Der Ausflug - Nur einer kehrt zurück - Ulf Kvensler - E-Book

Der Ausflug - Nur einer kehrt zurück E-Book

Ulf Kvensler

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Beschreibung

Vier Freunde. Eine Wanderung. Und die tödliche Weite Nordschwedens.

Jeden Sommer fahren die Anwältin Anna, ihr Verlobter Henrik und ihre beste Freundin Milena in den Norden Schwedens, um beim Wandern in der wilden Natur den Stockholmer Alltag zu vergessen. Doch dieses Jahr hat sich Milena neuer Freund, Jakob, der Gruppe angeschlossen. Er schlägt vor, von der ursprünglichen Route abzuweichen und stattdessen in den wilden, einsamen Nationalpark Sarek zu wandern. Schon bald wird klar, dass die Tour alles andere wird als ein gemütlicher Ausflug unter Freunden. Jakob stiftet die Gruppe zu immer weiteren, gefährlicheren Herausforderungen an. Auch die Dynamik zwischen ihnen ändert sich – lang unterdrückte Vorwürfe und Geheimnisse kommen ans Licht, die Nerven liegen blank. Bald geht es nur noch um eines: Wer wird nach Hause zurückkehren?

Der Nr.-1-Bestseller aus Schweden: Atemberaubende Spannung vor der beeindruckenden Kulisse von Europas letzter unberührter Wildnis. Ausgezeichnet mit dem Swedish Crime Writers Award.

Lieferbarkeit in zwei Versionen (mit und ohne Farbschnitt). Es wird je nach Verfügbarkeit geliefert.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 500

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Ulf Kvensler, 1968 geboren, hat eine lange und erfolgreiche Karriere als Drehbuchautor, Regisseur und Showrunner hinter sich. Er begann als Komiker, hat aber in den letzten Jahren Dramen, Horror und Thriller geschrieben. Ulf Kvensler ist sowohl Schöpfer als auch Hauptautor zahlreicher Erfolgsserien. Mit seinem Debüt Der Ausflug schaffte er es in Schweden auf Anhieb an die Spitze der Bestsellerliste.

Ulf Kvensler

Der Ausflug

Nur einer kehrt zurück

Thriller

Aus dem Schwedischen von Sabine Thiele

Die Originalausgabe erschien 2022

unter dem Titel SAREK

bei Albert Bonniers Förlag, Stockholm.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2022 der Originalausgabe by Ulf Kvensler

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Hanne Hammer

Covergestaltung: www.buerosued.de

Coverabbildung: www.buerosued.de unter Verwendung eines Motivs von © mauritius images / Jean Schwarz

Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-31044-8V002

www.penguin-verlag.de

Für Adam und Olivia

Funkverkehr zwischen dem Ambulanzhelikopter und dem Krankenhaus Gällivare, 15. September 2019, 14:16 Uhr

»Wir haben gerade eine Frau an der Fjällstation Aktse abgeholt.«

»Ja?«

»Sie ist unterkühlt und in ziemlich schlechter Verfassung. Gerade so ansprechbar.«

»Verstanden.«

»Sie hat keine Ausweispapiere bei sich, sagt aber, sie hieße Anna.«

»Verstanden.«

»Prellungen und Schnittwunden am ganzen Körper. Der rechte Arm ist gebrochen. Wir geben ihr ein paar Liter Kristalloide.«

»Ist sie abgestürzt?«

»Das war zumindest unser erster Gedanke.«

»Verstanden.«

»Aber sie hat auch Male am Hals. Als sei sie stranguliert worden.«

»Verstanden.«

»Es ist schwer zu sagen.«

»Wir machen uns bereit.«

»Danke. Over and out.«

STOCKHOLM, JULI 2019

Ich liebe Stockholm im Juli. Die Leute fliehen nach Gotland, Båstad und an die Riviera, die Stadt versinkt im Sommerschlaf, und man hat sie endlich ein wenig für sich.

Den ganzen Tag war es glühend heiß gewesen. Auch als die Sonne nicht mehr auf die Straßen zwischen den Häuserreihen brannte, wurde es nur unwesentlich kühler. Seit sieben Uhr morgens war ich im Büro in der Innenstadt gewesen und ging jetzt zu Fuß nach Hause, um ein bisschen frische Luft zu schnappen. Mit jedem Häuserblock waren weniger Touristen unterwegs. Die Straßen im Stadtteil Vasastan waren nahezu verlassen. In wenigen Stunden, bei Einbruch der Dämmerung, würden die Vergnügungssüchtigen betrunken und laut Richtung Odenplan ausschwärmen. Aber da würde ich schon längst im Bett liegen.

Ich blieb stehen und legte die Handflächen an eine ockerfarbene Hauswand. Warm wie eine Heizung.

Ich war hungrig und rief Henrik an, um ihn zu fragen, ob er auch etwas zu essen wollte. Das wollte er, weshalb ich im Sushi-Imbiss in unserem Viertel eine Pokébowl mit Lachs für ihn und eine Sushibox mit elf Stück für mich bestellte. Als ich das Essen abholte, nickte mir der Mann hinter dem Tresen fröhlich zu, und das sollte er auch, da wir mindestens zweimal die Woche dort etwas kauften.

Ich ging weiter zu unserem Haus und nahm den kleinen Aufzug in den fünften Stock.

»Hallo?«, rief ich, nachdem ich die Tür geöffnet hatte.

»Hallo«, antwortete Henrik aus dem Wohnzimmer, in dem der Fernseher lief.

Ich ging in die Küche, sah die Stapel mit schmutzigem Geschirr in der Spüle stehen und den nicht abgeräumten Küchentisch. Die benutzte Kaffeetasse, die noch an Henriks Platz stand, das Stück Küchenpapier, die Brotkrümel.

Und wäre beinahe in Tränen ausgebrochen.

Es war Samstag, und ich hatte zwölf Stunden gearbeitet, wie fast jeden Tag in diesem Sommer. Ich hatte Henrik angerufen und gefragt, was er zum Essen haben wollte, ich hatte das Essen bestellt und abgeholt, und er hatte sich nicht einmal vom Sofa aufraffen und die Küche aufräumen können. Geschweige denn, Gläser und Getränke aus dem Kühlschrank holen.

Er hatte Urlaub und verbrachte die Tage in der Wohnung.

Diese verdammte, riesige Küche mit einem Esstisch für zehn Personen. Was sollen wir überhaupt damit? Einfach lächerlich.

Der Fernseher wurde ausgeschaltet, und kurz darauf erschien Henrik lustlos in der Küche.

»Hör mal, jetzt reicht es mir …«, sagte ich, und meine Stimme zitterte vor Wut. »Ich habe mich ums Essen gekümmert, kannst du da nicht wenigstens die Küche aufräumen? Deine Sachen abspülen? Soll ich das auch noch machen?«

Henrik stellte nur schweigend seine Kaffeetasse in die Spüle, warf das Küchenpapier weg und wischte mit einem Lappen den Tisch ab. Seiner Körpersprache nach zu urteilen, war die Anstrengung beinahe übermenschlich.

Seufzend holte ich eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank und schenkte mir ein großes Glas ein.

»Ich glaube, wir müssen den Trip ins Fjäll verschieben.«

Henrik blickte schweigend auf und wischte dann weiter den Küchentisch ab.

»Ich kann jetzt nicht einfach eine Woche weg«, fuhr ich fort.

»Aha.«

»Dafür kann ich Anfang September Urlaub nehmen.«

»Wir müssen fragen, ob Milena das auch passt.«

»Ja, das ist mir schon klar. Ich rufe sie an.«

Ich war zu wütend und aufgewühlt, um mit ihm an einem Tisch zu sitzen und zu essen, weshalb ich mich stattdessen lange unter die Dusche stellte. Die heißen Strahlen wuschen einen Teil meiner Frustration ab. Schon bald bereute ich, dass ich Henrik so angefahren hatte. Ich war müde und hatte überreagiert.

Später am Abend versöhnten wir uns. Henrik lächelte schwach, als ich mich entschuldigte und ihn umarmte. Aneinandergekuschelt saßen wir mit einem Glas Wein auf dem Sofa und schauten eine Serie auf HBO weiter. Bei der Hälfte der Folge schlief ich ein. Wachte beim Abspann wieder auf, gab Henrik einen Kuss und ging ins Bett. Er blieb auf dem Sofa sitzen und starrte lethargisch auf den Fernseher.

Wie konnte es nur so weit kommen? Weiß ich überhaupt noch, wer Henrik ist?

Aus der Zeugenbefragung von Anna Samuelsson, Personennummer 880 216 – 3382, 16. September 2019, Krankenhaus Gällivare, durchgeführt von Kriminalinspektor Anders Suhonen.

»Okay … Jetzt habe ich auf Aufnahme gedrückt. Hallo, Anna, ich heiße Anders Suhonen.«

»Hallo.«

»Ich freue mich sehr, dass Sie mit mir sprechen möchten. Mir ist klar, dass Sie müde sind und Schmerzen haben, aber es ist gut, wenn wir das so bald wie möglich erledigen.«

»Ja.«

»Wenn es Sie zu sehr anstrengt oder die Schmerzen stärker werden, machen wir eine Pause oder morgen weiter. Einverstanden?«

»Ja.«

»Sie versprechen, mir Bescheid zu sagen?«

»Ja.«

»Jetzt haben Sie keine Schmerzen?«

»Es ist auszuhalten.«

»Gut. Ich fange mit ein paar allgemeinen Fragen an, damit wir die erledigt haben. Wie heißen Sie?«

»Anna Signe Samuelsson.«

»Personennummer?«

»880216 – 3382.«

»Wohnort?«

»Stockholm.«

»Was sind Sie von Beruf?«

»Juristin.«

»Familienstand?«

Schweigen.

»Anna? Sind Sie verheiratet oder ledig oder …?«

»Verlobt.«

»Mit wem?«

»Henrik Ljungman.«

»War er auf dieser Reise dabei?«

Schweigen.

»War Henrik mit Ihnen im Nationalpark Sarek?«

»Ja.«

»Henrik Ljungman, richtig? Wissen Sie seine Personennummer?«

»820302 – 7141.«

»Gut. Dann hätten wir …«

»Haben Sie Milena gefunden?«

»Wen? Milena?«

»Tankovic. Sie liegt … Wann … Was ist heute für ein Tag?«

»Montag, der 16. September.«

Schweigen.

»Milena Tankovic? Hat sie gelebt, als Sie getrennt wurden?«

Schweigen. Schluchzen.

»Anna? Wissen Sie, ob Milena gelebt hat, als Sie getrennt wurden?«

Schluchzen.

»Nein … Aber Sie müssen sie finden.«

»Sie war nicht mehr am Leben?«

»Nein …«

Schluchzen.

»Milena Tankovic, haben Sie gesagt?«

»Ja.«

»War sie von Anfang an bei der Wanderung dabei?«

»Ja.«

»Wissen Sie ihre Personennummer?«

»Nein.«

»Wo wurden Sie getrennt?«

Schweigen. Schluchzen.

»Ich kann nicht …«

»Sie wurden bei der Fjällstation Aktse gefunden. Allein. Wissen Sie, wie lange Sie allein gelaufen sind?«

Schweigen. Schluchzen.

»Oder glauben Sie, dass wir Milena auch in der Nähe von Aktse finden?«

»Ich weiß es nicht …«

»Okay, ich hole mal eine Karte. Vielleicht können Sie mir ja einen Hinweis geben, wo wir Milena finden könnten. Und Henrik. In Ordnung?«

Schweigen.

»Aber Sie waren zu dritt, richtig? Sie, Henrik und Milena?«

Unhörbar.

»Was haben Sie gesagt?«

»Wir waren zu viert.«

Kapitel 1

Ich weiß noch genau, wann und wo ich zum ersten Mal von ihm gehört habe.

Es war Freitag, der 30. August, und Milena und ich hatten bei Miss Clara auf dem Sveavägen zu Mittag gegessen. Das Wetter war sonnig und warm, die Luft allerdings schon etwas kühler, das Licht etwas weißer, der Herbst stand vor der Tür. Wir hatten uns um zwölf beim Outdoorladen Naturkompaniet getroffen, um unsere Ausrüstung auf den neuesten Stand zu bringen. Frisches Gas für den Kocher, neue dünne Wollstrümpfe, Mückenschutzmittel und gefriergetrocknete Trekkingmahlzeiten.

Für Viertel vor eins hatte ich einen Tisch reserviert, und um halb zwei hatten wir gegessen und tranken unseren Espresso. Die Rechnung war bezahlt, und eigentlich hätte ich schon wieder zurück ins Büro eilen müssen, ein langes Mittagessen wie das hier bedeutete eine Abendschicht, auch an einem Freitag. Doch Milena und ich hatten uns eine Weile nicht gesehen, und sie hatte zugestimmt, unseren geplanten Trip kurzfristig auf den September zu verschieben. Ich wollte nicht allzu gestresst wirken.

Sie nippte an ihrem Espresso und nahm Anlauf. »Also … Ich wollte dich was fragen.«

»Okay?«

Ich sah ihr an, dass sie nervös war. Milena wurde leicht rot, und jetzt kroch die Röte ihre blassen Wangen empor. Sie hatte eine neue Frisur: Die dunkelblonden Haare waren immer noch schulterlang, doch sie hatte den Pony wachsen lassen, der jetzt in weichen Strähnen ihr Gesicht umrahmte. Damit sah sie weiblicher aus. Aber immer noch genauso lieb. Wie so oft in unserer langjährigen Freundschaft hätte ich sie am liebsten umarmt.

»Also …« Sie lächelte, fast widerwillig. »Ich habe jemanden kennengelernt.«

»Wirklich? Wie schön!«

»Ja, es ist … schön.« Wieder lächelte sie und atmete tief durch.

»Wie heißt er?«

»Jacob. Jacob mit c. Ein Onlinedate.«

»Super. Freut mich total, Milena!« Ich drückte rasch ihre Hand. »Wie lange seid ihr jetzt schon zusammen?«

»Gut einen Monat. Es ist also noch ganz frisch.«

»Erzähl, wie ist er so? Was macht er?«

»Er ist zumindest schon mal kein Jurist, das ist schön.«

»Klingt nach einem guten Fang.«

»Er ist ein bisschen älter als ich.«

»Was heißt das?«

»Achtunddreißig.«

»Also fast gleichaltrig«, meinte ich. Was natürlich nicht stimmte, Milena war zweiunddreißig, ein Jahr älter als ich. Aber manche meiner Kolleginnen, die nur wenig älter als ich waren, hatten schon Panik oder wussten, dass sie die in ein paar Jahren bekommen würden, oder sie waren mit Männern in den Fünfzigern zusammen, die frisch geschieden waren und halb erwachsene Kinder hatten. Ein verlässliches Rezept für ein kompliziertes Leben. Jacob war also genauso alt wie Henrik.

»Er macht viel Extremsport, Klettern, Kitesurfen«, fuhr Milena fort. »Da habt ihr einiges gemeinsam.«

Ich überlegte, ob ich ihm vielleicht schon einmal begegnet war.

»Wie heißt Jacob weiter?«

»Tessin.«

»Jacob Tessin …«

»Er war auch schon oft im Fjäll unterwegs, ist gewandert, geklettert. Und als ich ihm erzählt habe, dass wir nach Abisko fahren wollen, da … hat er gefragt, ob er mitkommen kann.«

Die Frage überrumpelte mich, und ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.

»Aha«, sagte ich schließlich.

»Ich weiß, dass das sehr kurzfristig ist«, sagte Milena. »Ich verstehe völlig, wenn ihr nicht einverstanden seid.«

»Doch, also … Es geht eher darum, dass man beim Wandern kaum Privatsphäre hat, und wir kennen ihn ja gar nicht.«

»Nein, nein, ich verstehe das.«

»Willst du denn, dass er mitkommt?«

»Ja, schon. Er ist schließlich mein Freund.« Milena lächelte, und ich lächelte zurück.

»Ich muss erst noch Henrik fragen«, sagte ich.

»Natürlich.«

»Es ist nur noch eine gute Woche bis zur Abfahrt. Kann er sich uns einfach so anschließen? Muss er keinen Urlaub nehmen?«

»Nein, er sagt, dass das kein Problem ist.«

»Was macht er?«

»Er ist Berater. BCG heißt die Firma.«

»Ja, die kenne ich. Also, jetzt bin ich doch ganz schön neugierig. Hast du ein Bild von ihm?«

»Nein«, antwortete Milena, holte aber trotzdem das Handy aus der Tasche. »Das ist komisch, aber ich habe wirklich keins.« Sie tippte auf ihrem Handy herum, als hätte sie doch ein Bild von Jacob darauf, das sie lediglich vergessen hatte.

»Schon gut, ich dachte nur, dass ich ihn vielleicht mal getroffen habe, wenn er auch klettert.«

»Mm, nein, leider habe ich kein Foto …«

Wir schwiegen. Ich lächelte wieder.

»Ich spreche mit Henrik, dann reden wir noch mal, ja?«, sagte ich. »Auf jeden Fall freut es mich sehr, dass du jemanden kennengelernt hast, Milena, wirklich.«

»Danke.«

»Und natürlich will ich ihn unbedingt treffen. Wir … müssen nur noch mal darüber nachdenken.«

»Klar, das verstehe ich doch. Und wenn das für euch nicht okay ist, dann sagt es bitte. Überhaupt kein Problem.«

»Okay.«

Wir verließen das Restaurant und verabschiedeten uns auf dem Gehsteig mit einer Umarmung und dem Versprechen, am Wochenende zu telefonieren.

Auf dem Weg zurück zur Arbeit wurde die Neugier zu groß. Ich rief die Website von BCG auf und suchte nach »Jacob Tessin«. BCG, Boston Consulting Group, war eine der weltgrößten und prestigeträchtigsten Beratungsfirmen. Nach dem Skandal um das Nya-Karolinska-Projekt, bei dem BCG bei der Planung des neuen Universitätskrankenhauses ungeheure Summen an Beraterkosten in Rechnung gestellt hatte, mit etwas angekratztem Ruf in Schweden, aber trotzdem. Dort arbeiten wollten viele, genommen wurden nur wenige. Die Angestellten arbeiteten und verdienten ungefähr so viel wie wir Firmenjuristen. Achtzig-Stunden-Wochen waren keine Seltenheit. Ein Jahresgehalt wie das eines CEO eines börsennotierten Unternehmens auch nicht.

Aber ich fand keinen Jacob Tessin. Auch keinen Jakob Tessin oder noch anders geschrieben. Ich wunderte mich nicht sehr, denn viele Websites hatten keine gute Suchfunktion, auch wenn man bei so einem Unternehmen wie der BCG eigentlich von einer sauber programmierten Website ausgehen sollte. Vielleicht arbeitete Jacob nicht in der Stockholmer Niederlassung. Berater auf diesem Level wurden oft für Projekte in andere Länder geschickt.

Auf Facebook fand ich ihn dann.

Jacob Tessin. Er war groß und schlank, athletisch und durchtrainiert wie andere Kletterer und Ausdauersportler, die ich kannte. Seine Muskeln verdankte er dem Sport, nicht dem Fitnessstudio. Er hatte kurz geschnittene braune Haare und war braun gebrannt und sah aus wie einer der Glücklichen, die nie einen Sonnenbrand bekamen.

Fast alle Bilder zeigten ihn beim Sport: in den Bergen, beim Rafting, mit Kitesurfing-Ausrüstung am Strand. Drei Männer nebeneinander im Wald, Arm in Arm, in Mountainbike-Kleidung. Jacob stand in der Mitte, alle drei waren schlammbespritzt und glücklich wie kleine Jungen.

Nur seine Augen konnte ich nicht sehen. Auf allen Fotos trug er eine eng anliegende Sportsonnenbrille, die die Welt in allen Regenbogenfarben spiegelte.

Doch dann fand ich noch ein paar Bilder, die sich von den anderen unterschieden: Jacob und zwei Freunde im Urlaub irgendwo am Mittelmeer. Spanien vielleicht oder Portugal. Surfbilder, Strandbilder, aber auch von einer pittoresken Altstadt mit schmalen Gassen und Touristenläden. Außerdem Bilder von einem Abendessen in einer Taverne. Jacob und seine Freunde saßen im Freien, im Hintergrund verlief eine belebte Straße, die ins warme Licht der anderen Restaurantaußenbereiche getaucht war. Fast spürte ich die warme Abendbrise auf der Haut, den leichten Schwips nach ein paar Gläsern Wein, die Lebensfreude. Ich sehnte mich nach diesem Ort.

Und Jacob hatte die Sonnenbrille auf die Stirn geschoben. Er lächelte in die Kamera. Seine braunen Augen glänzten.

Aus der Zeugenbefragung von Anna Samuelsson, Personennummer 880 216 – 3382, 16. September 2019, Krankenhaus Gällivare, durchgeführt von Kriminalinspektor Anders Suhonen.

»Können Sie mir auf der Karte zeigen, wo ungefähr wir nach Henrik und Milena suchen sollen? Und nach Jacob.«

»Ich weiß es nicht …«

»Versuchen wir es, Anna. Es muss nicht die exakte Stelle sein. Der Sarek ist groß, da hilft es schon, wenn wir das Suchgebiet eingrenzen können. Hier haben wir Sie gefunden.«

Schweigen.

»Und ich vermute, dass Sie aus dem Nationalpark gekommen sind? Sie sind also nach Osten gegangen, so in etwa?«

»Mhm.«

»Sind Sie am Fluss entlanggegangen? Wissen Sie das noch? War der Fluss rechts von Ihnen?«

Schweigen.

»Ich glaube schon.«

»Und da waren Sie allein? Oder war jemand von den anderen bei Ihnen?«

»Milena … Eine Weile war sie bei mir.«

»Sie und Milena sind also eine Weile zusammen gegangen?«

»Ja.«

»Woher kamen Sie, wissen Sie das noch? Sind Sie am Rovdjurstorget vorbeigekommen?«

Schweigen.

»Anna? Erinnern Sie sich, welche Strecke Sie gegangen sind?«

Schweigen. Schluchzen.

»Also, ein bisschen genauer wissen wir ja jetzt, wo wir nach Milena suchen können, das ist gut. Belassen wir es für heute dabei. Ruhen Sie sich aus. Wir reden morgen weiter, wenn Sie sich kräftig genug fühlen.«

Schweigen.

»Und erzählen Sie in Ihrem Tempo. Ich werde zuhören.«

Kapitel 2

»Das ist schon sehr kurzfristig, jetzt damit zu kommen«, sagte Henrik, während er Limettensaft in das Dressing träufelte. »Wir fahren schließlich in einer Woche.«

Wir hatten Gäste eingeladen und bereiteten das Abendessen zu. Ich hatte ihm von dem Mittagessen mit Milena erzählt. Nach der langen Mittagspause hatte ich länger gearbeitet und war gerade erst heimgekommen, doch Henrik hatte schon einmal ohne mich angefangen. Er kochte gern, und die bevorstehende Einladung schien ihm etwas Auftrieb zu geben. Das war auch nötig. Seit ein paar Wochen arbeitete er wieder, in Uppsala, doch die Lustlosigkeit, die negative Sicht auf alles hielten sich beharrlich.

Jetzt lag ein Lachs im Salzmantel im Ofen, kleine Kartoffeln mit Dill kochten in einem gusseisernen Topf auf dem Herd, im Kühlschrank standen Dessertschüsseln mit Pannacotta und eine mit Folie abgedeckte Schüssel mit Blaubeeren, die in Muscovado-Zucker und Limettensaft eingelegt waren. Ich hackte Koriander für das Dorsch-Ceviche, das wir als Vorspeise servieren wollten. Zwei Flaschen Sancerre standen entkorkt auf dem Küchentisch. Im Weinkühlschrank lagen weitere Flaschen.

Am Nachmittag hatte ich viel über das Mittagessen mit Milena und ihre Frage, ob ihr neuer Freund uns begleiten konnte, nachgedacht. Mittlerweile neigte ich dazu, zuzustimmen.

»Absolut«, erwiderte ich, »aber sie haben sich gerade erst kennengelernt, sie konnte es nicht früher ansprechen.« Ich rupfte Korianderblätter vom Stängel, gab sie in ein Glas und zerkleinerte sie.

Henrik schwieg, füllte die elektrische Gewürzmühle mit rosa Pfeffer und mahlte ihn über der Schale mit dem Dressing.

Als wir zusammenziehen wollten und eine gemeinsame Wohnung suchten, hatten wir diese hier gefunden, vier Zimmer, hundertzwanzig Quadratmeter. Sie war seit fünfundzwanzig Jahren nicht renoviert worden, was ungewöhnlich war. Also tobten wir uns aus. Ich war die Projektleiterin, bis auf die Küche, die Henriks Reich war. Wir versuchten, den ursprünglichen Charakter der Wohnung so gut wie möglich zu erhalten: die halbhohen Holzverkleidungen an den Wänden, den Stuck an den Decken, die alten Holzböden. Und richteten alles mit modernem skandinavischem Design ein. Nicht besonders originell, aber hübsch und funktionell und nicht allzu persönlich, falls wir die Wohnung irgendwann verkaufen und in ein eigenes Haus ziehen wollten.

Wir entfernten eine Wand, um die Küche zu vergrößern und Platz für einen großen Esstisch zu schaffen. Herd und Kühl-Gefrierkombi, Mikrowelle und Espressokocher, die Küchenmaschine – alles war stilecht und Hightech. Henrik liebte das ganze Kochzubehör. Beim Eierkochen überprüfte er mit einem Thermometer, dass die Temperatur exakt dreiundsechzig Grad betrug. Er liebte Crème brûlée, weil er dazu den völlig überdimensionierten Brenner einsetzen konnte, ein Profigerät, das er bei den Spitzenköchen in einem Themenrestaurant gesehen hatte. Über das Handy konnte er von überall in der Wohnung die Gradzahl im Ofen einstellen. Genauso steuerte er auch die Musik, die aus kleinen, versteckten Lautsprechern drang. Einmal hatte ich nachgezählt: Allein in der Küche konnte man die Uhrzeit von vier Displays ablesen.

Natürlich fühlte ich mich wohl in unserer Wohnung. Doch manchmal fragte ich mich, ob meine Sehnsucht nach der Natur und dem Fjäll von dem Bedürfnis herrührte, von den ganzen Digitalanzeigen und Knöpfen, den Bedienmenüs und piepsenden, leise surrenden Geräten wegzukommen. Mich mit etwas Ursprünglichem zu umgeben, etwas, das es schon immer gegeben hatte und immer geben wird. Irgendwie wurde ich ruhig, wenn ich mich klein und unbedeutend fühlte.

Den Bergen ist man egal. Sie wollen auch nichts von einem.

Henrik schwieg weiter beharrlich, sodass ich weitersprach.

»Ich habe jedenfalls das Gefühl, dass wir kaum ablehnen können.«

»Warum?«

»Milena war es immer recht, dass du mitkommst.«

»Das ist ja wohl ein Unterschied.«

»Inwiefern?«

»Sie kennt mich, sogar schon länger als dich. Hier geht es um jemanden, von dem wir überhaupt nichts wissen.«

Natürlich verstand ich, was Henrik meinte. Er, Milena und ich hatten schon viele Trekkingtouren zusammen unternommen und waren ein eingespieltes Team, in dem jeder seine feste Rolle hatte. Unsere Trips waren eine der wenigen Gelegenheiten im Jahr, bei denen ich völlig abschalten und entspannen konnte. Wenn wir jetzt jemanden mitnahmen, der ja vielleicht supernett sein mochte, den wir aber nicht kannten, würden wir anderen uns nicht so entspannen können wie sonst. Und wenn wir nicht zueinanderpassten oder er sogar richtiggehend unangenehm war, konnte die Woche im Fjäll anstrengend werden.

»Als wir den Trip von Juli auf September verlegen wollten, hat sie zugestimmt.«

»Als du ihn verlegen wolltest.«

»Ja, ja, schon gut, als ich ihn verlegen wollte. Whatever. Meiner Meinung nach wäre es jedenfalls irgendwie kleinlich, ihr das jetzt abzuschlagen. Und sie hat noch nie gefragt, ob sie jemanden mitnehmen kann. Glaubst du nicht, dass sie darüber nachgedacht hat, ob er zu so einer Unternehmung passt? Und auch wenn er nicht total nett sein sollte, halten wir ihn doch bestimmt eine Woche aus. Weil uns Milena darum gebeten hat.«

Wieder schwieg Henrik und rührte mit einem Löffel in der Dressingschüssel. Ich zerteilte den frischen Dorsch in präzise kleine Stücke und sagte schließlich:

»Oder? Henrik?«

»Ja, klar.« Er klang müde.

Ich warf einen Blick auf die Uhr der Mikrowelle. Bald würden die Gäste da sein. Der Herd piepste: Die Kartoffeln waren fertig. Henrik zog den Topf von der Platte, die orange unter der Keramikoberfläche glühte.

Wir schwiegen, bis ein paar Minuten später die ersten Gäste eintrafen und uns – zumindest fühlte es sich so an – voreinander retteten.

Aus der Zeugenbefragung von Anna Samuelsson, Personennummer 880 216 – 3382, 17. September 2019, Krankenhaus Gällivare, durchgeführt von Kriminalinspektor Anders Suhonen.

»Wie geht es Ihnen heute?«

»Ganz okay.«

»Konnten Sie schlafen?«

»Nicht so gut.«

»Hatten Sie Schmerzen?«

»Mhm.«

»Aber jetzt haben Sie keine Schmerzen?«

»Nein. Aber ich bin müde.«

»Das verstehe ich. Wir reden nur ein wenig, Anna, und sobald es Ihnen zu viel wird, geben Sie mir Bescheid. In Ordnung?«

»Mhm.«

»Ich frage nur noch mal nach, ob ich auch alles richtig verstanden habe. Sie und Henrik Ljungman sind verlobt?«

»Ja.«

»Und Milena Tankovic und Jacob Tessin sind ebenfalls ein Paar?«

»Ja.«

»Und woher kennen Sie einander?«

»Von der Uni, wir haben in Uppsala zusammen Jura studiert.«

»Ich verstehe.«

»Milena kennt Henrik auch aus Uppsala, er war Dozent an der juristischen Fakultät.«

»Sie drei kennen sich also schon sehr lange?«

»Ja. Und wir gehen seit vielen Jahren jedes Jahr eine Woche im Fjäll wandern.«

»Wo waren Sie schon?«

»Das Übliche. Wir sind den Jämtlandstriangeln gegangen, und den Kungsleden von Abisko bis hoch zum Kebnekaise. Einmal waren wir in Norwegen. Und in Borgafjäll.«

»Und da haben Sie in Hütten übernachtet?«

»Ja, hauptsächlich. Wir haben aber auch immer Zelte dabei und schlafen einige Nächte im Freien.«

»Ich verstehe. Ich frage deshalb, weil der Sarek ja ein wenig rauer ist. Wie Sie selbst wissen. Und im September … kann das Wetter schon mal richtig schlecht werden.«

»Normalerweise sind wir im Juli unterwegs. Aber ich habe den ganzen Sommer gearbeitet, sodass wir dieses Jahr erst im September fahren konnten.«

»Okay.«

»Und wir wollten eigentlich gar nicht in den Sarek, sondern noch einmal den Kungsleden von Abisko bis zum Kebnekaise laufen.«

»Doch dann haben Sie Ihren Plan geändert?«

»Das war Jacobs Idee.«

Kapitel 3

Simon lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und streckte die langen Beine unter dem Tisch aus, während er seinen Wein austrank.

»Und wann macht ihr Ernst?«, fragte er spöttisch, ohne mich oder Henrik anzusehen. Alle lachten. Wir hatten über gemeinsame Bekannte gesprochen, die im Herbst heiraten wollten und zu deren Hochzeit wir alle eingeladen waren.

Henrik verzog lächelnd das Gesicht, als sei die Frage heikel.

»Also, das Wetter ist ja wirklich noch mal richtig schön geworden, oder?« Er griff nach der vor ihm stehenden Weinflasche. »Möchte noch jemand?«

Wieder lachten alle. Der offensichtliche Ablenkungsversuch war geglückt. Niemand konnte glauben, dass die Frage wirklich so heikel war, wenn Henrik so locker damit umging.

»Nur nichts überstürzen«, meinte ich lächelnd.

»Bla, bla, bla«, sagte Simon, und mir wurde klar, dass er betrunkener war als sonst. Er war Teilhaber der Firma, in der ich angestellt war, und wir waren schon ein paarmal gemeinsam das Segelrennen von Sandhamn nach Utö im Stockholmer Schärengarten gefahren. Seine Frau Jennifer, die PR-Chefin bei einem börsennotierten Unternehmen war, musterte ihn nachdenklich. Ihr war es auch aufgefallen.

»Henrik«, fuhr Simon fort, »zweifelst du? Glaubst du, du findest jemand Besseren als Anna?«

»Simon«, sagte Jennifer.

»Was?«

»Mach langsam.«

»Klar, ich mache langsam. Manchmal muss man es ruhig angehen lassen, aber manchmal muss man vielleicht auch etwas Gas geben, wenn man zum Beispiel – rein hypothetisch, versteht sich, total hypothetisch – schon seit ein paar Jahrzehnten verlobt ist und …«

Lauter Protest von mir, Jennifer, Erika und Olaf übertönte Simons Stimme. Henrik starrte auf den Tisch, sein Lächeln wirkte steif.

Erika musterte ihn forschend, fast schon besorgt. Sie war eine alte Freundin vom Juridicum in Uppsala und mittlerweile Professorin an der Södertörns högskola. Erika und Olof waren die Einzigen aus unserer Runde, die bereits Kinder hatten.

»Simon«, sagte Jennifer, diesmal schärfer.

»Ja, ja, tut mir leid, wenn ich etwas herauszufinden versuche, was wir uns alle fragen«, erwiderte Simon.

Ich sah zu Henrik.

»Gut, jetzt weiß ich ja, wen ich von der Gästeliste streichen kann«, meinte ich. Henrik lächelte angespannt.

»Wen? Welche Gästeliste?«, fragte Mark. Er und Valle kamen gerade vom Balkon herein, wo sie geraucht hatten. Mark war Fondsmanager einer Bank, der wir bei einigen größeren Ankäufen geholfen hatten. Sein Mann Valle war Choreograf.

»Simon darf nicht zu unserer Hochzeit kommen«, sagte ich.

»Habt ihr einen Termin festgelegt? Wann?«, wollte Mark wissen.

Ich schüttelte nur den Kopf.

»Geht ihr dieses Jahr wieder im Fjäll wandern?«, fragte Erika Henrik, um von dem unangenehmen Thema abzulenken.

»Ja, in einer Woche geht’s los«, antwortete Henrik.

»Mit … Wie heißt sie gleich noch?«

»Milena. Genau.«

»Man kann in den Bergen heiraten, wusstet ihr das?«, warf Simon ein, doch niemand lachte. Es war jetzt nicht mehr lustig, nur noch anstrengend. Jennifer starrte ihn aufgebracht an. Ich sah zu Henrik.

»Und vielleicht noch jemandem«, sagte ich aus einem Impuls heraus, um das Gespräch von Henriks und meiner immer noch ausstehenden Hochzeit abzulenken. Henrik warf mir einen finsteren Blick zu.

»Ach ja? Und wer?«, fragte Erika.

»Milena hat einen Freund.«

Mark runzelte die Stirn.

»Moment, wer ist Milena?«

»Sie war auch ein paarmal mit hier«, erklärte ich. »Eine alte Freundin von uns aus Uppsala. Hellbraune Haare, ein bisschen kleiner als ich.«

»Ach so, ja, die«, sagte Mark. »Die stille, rätselhafte Frau.«

»Wolltest du sie nicht mit Truls Kofoed verkuppeln?«, fragte Simon.

»Nein, aber bei einem Abendessen habe ich sie nebeneinandergesetzt.«

»Aber das ist doch die, die immer Single war, oder?«, sagte Mark. Henrik wirkte verärgert.

»Nein, sie war nicht immer Single.«

»Nicht?«, fragte ich.

»Nein, sie war nicht immer Single, sie hatte Beziehungen.«

»Jedenfalls«, fuhr ich fort, »hat sie einen gewissen Jacob kennengelernt, der bei BCG arbeitet und wohl viel in den Bergen gewandert ist. Deshalb hat sie gefragt, ob er mitkommen kann.«

»Aber ihr habt ihn noch nicht getroffen?«, fragte Mark.

»Nein«, erwiderte Henrik. Erika wandte sich an Olof.

»BCG, da arbeitet doch auch Jossan?«

»Ja. Wie heißt dieser Jacob noch?«

»Tessin«, antwortete ich. »Jacob Tessin.«

Olof überlegte. »Also … Ich war ja mit Jossan ein paarmal bei denen zum Afterwork. Jacob kommt mir irgendwie bekannt vor. Wisst ihr, wie er aussieht?«

»Groß und dunkelhaarig, braun gebrannt«, sagte ich. »Wer ist Jossan?«

»Meine Cousine.«

»Ein großer, dunkler Fremder«, sagte Simon mit leicht verhangener Stimme, als würde er aus einem kitschigen Liebesroman vorlesen. Niemand fand das lustig, am wenigsten Henrik, der einen großen Schluck Wein trank. Ich hatte ihm nicht erzählt, dass ich Jacob auf Facebook gefunden hatte.

»Ich glaube, ich bin ihm mal über den Weg gelaufen«, sagte Olaf. »Da klingelt was.«

»Frag deine Cousine doch mal nach ihm«, sagte ich.

»Mache ich. Jacob Tessin?«

»Ja.«

»Also … Nehmt ihr ihn mit?«, wollte Erika wissen.

Ich bereute bereits, davon erzählt zu haben. Henrik und ich hatten das noch nicht ausdiskutiert, und jetzt würden unsere halb – oder in Simons Fall völlig – betrunkenen Freunde keine Ruhe mehr geben. Henrik lief Gefahr, als kleinlich und nörgelig dazustehen.

»Wir haben uns noch nicht entschieden«, sagte ich. »Einerseits hat Milena noch nie gefragt, ob sie jemanden mitnehmen kann. Und sie hat zugestimmt, dass wir die Reise wegen mir und meiner Arbeit auf den Herbst verschieben. Es wäre also irgendwie gemein, es ihr abzuschlagen. Andererseits … ist man sich im Fjäll ganz schön nahe. Wir drei kennen einander schon so lange und so gut. Wir müssten Rücksicht auf jemanden nehmen, den wir überhaupt nicht kennen. Das verändert alles.«

Erika nickte.

»Ich finde es komisch, dass Milena überhaupt gefragt hat.«

Klar, dass du auf Henriks Seite bist, dachte ich verärgert, das bist du ja immer. Doch das war ungerecht, ich hatte ja schließlich nicht gesagt, wer von uns beiden welche Meinung vertrat.

»Ja, aber wenn sie jetzt nun mal einen Freund hat, der gerne wandert … Ich glaube nicht, dass Milena jemanden mitnehmen wollte, mit dem es nicht funktionieren würde.«

»Heute Abend klären wir die Frage jedenfalls nicht mehr«, beendete Henrik das Thema, offensichtlich verärgert.

»Genau, wir werden sehen«, sagte ich beschwichtigend und stand auf. »Möchte jemand Kaffee? Oder Tee?«

Erleichtertes Murmeln folgte auf den Themenwechsel. Nur Simon wollte sich nicht zufriedengeben und leerte sein Weinglas mit einem langen Schluck.

»Jacob Tessin … also das klingt wie ein richtiger Wichser.«

Wieder lachte niemand.

Kapitel 4

Am Samstag, unserem Abreisetag, standen wir früh auf und packten. Alles war eingekauft und lag bereit, wir mussten es nur noch in den Rucksäcken verstauen.

Eigentlich finde ich Packen nicht langweilig, vor allem nicht, wenn es ins Fjäll geht. Wenn ich nur das machen müsste, würde es mir sogar gefallen. Das ganze Zubehör, die Ausrüstung, die man fürs Wandern braucht, das alles erinnert mich an die eindrucksvollen Erlebnisse auf unseren früheren Touren. Wenn ich die kleine Plastikflasche mit der Flüssigseife einpacke, habe ich den Geruch von einer alten Sauna in der Nase und sehe durch ein kleines Fenster aufs Fjäll hinaus.

Aber an diesem Samstag konnte ich natürlich nicht nur packen, ich musste auch arbeiten, weshalb der Tag zerrissen und stressig war. Ich würde eine Woche weg sein, und vieles musste noch erledigt werden. Die Tage im Fjäll sind die einzigen im Jahr, an denen ich nicht erreichbar bin, sonst wissen sowohl Klienten als auch Kollegen, dass sie mich jederzeit anrufen können.

Ganz unten in die Rucksäcke packten wir Wechselkleidung, Funktionsunterwäsche und Socken, alles, was auf keinen Fall nass werden durfte. Dann befestigte Henrik das Zelt unter seinem Rucksack, und ich verstaute die Nahrungsvorräte in meinem. Wir würden meistens in Hütten übernachten, die eine kleine Küche oder zumindest eine Kochplatte hatten. Wir wollten aber auch mal im Zelt schlafen, und wir würden jeden Tag im Freien zu Mittag essen, wenn uns nicht ein Regenschauer oder Schnee erwischte. Außerdem will man auch eine Pause einlegen können, wenn man einen schönen Fleck im Fjäll entdeckt hat. Deshalb packte ich das Gas und den Trangia-Kocher mit allem Zubehör ein sowie Haferflocken für den Frühstücksbrei, Tütensuppen, Nudeln mit kurzer Kochzeit als Sättigungsbeilage für die Suppen und ein paar gefriergetrocknete Trekkingmahlzeiten. Die Dose mit vier verschiedenen Gewürzen. Pulverkaffee, Erdnüsse und Rosinen. Schokolade und ein paar Packungen Süßkram.

Auf das Essen packte ich alles andere, das wir für die Tour brauchten: Campingkulturbeutel, Regenkleidung, Daunenweste, Mütze und Handschuhe. Das Multifunktionsmesser. Zuletzt schob ich eine wasserfeste Landkarte vom Abisko-Nationalpark und dem Kebnekaise in das Fach in der Rucksackklappe.

Im Bad stellte ich den Rucksack auf die Waage. 12,3 Kilogramm, ein gutes Gewicht. In den ersten Jahren hatten unsere Rucksäcke bis zu zwanzig Kilo gewogen, und ich hatte es mir fast schon zum Sport gemacht, jedes Jahr das Gewicht zu reduzieren. Ein leichterer Rucksack war angenehmer beim Wandern, bedeutete aber weniger Komfort, wenn man angekommen war. Henrik nahm gern ein paar Kilo mehr mit und hatte es dann in der Hütte gemütlicher.

Einmal hatte er trotz meiner Versuche, ihn umzustimmen, eine Flasche Wein mitgenommen. Als er sie in der Singi-Hütte öffnete, weigerte ich mich, davon zu trinken, um meine Prinzipientreue zu untermauern. Henrik und Milena tranken je ein Glas und den Rest am folgenden Abend. Ich ließ mir nicht anmerken, dass ich auch große Lust auf Wein gehabt hätte, und Henrik ließ sich nicht anmerken, dass das Extragewicht schwer zu tragen gewesen war. Doch danach hat er nie mehr Wein eingepackt.

Leichtes Reisefieber kribbelte in meinem Magen. Am Abend würden wir mit dem Nachtzug nach Abisko fahren und von dort aus über den Kungsleden zum Kebnekaise wandern. An der Singi-Hütte wollten wir auf den Durlingsleden abbiegen, ein oder auch mehrere Nächte zelten, einen Gipfel besteigen und dann über den Vierranvárri hinunter zur Fjällstation des Kebnekaise wandern. Dort würden wir uns eine Weile vor der Heimfahrt ausruhen. Wenn ich wollte, konnte ich Tagesausflüge in den Tarfala-Talkessel machen oder den Kebnekaise über die etwas anspruchsvollere Ostroute besteigen. Ich wusste, dass Henrik und Milena mich dabei nicht begleiten würden, aber ich hatte nichts dagegen, auch mal alleine etwas zu unternehmen. Ich konnte dann in meinem eigenen Tempo gehen, das schneller war als das meiner Reisegefährten.

Um fünf hatten Henrik und ich Wanderkleidung angezogen. Ich band meine blonden Haare zu einem festen Pferdeschwanz zusammen und schlüpfte in meine Turnschuhe. Die Stiefel hingen zusammengeknotet über dem Rucksack, den ich gleich darauf aufsetzte. Henrik tat es mir nach.

Wir schlossen die Wohnung ab und gingen zum Hauptbahnhof. Das schöne Wetter hatte sich gehalten, die Luft war klar und warm. Die Stadt war ruhig. Ein paar Passanten warfen uns Blicke zu, als wir mit unseren großen Rucksäcken an ihnen vorbeigingen. Das Gewicht war vertraut und angenehm, andere Muskeln in Beinen und Bauch spannten an, als der Körper sich an die Last anpasste. Ich fühlte mich stark und geschmeidig und voller Energie. In einem Café am Tegnérlunden tranken wir einen doppelten Espresso, den letzten vernünftigen Kaffee für eine gute Woche. Er schmeckte herrlich, und in den Bäumen um die Strindberg-Statue zwitscherten die Vögel.

Ich freute mich darauf, Jacob Tessin bald kennenzulernen.

Am Freitagabend vor einer Woche, nachdem unsere Gäste nach Hause gegangen waren, hatten Henrik und ich nur noch das Nötigste gesprochen, bevor wir uns schlafen gelegt hatten. Am Samstag hatte Henrik nach dem Frühstück gesagt, dass er mir zustimmte und wir Milena schlecht abschlagen konnten, ihren neuen Freund mitzunehmen. Ich war erleichtert gewesen, dass wir nicht mehr streiten mussten, und sagte, dass ich ihn gut verstünde, mir wäre es auch lieber, wenn wir wie üblich nur zu dritt wandern gehen würden.

»Wenn das nicht funktioniert, gehen wir in Zukunft nur noch allein«, sagte ich.

Am Sonntag hatte ich Milena angerufen.

»Wir haben darüber gesprochen und fänden es sehr schön, wenn Jacob uns begleiten würde«, sagte ich.

»Oh, super«, hatte Milena geantwortet, aber nicht so erfreut geklungen, wie ich es erwartet hätte. Sie war kein Mensch großer Gesten oder Gefühlsäußerungen, aber ein bisschen mehr Enthusiasmus hätte ich mir schon erhofft. Wahrscheinlich war sie mit den Gedanken woanders, folgerte ich und dachte nicht weiter darüber nach.

Als sich die Abreise näherte und wir mit den Vorbereitungen beschäftigt waren, war das Thema Jacob in den Hintergrund gerückt. Milena und ihr neuer Freund waren letztendlich nur ein kleiner Teil des Gesamterlebnisses. Auch wenn er sich als arrogant oder maulfaul oder als notorischer Witzbold oder irgendetwas anderes Unangenehmes entpuppen sollte, gab es so vieles, das er mir nicht nehmen konnte. Die Natur, das Gefühl im Körper nach vielen Stunden auf den Beinen, wie gut das Essen schmeckte, wie tief man nachts schlief. Ja, er könnte ein Störfaktor werden. Aber er konnte mir nicht meinen Urlaub in den Bergen vermiesen.

Normalerweise hätten wir uns vor der Abreise alle noch mal abends getroffen, um uns kennenzulernen, doch dafür reichte die Zeit nicht. Jetzt würden wir ihm in ein paar Minuten gegenüberstehen, und ich war neugierig. Wer war Jacob Tessin, der erste Mann, den mir meine Freundin, die ich seit zehn Jahren kannte, als ihren Freund vorstellte?

Wir gingen die Upplandsgatan hinunter, am Norra Bantorget vorbei und in die Vasagatan. Hier herrschte mehr Verkehr, und in allen Richtungen waren Fußgänger unterwegs. Ich sehnte mich nach dem Fjäll, wo man niemandem ausweichen musste.

Kurz darauf traten wir in die große Wartehalle des Hauptbahnhofs. Schritte und Stimmen hallten unter der hohen, gewölbten Decke wider, Geräusche, die ich mit Koffern und Fahrkarten verband, dem Gefühl, unterwegs zu sein.

Und dann sah ich sie, Milena und Jacob, an der kreisförmigen Aussparung in der Mitte der Halle, durch die man in das Untergeschoss blicken konnte.

Mein erster Gedanke war: Ist der Mann groß. Den Eindruck hatte ich auch von seinen Bildern auf Facebook bekommen, aber in echt war es noch deutlicher. Milena ist mittelgroß, doch neben ihm wirkte sie winzig. Mein zweiter Gedanke war: Ganz schön durchtrainiert. Jacobs Rucksack stand auf dem Steinboden, er trug ein ärmelloses T-Shirt, und seine Arme waren muskulös, sehnig und braun gebrannt. Seine Haltung war ebenfalls athletisch: gestraffte Schultern, die Brust vorgeschoben.

Er hielt Milenas Hand, was irgendwie niedlich war.

Mein nächster Gedanke war: Er muss älter als achtunddreißig sein. Sein braun gebranntes Teddybärengesicht wurde von dichtem, dunkelbraunem Haar eingerahmt. Der Haaransatz war immer noch gerade, ohne Geheimratsecken. Doch die Falten im Gesicht, zwischen den Augenbrauen, an der Stirn, die Haut am Hals … Ich hätte ihn eher auf Mitte vierzig geschätzt.

Habe ich das alles wirklich in den paar Sekunden gedacht, bis wir bei ihnen waren? Oder habe ich Dinge ergänzt, die mir erst später aufgefallen waren? Ich weiß es nicht.

Ich lächelte und winkte. Milena strahlte, als sie uns entdeckte, und winkte zurück. Jacob lächelte ebenfalls, erwartungsvoll und ein wenig angespannt. Er ließ Milenas Hand los und verlagerte das Gewicht.

»Hallo, schön, euch zu sehen«, sagte ich und lächelte breit. »Anna«, stellte ich mich vor und streckte die Hand aus.

»Jacob, hallo«, erwiderte er und nahm meine Hand. Seine Haut war warm und trocken, er hatte einen festen Händedruck. Er lächelte, seine Augen glänzten. Ich wandte mich an Milena.

»Oh, ich freue mich so!«

Milena lächelte breit, und wir umarmten uns lange.

»Jaaa, endlich ist es so weit«, sagte sie. Ich hörte, wie Jacob hinter mir Henrik begrüßte.

»Dann bist du wohl Henrik?«

»Richtig.«

»Jacob, hallo. Schön, dich kennenzulernen.«

Noch etwas schoss mir bereits da durch den Kopf.

Ich habe ihn schon mal gesehen.

Kapitel 5

Wir gingen zum Bahnsteig. Ich unterhielt mich mit Milena, hörte aber mit halbem Ohr zu, worüber Henrik und Jacob hinter uns sprachen.

»Tut mir leid, dass ich mich so aufgedrängt habe«, sagte Jacob. »Mir ist schon klar, dass es nicht so toll ist mit jemandem, den man gar nicht kennt. Ihr geht ja jetzt schon seit Jahren gemeinsam wandern, oder?«

»Kein Problem«, antwortete Henrik. »Du warst auch oft im Fjäll?«

»Meine zweite Heimat, könnte man sagen.«

»Kommst du von da oben?«

»Nein, aber seit ich fünfzehn war, war ich so gut wie jedes Jahr dort. Skifahren im Winter, Klettern im Sommer.«

»Mhm … Wir waren ein paarmal in Sälen zum Skifahren, aber sonst meistens in den Alpen.«

»Ich fahre immer nach Riksgränsen, meinem Lieblingsort im Fjäll. Dort kann man auch gut gleitschirmfliegen.«

»Ah, das machst du auch?«

»Ich versuche es zumindest, haha. Aber Abisko ist eine tolle Ecke zum Wandern. Und der Kebnekaise auch. Wart ihr da schon mal?«

»Ja, wann war das? Vor drei oder vier Jahren.«

»Das Fjäll – das ist ein bisschen wie Meditieren für mich. Ich arbeite viel zu viel, oft auch am Wochenende und so. Da ist es schön, mal rauszukommen und eine Weile an etwas ganz anderes zu denken. Die Batterien wieder aufzuladen.«

»Mhm.«

Wir kamen auf den Bahnsteig. Die Luft stand still, es roch nach Diesel und warmem Metall. Von dem Marsch durch Vasastan war mir heiß, und ich schwitzte leicht.

Wir fanden unseren Wagen und stiegen ein. Es war eng in dem schmalen Gang, während die Reisenden, viele mit großen Rucksäcken, nach ihren Plätzen suchten. Henrik und ich fanden zum Glück schnell unser Abteil im Schlafwagen, in der 1. Klasse, mit eigener Toilette und Dusche. Wir öffneten die Schiebetür und stellten die Rucksäcke ab.

»Hier wohnen wir also«, sagte ich. »Und ihr?«

»Ein Stück weiter den Gang entlang«, antwortete Milena. »Wir schlafen in unterschiedlichen Abteilen, Jacob hat ja gerade erst gebucht.«

»Was für ein Glück, dass du noch einen Platz bekommen hast«, sagte ich.

Jacob lächelte.

»Ja, sonst hätte ich wohl per Anhalter fahren müssen.«

Ich sah zu Milena, die auch lächelte, mich dabei aber leicht forschend anblickte. Sie versuchte, herauszufinden, was ich von Jacob hielt, wurde mir klar. Ich sagte:

»Wollen wir uns in einer halben Stunde im Bordbistro treffen?«

»Ja, gut«, antwortete Milena. Sie ging davon, Jacob nickte mir und Henrik lächelnd zu, aber eher mir, hatte ich den Eindruck. Dann folgte er Milena. Erst da fiel mir auf, dass eine Kletterausrüstung an seinem Rucksack hing. Haken und Seile und ein Eispickel. Was hatte er vor? Wollte er den Kamm zum Nordgipfel des Kebnekaise gehen? Oder durch den Kessel um den Tuolpagorni?

Ich zog die Schiebetür zu und setzte mich auf einen Klappsitz. Henrik saß bereits auf dem Sofa gegenüber. Wir sahen einander an, und schließlich sagte ich:

»Also … Was denkst du?«

»Er scheint ganz okay zu sein.«

»Schon, oder?«

»Mhm.«

»Ich muss gestehen, dass ich ein bisschen erleichtert bin.«

»Mhm.«

»Stell dir vor, wenn wir nach fünf Minuten gedacht hätten, oh nein, jetzt müssen wir uns eine Woche im Fjäll mit diesem Idioten herumärgern.«

Henrik schwieg. Er sah müde aus.

»Hast du ihn erkannt?«, fragte ich.

»Was? Nein.«

»Irgendwie … kommt er mir bekannt vor.«

»Du hast doch Fotos von ihm gesehen, oder?«

»Ja. Aber da hatte ich nicht dieses Gefühl.«

»Okay. Ich habe ihn jedenfalls noch nie gesehen.«

Das Gefühl war so vage. Sobald ich versuchte zu begreifen, was ich da eigentlich wiedererkannte, verflüchtigte es sich wie ein Atemhauch auf einer Glasscheibe.

Ich seufzte und sah mich um. Wir saßen in unserem Erste-Klasse-Abteil mit zwei bequemen Betten und eigener Toilette und waren auf dem Weg in den Norden, um eine Woche durchs Fjäll zu wandern. Ich war ganz aufgeregt vor Vorfreude. Oft waren diese Stunden kurz vor etwas Wunderbarem besser als das eigentliche ersehnte Ereignis.

Ich legte meine Hand auf Henriks, lächelte ihn an.

»Willst du das obere oder das untere Bett?«

»Mir egal. Entscheide du.«

»Okay. Dann nehme ich das obere.«

»Aber eigentlich möchtest du unten schlafen.«

»Nein.«

»Ich nehme das obere.«

»Nein, lass. Jetzt habe ich es schon reserviert.«

Henrik lächelte, und wir küssten uns.

Es wird schon alles gut werden.

Henriks Handy vibrierte in seiner Tasche, er holte es heraus und las die gerade eingetroffene Nachricht.

Ich sah die leichte Falte zwischen seinen Augenbrauen.

»Hm«, sagte er.

»Was ist?«

Henrik holte tief Luft und straffte die Schultern.

»Äh, die SMS ist von Erika.«

»Was schreibt sie denn?«

»›Danke für die Einladung, war so schön, euch zu sehen … Olof hat übrigens seine Cousine gefragt, und bei BCG arbeitet kein Jacob Tessin. Trotzdem viel Spaß beim Wandern.‹«

Aus der Zeugenbefragung von Anna Samuelsson, Personennummer 880 216 – 3382, 17. September 2019, Krankenhaus Gällivare, durchgeführt von Kriminalinspektor Anders Suhonen.

»Und wie haben Sie sich bei dieser Nachricht gefühlt?«

Schweigen.

»Anna?«

»Ich habe mich über Henrik geärgert.«

»Warum?«

»Weil er so eine große Sache daraus gemacht hat.«

»Ich verstehe.«

»Als ich recherchiert habe, habe ich auch keinen Jacob Tessin bei BCG gefunden. Aber ich fand das nicht so komisch.«

»Nein?«

»Vielleicht hatte ich mich ja verhört, als Milena seinen Arbeitgeber genannt hat. Oder er war bei einer anderen Firma beschäftigt, die auch BCG heißt.«

»Aha.«

»Es gab viele Erklärungen.«

»Mhm.«

»Wir hatten ihn ja dann kennengelernt, und er schien ein vernünftiger Typ zu sein. Fand ich.«

»Wie sah Henrik das?«

Schweigen.

»Es schien fast, als wollte er die Reise abbrechen und wieder nach Hause fahren.«

»Tatsächlich?«

Schweigen.

»Wir hatten … Zuerst war Henrik sauer, weil ich die Reise verschieben wollte. Wir haben das geklärt. Dann haben wir wegen Jacob gestritten. Ob er mitkommen sollte oder nicht. Auch das haben wir geklärt.«

Schweigen.

»Möchten Sie etwas Wasser?«

»Ja. Danke.«

Schweigen.

»Hier, bitte.«

»Danke.«

Schweigen.

»Und dann … dann haben wir Jacob kennengelernt, und er war nett, und wir hatten ein gutes Gefühl. Dann hat Henrik die Nachricht bekommen, und da schien alles von vorn loszugehen.«

»Mhm. Ich verstehe.«

»Wir waren wütend aufeinander.«

Schweigen. Schluchzen.

»Solche Kleinigkeiten … Himmel …«

»Möchten Sie eine Pause machen?«

»Ja …«

Schluchzen.

Kapitel 6

Als wir ins Bordbistro kamen, saßen Jacob und Milena schon an einem Tisch. Jacob trank ein Bier, Milena ein Glas Wein. Zu essen hatten sie noch nichts.

»Wie schön, die Party hat schon begonnen, wie ich sehe«, sagte ich.

»Holt euch was zu trinken, wir halten den Tisch besetzt«, erwiderte Milena.

Henrik und ich stellten uns in die Schlange. Das Bordbistro war alt und schäbig, vielleicht aus den Neunzigern, doch in einem Retrodesign, bei dem man an die luxuriösen Dreißiger denken sollte. Der Lack war an einigen Holzkanten abgeplatzt, und die Sitzpolster hatten hier und da Löcher.

Die verschiedensten Menschen saßen in dem vollen Bistro. Viele sahen aus wie wir, auf dem Weg zu einem Wanderurlaub, doch da waren auch eine Familie mit Kindern, die vielleicht Verwandte in Norrland besuchte, und ein paar Männer in den Fünfzigern, die der Lautstärke nach zu schließen bereits ein paar Biere gekippt hatten. Wer gerade etwas gekauft hatte, suchte mit den vollen Tabletts breitbeinig – um das Schlingern des Zuges auszugleichen – einen freien Platz. Man musste sich mit Menschen den Tisch teilen, die man nicht kannte. Ich sah, wie Jacob und Milena freundlich ein paar Rentnerinnen erklärten, dass die Plätze an ihrem Tisch besetzt waren.

Die Schlange wurde immer länger und nahm den ganzen Mittelgang des Bistros ein. Ich ging zurück zu Jacob und Milena und schlug vor, ihnen etwas mitzubringen, weil es sonst zu lange dauern würde, bis wir gemeinsam essen konnten. Sie sagten mir, was sie haben wollten.

Vor den Fenstern flog die flache, von der tief stehenden Herbstsonne beschienene Landschaft vorbei. Abgemähte Felder, kleine Wäldchen, Birkenhaine. Ein Auto fuhr neben dem Zug auf der Landstraße her, fiel dann aber zurück und geriet außer Sicht. Ein Dorf mit einem Bahnübergang und einem stillgelegten Bahnhof. Jugendliche vor einem Straßenimbiss.

Wir kamen mit voll beladenen Tabletts zurück zum Tisch: zwei Portionen Rentiergeschnetzeltes mit Kartoffelbrei, ein Krabbenbrot, ein Hühnchenwrap, drei kleine Flaschen Wein und ein Bier sowie ein paar Tütchen Nüsse und Chips als sättigende Vorspeise. Jacob holte seinen Geldbeutel aus der Tasche und wollte uns Geld für sein Essen und das Getränk in die Hand drücken, einen Zweihundertkronenschein, doch ich antwortete, ich könnte ihm nicht rausgeben und dass es sich im Lauf der Woche schon ausgleichen würde.

Wir verteilten das Essen. Ich war mir sicher, dass Milena das Schweigen zwischen Henrik und mir spürte. Sie verstand natürlich, dass irgendetwas nicht stimmte.

Jacob öffnete seine Bierflasche und sagte:

»Also … Wie habt ihr euch kennengelernt?«

Er lächelte und sah mich und Henrik an. Hatte er die Anspannung zwischen uns auch bemerkt? Wollte er uns dazu bringen, miteinander zu reden?

Wir sahen uns an.

»Willst du oder soll ich?«, fragte ich.

»Erzähl du«, sagte Henrik dumpf.

UPPSALA, NOVEMBER 2009

Es ist Donnerstag, und bei der Stockholms Nation, einer der Studentenverbindungen in Uppsala, findet der wichtigste Partyabend der Woche statt. Doch bevor im neu gebauten Teil des Gebäudes getanzt und gefeiert wird, gibt es im alten Flügel aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts noch einen Vortrag. Der »Donnerstagsredner« ist eine alte Tradition in der Verbindung, wie so vieles andere auch. Ein Gast hält einen etwa einstündigen Vortrag, danach werden er und eine kleine Gruppe von Zuhörern mit Erbsensuppe und Punsch bewirtet.

Deshalb verteile ich gerade Platzkarten an einem langen Tisch im »kleinen Raum« neben dem Festsaal, wo der Vortrag stattfinden wird. Ich bin die Organisatorin. Eine ungewöhnliche Aufgabe für jemanden, der neu in Uppsala und bei der Studentenverbindung ist, doch als sich ein paar Wochen nach Semesterbeginn immer noch niemand dafür gemeldet hatte, hat der erste Vorsitzende Carl mich gefragt. Schon bei meinem Beitritt hatte ich gesagt, dass ich mich gerne einbringen würde. Also musste ich nur noch Ja sagen.

Seit ein paar Monaten mache ich das jetzt, bin aber trotzdem nervös wegen des Abends. Die meisten Studenten locken natürlich die Redner an, die auch außerhalb der Universität, außerhalb von Uppsala, bekannt sind. Bisher hatte ich mithilfe der Kontakte meines Vaters bereits eine hochkarätige Juristin gewinnen können, die sich aktiv an den öffentlichen Debatten beteiligt, einen erfolgreichen Unter-nehmer sowie einige aus dem Fernsehen bekannte Komiker, die ihre Karrieren in der Studentenverbindung begonnen hatten. Diese Woche hatte ich jedoch nicht so viel Glück gehabt. Der Sprecher ist Henrik Ljungman, Dozent am Juridicum. Er ist so etwas wie ein Senkrechtstarter an der Universität: Er hat irgendeine Auszeichnung als bester Dozent bekommen und bereits Kursliteratur für sein Fach geschrieben, dabei ist er noch keine dreißig. Er hat auch einige der Einführungsvorlesungen für uns neue Jurastudenten gehalten. Und ja, er ist gut, besser als die meisten. Aber gefesselt hat er mich nicht gerade.

Diese Woche ist also so etwas wie ein Durchhänger. In zwei Wochen wird Kajsa Bergqvist kommen, die olympisches Gold im Hochsprung gewonnen hat. Das wird ein größerer Knaller.

Ich hatte mir Henrik nach einer Vorlesung geschnappt und ihn gefragt, ob er Donnerstagsredner sein wollte. Seine Augen hatten nervös gezuckt, und er hatte gezögert, weshalb ich ein Mittagessen vorgeschlagen hatte, bei dem ich ihm mehr darüber erzählen wollte. Auf Anhieb war ihm wohl keine gute Ausrede eingefallen. Wir haben zu Mittag gegessen (meine neue Freundin Milena war auch dabei), und ich habe ihm den Donnerstagsredner als eine der tollsten Auszeichnungen verkauft, die man in Uppsala erhalten kann. Er hat eingewilligt, wirkte aber nicht besonders begeistert.

Während des Mittagessens empfand ich Henrik als etwas verschlossen und vage. Formell und korrekt. Es war schwierig, Blickkontakt mit ihm herzustellen. Sieht er gut aus? Keine Ahnung. Sein Gesicht ist symmetrisch und glatt, ohne Pickel. Seine Haut hat eine eher gelbliche Farbe, wie bei jemandem, der in der Sonne leicht braun wird, sich aber immer im Schatten aufhält. Er ist glatt rasiert, und an Wangen und Kinn ist kaum ein Bartschatten zu sehen. Das dunkle, dichte Haar ist zu einem perfekten Seitenscheitel gekämmt. Henrik ist nicht groß und leicht untersetzt. Er trägt Chinos, Hemd und Jackett, an den Füßen Docksides mit Profilsohle. Ordentlich, aber traditionell, und ja, ein bisschen langweilig. Er sieht älter aus, als er ist.

Obwohl mich persönlich seine Vorlesungen nicht gefesselt haben, ist er da ganz eindeutig in seinem Element. Seine Stimme ist tief und volltönend genug, dass man ihn im ganzen Hörsaal versteht, und er scheint richtiggehend aufzuleben. Sein Enthusiasmus und sein Interesse an seinem Thema sind ansteckend, das muss ich zugeben. Der Abend wird also sicher gut verlaufen.

Carl kommt vorbei, als ich die letzten Platzkarten verteile.

»Hallo, Anna, du siehst toll aus«, sagt er und legt mir die Hand auf die nackte Schulter. Wir küssen uns auf die Wange, Schmatz-Schmatz-Schmatz, wie in Frankreich. Ich weiß, dass er recht hat. Ich trage ein ärmelloses schwarzes Kleid, das eng anliegt und knapp über den Knien endet. Schwarze Nylonstrümpfe, schwarze High Heels. Meine blonden Haare hängen in einem langen Pferdeschwanz über den Rücken, in den Ohrläppchen habe ich echte Perlen. Ich fühle mich mondän, feminin und sexy. Heute Abend werden mich die Männer mit den Augen verschlingen, das weiß ich.

So wie Carl gerade. Er ist groß, blond und muskulös, eine jüngere Version von Dolph Lundgren. Er trägt einen gut sitzenden dunklen Anzug und ein weißes Hemd, das lässig am Hals aufgeknöpft ist. Als Vorsitzender hat Carl sein eigenes Büro im Verbindungshaus. Auf jeder Feier hält er lustige Reden. Er studiert Wirtschaftswissenschaften. Ich kenne viele Mädchen, die mit ihm schlafen wollen.

»Wie läuft es mit der Sitzordnung?«, fragt er.

»Gut, denke ich. Du sitzt hier. Mir gegenüber. Und Laila ist deine Tischdame.«

Laila ist Professorin für Politikwissenschaft und in den Sechzigern. Sie ist unsere Inspektorin, die Kontaktfrau zur Universität.

»Perfekt«, sagt Carl, »dann können wir unter dem Tisch füßeln.«

»Genau, so habe ich mir das gedacht«, antworte ich lächelnd.

»Ich werde nie vergessen, wie beim Kadettenball an der Militärhochschule Karlberg zwei Frauen gleichzeitig mit mir beim Essen gefüßelt haben.«

Carl sieht mich an und lächelt, weil er eine beeindruckte Reaktion erwartet.

»Wow, da warst du aber beschäftigt.«

»Nicht wahr? Ich hatte fast einen Wadenkrampf!«

»Haha«, sage ich und stelle die letzten Karten auf. Ich hätte Henrik neben Laila und mich neben Carl setzen können, habe es jedoch nicht getan. Henrik ist mein Tischherr, und darüber bin ich gerade ziemlich froh.

Er kommt eine halbe Stunde vor Beginn des Vortrags, als wir gerade Computer, Projektor und Leinwand im Festsaal aufbauen. Einige Zuschauer sitzen bereits in den Stuhlreihen. Das Interesse scheint größer zu sein, als ich erwartet hatte.

»Guten Abend«, sagt Henrik hinter mir, und ich wirbele herum.

»Hallo, willkommen!«, begrüße ich ihn herzlich, er hält mir etwas linkisch die Hand hin, doch ich umarme ihn kurz. Er trägt einen dunklen Anzug, grau oder blau, das ist im gedämpften Licht schwer zu erkennen. Ein seidenes Taschentuch ragt aus seiner Brusttasche, und er riecht gut. Ich hatte erwartet, dass er in seiner üblichen Vorlesungskleidung auftaucht, und freue mich ein bisschen darüber, dass er sich schick gemacht hat.

»Wie geht’s?«

»Ganz gut.«

»Sollen wir die Präsentation testen?«

»Gern.« Er holt einen USB-Stick aus der Jackettinnentasche und reicht ihn dem für die Technik zuständigen Studenten, der ihn am Computer einsteckt. Kurz darauf erscheint Henriks Präsentation auf der Leinwand, und der Student drückt ihm eine kleine Fernbedienung in die Hand.

»Wow, das ist ja mal Hightech. Das hat man nicht überall.«

»Nur das Beste für die Besten«, sage ich scherzhaft. Henrik lächelt.

Als wir mit dem Test fertig sind, frage ich ihn, ob er etwas trinken möchte. Er antwortet, er hätte gerne ein Bier, ein Hof, falls wir das haben. Auf dem Weg zur Bar kommen wir an dem Raum vorbei, in dem wir später essen werden. Ich bleibe stehen.

»Äh … später gibt es Erbsensuppe.«

»Perfekt.«

»Ich habe dich so platziert, dass ich deine Tischdame bin. Aber wenn du willst, kann ich dich auch neben unsere Inspektorin setzen, Laila Westerberg.«

»Nein, nein, das klingt gut.«

»Wirklich?«

»Ja. Es sei denn, du möchtest tauschen?«

»Nein, ich möchte neben dir sitzen.«

»Na also. Dann machen wir das so.« Henrik lächelt, und sein Gesicht hat einen lebendigen, warmen Ausdruck, anders als bei dem Mittagessen vor ein paar Wochen. Wir gehen weiter zur Bar.

Warum bin ich überhaupt stehen geblieben, um ihn zu fragen? Er hätte ja schlecht sagen können »danke, ich tausche gern«, ohne dass es unhöflich gewirkt hätte. Und ich wollte ja auch nicht lieber neben Carl sitzen. Manchmal bin ich mir selbst ein Rätsel.

Zwanzig Minuten später ist der Festsaal bis auf den letzten Platz gefüllt, und das vielstimmige Murmeln hallt zwischen den Holzspiegeln an den Wänden und den Porträts der früheren Inspektoren wider, die Geräusche brechen sich an den Kristalllüstern. Henrik und ich sitzen nebeneinander in der ersten Reihe, direkt an der Bühne. Es ist neunzehn Uhr. Ich habe Schmetterlinge im Bauch vor Vorfreude und Nervosität, auch wenn nicht ich den Vortrag halte. Ich lege Henrik die Hand auf den Arm und sage:

»Wollen wir?«

»Wann immer du willst.«

Ich gehe auf die Bühne, klatsche in die Hände und bitte um Ruhe.

»Guten Abend!«

Das Gemurmel verstummt schnell. Jemand hustet, ein Stuhl wird scharrend nach hinten geschoben.

»Willkommen in der Stockholms Nation. Am heutigen Donnerstagabend habe ich die große Ehre, euch einen der begehrtesten Dozenten der Universität Uppsala anzukündigen«, lächelnd sehe ich zu Henrik, »den jüngsten Dozenten aller Zeiten an der juristischen Fakultät … meine Damen und Herren, Henrik Ljungman!«

Ohrenbetäubender Jubel bricht aus, Henrik betritt die Bühne mit einem energischen Schritt, während ich hinuntergehe. Er dreht sich lächelnd zum Publikum und hält entwaffnend die Hände in die Luft.

»Wow, was für eine Einführung. Es ist mir natürlich eine große Ehre, hier sein zu dürfen. Seit meiner Kindheit war es eins meiner Lebensziele, einmal Donnerstagsredner bei der Stockholms Nation zu sein.«

Jubel, Applaus und Pfiffe werden wieder laut. Schmeicheleien funktionieren immer, auch wenn sie mit einer Prise Ironie versetzt sind.

»Die anderen waren«, Henrik zählt an den Fingern ab, »Feuerwehrmann werden und in Gröna Lund diese riesige Tafel Schokolade gewinnen. Eins von dreien ist also erreicht, gar nicht schlecht.«

Lachen, Kichern und Jubel aus dem Publikum. Nach dreißig Sekunden hat er sie schon in der Hand, als wäre er ein Stand-up-Comedian.

Henrik übertrifft sich an diesem Abend selbst. Sein Vortrag handelt davon, wie sich das Gesetz zur Pressefreiheit in Schweden entwickelt hat, mit vielen amüsanten Beispielen. Er spricht ungefähr eine Dreiviertelstunde, kürzer als die meisten Donnerstagsredner, sodass das Publikum mehr hören möchte. Dann folgt eine lange Frage- und Antwortrunde, in der er einen richtigen Dialog mit den Zuhörern führt. Henrik ist gebildet und geistreich, wartet mit brillanten Assoziationen und Formulierungen auf. Geist und Sprache in schönem Einklang. Und gleichzeitig wirkt er einfühlsam. Er möchte wirklich verstehen, was die Fragesteller aus dem Publikum beschäftigt.

Henrik ist mit Abstand der beste Donnerstagsredner, den wir bisher hatten. Meine Nervosität ist wie weggeblasen, denn der Abend ist ein Erfolg. Und ein bisschen bilde ich mir ein oder wünsche mir, dass das auch mit mir zu tun haben könnte. Dass er wegen mir guter Laune ist und sich wohlfühlt. Dass er mir zeigen möchte: Schau, was ich kann!

Um Viertel nach acht bedankt er sich, und ich eile mit einem üppigen Blumenstrauß auf die Bühne, überreiche ihn, wir umarmen uns kurz, ich applaudiere. Lauter Jubel brandet auf, der bemerkenswert schnell erstirbt, als hundert Gäste gleichzeitig aufstehen und mit den Stühlen scharren. Alle wollen zu den Bars, die gerade aufgemacht haben.

Eine halbe Stunde später sitzen wir an dem Tisch in dem kleinen Raum. Wir trinken kühles Bier und essen heiße Erbsensuppe, die Atmosphäre ist ausgelassen. Henriks Vortrag war ein perfekter Start in den Abend, jetzt warten Drinks, Party und vielleicht noch etwas mehr. Aber ich achte darauf, meine Beine nicht unter dem Tisch auszustrecken.

Selbst hier hallen die Stimmen zwischen den holzgetäfelten Wänden, und alle reden noch lauter. Ich sitze dicht neben Henrik, wir müssen uns zueinanderbeugen, um uns zu verstehen.

»Hast du es schon mal mit Stand-up-Comedy versucht?«, frage ich.

»Nein, habe ich nicht«, sagt Henrik.

»Aber … hast du dann ein Buch über Stand-up-Comedy gelesen oder so?«

»Nein. Sollte ich?«

»Haha, nein, du scheinst es auch so zu können.«

»Danke. Das nehme ich mal als Kompliment.«

»Ja, sonst wäre ich echt sauer. Prost.«

»Haha … Prost, Anna.«

Wir stoßen mit unseren Bierflaschen an.

»Du warst verdammt gut.«

»Danke. Schön, dass du zufrieden bist.«

Henrik sieht mich mit einem neuen Glanz in den Augen an, und mir ist, als hätten wir das gemeinsam geschafft. Das haben wir natürlich nicht, aber er gibt mir das Gefühl.

Vielleicht bin ich schon ein bisschen betrunken. Ein ganz kleines bisschen. Henrik möglicherweise auch.

Carl streckt seine Bierflasche über den Tisch, er will auch mit dem Ehrengast anstoßen.

»Prost, Henrik! Toller Vortrag!«

Unsere Inspektorin Laila schließt sich ebenfalls an und hebt das Bierglas.

»Ja, das war ein sehr, sehr guter Vortrag. Du hast noch nicht darüber nachgedacht, zur Politikwissenschaft zu wechseln?«

Alle lachen, und wir stoßen erneut an.

»Es war echt lustig«, fährt Carl fort, »dass du am Anfang von deinen drei Lebenszielen als Kind erzählt hast. Als ich für den Vorsitz kandidiert habe, habe ich eine Rede gehalten, in der ich von meinen Kindheitsträumen erzählt habe und wie ich und mein kleiner Bruder und die Nachbarsjungen immer Regierung gespielt haben. Ich wollte schon immer Premierminister werden, haha. Es war wohl keine rhetorische Meisterleistung, aber ich bin trotzdem gewählt worden.«

Carl zuckt ein wenig mit den Schultern und lächelt bescheiden, während er von Henrik zu mir sieht und auf unsere Bewunderung wartet.

»Die Konkurrenz war auch nicht gerade groß«, bemerkt Laila trocken und trinkt einen Schluck Bier. Henrik und ich lächeln, und Carl erkennt, dass er keine andere Wahl hat als mitzulachen.

»Haha, nein, die Nation musste sich mit dem zufriedengeben, was im Angebot war«, sagt er.

Laila tätschelt seinen Arm.

»Tut mir leid, du machst das toll, Carl.«

Carl wendet sich wieder an Henrik.

»Hast du mal darüber nachgedacht, Strafverteidiger zu werden?«