Die Insel - einer kennt die ganze Wahrheit - Ulf Kvensler - E-Book

Die Insel - einer kennt die ganze Wahrheit E-Book

Ulf Kvensler

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Beschreibung

Ein glückliches Paar. Eine unverhoffte Reise. Und die bedrohliche Schönheit Gotlands.

Als Isak und Madde die Reise nach Gotland antreten, sind sie voller Zweifel. Wie wird nach Jahren des Schweigens das Wiedersehen mit Isaks Vater verlaufen? Der Vater, vor dessen Unberechenbarkeit Isak immer gewarnt wurde. Doch als das junge Paar auf der Insel ankommt, sind sie überwältigt von der Schönheit, die sie empfängt. Vor allem die makellose Eleganz des väterlichen Anwesens beeindruckt beide sehr – so sehr, dass sie alle Warnungen in den Wind schlagen. Schließlich erwartet sie ein unvergesslicher Sommer. Während die schwüle Luft über Gotland aufsteigt und am Strand Cocktails serviert werden, nehmen die Spannungen in der Gruppe zu. Isak und Madde streiten sich immer häufiger, und lange verschwiegene Geheimnisse der Familie werden ans Tageslicht gebracht. Trotzdem ahnt niemand, welche unheilvollen Folgen die Vergangenheit auf die Zukunft aller Beteiligter wirklich haben wird …

Niemand beschreibt die Schönheit Schwedens und die Abgründe der Menschen besser als Ulf Kvensler. Beste psychologische Spannung vom SPIEGEL-Bestsellerautor.

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Seitenzahl: 439

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ulf Kvensler, 1968 geboren, hat eine lange und erfolgreiche Karriere als Drehbuchautor, Regisseur und Showrunner hinter sich. Er begann als Komiker, hat aber in den letzten Jahren Dramen, Horror und Thriller geschrieben. Ulf Kvensler ist sowohl Schöpfer als auch Hauptautor zahlreicher Erfolgsserien. Mit seinem Debüt Der Ausflug schaffte er es in Schweden auf Anhieb an die Spitze der Bestsellerliste.

Die Insel – Einer kennt die ganze Wahrheit in der Presse:

»Genau wie bei Der Ausflug spürt man, dass der Autor ein talentierter Drehbuchautor ist. Ein echter Pageturner.« Göteborgs-Posten, Sweden

»Wie auch der Vorgänger ist Die Insel fantastisch gut geschrieben. Ein absoluter Blockbuster, mit Szenen, die einen bleibenden Eindruck beim Publikum hinterlassen.« Kapprakt, Sweden

»Ein kraftvoller und gekonnt inszenierter Thriller, dessen Spannung sich auf ein fast unerträgliches Niveau steigert!« Aftonbladet, Sweden

»Ein fieberhafter Thriller einer scheinbar friedlichen und dennoch Angst einflößenden Landschaft.« Libération, France

Außerdem von Ulf Kvensler lieferbar:

Der Ausflug. Nur einer kehrt zurück. Thriller.

www.penguin-verlag.de

Ulf Kvensler

Die Insel

Einer kennt die ganze Wahrheit

Thriller

Aus dem Schwedischen von Sabine Thiele

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Brandmannen bei Albert Bonniers Förlag.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 der Originalausgabe by Ulf Kvensler

Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Lektorat: Lisa Wolf

Covergestaltung: bürosüd

Coverabbildung[en]: Getty Images, Cavan Images, www.buerosued.de

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH; Pößneck

ISBN 978-3-641-31223-7V002

www.penguin-verlag.de

Teil 1

Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, wüsste ich es heute nicht.

Stanislaw Jerzy Lec

Kapitel 1

In meinem Traum war es Sommer, ich war auf dem Land bei meinem Großvater und badete im See. Wie früher als Kind, doch jetzt bin ich erwachsen.

Als Kind kommt einem der Sommer unendlich vor. Man lebt ganz im Moment, anders als später als Erwachsener.

Mit der Schnorchelmaske vor dem Gesicht ließ ich mich im Wasser ein Stück vom Ufer wegtreiben, blickte nach unten auf diese stille, andere Welt. Lichtflecken fielen auf den sandigen, gewellten Grund. Vereinzelte Gräser bewegten sich in der Strömung. Kleine, fast durchsichtige Fische stoben davon, als ich die Hand nach ihnen ausstreckte. Das Schnorchelmundstück schmeckte nach Gummi, genau wie früher. Jeder Atemzug zischte in meinen Ohren. Es klang, als wäre ich ein Tiefseetaucher und Hunderte Meter tief im Wasser.

Der Traum war wirklich unglaublich lebendig.

Ich schwamm nicht, sondern zog mich mit den Fingern am Seegrund entlang. Sandwolken stiegen auf und trübten das Wasser, und das gefiel mir.

Dann lag ich still an der Oberfläche und sah über den See. Ich schauderte, denn irgendwann verschwand der Grund, und Finsternis schluckte das Sonnenlicht.

Großvater hatte oft davon gesprochen, dass der Grund zur Seemitte hin abrupt abfiel. Als Kind war ich nie so weit draußen, weil ich schon im seichten Wasser kaum stehen konnte, aber als Erwachsener schwamm ich natürlich bis zum Rand. Das Wasser reicht einem ungefähr bis zu den Brustwarzen, dann macht man einen Schritt und stürzt ab. Plötzlich wird der See fünf Meter tief.

Großvater hatte mir und Klara eingebläut, dass wir auf keinen Fall bis zu der Kante schwimmen durften. Als ob wir uns so weit hinausgewagt hätten, mit sechs und drei Jahren. Ich hatte furchtbare Angst davor. Und selbst als Erwachsener spüre ich ein seltsames Ziehen im Bauch, wenn ich ein paar Schritte mache und plötzlich untertauche.

Im Traum strich plötzlich ein Kältehauch an mir vorbei. Wisst ihr, was ich meine? Wahrscheinlich sind das Strömungen, die Wasser vom tieferen Teil des Sees mit sich bringen. Ich streckte die Hände nach dem Grund aus, um mich wieder zum Ufer zurückzuschieben.

Doch da war kein Boden mehr.

Unbemerkt war ich auf den See hinausgetrieben.

Verzweifelt versuchte ich, mit den Fingerspitzen den Grund zu berühren, doch es gelang mir nicht. Ich sah vor mir, wie ich hilflos im Wasser strampeln und langsam über den Abgrund treiben würde, hinaus in den tiefen Teil des Sees, in dem das Wasser pechschwarz war und sich wer weiß was unter einem befinden konnte. Riesige Fische oder Aale lauerten womöglich dort unten, und vielleicht berührte einen plötzlich irgendetwas am Bein. Supergruselig.

Dann fiel mir ein, dass ich ja erwachsen war und schwimmen konnte.

Wie besessen kraulte ich zum flacheren Wasser, was in Wirklichkeit etwa fünf Sekunden gedauert hätte, in meinem Traum aber mindestens eine Viertelstunde.

Irgendwann konnte ich mit den Fingerspitzen wieder den Grund berühren, atmete erleichtert aus und zog mich das letzte Stück weiter. In Ufernähe war das Wasser so warm, dass es fast meine Haut verbrannte.

Ich blickte auf, das Wasser strömte über mein Zyklopenauge, weshalb ich alles verschwommen sah, doch jemand lief über den Strand auf mich zu. Klara. Als Dreijährige.

Von Klara hatte ich schon viele Jahre nicht mehr geträumt. Doch jetzt freute ich mich. Ich zog die Schnorchelmaske ab und stand auf. Klara war nackt und rannte direkt in den See, plantschte und bespritzte mich mit Wasser. Ich spritzte zurück, und sie kreischte begeistert.

Die Hälfte ihrer Haare war verbrannt, das halbe Gesicht verkohlt und rissig, ebenso wie ein Arm. Doch ihre Augen waren noch da.

Da befanden wir uns also.

Man merkte ihr nichts an, sie spielte und quietschte wie immer, ich auch.

Klaras Gesicht wirkte immer fröhlich. Oder besser gesagt, zufrieden. Als ob sie immer gute Laune hätte. Natürlich nicht, wenn sie traurig oder wütend war. Aber grundsätzlich schien sie das Leben schön zu finden. Wahrscheinlich war das mit ein Grund, warum sie mir so viel bedeutete. Klara war ein sehr positiver kleiner Mensch. Außerdem war ich ihr Idol, das kam natürlich noch dazu. Ich war drei Jahre älter und konnte und wusste viel mehr als sie. Aber sie glaubte, ich könnte einfach alles. Sie vermittelte mir das Gefühl, größer zu sein, als ich tatsächlich war.

Wir plantschten noch eine Weile weiter im Wasser, dann gingen wir ans Ufer und bauten Sandburgen. Ich zeigte ihr, wie feucht der Sand sein musste, damit er beim Umstülpen des Eimers nicht auseinanderfiel. Und dass man mit der Schaufel auf den Eimer klopfen musste, damit der Sand sich leichter herauslöste.

Klara hockte dicht neben mir, saugte an einer feuchten Haarsträhne und lehnte sich an mich, legte eine Hand auf mein Bein. Ein schönes Gefühl. Beinahe, als wären wir zusammengewachsen.

Sie roch ein wenig verbrannt.

Ich stülpte einen Eimer mit Sand um und klopfte auf den Boden.

Da sagte Klara: »Isak, fahr nicht.«

»Was meinst du damit?«

Klara tätschelte mein Bein und legte den Kopf an meine Schulter. »Fahr nicht.«

Und jetzt kommt’s: Wann hatte ich diesen Traum wohl, was glaubt ihr?

In der Nacht, bevor mein Vater mich anrief und alles seinen Lauf nahm.

In der Nacht davor.

Isak, fahr nicht.

Als ob sie mich hätte warnen wollen. Mir ist schon klar, dass das nicht sein kann. Aber trotzdem.

Ist das nicht krank?

Kapitel 2

Perspektivenwechsel.

Ihr kennt doch sicher dieses Bild, das einmal wie eine alte Frau aussieht, dann wieder wie eine elegante junge Dame mit langem Hals, die den Kopf abgewandt hält.

Ich sitze beim Freigang auf dem Hof, in meinem kleinen, keilförmigen Bereich, und sehe hinauf in den Himmel. Als wäre ich in einem tortenförmigen Trivial-Pursuit-Spielstein.

Gefangen.

Aber vielleicht ist ja auch die Welt gefangen? Das ganze Universum. Nur in dem kleinen Tortenstück, in dem ich gerade sitze, kann man sich frei bewegen. Alles andere ist hinter Gittern.

Perspektivenwechsel.

Mein Vater hat mich dazu gebracht, die Welt auf völlig andere Weise zu sehen. Für kurze Zeit jedenfalls. Das war wohl von Anfang an sein Ziel gewesen.

Man könnte auch sagen, dass ich kurze Zeit genauso verrückt war wie er.

Jetzt kann ich die Welt nicht mehr so sehen, doch ich erinnere mich noch an das Gefühl. Dann wird mir schwindelig, und ich muss mich hinsetzen.

Letztens hat sich ein Rabe da oben auf der Mauer niedergelassen. Zumindest glaube ich, dass es ein Rabe war. Ein großer schwarzer Vogel.

Ob sie es war? Aber was will sie dann von mir? Sind wir denn nicht fertig miteinander?

Bitte. Lass uns miteinander fertig sein.

Bei Tag träume ich von meiner Mutter und bei Nacht von Klara und Madde.

Der Himmel über dem Stahlnetz ist bleigrau.

Wie an dem Tag, an dem mein Vater anrief.

Kapitel 3

Bevor mein Leben auf den Kopf gestellt wurde, arbeitete ich bei einem häuslichen Pflegedienst, seit fast vier Jahren schon. Mir gefiel der Job. Mit meinem kleinen Dienstwagen fuhr ich zu alten Menschen, die noch zu Hause wohnten, manchmal sogar auf kleinen Höfen mitten im Wald. Wahrscheinlich würden sie verkümmern und innerhalb weniger Wochen sterben, würde man sie in ein Heim stecken.

Für die meisten ist der schlimmste Teil meiner Arbeit, den Leuten bei der Körperpflege zu helfen. Windeln zu wechseln, den Alten den Hintern abzuwischen. Doch daran gewöhnt man sich nach ein paar Tagen, zumindest mir ging es so. Danach dachte ich nicht mehr daran, dass es eigentlich eklig war, nahm die Gerüche nicht mehr so deutlich wahr. Es war einfach etwas, das erledigt werden musste.

Für mich war der administrative Teil das Schlimmste. Berichte schreiben, an Besprechungen teilnehmen, Verbrauchsmaterial bestellen – alles, was nicht direkt mit der Arbeit zu tun hat. Todlangweilig. Manchmal spielte ich sogar mit dem Gedanken, mir deswegen einen anderen Job zu suchen.

Viele belastet der Stress und dass man nie genug Zeit für die alten Menschen hat, ständig weiterhetzen muss. Immer das Gefühl hat, zu wenig tun zu können. Meine Größe und meine körperliche Kraft kamen mir zugute, ich konnte einen alten Mann, wie zum Beispiel Göte in Virseryd, allein in die Dusche manövrieren. Auch wenn er im letzten Jahr abgenommen hatte, wog er immer noch weit über hundert Kilo. Wenn ich nicht bei ihm war, mussten zwei meiner Kollegen zu ihm fahren. Wenn Göte stürzte, konnte nur ich allein ihm wieder aufhelfen.

Es war der Dienstag nach Mittsommer. Das Wetter war beschissen, kalt und regnerisch, der Himmel hing bleigrau über dem Fichtenwald. Sommer in Småland. Ist er irgendwo anders im Land genauso mies? Auf diesem Planeten? Ich wage es zu bezweifeln. Bei diesem Wetter sehnte ich mich jedenfalls noch mehr nach meinem Urlaub. Madde und ich wollten in der darauffolgenden Woche nach Antalya in die Türkei fahren, wo wir uns im letzten Sommer kennengelernt hatten.

So war der Plan. Himmel. So unendlich lange scheint das her zu sein.

An jenem Morgen war ich schon ein paar Stunden in meinem kleinen Auto herumgeflitzt, und es war fast neun Uhr. Die Landstraßen lagen einsam und verlassen da. Ich dachte an den Traum von Klara, der viele verschiedene Gefühle in mir aufgerührt hatte. Freude, dass ich sie noch einmal gesehen hatte, wenn auch nur im Traum. Wehmut beim Aufwachen. Unruhe, die ich selbst nicht ganz verstand.

Fahr nicht.

Ich kroch durch Tannsjö, den kleinen Ort, an dessen Rand die alte Birgit wohnte. Eine unbemannte Tankstelle, ein kleiner Lebensmittelladen. Geschäfte, die leer standen, seit ich mich erinnern konnte. Das zweigeschossige Mietshaus, das einzige in Tannsjö. Kein Mensch war zu sehen.

Ich stellte den Wagen in der Einfahrt zu Birgits kleinem Bungalow aus gelbem Backstein ab, der sicher früher einmal modern und praktisch gewesen war. Birgits Ehemann war vor vielen Jahren gestorben, Kinder hatte sie nie erwähnt.

Wusste Birgit damals beim Einzug, dass sie für immer hier wohnen bleiben würde? Oder ging sie davon aus, es wäre nur die erste Station auf ihrer gemeinsamen Reise durchs Leben? Hatte sie das Gefühl, noch unendlich viel Zeit zu haben, unendlich viele Möglichkeiten?

Ich sperrte die Haustür auf, ging hinein und entdeckte den nassen Fleck in der Diele.

Das war nicht das erste Mal. Birgit war im Winter neunzig geworden und dement. Manchmal zog sie sich nachts die Windel aus. Und da konnte man dann im Haus ein paar Überraschungen finden.

Ich ging zu ihr ins Schlafzimmer. Sie lag im Bett und schnarchte mit offenem Mund. Ich griff nach ihrer knochigen, altersfleckigen Hand und drückte sie vorsichtig.

»Birgit? Hallo, Birgit?«

Sie öffnete die Augen, fast wie in Zeitlupe, sah mich verschlafen und verwirrt an, erkannte mich offenbar nicht.

»Guten Morgen. Ich bin’s, Isak.«

Ein zaghaftes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, und ihre wässrigen grauen Augen wirkten lebendiger.

»Oh, hallo«, sagte sie.

»Haben Sie gut geschlafen? Geht es Ihnen gut?«

»Besser als morgen«, erwiderte sie heiser.

Ich lächelte. Birgit hatte ein paar Standardantworten, die sie jedes Mal zum Besten gab. Das war die Demenz. Doch es war unwichtig, dass ich die Scherze schon Hunderte Male gehört hatte, ich freute mich über das Funkeln in ihren Augen.

Da nahm ich einen verräterischen Geruch wahr. Ja, ganz immun war ich nicht dagegen. Ich hob die Bettdecke hoch. Birgit war von der Taille abwärts nackt und hatte ihren Darm ins Bett entleert.

Auch das nicht zum ersten Mal.

Da vibrierte mein Handy. Ich sah aufs Display, ob jemand von der Arbeit anrief oder Madde. Nein, eine unbekannte Nummer. Bestimmt ein Telefonverkäufer. Ich drückte den Anruf weg und machte mich an die Arbeit.

Eine halbe Stunde später saß Birgit gewaschen und mit frischer Windel und sauberer Kleidung in der Küche und frühstückte. Ich hatte den Urin in der Diele aufgewischt, Kaffee gekocht und ein paar Käsebrote geschmiert. Während sie die genüsslich kaute und ihren Kaffee schlürfte, stopfte ich die verschmutzte Bettwäsche in die Waschmaschine und bezog das Bett neu. Dann ging ich zu ihr in die Küche. Sie musterte mich mit einem Blick, als sähe sie mich zum ersten Mal. Birgits Hals war versteift, weshalb sie den Kopf nicht in den Nacken legen konnte und den ganzen Oberkörper nach hinten lehnte, als wolle sie an einem Hochhaus hinaufsehen.

»Na, das ist aber mal ein strammer Bursche«, sagte sie und kicherte.

»Ganz genau.« Ich grinste.

Das sagte sie jetzt zum zweiten Mal an diesem Morgen. Und bestimmt würde sie es noch ein paarmal sagen, bevor ich weiterfahren musste.

Ich schenkte mir auch eine Tasse Kaffee ein und setzte mich neben sie an den Tisch.

»Wollen wir dann ein bisschen herumlaufen?«, fragte ich.

»Ein Spaziergang?«

Ich beugte mich zu ihr und sprach etwas lauter. »Nein, kein Spaziergang, das schaffe ich heute nicht. Aber wir könnten hier im Haus ein wenig herumgehen.«

»Ja, in Ordnung.«

»Sie wissen ja, es hilft Ihnen, wenn Sie sich bewegen. Dann tut der Rücken nicht so weh.«

»Aber ich habe doch gar keine Rückenschmerzen.«

»Sehr gut.«

»Ich kann jetzt ohne Krücke liegen.« Sie lachte verschmitzt, und ich lachte auch.

»Sehr gut, Birgit. Sie werden immer besser.« Ich strich ihr zärtlich über die Wange.

Wieder vibrierte mein Handy, aber das musste warten.

Nachdem Birgit und ich ein paar Runden durchs Haus gedreht hatten und ich sie im Wohnzimmer in ihren Sessel gesetzt hatte, umarmte ich sie leicht.

»Ich muss jetzt gehen. Mia kommt am Nachmittag zu Ihnen. Bis morgen.«

»Jaja, kommen Sie nur.«

Ich versperrte die Haustür hinter mir und ging zum Wagen, während ich das Handy aus der Tasche holte. Die unbekannte Nummer hatte mir eine Nachricht hinterlassen.

Hm, Telefonverkäufer machen so etwas normalerweise nicht.

Ich hörte die Nachricht ab.

Erst herrschte Stille, dann holte jemand tief Luft.

Was sollte das denn?

Dann:

»Hallo, Isak. Hier spricht Fredrik. Dein Vater.«

Wieder Stille.

»Ich muss dir etwas erzählen. Könntest du mich bitte unter dieser Nummer zurückrufen? Danke.«

Klick.

Ich setzte mich hinters Steuer, atmete tief ein und starrte lange auf das Handy. Mein Herz klopfte wild.

Kapitel 4

Den restlichen Tag konnte ich kaum an etwas anderes denken als an die Nachricht.

Nach der Arbeit fuhr ich ins Fitnessstudio und absolvierte eine richtig harte Trainingseinheit. Strampelte wie ein Verrückter auf dem Crosstrainer, jagte den Puls auf 175 hoch. Wollte das Hämmern im ganzen Körper spüren, in der Brust, im Hals, in den Ohren, hinter den Augen, sodass der Blick bei jedem Herzschlag verschwimmt. Das harte Training bringt das Gehirn auch wieder in Gang, reißt einen aus dem alten Trott heraus und lenkt die Gedanken in neue Richtungen.

Die anderen im Studio warfen mir verstohlene Blicke zu. Eine etwa zwanzigjährige junge Frau, die ich schon öfter gesehen hatte, schien zu befürchten, ich bekäme gleich einen Herzinfarkt oder so. Aber als ich das Studio verließ, ging es mir besser, ich war ruhiger.

Auf dem Weg zur Wohnung überlegte ich, was ich wegen meines Vaters unternehmen sollte. Ich konnte mich bei ihm melden oder es lassen. Doch auch wenn ich nicht zurückrief, wäre nichts wie vorher. Er hatte Kontakt aufgenommen, wollte mir etwas erzählen. Das würde mir keine Ruhe lassen.

Er hatte mich vor die Wahl gestellt, und beide Alternativen behagten mir überhaupt nicht.

Madde und ich wohnten in einer kleinen Zweizimmerwohnung in der Stadt. In fünf Minuten war man zu Fuß am Marktplatz mit dem alten Rathaus und in zehn Minuten beim großen ICA-Supermarkt. Alles war in der Nähe. Oder auch nichts, wie auch immer man es betrachtete.

Am Fluss stehen neue Eigentumswohnungen, groß und schön mit verglasten Balkonen. Sie sind teuer und gehen trotzdem weg wie nichts. Auch in unserer kleinen Stadt gibt es also Leute mit Geld. Für Madde und mich waren die Wohnungen allerdings unerschwinglich. Wir konnten uns eine heruntergekommene Mietwohnung mit zwei Zimmern leisten, zweiundfünfzig Quadratmeter, im dritten Stock ohne Aufzug.

Wenn ich an die Wohnung denke, droht mich der Schmerz zu überwältigen. Starr sitze ich da und warte, bis er nach einer Weile abflaut.

Unser Leben, unsere Zukunft, all unsere Hoffnungen und Sehnsüchte waren auf zweiundfünfzig Quadratmetern zusammengepfercht.

Im Wohnzimmer stand die ganze Zeit eine unausgepackte Umzugskiste. Wahrscheinlich steht sie immer noch da.

Verdammt.

Als ich zur Tür hereinkam, briet Madde gerade etwas in der Küche.

»Hallo«, rief sie, um das Dröhnen des alten Dunstabzugs zu übertönen.

»Hallo«, rief ich zurück und stellte die Tasche mit meiner Sportkleidung ab, bevor ich durch den schmalen Flur in die kleine Küche ging.

Madde sah zu mir und lächelte. »Na?«

»Hallo.« Ich legte die Hände auf ihre Hüften, sie drehte mir den Kopf zu, und wir küssten uns.

»Oh, du bist ja ganz rot«, sagte sie.

»Ich war im Fitnessstudio.«

Ich zog sie an mich. Sie hielt einen Pfannenwender in der Hand, in der gusseisernen Pfanne brutzelten Truthahnfleischbällchen. Daneben kochten Nudeln in einem Topf.

»Was kann ich tun? Soll ich den Tisch decken?«, fragte ich.

»Ja, gern. Und ein bisschen Gemüse schneiden. Im Kühlschrank liegen Gurken und Tomaten.«

Ich deckte unseren winzigen Küchentisch. Ein paarmal hatten wir zu dritt daran gesessen, wenn mein Großvater zu Besuch gekommen war, aber eigentlich war es zu eng.

Ich sah zu Madde, die auf den Herd konzentriert war. Wir konnten beide nicht besonders gut kochen und hatten auch wenig Interesse daran. Und wie so oft dachte ich, wie komisch das alles war. Wie wunderbar. Dass diese großartige Frau in unserer Küche stand und Fleischbällchen briet. Dass sie von Stockholm zu mir in dieses kleine Nest im finstersten Småland gezogen war.

Madde war neunundzwanzig, ein paar Jahre älter als ich. In meinen Armen wirkte sie klein, aber eigentlich war sie mittelgroß. Sie war schlank und hatte eine gute Figur. Sport trieb sie nie, aber sie sah trotzdem fit aus, keine Ahnung, wie sie das schaffte. An diesem Abend trug sie enge schwarze Jeans (in deren Gesäßtaschen ich gern meine Hände schob) und ein weißes Oberteil, das das kleine Tribaltattoo über ihrem Steißbein verbarg. Die dunkelbraunen Haare gingen ihr gerade mal über die Ohren und ließen ihren schlanken Hals frei. Man sah, dass sie sie nicht hier in der Kleinstadt schneiden ließ. Etwa jeden zweiten Monat fuhr Madde nach Stockholm und ging dort zum Friseur.

Sie hatte ein hübsches, symmetrisches Gesicht mit hohen Wangenknochen und braunen Augen. Immer sorgfältig geschminkt mit viel Kajal und Rouge.

Besonders liebte ich an ihr jedoch die Dinge, die nicht ganz in das souveräne Bild passten. Die zeigten, dass sie kein Rockstar war, sondern ein ganz normaler Mensch. Ihre weißen Socken, die sich beim Waschen rosa verfärbt hatten. Wie sie sich mit den Zehen des einen Fußes den anderen kratzte. Wie sie unsicher am Herd stand und die verschiedenen Knöpfe unter die Lupe nahm, um mit dem richtigen das kochende Nudelwasser herunterzudrehen.

Hier war sie nicht in ihrem Element. Und ich war der Grund dafür. Wegen mir ertrug sie das alles. Um mit mir zusammen zu sein. Bei dem Gedanken wurde mir wieder mal bewusst, dass ich sie liebte.

An jenem Abend, nachdem mein Vater sich nach zwölf Jahren zum ersten Mal wieder bei mir gemeldet hatte, deckte ich den Tisch und mischte einen Salat aus Gurken, Tomaten und Mais. Madde stellte die abgegossenen Nudeln und die Pfanne mit den Fleischbällchen auf Untersetzer auf den Tisch. Ich holte noch das Ketchup, und wir setzten uns.

»Was hast du heute gemacht?«, fragte ich beim Essen.

»Nichts Besonderes«, antwortete sie. »Ich habe auf der Website vom Arbeitsamt nach neuen Stellenangeboten gesucht, aber sie hatten nichts.«

Als Madde im Winter zu mir gezogen war, arbeitete sie eine Weile auf dem Korseryd Herrgård, in der Vorweihnachtszeit und über Neujahr brauchte man dort zusätzliches Personal. Doch nach der Probezeit hatte man sie nicht übernommen. Seither war sie nicht sehr motiviert, etwas anderes zu finden, auch wenn sie jede Woche die Seite vom Arbeitsamt checkte. Zumindest behauptete sie das.

Ich verdiente nicht gerade die Welt, sagte aber trotzdem, sie solle sich Zeit lassen, ich könne die Miete und alles andere übernehmen. Doch davon wollte sie nichts hören, Widerstand zwecklos.

Madde kam aus einer reichen Familie. Villa in Danderyd, Sommerhaus an der Côte d’Azur. Ihre Mutter hatte altes Geld aus irgendeinem Industrieunternehmen mitgebracht und leitete die Rechtsabteilung eines Konzerns. Maddes Vater war Fotograf und eher der Künstlertyp, aber auf seine Weise sehr erfolgreich. Madde war die zweitälteste von vier Geschwistern und so etwas wie das schwarze Schaf der Familie. Ihre Mutter beschrieb sie als kalt, herrschsüchtig und lieblos, mit ihr war sie nie ausgekommen. Als Teenager hatte Madde rebelliert, oft die Schule geschwänzt und war mit achtzehn von ihren Eltern rausgeworfen worden. Seither hatte sie kaum Kontakt zu ihrer Mutter. Ihr Vater war sanfter, hatte ihr immer wieder mit Geld ausgeholfen und sie wenn nötig auch mal in seinem Atelier wohnen lassen. Sie hatte jeden möglichen Scheißjob in Stockholm gemacht, hatte sie erzählt. Und sie war mit dem Rucksack um die Welt gereist. Manchmal hatte sie ein paar Monate an einem Ort bleiben müssen, um Geld für die Weiterreise zu verdienen.

»Und wie war dein Tag?«, fragte sie.

»Gut«, antwortete ich. »Wie immer.« Ich nahm mir noch Nudeln und verteilte Ketchup darauf. »Sehr lecker.«

Madde lächelte schief und sah mich ironisch an. Sie wusste, dass sie alles andere als eine Spitzenköchin war.

Wir aßen schweigend. Gegen meinen Willen musste ich an meinen Vater denken, an den Traum von Klara. Madde merkte, wie geistesabwesend ich war.

»Ist irgendwas passiert?«, fragte sie schließlich.

»Nein, warum?«

»Du wirkst nachdenklich.«

»Nein, alles in Ordnung. Ich habe nach dem Training nur einen Riesenhunger.«

Madde nickte und sah auf ihren Teller. Sie wirkte nicht überzeugt. »Okay.«

»Wollen wir heute Abend einen Film anschauen?«

»Das klingt super.«

Ich konnte ihr aus dem ganz einfachen Grund nichts vom Anruf meines Vaters erzählen, dass sie dachte, meine Eltern seien tot. Bei einem Brand umgekommen, als ich noch ein Kind war. Und Madde war so einfühlsam gewesen, nicht weiter nachzufragen.

So war es mir am einfachsten erschienen. Wer rechnete schon damit, dass mein Vater sich nach so vielen Jahren melden würde? Und in gewisser Weise war es ja auch keine Lüge. Für mich war er tot.

Klara hatte ich nie erwähnt.

Madde legte ihr Besteck auf den Teller, sie war fertig. Ich spießte die letzten Fleischbällchen in der Pfanne auf.

»Du«, sagte ich, »mir ist gerade eingefallen, dass ich nach dem Essen noch mal los muss. Ich habe Großvater versprochen, ihm bei etwas zu helfen. Er ist gerade im Sommerhaus.«

»Aha.«

»Es dauert nicht lange. Wir können uns danach noch was anschauen.«

»Okay.«

Es stimmte, dass mein Großvater in seinem Haus auf dem Land war, aber wir hatten nichts vereinbart. Ich musste ihm nur erzählen, dass sich mein Vater gemeldet hatte, und das wollte ich nicht am Telefon machen, damit Madde nichts hörte.

Vor zwölf Jahren hatte mein Großvater nach meiner letzten Begegnung mit meinem Vater zu mir gesagt, ich müsse es ihm sofort erzählen, wenn er sich noch einmal melden sollte. Ich dürfe ihn auf keinen Fall allein treffen. Auf gar keinen Fall.

Das hatte ich ihm damals hoch und heilig versprochen, und dieses Versprechen würde ich halten.

Kapitel 5

Mit unserem klapprigen Nissan Micra fuhr ich aus der Stadt und über eine Landstraße durch dichte Fichtenwälder. Der Asphalt glänzte noch nass, es regnete aber nicht mehr.

Es sind nur etwa zwanzig Kilometer, doch die Fahrt dauert über eine halbe Stunde. Der erste Teil der Strecke verläuft geradeaus, da kann man Gas geben. Bei der Abzweigung nach Rongaryd wird die Straße dann kurviger, und schließlich holpert man über einen schmalen Schotterweg durch den Wald, der kein Ende zu nehmen scheint. Gras und niedriges Gestrüpp schaben an der Unterseite des Autos. Großvater hat mal erzählt, dass sich irgendwo hier im Wald, östlich des großen Sees Lunnen, der Punkt in Småland befindet, der am weitesten von bewohnten Gebieten entfernt ist.

Der Wald ruft gemischte Gefühle in mir hervor. Ich mag die Stille zwischen den dicken Baumstämmen, den grünen Moosteppich. Ein bisschen wie in einer Kirche. Man wird ganz ruhig. Trotzdem fürchtete ich seit meiner Kindheit kaum etwas so sehr, wie mich im Wald zu verirren.

Der Regen setzte wieder ein, feine Tropfen bedeckten die Windschutzscheibe. An einem bewölkten Tag wie heute war es im Wald fast dunkel.

Die Bäume lichteten sich, und man konnte den See erahnen. Kurz darauf war ich bei dem Wochenendhaus angelangt und stellte den Wagen ab. Ich ging um die Ecke und sah über den See, mit dem ich viele meiner schönsten Erinnerungen verband. Und die schrecklichsten.

Das Grundstück fiel leicht zum Ufer und zu unserem Strand hin ab. Großvater hatte überlegt, den alten steinernen Steg durch etwas Moderneres zu ersetzen, ihn dann aber schließlich doch repariert, damit er noch eine Weile hielt. Auf jeden Fall solange Großvater noch am Leben war. Schilf säumte den Strand, man musste aufpassen, dass er nicht alles überwucherte. Jedes Frühjahr schlugen Großvater und ich mit unseren Sensen eine breite Schneise bis ins flache Wasser.

Hier am Ufer hatte ich im Traum mit Klara gesessen.

Fahr nicht.

Wind war aufgekommen, und der See war dunkelgrau, aber noch spazierten keine weißen Gänse auf den Wellen, wie Großvater zu sagen pflegt. Das andere Ufer war dicht mit Wald bewachsen. Der Lunnen ist ein großer See, der sich weit nach Norden und nach Süden erstreckt. Doch nur hier vor dem Haus ist er eine weite Wasserfläche, sonst ist er von Buchten und unzähligen kleinen Inseln durchzogen und wirkt eher wie viele kleine Seen in einem großen. Dreihundertfünfundsechzig Inseln, heißt es, eine für jeden Tag des Jahres. Aber es kommt wahrscheinlich darauf an, welche man alle mitzählt.

Früher stand hier mal ein kleiner Bauernhof. Noch früher hatten auch die Felder dazugehört, und im Wald standen noch Reste einer alten Steinmauer und ein Erdkeller. Wie anstrengend es gewesen sein musste, den Wald zu roden und die Steine abzutragen, um dann auf einem kleinen Ackerstück etwas anbauen zu können. Die Großmutter meines Großvaters war hier aufgewachsen, zusammen mit sechs Geschwistern. In einem Jahr war die Ernte ausgeblieben. Durch den Winter schafften sie es irgendwie, doch im Frühjahr hatten sie nichts mehr zu essen. Die Eltern verboten den Kindern, tagsüber draußen zu spielen, weil sie davon zu großen Hunger bekamen. Bis zum Sommer mussten sie im Bett liegen und durften sich kaum bewegen.

Das war vor gut hundert Jahren. Das Leben war damals um einiges härter.

Wenn Großvater mir die Überreste der alten Äcker nicht gezeigt hätte, wären sie mir nie aufgefallen. Der Wald hatte sich alles zurückgeholt, was meine Vorfahren ihm unter großen Mühen abgerungen hatten. Am Ende gewinnt doch immer die Natur.

Ich ging zurück zum Haus, das am gleichen Platz wie der alte Hof stand. Ein Fertighaus, nicht besonders modern, ein bisschen wie aus den Achtzigern. Aber so wollte es Großvater.

Ich zog die Haustür auf und ging hinein ins Trockene. Während ich die Schuhe abstreifte, rief ich: »Hallo?«

»Hallo!«, antwortete Großvater.

Ich wusste, dass er hier war und herumwerkelte, denn Madde und ich hatten ihn am Wochenende besucht. Da hatte er uns erzählt, dass er als Nächstes den Dachboden mit Glaswolle isolieren wollte.

Ich ging in die zum Wohnzimmer offene Küche, als Großvater gerade die Treppe vom Dachboden hinunterkam.

»Hallo.« Er lächelte.

»Hallo«, antwortete ich. Wir begrüßten uns, wie ein kleiner Junge verschwand er beinahe in meinen Armen.

»Wie schön, dass du vorbeikommst.«

»Ja, ich wollte mal schauen, wie es vorangeht. Damit du die Isolierung nicht auf der falschen Seite anbringst oder so.«

Er lachte. Mein Großvater Anders war gerade vierundsiebzig geworden. Für sein Alter war er ziemlich fit, auch wenn er etwas gebeugt lief. Mager und sehnig war er schon immer gewesen. Ein Knie machte Probleme, weshalb er leicht hinkte und auf einen Termin für eine Operation wartete. Seine weißen Haare standen in alle Richtungen ab, vor allem, wenn er herumwerkelte und ihm warm geworden war, wie jetzt. Sein Bart war ebenfalls weiß und einigermaßen gepflegt, jedenfalls verglichen mit seinen Haaren.

Manchen Menschen sieht man sofort an, wie es ihnen geht. Ob sie fröhlich sind, verärgert, traurig, besorgt. Madde ist so jemand, man erkennt es an ihren Augen. Andere Menschen haben fast immer denselben Gesichtsausdruck. Großvater zum Beispiel. Er hat kleine Augen und wirkt immer, als würde er sie leicht zusammenkneifen. Er grinst fast nie, und wenn er lächelt, spannt die Haut um seine Mundwinkel. Sein Gesicht scheint im Alter versteinert zu sein, genauso wie sein Körper. Aber ich kenne ihn gut und weiß genau, wie es ihm geht. Fast besser als Madde. Ich sehe es an seinem Blick, höre es an seiner Stimme. Nuancen, die niemandem sonst auffallen.

Wir telefonieren jeden Tag miteinander, oft mehrmals. Sehen uns ein paarmal in der Woche. Kein Wunder, dass ich ihn so gut kenne.

Und jedes Mal wirkt er, als würde er sich freuen, mich zu sehen, meine Stimme zu hören.

Er hat nie gesagt, dass er mich liebt, so etwas passt nicht zu meinem Großvater. Aber ich habe nie auch nur eine Sekunde daran gezweifelt.

Doch, ein paarmal schon. Und da dachte ich, dass meine Welt zusammenbricht. Aber dazu komme ich noch.

»Kaffee?«

»Gern.«

Großvater befüllte die Kaffeemaschine und schaltete sie ein, während ich zwei Tassen aus dem Schrank holte und sie auf den Tisch stellte.

»Ich vermisse die Speisekammer aus dem alten Haus«, sagte Großvater. »Die Küche lag nach Norden, und in der Speisekammer war es immer kühl.«

»Ich muss dir was erzählen.«

»Hm?« Großvater blickte auf, während er Mandelkekse in einen kleinen Korb legte. Mein Herz schlug schnell, und mein Mund war trocken.

»Papa hat heute angerufen und eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen.«

Großvater legte die Tüte mit den Mandelkeksen beiseite und richtete sich auf. Stand wie erstarrt da.

»Also …«, sagte ich. »Das wollte ich nur erzählen.«

Großvater sah abwesend durch die großen Fenster zum See, sein Mund war leicht geöffnet.

»Das hätte ich nicht gedacht«, sagte er schließlich und ließ sich auf einen Stuhl am Küchentisch sinken. Auf einmal sah er älter aus, müder.

»Ich habe nicht zurückgerufen.«

Großvater starrte stumm zum Wasser. Ich sah auch aus dem Fenster. Die Wellen waren rauer geworden und dunkelgrau.

»Was wollte er?«, fragte Großvater.

»Das hat er nicht gesagt.«

Die Kaffeemaschine gurgelte und zischte.

»Ich weiß nicht …« Ich verstummte, hatte keine Ahnung, wie ich den Satz beenden sollte.

»Nach all den Jahren«, sagte Großvater wie zu sich selbst.

Die Kaffeemaschine blubberte lauter und zischte noch einmal leise. Ich holte die Kanne und schenkte uns Kaffee ein, dann setzte ich mich gegenüber von Großvater an den Tisch.

»Was soll ich jetzt machen?«, fragte ich. »Soll ich ihn zurückrufen?«

Großvater seufzte und schüttelte leicht den Kopf.

»Das kann ich dir nicht sagen«, antwortete er. »Das musst du selbst …« Er trank einen Schluck Kaffee.

»Ich weiß«, erwiderte ich. »Aber ich möchte gern hören, was du darüber denkst.«

In diesem Moment erkannte ich vieles auf Großvaters Gesicht. Müdigkeit, Niedergeschlagenheit, Schmerz, aber vor allem Sorge. Fast bereute ich, es ihm erzählt zu haben.

Aber vor zwölf Jahren hatte ich es ihm doch versprochen.

Großvater sah immer noch zum See. Das offene Wasser war wie ein Feld aus Eisen. Doch jetzt sah man die weißen Schaumkronen.

Schließlich sagte er: »Nein. Ich denke, du solltest nicht zurückrufen.«

Er schluckte. Seine Stimme war rau, als er weitersprach.

»Du weißt, dass er nach dem Brand einen Zusammenbruch hatte und eine Weile auf einer geschlossenen psychiatrischen Station war.«

»Ja.«

»Aber …« Großvater räusperte sich. »Er war auch schon davor psychisch instabil und hat sich sehr seltsam verhalten. Und …«

Großvater sah zu mir, die Erschütterung war ihm anzumerken. Seine Stimme bebte.

»Du bist ein guter Mensch, Isak. Ich will nicht, dass du …« Wieder verstummte er und blickte auf die Tischplatte.

»Das dachte ich mir«, sagte ich. »Wenn er sich noch einmal meldet, schreibe ich ihm, dass ich keinen Kontakt zu ihm haben möchte.«

Großvater nickte leicht.

Wir tranken unseren Kaffee und unterhielten uns über andere Dinge. Großvater wollte Holz für eine Terrasse kaufen, die wir nach meinem Urlaub zusammen bauen würden.

Zum Abschied umarmte ich ihn und hielt ihn etwas länger fest als sonst. Er bat mich, Madde zu grüßen. Dann ging ich rasch zum Wagen. Regen und Wind waren noch stärker geworden.

Langsam fuhr ich über den Schotterweg durch den dunklen Wald. Das Auto schwankte, wenn es über Wurzeln und durch tiefe Pfützen rollte.

Ich dachte an das letzte Zusammentreffen mit meinem Vater.

Kapitel 6

Mit acht Jahren begann ich mit dem Fußballspielen. Großvater fand, ich bräuchte ein Hobby. Einige Jungen in der Mannschaft hatten schon mit fünf angefangen und seither in jeder Pause im Kindergarten und in der Schule gespielt, das ganze Jahr über, bei Sonne und im Schneegestöber. Sie hatten mir also viel voraus. Doch dann spielte auch ich während der Pausen und ließ kein Training ausfallen, und nach und nach gehörte ich in der Schule mehr dazu, was vermutlich von Anfang an Großvaters Hoffnung gewesen war.

Mit elf, zwölf schoss ich in die Höhe. Mit dreizehn war ich schon über einen Meter achtzig groß, der Größte und Stärkste in der Mannschaft. Unser Trainer Pontus teilte mich als Innenverteidiger ein.

In dem Jahr begannen wir, elf gegen elf zu spielen. Wir waren eines der besseren Teams der Liga und die meiste Zeit im Ballbesitz. Ich passte an der Mittellinie auf und behielt die Gegner im Blick. Oft bemerkte ich rechtzeitig die Gefahr, und in der ganzen Saison verlor ich keinen einzigen Zweikampf.

Es war ein Sonntagabend Ende August. Ein warmer, sonniger Tag, das weiß ich noch, auch wenn es abends kühler wurde. Die langen, lauen Sommerabende waren vorbei. Das Spiel begann um sieben oder so, bald würde es dunkel werden.

Wir waren bei einem Auswärtsspiel in Lunneberg, die eine ziemlich gute Mannschaft hatten und mit uns um die Tabellenspitze kämpften. Deren A-Mannschaft spielte damals in der vierten oder sogar dritten Liga. Großvater brachte mich zum Spiel und würde es sich auch anschauen. Der Sportplatz lag am Waldrand, und wie bei vielen alten Anlagen führte die Tartanbahn um die Grasfläche herum. Die Grube für den Weitsprung war alt, das Absprungbrett von Rissen durchzogen, im Sand wuchsen Grasbüschel. Die kleine Holztribüne sah aus, als könnte sie jederzeit einstürzen, und die Umkleidekabinen in dem alten Clubgebäude rochen nach Schweiß. Der Platz war uneben und voller Löcher.

Für Lunneberg spielte ein Typ, den ich von früher kannte. Viggo.

Mit sechs war ich nach dem Unglück von Stockholm zu meinen Großeltern gezogen. Es war nicht einfach, aus der Hauptstadt in eine Vorschulklasse auf dem Land zu wechseln, in der sich alle schon seit dem Kindergarten kannten. Ich war unglücklich, blieb meistens für mich und spielte allein.

Viggo ging in meine Klasse und war einer von denen, die in jeder freien Minute Fußball spielten. Oft kickte er den Ball auch im Schulflur herum, bis es ihm die Erzieherinnen verboten. Schon damals hatte er ein hervorragendes Ballgefühl und eine gute Technik. »Viggo schafft es mal in die Nationalmannschaft«, sagten die anderen Jungen in der Klasse bewundernd. Als er anfing, mich »Feuerwehrmann« zu nennen, taten es ihm die anderen schnell nach.

Wurde ich gemobbt? Kann sein. Heute würde man es wohl so nennen. Aber ganz ehrlich, damals war das nicht mein größtes Problem. Ich lebte so sehr in meiner eigenen Welt, dass mich das Alleinsein und die abfälligen Wörter, die man mir nachrief, gar nicht erreichten.

Ein paar Jahre später zog Viggo mit seiner Familie nach Lunneberg und ging auf die dortige Schule. Zum Zeitpunkt des Auswärtsspiels hatte ich gerade in der Siebten angefangen, und Viggo ging wieder auf unsere Schule, weil es in Lunneberg keine Mittelstufe gab. Er fuhr jeden Tag mit dem Bus zu uns, war aber zum Glück nicht in meiner Klasse. Irgendetwas an Viggo verursachte mir Unbehagen, und jetzt war mir auch klar, was es war. Als er meine Schule verlassen hatte, war ich noch ein Außenseiter, ein komischer kleiner Junge, der immer allein irgendwo saß und oft weinte. Später wurde es besser. Ich wuchs meinen Klassenkameraden über den Kopf, und die Mädchen interessierten sich allmählich für mich. Ich wurde auf Partys eingeladen und kam mit Rojda zusammen, die mir Zungenküsse beibrachte.

Ich war nicht mehr wie der Sechsjährige von damals, war in der Hierarchie aufgestiegen. Doch dann erschien Viggo plötzlich wieder auf der Bildfläche, und für ihn war ich immer noch der komische Neue, der bei seinen Großeltern wohnte und völlig ausflippte und wie ein Baby heulte, wenn die Erzieher aus Mama Muh und die Krähe vorlasen. Was wäre, wenn er den anderen erzählte, wer ich wirklich war?

Als wir vor dem Sommer gegen Lunneberg gespielt hatten, war Viggo aus irgendeinem Grund nicht dabei gewesen. Doch jetzt war er aufgestellt, er war der Star der Mannschaft, und ich würde ihn decken müssen.

Ich gegen Viggo. Ein Match innerhalb des Matches.

Vor dem Anpfiff stand er in seiner Hälfte und tänzelte auf der Stelle, streckte sich, klatschte in die Hände und feuerte sein Team an. Einmal trafen sich unsere Blicke, doch natürlich grüßten wir uns nicht.

In den Sekunden vor dem Anpfiff ist man nervös, ungeduldig, aufgeregt, platzt beinahe vor Energie. Ein schreckliches, wunderbares Gefühl.

Ich sah zur Seitenlinie. Dort standen unsere Eltern, acht, zehn Leute, dieselben wie immer. Auch Großvater. Außerdem eine Gruppe Eltern aus Lunneberg, die einen kleinen, aber deutlichen Abstand zu unseren hielten.

Neben ein paar kleinen Jungen bei den Lunnebergern stand auch ein Mann mit Sonnenbrille und Baseballkappe etwas abseits. Er wirkte nicht, als ob er zu den anderen Eltern gehörte. Vielleicht wegen seiner Kleidung.

Hatte ich das alles wirklich so bewusst wahrnehmen können, ein paar Sekunden vor Spielbeginn? So konzentriert und voller Adrenalin, wie ich gewesen war?

Vielleicht habe ich nachträglich zu viel hineininterpretiert, aber ich glaube trotzdem, dass ich damals schon ahnte, wer der Unbekannte war. Auch wenn es mir nicht bewusst war.

Der Anpfiff ertönte, Tor spielte mir den Ball zu. Viggo stürmte auf uns zu, ich schlug eine hohe Flanke auf die linke Seite, und Lunneberg hatte Einwurf.

Die ersten Sekunden verliefen nach Plan.

Nach ein paar Minuten gab es den ersten Zweikampf zwischen mir und Viggo. Der Ball war in der Hälfte von Lunneberg, doch ihr Mittelfeldspieler holte ihn sich, blickte auf, und Viggo legte los. Ich rannte ihm nach, wurde immer schneller und hatte ihn überholt, als der Ball kam. Ich war mir ziemlich sicher, dass Viggo es nicht an mir vorbeischaffen würde, der Pass war außerdem etwas zu steil. Jetzt musste ich nur noch den Ball bewachen, bis er ins Aus gerollt war. Ich stoppte den Ball ein, zwei Meter vor mir, Viggo versuchte links an mir vorbeizukommen, was ich verhinderte. Er wollte mich wegdrängen, doch ich hielt mit der Schulter dagegen.

Viggo stürzte, und der Ball landete im Aus.

»Super, Isak!«, riefen meine Teamkameraden und klatschten.

Ich holte den Ball und warf ihn unserem Torwart Sebbe zu. Zufrieden lief ich zurück Richtung Mittellinie.

Viggo war wieder auf den Beinen. Als er an mir vorbeijoggte, spuckte er ins Gras und sagte, ohne den Kopf zu heben: »Alles klar, Feuerwehrmann?«

Ich schwieg. Das übliche Gerede auf dem Spielfeld lag mir nicht, ich war einfach nicht schlagfertig genug.

Nach einer Ecke gingen wir mit eins zu null in Führung. Der Ball war wie eine Flipperkugel in den Strafraum geflogen und irgendwie im Tor gelandet. Dann machten wir das zwei zu null bei einem richtig coolen Angriff, den Real Madrid auch nicht besser verwandelt hätte, ganz sicher.

Allmählich hatten wir das Gefühl, die Oberhand im Spiel zu haben.

Viggo beschimpfte mich weiter, sobald wir in Hörweite voneinander waren. Feuerwehrmann dies, Feuerwehrmann das, »Du bist immer noch total gestört«, »Malst du noch diese kranken Bilder« und so weiter. Er konnte sich nicht gegen meine Manndeckung durchsetzen, klar, dass er angepisst war.

Doch kurz vor der Halbzeitpause bekam Lunneberg eine Ecke, und irgendwie schaffte es der Ball über Viggo durch das Gedränge im Strafraum ins Tor.

Jubelnd scharten sich die Lunneberger um ihn, ihr Trainer brüllte euphorisch, während unser Torwart den Ball aus dem Netz holte.

War das Tor mein Fehler? Nicht direkt. Aber ich hätte schneller bei Viggo sein und den Schuss abblocken können.

Viggo befreite sich aus dem Knäuel seiner Mitspieler, lief zu mir und schrie mir ins Gesicht: »Fang jetzt bloß nicht an zu heulen, Feuerwehrmann!«

Triumphierend starrte er mich an.

Der Schiedsrichter, der wohl sechzehn oder siebzehn war, hörte ihn und blies kurz in seine Pfeife. »He, du. Beruhig dich mal.«

Er warf Viggo einen strengen Blick zu, doch der joggte schon mit seinen Kameraden davon.

»Jetzt drehen wir das Spiel!«, verkündete er laut, damit wir es auch hörten.

Kurz darauf blies der Schiedsrichter zur Pause, und wir gingen vom Platz. Pontus baute uns auf, sagte, die erste Halbzeit sei perfekt gelaufen, bis auf das unglückliche Gegentor am Ende. So was passierte nun mal. Aber wir hätten das Spiel immer noch im Griff. Wir müssten nur wieder zurück auf den Platz und unser Ding machen.

»Die anderen labern so viel Scheiße«, beschwerte sich Sebbe. »Vor allem der lange Typ im Sturm. Der spinnt total.«

»Kann sein«, erwiderte Pontus. »Lasst ihn reden. Konzentriert euch auf das Spiel. Das ist das Beste, was ihr tun könnt.«

Sebbe warf mir einen Blick zu, fragte sich wohl, ob ich noch etwas sagen wollte, nachdem ich ja offensichtlich die Zielscheibe von Viggos Angriffen gewesen war. Doch ich schwieg.

Der Schiedsrichter pfiff. Wir liefen auf den Platz, stellten uns im Kreis auf, die Arme umeinander gelegt und feuerten uns an. Die Gegner waren schon in ihrer Hälfte, der Ball lag auf dem Anstoßpunkt, unter Viggos rechtem Fuß. Der Anpfiff ertönte, und Viggo trat den Ball zu einem seiner Innenverteidiger.

Dann fing er wieder an.

»Was ist denn los, Feuerwehrmann? Hast du kein Feuer unterm Arsch?«

»Halt die Klappe.«

»Hey, der Freak kann ja doch reden! Haha!«

Jetzt hatte er mich doch. Ich war zwar der Größte und der Stärkste auf dem Spielfeld, doch in seiner Gegenwart fühlte ich mich klein.

Automatisch hielten wir uns nicht an das, was Pontus gesagt hatte, und versuchten nur, unsere Führung zu halten. Machten hinten dicht und spielten keine Angriffe mehr aufs gegnerische Tor. Und dann kam es wie so oft. Kendal spielte den Ball zurück, es gab ein Missverständnis zwischen unserem Innenverteidiger Adde und mir, wir beide liefen nur halbherzig zum Ball, die Nummer zehn der Lunneberger schnappte sich ihn und lieferte Viggo eine perfekte Vorlage.

Ich riss die Hand hoch und rief: »Abseits!«, auch wenn Viggo in seiner Spielhälfte gewesen war.

Er hatte mehrere Meter Vorsprung, und es durchlief mich eiskalt. Nein, nein, nein. Viggo darf sich nicht freilaufen und ein Tor schießen.

Damit würde er mich wieder zu dem verzweifelten Sechsjährigen von früher machen. Der fast verschwand. So fühlte es sich für mich an. Es ging um Leben und Tod.

Ich beschleunigte, doch auf einer kurzen Distanz war Viggo schneller und baute den Vorsprung aus.

Alle schrien – Mitspieler, Trainer, Zuschauer.

Ich lief noch schneller, doch nicht schnell genug.

Mir blieb keine andere Wahl.

Ich warf mich nach vorn und schnitt ihm den Weg ab.

Eine Blutgrätsche wie aus dem Lehrbuch. Wenn sie dort nur tatsächlich stehen würde und nicht verboten wäre. Abgesehen davon war sie technisch perfekt.

Viggo fiel vornüber und blieb mit dem Gesicht nach unten im Gras liegen. Er hatte sicher keine Ahnung, wie ihm geschah.

Ein herrliches Gefühl, ganz ehrlich. Viggo konnte kein Tor machen, und ich war erleichtert. Aber es geschah ihm auch recht, weil er mich die ganze Zeit provoziert hatte, weil er den Sechsjährigen von damals wieder ans Licht zerren wollte und ich mich klein und ausgeliefert fühlte.

Der Trainer von Lunneberg rannte brüllend aufs Spielfeld. »Schiri! Das war ein Foul!«

Viggo rappelte sich auf, kam zu mir und schlug mir mit beiden Händen und wildem Blick gegen die Brust. »Was sollte das, du verdammter Wichser?«

Der Schiedsrichter lief zu uns, die gelbe Karte schon in der Hand.

»Das war rot!«, schrie der Lunneberger Trainer.

Viggos Kameraden näherten sich, er selbst starrte mich immer noch hasserfüllt an.

»Du gehörst echt eingesperrt, verdammt! Ist doch nicht meine Schuld, dass deine blöde Mutter verbrannt ist.«

Und im nächsten Moment schlug ich ihm mit aller Kraft meine Faust ins Gesicht.

Kapitel 7

Der Schiedsrichter schob mich zur Seite. Viggo lag schreiend im Gras, zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten, umringt von seinen Kameraden. Der Trainer der Lunneberger schrie auf mich ein, doch ich hörte ihn nicht, erlebte alles wie aus weiter Ferne.

Der Schiedsrichter zog die rote Karte aus der Brusttasche und hielt sie vor mich hin. Pontus, der plötzlich neben mir aufgetaucht war, führte mich vom Platz.

Ich warf einen Blick über die Schulter. Viggo saß weinend im Gras und hielt sich die Hand vor den blutenden Mund.

»Ab in die Umkleide mit dir, wir reden nach dem Spiel«, sagte Pontus. »Aber das hier geht wirklich überhaupt nicht.«

Er klang kühl und verärgert. Die Grätsche hätte er mir verziehen, da war ich mir ziemlich sicher, auch wenn sie vielleicht unnötig brutal gewesen war. Doch dass ich Viggo niedergeschlagen hatte, dafür gab es keine Entschuldigung.

Ich ging vom Platz. Großvaters Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen. Er sah traurig aus, besorgt und ein wenig, als würde er mich gar nicht kennen, weil ich etwas Schreckliches getan hatte. Als wäre ich ein Fremder.

Diesen Ausdruck hatte ich vorher noch nie an ihm gesehen und seither auch nur noch ein Mal, in Ajkeskorn.

Trotzdem legte er mir den Arm um die Schultern und begleitete mich zur Umkleide.

Hinter uns rief der gegnerische Trainer Pontus zu: »Der hat doch echt nichts auf einem Fußballplatz zu suchen!«

»Das entscheidet der Schiri«, brüllte Pontus genauso wütend zurück.

Wir betraten die Umkleide und sperrten die aufgebrachten Stimmen draußen aus. Ich ließ mich auf eine abgewetzte Holzbank sinken, Großvater setzte sich neben mich.

»Was war da los?«

Ich brach in Tränen aus, weil ich mich so furchtbar schämte. Ich hatte die Kontrolle verloren und etwas Unverzeihliches getan. Vor Menschen, die ich zum Teil nicht mal kannte. Andere kannte ich hingegen sehr gut, wie Pontus und meine Mannschaftskollegen.

Würde ich das je wiedergutmachen können?

Das alles war schon schlimm genug. Doch dass ich Großvater enttäuscht hatte, machte mich wirklich fertig. Diese Distanz in seinem Gesichtsausdruck jagte mir eine Höllenangst ein. Mit dreizehn war mein Großvater immer noch das Wichtigste für mich, mein einziger Halt, und wenn er mich nicht mehr mochte, war wirklich alles verloren. So richtig im Arsch. Wenn sogar er sich von mir abwandte, wollte ich nur noch sterben.

Die Welt schien in ihren Grundfesten erschüttert zu sein, die Scham wurde immer größer, drohte mich zu überwältigen, und ich schluchzte verzweifelt.

Großvater nahm mich in den Arm, wofür er sich etwas unbequem drehen musste, außerdem war er kleiner als ich. Doch das war egal. Ich lehnte mich an ihn. Spürte seine Wärme, roch seinen ganz besonderen Geruch. Er strich mir über die Haare.

»Na, na, so schlimm ist es auch wieder nicht.«

Ich würgte. »Doch.«

Er nahm meine Hand. Seine war braungebrannt und sehnig. Damals kannte ich nur zwei Arten Hände – die von Kindern und die von alten Leuten. Ich dachte, dass alle erwachsenen Hände wie die meines Großvaters aussahen.

Ich weiß nicht, wie lange wir so dasaßen und ich weinte. Lange. Irgendwann beruhigte ich mich ein wenig.

»Hat dieser Junge etwas zu dir gesagt? Oder warum bist du so wütend geworden?«

Ich nickte. Schniefte. »Mm.«

»Und was?«

Ich schwieg lange, dann erzählte ich alles. »Er hat gesagt, ich wäre gestört und dass meine Mutter verbrannt ist.«

Großvater versteifte sich. »Das hat er gesagt?« Er holte tief Luft und stieß sie zischend wieder aus. Das machte er sonst nie. »Da verstehe ich, dass du so wütend geworden bist.«

Seine Stimme war rau und zitterte leicht. Er war auch aufgebracht.

Wir schwiegen. Ich wurde etwas ruhiger, schämte mich nicht mehr so sehr, die Welt kehrte in ihre Fugen zurück. Vielleicht war doch nicht alles im Arsch. Ich wischte mir die laufende Nase mit dem Handrücken ab.

»Moment, ich hole dir was.«

Großvater ging zur Toilette und kam mit einem Papierhandtuch, einem dieser groben, ungebleichten, zurück. Ich putzte mir die Nase, das Papier kratzte auf der Haut.

»Ich spreche mit dem gegnerischen Trainer, er muss wissen, was Viggo gesagt hat. Kommst du erst mal allein zurecht?«

»Ja.«

»Aber schlagen darf man trotzdem niemanden, das ist dir klar?«

»Ja. Tut mir leid.«

Großvater lächelte und zerzauste meine Haare, bevor er die Tür öffnete. Rufe drangen herein, das Geräusch, wenn der Ball getreten wurde. Applaus und Anfeuerungen vom spärlichen Publikum.

Das Spiel ging weiter, als sei nichts passiert. Irgendwie tröstete mich das. Die Welt würde sich trotzdem weiterdrehen, auch wenn ich Viggo eins aufs Maul gegeben hatte.

Die Tür fiel ins Schloss, wieder herrschte Stille. Ich legte den Kopf nach hinten an die Betonwand und schloss die Augen. Öffnete sie irgendwann wieder. An der Wand gegenüber, zwischen zwei Kleiderhaken, war ein Aufkleber, ich glaube, vom Halmstad BK. Ich blickte zur Decke, an der ein paar Kautabakpfropfen klebten.

Da wurde die Tür geöffnet, und mein Vater kam herein.

Kapitel 8

Obwohl ich ihn seit bestimmt sieben Jahren nicht mehr gesehen hatte, erkannte ich ihn sofort.

Eigentlich hätte ich völlig schockiert sein müssen, dass er auf einmal an einem Sonntagabend in der Umkleide in Lunneberg vor mir stand. Doch das war ich nicht. Vielleicht, weil ich ihn unterbewusst schon vor Spielbeginn an der Seitenlinie erkannt hatte.

Er nahm die Sonnenbrille ab und steckte sie in die Brusttasche seines Jacketts. »Hallo«, sagte er. »Kennst du mich noch?«

Damals fiel es mir nicht auf, aber mittlerweile weiß ich, dass ich nach meinem Vater komme. Er war groß und athletisch, hielt sich gerade, mit breiten Schultern. Blonde Locken quollen unter der nach hinten gedrehten Baseballkappe hervor. Sein Gesicht war tief gebräunt.

Seine Kleidung war komisch, zumindest fand ich das damals. Er trug einen Anzug aus einem groben Stoff, aus dem sonst Arbeitshosen bestanden. Blau, mit weißen, auffälligen Nähten. Das Jackett lag eng am Oberkörper an und betonte seine Muskeln. Das weiße Hemd war bis zur Brust aufgeknöpft, um den Hals schmiegte sich ein Tuch aus hellgrauem, leicht glänzendem Stoff. Seine Füße steckten in Sneakers mit den dicksten Sohlen, die ich je gesehen hatte. Sie sahen fast schon albern aus.

Und dann die Baseballkappe. Blau und so ausgeblichen, dass sie fast grau wirkte.

Leute in seinem Alter trugen keine Baseballkappen, zumindest nicht so eine, nicht in diesem Teil von Småland. Und auch kein so elegant um den Hals gebundenes Tuch.

Mein Vater lächelte. Seine Augen leuchteten blau.

Ob ich ihn noch kannte?

»Ja«, antwortete ich.

»Ich habe einen Moment gebraucht«, sagte er. »Auch wenn ich wusste, dass du auf dem Platz sein würdest. Aber dann kam mir der blonde Riese in der Verteidigung doch irgendwie bekannt vor.«

Das war mir ein bisschen peinlich, und ich sah auf meine Hände.

»Wie geht es jetzt weiter? Mit dir, meine ich«, fragte er.

»Äh …« Ich verstand nicht genau, worauf er hinauswollte.

»Wirst du jetzt gesperrt?«

»Wahrscheinlich, ja.«

Mein Vater nickte und schwieg.

»Er hat was zu dir gesagt, hm?«

»Ja.«

»Was?«

Das war zu persönlich. Sieben Jahre hatte ich nichts von ihm gehört, und jetzt tauchte er plötzlich hier in der Umkleide auf und wollte mit mir reden, als wäre er immer da gewesen.

Echt nicht.

Schweigend sah ich zu Boden. Da sagte mein Vater etwas, das mich total überraschte.