelwesen, Anatomie der Welt – was auch immer das sein sollte –, Mythen und Legenden der Fabelwelt, Schwebetechniken II bei Legra und viele, viele mehr, die mir nichts sagten. Nichts davon sprach mich an, weshalb ich mich bei Alchemie eintrug, einem Kurs, der von Magisterin Samar unterrichtet wurde. Von ihr hatte ich bereits Gerüchte vernommen, da sie eine der wenigen Magister war, die nicht zum Rat gehörten. Außerdem interessierte mich Heilsigille bei Magisterin Sanis. Der Grund dafür erwies sich rein praktischer Natur.

Instinktiv betastete ich die Brandwunden auf meinem Arm. Es gab einiges, was ich überprüfen musste, und Heilsigille sollten mir dabei helfen, mich auf den Ernstfall vorzubereiten.

Zum Bestehen des dritten Semesters genügte ein Wahlfach. Da ich ein wissbegieriger Mensch war, der nichts verpassen wollte, gedachte ich zumindest in die ansprechenden Kurse einmal reinzuschnuppern. Außerdem standen mir noch die Lektionen bei Aramil bevor, der mich mit meiner Pflicht als angehender Hüter des Sanktuars vertrautmachen wollte. Immerhin war ich das Kind der Prophezeiung und so weiter.

»Transmutation?« Ein Klicken ertönte, als ein silberner Stab neben mir auftraf. »Ich dachte, du hättest einen besseren Geschmack, mein guter Freund.« Ein wahrer Aristokrat in grünem Samt und schwarzem, verbrämtem Brokat stand dort, das schmale Gesicht so hochnäsig, als hätte ich ihm vor die Füße gekackt, und das goldene Haar streng nach hinten gekämmt. Seine Pose glich einem Mann, der sich für einen Kostümball hergerichtet hatte und Beifall dafür erwartete.

Ich schüttelte seine Hand. »Freut mich auch, dich zu sehen, Damsey.«