Der Befehl des Königs - Alexander M. Lebelt - E-Book

Der Befehl des Königs E-Book

Alexander M. Lebelt

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Beschreibung

Für Ruhm und Ehre! Der gregorianische Krieger Arius hat ein Ziel: den Wächtern des Königs beizutreten. Gleichzeitig sehnt er sich nach Abenteuern fern der Heimat. Als der König sich auf eine geheime Mission in das magische Nachbarkönigreich Maraiya begibt, entscheidet das Schicksal im Sinne des Kriegers. Ein heimtückischer Hinterhalt entfesselt einen Krieg, in dem Arius einen folgenreichen Auftrag erhält, der ihn in die entlegensten Winkel der Welt bringt. Dort wird er gemeinsam mit alten und neuen Freunden nicht nur auf Orks, Goblins und Elfen stoßen, sondern auch auf einen mächtigen Feind aus grauer Vorzeit. Wird Arius über seine Gegner triumphieren und seinen Auftrag erfüllen können? Der Befehl des Königs ist ein episches Fantasy-Abenteuer von Alexander M. Lebelt, das in eine Welt voller Kampf, Magie, Freundschaft und Liebe entführt.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Der Befehl des Königs

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Der Befehl des Königs

Von Alexander M. Lebelt

Landkarte

Prolog

Die Morgensonne verdrängte langsam die Finsternis der Nacht und deren Kälte. Glutrot erklomm sie den Himmel und tauchte die Felder in goldrotes Licht. Wie flüssiges Feuer spiegelte sie sich in seinen schwarzen Augen. Sanft strich ihm eine Brise über das Gesicht und spielte mit seinen schulterlangen grauen Haaren und ließ seinen weißen Umhang, der sich deutlich von der schwarzen Lederrüstung abhob, hin und her wogen. Äußerlich ähnelte er sehr den Elfen, aber seine graue Haut unterschied ihn deutlich von seinen nächsten Verwandten.

In der Ferne konnte er ihr Ziel sehen: Flüchtlinge! Frauen und Kinder. Ihm und seiner Schar schutzlos ausgeliefert. Menschen hatten nicht den Hauch einer Chance, gegen die Karraphim zu bestehen. Er und neun der anderen Jäger sollten sie abpassen und restlos vernichten.

Die Karraphim, die ihrer Meinung nach höchste Rasse, nahm es sich zur Aufgabe, alle unwürdigen Kreaturen zu vernichten. Vor allem Menschen waren es nicht wert zu leben: Sie waren rachsüchtig, tückisch, gierig, schwach! Die Menschen hatten zudem etwas erfunden, das sich Geld nannte. Des Geldes wegen stritten sie sich, betrogen und mordeten. Etwas, das die Karraphim nicht kannten. Sie lebten für die Gemeinschaft, setzten sich leidenschaftlich für jeden ihrer Art ein und versuchten, jedem zu Wohlstand zu verhelfen. Die Karraphim lebten in vollkommener Harmonie miteinander und mit der Natur. So kamen ihre Führer, darunter ihr weiser und mächtiger König Tarramdíl, zu dem Entschluss, die Welt von allen unwürdigen Lebensformen zu säubern, um sie nach ihrem Ebenbild zu gestalten: vollkommen rein.

Sarramnim, der Anführer der Jägerschar, befahl den Aufbruch. In Kürze würden sie ihr Ziel erreichen. Damit sie nicht entdeckt werden konnten, sprachen sie einen Zauber, der das Licht so reflektierte, dass die Krieger unsichtbar erschienen. Bis auf fünfzig Meter konnten sie so ungesehen an ihre Feinde herankommen. Danach würde der Zauber brechen und ihre wahre Gestalt zum Vorschein bringen.

Fast lautlos machten sich die zehn Krieger auf den Weg. Leise knirschten ihre Lederrüstungen. Ihre Schar wurde nicht umsonst ‚die Jäger‘ genannt. Sie waren die schnellsten und ausdauerndsten Sprinter ihrer Rasse, bei vollem Lauf konnten sie sogar die Rösser der Menschen überholen.

Sarramnim gab ein Handzeichen, das ihnen bedeutete auszuscheren. Er wollte die Flüchtlinge umzingeln, damit niemand ihren Klingen und Zaubern entfliehen konnte. Er musste grinsen. Diese Menschen hatten keine Ahnung, was für ein Grauen sie erwartete. Ahnungslos trotteten sie nebeneinanderher, viele von ihnen hatten große Bündel dabei, in denen wahrscheinlich der Proviant für die Reise steckte. Sie sahen müde und kraftlos aus. Die Karraphim würden sie von ihrem Leid erlösen.

Als seine Krieger ihre Positionen einnahmen, befanden sie sich immer noch einen Pfeilflug von den Menschen entfernt, weit genug, um nicht entdeckt zu werden. Danach ging alles sehr schnell. Wie zuvor besprochen setzten sie mit magischen Attacken zur ersten Angriffswelle an. Zischend flogen die gleißend hellen Geschosse durch die Luft, gefolgt von panischen Schreien. Schon schlugen die blendend hellen Energiekugeln ein und zeigten ihre verheerende Wirkung. Die Menschen verbrannten an Ort und Stelle, wurden durch die Luft geschleudert, manche durch die enorme Kraft in Stücke gerissen. Ein heilloses Durcheinander entstand, als die Flüchtlinge in panischer Angst versuchten zu fliehen und sich so gegenseitig behinderten. Frauen griffen nach ihren Kindern, nahmen sie in die Arme und liefen, so schnell sie konnten. Doch so sehr sie sich beeilten, sie konnten den Karraphim nicht entkommen.

Nach der zweiten Angriffswelle zogen die Angreifer ihre Schwerter. Mit einem leisen Schaben wurden sie aus der Scheide gezogen und blitzten Tod verheißend im Sonnenlicht. Perfekt aufeinander abgestimmt stürmten die Karraphim los. Ohne einen Augenblick innezuhalten, metzelten sie die in Todesangst umherirrenden Menschen nieder.

Sarramnim lief direkt auf eine Frau zu, die ihr Kind auf dem Arm tragend dem tödlichen Angriff zu entkommen versuchte. Das Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben. Mit einer fließenden Bewegung stach er gezielt auf die beiden ein, ihr panischer Schrei schmerzte in seinen Ohren. Als die Frau zu Boden sank, schnellte Sarramnims Klinge ein weiteres Mal vor und brachte sie zum Schweigen. Durch die schnellen Bewegungen spritzte ein wenig Blut auf sein weißes Gewand, das die roten Tropfen gierig aufsaugte. Angewidert versuchte er, die Flecken aus seiner Kleidung zu reiben, doch es gelang ihm nicht.

Zwei Schritte von Sarramnim entfernt stand völlig starr vor Angst ein kleiner Junge, dessen fettiges blondes Haar ihm in Strähnen am Kopf herabhing. Das Menschlein schrie nach seiner Mutter, während ihm Tränen über das gerötete Gesicht liefen. Blitzschnell kam ein Karraphim herangestürmt, die Klinge zum finalen Schlag erhoben. Kurz bevor das Schwert den Jungen enthaupten konnte, warf sich die Mutter des Jungen dazwischen. Mit Leichtigkeit glitt die stählerne Klinge durch den Körper der Frau, die kurz vor Schmerz stöhnte und ihr hageres Gesicht verzerrte, um anschließend ihr klägliches Leben auszuhauchen. Die aufopfernde Liebe der Mutter für ihren Sohn ließ die Karraphim völlig kalt. Ihr Ziel war es zu töten.

Der kleine Junge kämpfte sich mit Mühe unter dem Leichnam seiner Mutter hervor. Das war sein Todesurteil. Als er den Kopf hervorschob, wurde sofort sein Hals durchtrennt. Mit derselben Klinge, die auch das Leben seiner Mutter gefordert hatte. Sprudelnd schoss das feuchtglitzernde Rot aus dem Halsstumpf des Jungen und tränkte das goldbraune Gras.

Niemand entkam dem Angriff der Karraphim. Selbst als alle Flüchtlinge am Boden lagen, schritten sie die Gefallenen ab und suchten nach Überlebenden. Sarramnim konnte ab und zu ein Schwert in die Höhe schnellen sehen, das ebenso schnell nach unten gerissen wurde, um einem am Boden Liegenden den kläglichen Rest Leben zu entreißen. Einem Menschen wäre ihr Handeln unsagbar grausam vorgekommen, doch die Karraphim waren von ihrem Tun überzeugt. Sie mussten die Welt von allem Niederen säubern, das war ihre Pflicht als höchste Rasse, und zu dem Niederen gehörten die Menschen nun mal dazu.

Sarramnim blickte nach Süden in die Ferne. Dort würde bald eine weitere Stadt vernichtet werden, ein weiterer Flecken Erde gereinigt.

*

Da stand er nun. Vor sich im Tal die Stadt Barag’nim, deren weiße Mauern im Sonnenlicht erstrahlten, hinter denen die Menschen sich in Sicherheit wähnten. Das war sein Ziel. Seins und das vierhundert anderer Karraphim. Ihm und seinen Kriegern stände eine verlustreiche Schlacht bevor, wenn nicht die ehrwürdigen Lygdonen, die dem ältesten und mächtigsten Stamm der Karraphim entsprangen, ihnen zur Seite stehen würden. Ein Lygdon besaß magische Kräfte, von denen ein menschlicher Magier nur träumen konnte, und sie hatten eine Waffe erschaffen, wie sie die Welt bisher noch nie gesehen hatte: das Magaris Exomai. Es war ein Kristall, in dem in monatelangen Beschwörungsritualen Energien jenseits jeglicher Vorstellungskraft gespeichert worden waren.

Der Wind spielte mit seinem roten Umhang und drückte ihn in Richtung der Stadt, als wolle er ihn dazu bewegen, endlich aufzubrechen. Narra’zir konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Dabei wurde die Narbe, die sein sonst makelloses Gesicht verunstaltete, merkwürdig verzerrt. Auf der für die Karraphim üblichen grauen Hautfarbe wirkte die Narbe wie ein Blitz vor einer dunklen Wolkendecke.

Sein erster Unteroffizier trat an ihn heran. „Mein Herr, sie erwarten Euch.“ Ein Hauch von Besorgnis lag in seiner Stimme.

Narra’zir nickte seinem Untergebenen zu. Nun war der Augenblick gekommen, auf den sie so lange gewartet hatten. Auf einer kleinen Erhebung hatten sich zwei Lygdonen und ihre vier Leibwächter versammelt. Der Hauptmann wurde nervös, als die roten Pupillen der Lygdonen ihn musterten, während er sich ihnen näherte. Fünf Schritte vor ihnen blieb er stehen und neigte ehrerbietungsvoll sein Haupt, sodass ihm seine schwarzen Haare ins Gesicht hingen. Die silbernen Rüstungen der Leibwächter sowie ihre mit goldenen Intarsien verzierten Hellebarden reflektierten die Sonne so stark, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als den prüfenden Blick der Lygdonen zu erwidern, da ihre Augen ihn zumindest nicht blendeten.

„Seid gegrüßt, Hauptmann Narra’zir“, richtete der linke Lygdon, der in purpurnes Gewand gehüllt war und einen Silberreif auf dem Kopf trug, damit die langen weißen Haare ihm nicht ins Gesicht hängen konnten, an ihn. „Ihr habt die Ehre, die Macht des Magaris Exomai mitzuerleben.“ Mit diesen Worten setzte sich der kleine Trupp in Richtung der Stelle, von welcher aus Narra’zir auf die Stadt geblickt hatte, in Bewegung.

Allmählich nahm der Wind an Stärke zu, ein Gewitter braute sich zusammen. Die dunklen Wolken hingen unheilverheißend über dem Tal, tiefes Grollen durchdrang die Stille.

Angekommen bauten sich die Lygdonen anmutig auf, wodurch sie Ruhe und Überlegenheit ausstrahlten. Aus einer in den Mantel eingenähten Tasche nahm der Magier, der zu Narra’zir gesprochen hatte, den Kristall heraus. In seinem Inneren schien etwas Lebendiges zu pulsieren. Gebannt starrte Narra‘zir auf das Licht.

Erst als der Stein der Stadt entgegengestreckt wurde, wandte der Hauptmann den Blick ab. Nun galt seine ganze Aufmerksamkeit dem Tal unter ihnen. Das Pulsieren in seinen Augenwinkeln nahm an Intensität stetig zu, bis das Magaris Exomai gleißend hell erstrahlte. Es schien, als hätte der Lygdon eine winzige Sonne in der Hand. Das Murmeln des Magiers, in das der Zweite nun mit einfiel, schwoll zu einem sonoren Gesang an, der über das Tal hallte. Plötzlich erstrahlten die Wolken über der Stadt. Gleich darauf löste sich eine weiß glühende Säule aus reinem, verzehrendem Licht und brach über die ahnungslosen Menschen herein. Niemand vermochte zu fliehen! Keiner vermochte dem reinigenden Licht zu entgehen.

Einen Herzschlag später drang der donnernde Schall an die Ohren der Karraphim, der unangenehm schmerzte, doch keiner von ihnen verzog die ernste Miene. Geblendet von dem Lichtkegel schürzte Narra’zir seine empfindlichen Augen mit der Hand ab. Den Lygdonen neben ihm schien dieser Umstand nichts auszumachen.

Als der Lichtkegel abbrach, gab dieser einen Anblick frei, der Narra’zir vor Ehrfurcht erschaudern ließ. Die Stadt war vollkommen zerstört! Rauchschwaden stiegen dem Himmel entgegen. An den Plätzen, wo die Wohnhäuser der Menschen gestanden hatten, befanden sich nur noch Trümmerhaufen. Das Einzige, was der ungeheuren Macht des Magaris Exomai widerstanden hatte, war die Stadtmauer, die jedoch tiefe Risse aufwies und nun rußgeschwärzt war. Kleine Brände vervollkommneten das Bild der Zerstörung.

Ohne die Stadt weiter zu beachten, drehte sich der Lygdon, der gerade den Stein in der Manteltasche verstaute, zu ihm um und sagte mit strenger Stimme: „Hauptmann, unser Herr erwartet Euren Bericht.“ Er wartete kurz, um sich zu vergewissern, dass ihm zugehört wurde, und fuhr dann fort: „Zudem wird der Bericht Eurer Jäger erwartet. Ihr habt bis Sonnenuntergang Zeit.“

Ohne ein Wort des Abschieds wandte der Lygdon sich ab und setzte sich mit den anderen in Bewegung. Sie hatten ihre Aufgabe getan. Sie gedachten nicht länger als nötig an diesem Ort zu verweilen.

Narra’zir blieb stehen, noch immer gebannt von dem Anblick, der sich ihm bot. Eine Stadt in nur wenigen Augenblicken zu zerstören, das war der Traum jeden Kriegers. Stille herrschte um ihn herum. Nur das Grollen des Gewitters drang an seine Ohren. Blitze zuckten herab, als wollten sie das Werk der Lygdonen vollenden und noch den letzten stehenden Stein zerbersten.

Warm rann Narra‘zir der erste Sommerregentropfen den Nacken herab. Nun drehte der Karraphim sich doch um, er wollte schließlich noch sein trockenes Lager erreichen, bevor die Himmelsschleusen sich öffneten.

Vor Narra‘zirs Zelt, das mit schwarzen Zeichen auf dem roten Stoff verziert war und ihn als Hauptmann auszeichnete, salutierten zwei Wachen, die mit Hellebarden bewaffnet waren. Geistesabwesend schritt er an ihnen vorbei. Mit lautem Trommeln machte sich der Regen auf der Zeltplane bemerkbar und zog sich in dunklen Linien wie Adern über den Stoff. Im Innern herrschte beinahe vollkommene Finsternis. Erst als die Petroleumlampe, die auf einem in der Mitte platzierten Eichentisch stand, entzündet war, konnte man Einzelheiten erkennen. Am hinteren Ende hing ein Wandteppich über dem Feldbett. Zu Narra’zirs Linken waren auf einem Tisch eine Waschschüssel und Tücher bereitgelegt worden, zu seiner Rechten fand sich das Gestell für seinen Harnisch. 

Unter dem Bett lag eine Schatulle, die er nun hervornahm und mit einem silbernen Schlüssel, den er stets bei sich zu tragen hatte, öffnete. Behutsam, als könnte der Behälter verletzt werden, klappte der Hauptmann den Deckel nach oben. Darin lag in purpurne Seide eingebettet eine Ampulle mit einer bläulich schimmernden Flüssigkeit. 

Ein Schauer lief Narra’zir den Rücken hinab. Unbehagen erfüllte ihn jedes Mal bei dem Gedanken an das, was vor ihm lag. Vorsichtig nahm er die Phiole heraus und stellte die Schatulle auf sein Bett. Er nahm auf der Decke Platz und sog tief die Luft ein. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Mit einer fließenden Bewegung entkorkte er das Gefäß und setzte es an die Lippen. Eiskalt rann die Flüssigkeit seinen Rachen hinab und schien sämtliche Wärme mit sich zu reißen. Dann wurde ihm plötzlich heiß, dann wieder kalt, bis sich die Wirkung in seinem ganzen Körper ausbreitete. Schließlich wurde der Karraphim von wohliger Wärme erfüllt und fiel anschließend in Trance. Die Pupillen zuckten hektisch hinter seinen geschlossenen Augenlidern hin und her. Vor ihm klärte sich der Blick. Er konnte seinen Herrscher Tarramdíl vor sich sehen, der auf einem goldenen Thron saß. Der Saal war mit Marmor ausgekleidet, was ihm eine erhabene Ausstrahlung verlieh. Über dem Herrscher war eine rechteckige Flagge, bei der an der unteren Seite ein Dreieck herausgeschnitten war, angebracht, die das Zeichen der Karraphim trug: eine goldene, aufgehende Sonne auf rotem Grund, umrandet von dem Satz: „Gesandt von den Göttern, um die Welt zu erlösen.“ Tarramdíl selbst war in weiße Seide gehüllt und ein goldener Haarreif bändigte sein langes graues Haar, welches ihm bis zur Brust herabhing. Narra’zirs eigene Gestalt erschien vor dem König, seine Konturen waren nur verschwommen zu erkennen, schienen mit der Umgebung zu verschmelzen.

Jetzt erhob er seine majestätische Stimme: „Seid gegrüßt, Narra’zir, Hauptmann der vierten Legion.“

„Seid gegrüßt, Tarramdíl, Herrscher Karra’aphims. Möget Ihr die Welt erlösen.“

„Nun zeigt, was Ihr erlebt habt.“ Mit einer einladenden Geste unterstrich Tarramdíl seine Worte.

Narra’zir befreite seinen Geist und gewährte seinem Herren Zutritt zu den Bildern und Gefühlen der letzten Augenblicke der Stadt Barag’nim. So konnte Tarramdíl erleben, was sein Hauptmann erlebt hatte, fühlen, was er gefühlt hatte. Narra’zir spürte, wie sein Herrscher in seinem weit entfernten Palast erschauderte. Niemals hatte dieser etwas Vergleichbares gesehen. Schockiert und fasziniert zugleich über das Magaris Exomai ließ Tarramdíl von seinem Gegenüber ab und zog sich aus dessen Geist zurück. Erleichtert sank Narra’zir in sich zusammen. Es quälte ihn jedes Mal, diese Prozedur durchzuführen. Doch nun war es geschafft, seine Aufgabe war erfüllt.

„Mein Herr?“, fragte er in die Stille. Seine Worte hallten von den marmornen Wänden wider.

„Ihr könnt gehen, Hauptmann. Durchsucht die Stadt nach Überlebenden und verlegt Euer Lager hinunter ins Tal. Wartet dort auf weitere Befehle. Und schickt die Jäger zu mir.“

Narra’zir nickte und verbeugte sich anschließend. Sein Blick verschwamm und allmählich kehrte sein Geist in seinen Körper zurück. Er schüttelte sich noch einmal kräftig, um die letzten Wirkungen des Trankes beiseitezufegen, räumte die Schatulle samt Phiole auf und ging nach draußen. Nach dieser Prozedur gierte er nach frischer Luft. Jetzt kümmerte es ihn auch nicht mehr, dass es regnete. Raus, einfach nur raus! Wohltuend liefen ihm die kühlen Regentropfen über das Gesicht. Bei all der Liebe zu seinem Volk und der Faszination, die er bei den herausragenden magischen Errungenschaften verspürte, war die Magie nicht für seinen Körper gedacht. Er war Krieger und Taktiker. Er überließ lieber anderen diese übernatürliche Kunst.

Im Lager herrschte Totenstille. Die weißen Zelte der Krieger glommen von innen heraus orangerot. Einzelne Schatten konnte er ausmachen, die sich mit anderen wild gestikulierend unterhielten und andere, die ruhig dasaßen und ihre Ausrüstung überholten. Leises Schaben ertönte, als in der Nähe ein Schleifstein über eine Klinge gezogen wurde.

Ein Ziehen in der Magengegend ließ ihn abrupt zum Stehen kommen. Mit halb gezogener Waffe drehte er sich um. Narra’zir erschrak, als er Sarramnim gewahr wurde, der direkt hinter ihm stand, seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen.

„Warum so nervös, Hauptmann?“, scherzte der Anführer der Jäger trocken. „Ihr habt doch die Schlacht gewonnen.“

„Tarramdíl erwartet Euren Bericht“, antwortete Narra’zir knapp und steckte schwungvoll die Waffe wieder in die Scheide.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, setzte Sarramnim seinen Weg fort in Richtung des Zeltes der Lygdonen. Erst jetzt bemerkte der Hauptmann die anderen Jäger. Eines musste er sich eingestehen: Sie waren wirklich gut.

*

Starr saß er da und blickte in die Leere. Er musste nachdenken. Die Eindrücke, die er soeben erlebt hatte, waren erschütternd. Selbst sein sonst so ruhiges Gemüt kam in Aufregung. Ihm wurde heiß. Nie hätte er es für möglich gehalten, die Macht zu besitzen, ganze Städte auszulöschen. Er fühlte sich in die Lage der Stadtbewohner hinein, wie sie das gleißend helle Licht sahen und sich ihrem Untergang gewahr wurden. Die Panik, die um sich griff, die furchtsamen Schreie und die Tränen der Verzweiflung. Er erschauderte. War dieses Artefakt nun ein Geschenk an die Karraphim oder stellte es sein Volk auf die Probe, ob sie das Richtige tun würden?

Tarramdíl sprang von seinem Thron auf und lief auf die mit Silberverzierungen bestückte Ebenholztür zu. Die beiden Wachen ließen sich von dem hektischen Aufbruch ihres Herrschers nicht aus der Ruhe bringen. Statuen gleich standen sie mit ihren Hellebarden da; gleichmäßig atmend. Mit schnellen Schritten eilte Tarramdíl durch die langen Korridore seines Palastes, die wenig von der Pracht des Königssaals besaßen, damit dessen Herrlichkeit ungeteilt blieb. Aus einfachem Stein, weiß bestrichen mit Wandmalereien, die von den siegreichen Schlachten der Karraphim vor Hunderten von Jahren erzählten.

Endlich erreichte er die Eingangshalle. Keinerlei Wachen waren dort postiert. Prunkvoll und ehrerbietend war sie erbaut, die Macht der Karraphim symbolisierend. Lebensgroße Statuen aller Herrscher ihres Volkes standen an den Wänden, ihre Blicke auf den Eingang gerichtet. Eine Ordnung, die jeden Ankömmling in Ehrfurcht erstarren ließ. Eines Tages würde er seinen Platz an ihrer Seite einnehmen. Stolz überkam ihn. An der Letzten der Statuen blieb er abrupt stehen. Andächtig und Hilfe suchend stand er vor dem ersten König der Karraphim. Er war es, der das Land gegründet hatte, auf dem sie heute lebten, er hatte den Kampf gegen die Dämonen und Bestien der Götter aufgenommen, um die Welt zu reinigen.

„Oh Karramdún, was soll ich nur machen?“ Mit diesen Worten drehte er sich um und drückte die weit über ihn aufragende Flügeltür auf. Licht flutete ihm entgegen, weshalb er die Augen zusammenkniff. Es roch nach Sommer, Rosen und Lavendel. Tarramdíl atmete tief ein. Als seine Augen sich an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, erkannte er am Horizont dunkle Gewitterwolken, dort, wo sein Heer die Menschheit vernichten sollte. Doch vor ihm lag die lichtüberflutete Parkanlage, in deren Mitte sich ein Springbrunnen in Form eines Drachen befand. Rosen, Lavendel und andere wohlriechende Pflanzen säumten den Weg aus weißem Kies. Die kleinen Steinchen reflektierten die Strahlen der Sonne so, dass es den Anschein hatte, als leuchteten sie von innen heraus.

Tarramdíl durchschritt zügig, ohne die Schönheit des Parks weiter zu betrachten, die Anlage. Leise knirschte der Kies unter seinen Sohlen. Am Rande der Anlage befand sich sein Ziel: die Stallungen. Der Herrscher brauchte Ruhe und Zeit, um über die Geschehnisse und deren Auswirkungen für sein Volk nachdenken zu können.

Vor dem Gebäude, das ebenfalls aus weißem Stein erbaut worden war, saß ein Stallbursche auf einem Hocker und döste vor sich hin. Als Tarramdíl näher kam, schrak der Junge zusammen und sprang auf, sodass sein Hocker klappernd zur Seite kippte. Der kleine Karraphim trug eine lederne, knielange Hose sowie ein Leinenhemd. Sein struppiges blondes Haar hing ihm lose ins Gesicht, darunter spitzelten die langen grauen Ohren hervor. Er war noch keine dreißig Jahre alt.

Ohne einer Anweisung zu bedürfen, sprang der Bursche auf und brachte Tarramdíl seinen Hengst. Anmutig und mit schwarzem Fell stand er da, die Krönung seiner Rasse. Das Pferd spürte die Aufregung seines Herrn und tippelte unruhig hin und her.

„Ruhig, Sarrin, ruhig.“ Tarramdíl tätschelte ihm die muskulöse Seite.

Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis der Stalljunge Sarrin reisefertig gemacht hatte.

„Ich wünsche Euch einen angenehmen Tag, mein König“, verabschiedete er sich von seinem Herrn.

Tarramdíl nickte dem Burschen nur kurz zu. Danach wendete er seinen Hengst und preschte los, Kies und Staub dabei aufwirbelnd.

Das Schloss samt Park war von einer zweimannshohen Mauer umrandet. Der Kiesweg führte zum einzigen Weg hinaus, einem kleinen Torhaus, an dem drei Wachen stationiert waren. Als sie ihren König bemerkten, nahmen sie Haltung an. Einer von ihnen öffnete das Tor. Ohne die Geschwindigkeit zu drosseln, ritt Tarramdíl an ihnen vorbei. Er hatte keine Zeit zu verlieren.

Als der König den Platz überquert hatte, machte sich der Stallbursche daran, den Stuhl wieder aufzustellen und sein Schläfchen fortzusetzen.

*

Dank Sarrin erreichten die beiden ihr Ziel, den Berg Narazgír, nach wenigen Stunden, früher als der Herrscher gedacht hatte. Wieder einmal hatte er die ungeheure Kraft und Ausdauer seines Hengstes unterschätzt.

Sie folgten einem mit Moos bewachsenen Trampelpfad. Tarramdíl musste die Geschwindigkeit verringern, ansonsten hätte sich sein Pferd auf dem unebenen Untergrund verletzen können. Hier roch es ganz anders als in seinem Palast. Die Luft war geschwängert vom Duft der Moose und der Kräuter. Durch das lockere Blattwerk fielen Lichtstrahlen, in denen Pollen und Insekten tänzelten.

Bald erreichten sie ihr Ziel. Es war ein kleiner Tempel, der vor langer Zeit verlassen worden war. Moose und Klettergewächse wuchsen an den Mauern empor. Zwei Säulen flankierten den Eingang, der durch eine mit Eisen beschlagene Holztür verschlossen war. Der Efeu, der sich um die Säulen schlängelte, verlieh ihnen etwas Mystisches. Das Dach des Tempels bestand aus Stein und lief spitz zu. Kaum noch lesbar war eine Inschrift eingraviert:

Der, der fragt, wird wissen. Wer wissend ist, wird nicht fragen.

Der Herrscher wusste nur zu gut, welcher er davon war.

Sarrin blieb wie von selbst stehen, näher wollte das Pferd dem Tempel nicht kommen. Nervös tippelte er umher und wühlte das Moos unter ihm auf. Tarramdíl schwang sich aus dem Sattel und streichelte beruhigend über den Hals seines Hengstes.

„Es wird nicht allzu lange dauern“, hauchte er ihm ins Ohr. Sicher war er sich allerdings nicht.

Ehrfürchtig schritt er auf den Eingang zu. Die Tür war nicht wie jede andere durch ein Schloss verriegelt, sondern durch einen Zauber, den nur ein Karraphim kannte oder nur derjenige, der die Sprache der Karraphim beherrschte.

„Trar zur.“

Scharrend öffnete sich die Tür. Innen herrschte tiefste Finsternis. Der Karraphim sprach eine Beschwörung, die seine Rechte in blaues Licht einhüllte. Daraufhin suchte er nach der Feuerschale, die sich in der Mitte des Tempels befand. Mit einem weiteren Zauber entzündete er die restliche Flüssigkeit, die sich darin befand und das Strahlen seiner Hand erlosch. Die flackernden Flammen tauchten den Raum in düsteres Zwielicht. Vor Tarramdíl lag ein niedriger Altar, auf dessen Oberfläche ein magisches Symbol eingraviert war. Es war das Symbol des Wissenden, bestehend aus einem Kreis, in dessen Inneren ein aufgeschlagenes Buch ruhte. Auf dieses Zeichen setzte sich der Herrscher im Schneidersitz, legte die Hände auf seine Schenkel und schloss die Augen. Stille herrschte um ihn herum, nur das verzehrende Feuer war noch zu hören.

*

Während er dort saß, nahm die Welt ihren gewohnten Lauf. Sonne und Mond tauschten stetig ihre Plätze, die Tage rannen dahin wie Sand in einem Stundenglas.

Plötzlich glomm die Gravur, auf der Tarramdíl saß, bläulich auf, während er seine Augen schlagartig aufriss.

Der, der fragt, wird wissen. Wer wissend ist, wird nicht fragen.

Er sprang von dem Altar und stürmte in Richtung Tür, hinaus ins Freie, das Feuer war längst erloschen. Draußen wartete Sarrin immer noch geduldig auf ihn. Gras kauend spitzte er die Ohren. Nebel hing über dem Tempel und ließ ihn noch mystischer wirken. Mit einem lauten Knall fiel die Tür hinter dem Herrscher der Karraphim zu, wartend auf den nächsten Fragenden.

Tarramdíl musste sich beeilen. Er wusste nicht, wie lange er abwesend gewesen und was in der Zeit geschehen war. Ein Hauch von Panik stieg in ihm auf. Seine Armee wartete immer noch auf weitere Befehle.

Geschmeidig sprang der Herrscher auf den Rücken seines Hengstes und trieb ihn den Pfad hinunter. Sie mussten vorsichtig sein, da der Morgentau noch auf den Moosen hing und sie rutschig machte. Der tief über den Boden kriechende Nebel erschwerte zusätzlich die Sicht auf Wurzelwerk und im Weg liegende Äste. Dem Herrscher ging der Abstieg viel zu langsam.

Endlich den Fuß des Berges erreichend, gab Tarramdíl seinem Pferd die Sporen. Höchste Eile war geboten.

Schnell wie der Wind preschten sie dem Torhaus seines Palastes entgegen. Laute Rufe erschallten, Befehle wurden gebrüllt und das Tor öffnete sich. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Reiter gegen die schweren hölzernen Flügel galoppiert wäre.

Er machte sich nicht die Mühe, Sarrin dem Stalljungen zu übergeben. Dafür blieb keine Zeit. Vor dem Schloss riss Tarramdíl die Zügel seines Hengstes nach hinten, um ihn zum Stehen zu bringen, wodurch dessen Hufe tiefe Furchen in den weißen Kies gruben. Staub wirbelte auf und legte sich auf das feuchte schwarze Fell. Hustend sprang der Reiter ab und stürmte in die Vorhalle. Drinnen eilte ihm ein Diener entgegen, der sehr besorgt aussah. Bevor dieser sich nach dem Befinden seines Herren erkundigen konnte, fragte ihn Tarramdíl ungestüm: „Wie lange war ich fort?“ 

Vollkommen überrumpelt stotterte dieser Unverständliches, bis er sich gefasst hatte und mit ruhiger Stimme antwortete: „Drei Tage, mein Herr.“

Drei Tage. Er hatte Glück. Noch konnte er das Schlimmste verhindern. „Bring Sarrin in seinen Stall. Er muss getränkt und gesäubert werden.“

„Jawohl, mein Herr.“ Der Diener verbeugte sich und eilte aus dem Schloss hinaus.

Ohne sich eine kurze Pause zu gönnen, hetzte Tarramdíl die Flure entlang Richtung Thronsaal. Er musste sofort mit Narra’zir sprechen.

Voller Ungeduld nahm der Herrscher auf seinem Thron Platz, schickte die zwei Wachen aus dem Saal und begann, die Beschwörungsformel zu murmeln, die ihm erlaubte, mit jedem Karraphim in Verbindung zu treten. Dabei schloss er die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Es fiel ihm schwer, seine Gedanken zu beruhigen und auf die magische Formel zu richten. Beinahe wäre ihm ein Fehler bei der Betonung einer Silbe passiert, was für ihn tödlich hätte enden können.

Schließlich war es geschafft. Sein Blick, zuerst verschwommen, dann klarer, erkannte die schmerzverzerrten Züge von Narra’zir. Es bedeutete Qualen für das Gegenüber, wenn ein Fremder plötzlich in den eigenen Geist eindrang und einem die Sinne raubte. Der Hauptmann behielt aber trotz der Schmerzen seine Fassung. Schnaubend grüßte er seinen Anführer.

„Seid Ihr immer noch in Barag’nim? Wurdet Ihr angegriffen?“, stürzte es aus Tarramdíl hervor.

Erschrocken und beunruhigt über das Verhalten seines Königs antwortete Narra’zir: „Ja, wir sind noch in Barag’nim, Herr. Angriffe konnten dank Sarramnim und seiner Jäger frühzeitig abgewehrt werden.“ Nach einer kurzen Pause fragte er: „Was ist passiert? Wir haben auf Eure Befehle gewartet.“

„Verzeiht mir, Narra’zir. Ich musste über unseren Feldzug nachdenken.“

Ausführlich erklärte Tarramdíl seinem Hauptmann, zu welcher Erkenntnis er am Berg Narazgír gekommen war. „… Wir waren zu grausam. Würden wir unseren Feldzug fortsetzen, wären wir nicht besser als die Menschen. Die Schlacht in Barag’nim hat es mir verdeutlicht.“

Ohne jeglichen Widerspruch nahm der Hauptmann die Befehle entgegen.

*

Narra’zir war erleichtert, als sein König sich aus seinem Geist zurückzog. Was er soeben gehört hatte, verwunderte ihn, da Tarramdíl und die Lygdonen so entschlossen gewesen waren, die Menschheit zu vernichten. Aber darüber zu urteilen war er nicht befugt. Er war Soldat und führte nur Befehle aus.

Als sich der Nebel der Trance vor seinen Augen lichtete, drängte sich ein bekanntes Gesicht in sein Blickfeld. Es war sein Stellvertreter Pharriem, der ihn mit einem sorgenvollen Blick bedachte.

„Geht es Euch gut?“, fragte Pharriem vorsichtig.

Erst jetzt bemerkte Narra’zir, dass er am Boden kauerte. Ihm wurde aufgeholfen.

„Danke, alles in Ordnung. Wir haben soeben Befehle von Tarramdíl erhalten.“ Er machte eine kurze Pause, um dem nun Folgenden mehr Nachdruck zu verleihen. „Wir brechen auf. Richtung Heimat! Der Feldzug gegen die Menschheit ist beendet. Deren Schicksal liegt nicht länger in unserer Hand.“

Wie erstarrt standen sein Stellvertreter und andere ranghohe Krieger um ihn herum. Sie hatten sich auf den Weg zur nördlichen Stadtmauer machen wollen, um dort die Umgebung zu inspizieren, als plötzlich Narra’zir inmitten des zerstörten Marktplatzes in die Knie gegangen war.

„Auf was wartet Ihr denn noch!“

Mit einer wilden Geste scheuchte der Hauptmann den verwirrten Haufen auf, der sich sofort daranmachte, das Heer zu informieren. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde vom Rückzug. Hektisches Treiben herrschte nun, jedoch immer noch geregelt genug, damit kein unheilvolles Chaos ausbrach.

Geschriene Befehle drangen an Narra’zirs Ohren. War alles umsonst gewesen? Er wusste es nicht. Die Tragweite ihres Rückzugs konnte er nicht erahnen. Er war nur ein Krieger.

Langsam trottete Narra’zir zum nördlichen Torhaus hinüber, entlang der großen Straße, wo etliche Karraphim seinen Weg passierten. Keiner beachtete ihn, dafür waren die Krieger viel zu aufgeregt. Sie freuten sich, endlich heimkehren zu dürfen. Die Häuser um ihn herum waren zerstört, eingestürzt durch die Macht der Lygdonen. Feine Rauchsäulen drangen noch immer aus den Schutthaufen hervor. Es roch verbrannt, es roch nach Krieg. Leichen waren keine zu entdecken. Entweder waren sie unter den Trümmern begraben oder in der leuchtenden Säule aus Magie vergangen. Auch die Pflastersteine unter seinen Füßen waren aufgeplatzt und bei jedem Schritt knirschten Splitter unter seinen Fußsohlen.

An dem Torhaus angekommen begrüßten ihn fünf Wachen. Sie würden als Letzte diese Stadt verlassen. Die Torflügel waren weit geöffnet. Der Weg, der hinaus nach Laram’dur führte, wand sich um flache Hügel und Felder bis hin zum Horizont. Die Sonne hatte bereits den Zenit überschritten. Diese eine Nacht mussten seine Leute hier noch verbringen. Danach würden sie den Norden hinter sich lassen.

Andächtig stieg Narra’zir eine Treppe hinauf, die auf den Wehrgang der Toranlage führte. Teilweise waren Stufen herausgebrochen, über die er mit einem großen Schritt hinwegsetzte. Oben angelangt spähten die restlichen Wachen in die Ferne. Ihre gewundenen Langbögen waren an den Zinnen angelehnt. Nur ein kurzes „Hauptmann“ entrang sich ihren Kehlen, dann gesellte er sich zu ihnen und blickte ebenso in die Ferne. Seine Gedanken kreisten immer noch um den überraschenden Befehl seines Königs. Sie waren so weit gekommen und besaßen endlich eine Waffe, mit der sie die Menschen in die Knie zwingen konnten.

Narra’zir musterte die Mauer. Überall befanden sich Rußflecken und geschmolzenes Metall, das in die Risse des geborstenen Gesteins geflossen war – die ehemaligen Rüstungen der Menschenkrieger. Er riss sich von dem grausamen Anblick los und sah wieder zum Horizont. Bald würde er in seine Heimat zurückkehren und darauf konnte er sich freuen. Er ließ seine Gedanken treiben und allmählich kam der Hauptmann zur Ruhe.

Orangerot versank die Sonne hinterm Horizont. Narra’zir starrte immer noch in die Ferne, als eine aufgebrachte Stimme rief: „Narra’zir, was ist denn hier los?“

Nur eine Person in ganz Karraphim war unverschämt genug, einen Hauptmann beim Namen zu nennen: Sarramnim! Breitbeinig stand er vor dem Tor, die neun Jäger im Halbkreis hinter ihm.

Narra’zir wurde unangenehm aus den Gedanken gerissen. Als er seine Fassung wiedererlangt hatte, antwortete er: „Auf Befehl des Königs Tarramdíl brechen wir auf. Richtung Heimat. Der Feldzug ist beendet.“

Am liebsten hätte Narra’zir Sarramnim für seine Frechheit auspeitschen lassen, doch als Anführer der Jäger besaß er eine Sonderstellung. Macht konnte den Geist verwirren, ihn überheblich werden lassen, selbst bei einem Karraphim.

„Was?“, tobte der Jäger, „Kurz vor dem Sieg?“. Schnaubend stapfte er in Richtung seines Lagers in der Nähe des Torhauses, die anderen Krieger im Schlepptau.

Narra‘zir konnte sich nur zu gut in die Gefühlslage Sarramnims hineinversetzen. Sie waren aufgebrochen, die Menschheit zu vernichten, weit entfernt der Heimat, dem Ozean so fern. Sie hatten alles zurückgelassen; ihre Häuser und ihre Familien, die, die sie liebten. Er hatte Geschichten über Sarramnims Vergangenheit gehört, dass er ein Lehrer für Kampfmagie an der Schule in Narasis, einer kleinen Stadt am Meer, gewesen war, bevor er als Soldat für den Kampf gegen das Unreine rekrutiert wurde. In Narasis hatte er eine Frau, einen Sohn und ein Haus aus weißem Marmor gehabt. Sein Leben schien perfekt zu sein. Doch sein Sohn wurde ebenfalls eingezogen und starb in einem der Kämpfe gegen die Menschen. Nachdem Sarramnims einziges Kind den Tod gefunden hatte, wurde seine Seele geschwärzt von Trauer. Fortan waren dem Karraphim Mitgefühl und Gnade ein Fremdwort. So wurde aus einem Lehrer ein kaltblütiger Jäger. Sofern man den Geschichten der Soldaten am Lagerfeuer glauben mochte.

*

Die ersten Sonnenstrahlen drangen hinter dem Horizont hervor. Nebel hing tief im Tal und benetzte die Umgebung mit feinen Wassertröpfchen. Nervös trat Narra’zir aus seinem Zelt. Seine Sicht reichte kaum wenige Meter und die Temperaturen schienen im Vergleich zum Vortag gesunken zu sein. Er fröstelte.

Zügig begab sich der Hauptmann zum ehemaligen Marktplatz in der Mitte der Stadt, auf welchem ein grauer Schemen auf ihn wartete. Als Narra’zir näher kam, konnte er den Soldaten, der ein silbernes Horn bei sich trug, erkennen und wurde von ihm freundlich gegrüßt. In dessen Stimme schwang dieselbe Nervosität mit, die auch er verspürte. Endlich heim!

Vor dem Soldaten blieb er stehen, der dabei war, das Horn abzunehmen. Langes blondes Haar, feucht vom Nebel, klebte an seiner Schläfe. Ein Kurzschwert baumelte an seiner Linken. Nur mit einem leichten Kettenpanzer bekleidet schien er nicht für den Kampf geeignet, doch ein Karraphim konnte selbst bei solch mangelnder Kampfausrüstung vielfach den Tod bringen.

Es war Dismir, der vor ihm stand; die rechte Hand eines seiner Unteroffiziere. Dies erklärte die nur leichte Rüstung des Soldaten. Dismir war dafür bekannt, sich und seinen Unteroffizier in mächtige Schutzzauber zu hüllen, die kein Schwert zu durchdringen vermochte. Die Illusion der Verletzbarkeit war schon vielen zum Verhängnis geworden.

Ein kurzes Nicken genügte, und Dismir setzte das silberne Horn an die Lippen. Rein erscholl der Klang, der das Schicksal Tausender besiegelte. Nun würde eine Zeit der Ruhe anbrechen, eine Zeit, in der die Wunden des Krieges verheilen mochten.

Mit knappen Worten verabschiedete Narra’zir sich von Dismir. Nach drei Schritten drehte er sich jedoch noch mal um. „Dismir, wärst du so freundlich und siehst nach den Jägern? So unauffällig, wie es nur möglich ist.“

Verblüfft sah der Soldat auf. „Selbstverständlich, Hauptmann. Darf ich fragen, wieso Ihr dieser Kunde bedürft?“

Narra’zir trat näher an ihn heran. „Weil es mir nicht behagt, wenn ich nicht weiß, wo sich die Jäger herumtreiben. Sie sind unberechenbar.“ Mit diesen Worten verließ er Dismir nun endgültig und lief in Richtung des südlichen Torhauses, an dem er sich mit seinem Unteroffizier und dessen Truppen treffen wollte.

Allmählich löste sich der Nebel auf. Wärmend legten sich die Sonnenstrahlen über das Land. Unterwegs ging Narra’zir nochmals ihre Reiseroute durch: Von Barag’nim Richtung Süden, am Gebirge westlich vorbei zum Fluss Zirk und jenem folgend bis zur Stadt Zirkadim, um dort auf weitere Befehle zu warten. Was sie danach erwartete, war völlig ungewiss. Womöglich würden sie versuchen, in ihr altes Leben zurückzukehren.

Das erste Bataillon samt Unteroffizier und Pharriem warteten bereits. Er bemerkte ihre Aufregung und Vorfreude, die er ebenfalls empfand. Kurze Worte des Grußes wurden ausgetauscht. Danach machten sich die Krieger daran, sich abmarschbereit aufzustellen. Narra’zir rief dabei Kommandos, um die Marschformation, die ihm vorschwebte, auch umzusetzen. Es bedurfte nur wenige Augenblicke, bis sich die disziplinierten Krieger richtig formierten; zwei Fünferreihen nebeneinander, dazwischen ein Korridor, der es Reitern ermöglichte, hindurchzupreschen. Niemand murrte oder plauderte, nichts war zu hören außer dem Getrampel der Fußsohlen, dem Geklapper der Waffen und Rüstungen und den gerufenen Kommandos des Hauptmanns.

Als sämtliche Krieger Aufstellung genommen hatten und Narra’zir sich zufrieden abwandte und begann, sich mit Pharriem und dem Unteroffizier zu unterhalten, folgten die Krieger deren Beispiel. Es wurde geplaudert und gelacht. Es wurde von der Heimat erzählt, von ihren Frauen und Kindern. 

Unbemerkt trat Dismir neben Narra’zir und räusperte sich. „Ich bringe Kunde über den Verbleib der Jäger.“ Als sich die beiden von den Kämpfern entfernt hatten, sprach Dismir weiter: „Ich habe die ganze Stadt nach ihnen abgesucht. Nicht die geringste Spur. Sie müssen noch in der Nacht aufgebrochen sein.“

Narra’zir knirschte mit den Zähnen. Wieso ließ Sarramnim das Heer zurück? Wo wollte er hin? Das Reiseziel hätte er erst heute erfahren sollen. „Danke, Dismir.“

Der Magier nickte seinem Hauptmann kurz zu und ging zurück in die Stadt, um dort seinen Unteroffizier und das nächste Bataillon zu holen.

Mit finsterer Miene kehrte Narra’zir zu Pharriem und den anderen zurück.

„Was ist los?“, fragte Pharriem vorsichtig.

„Die Jäger haben uns verlassen“, antwortete er knapp.

*

Die Sonne schob sich soeben über den Rand der Welt. Glutrot glomm das Gebirge vor ihnen, das sich majestätisch aus dem dichten Nebel erhob. Den Schutz der Nacht hatte seine kleine Gruppe dazu genutzt, die Stadt unbemerkt zu verlassen. Er musste Lygdos so schnell wie möglich erreichen, bevor die Menschen bemerkten, dass sich die Karraphim zurückgezogen hatten. Um jeden Preis musste Sarramnim seinen König und die Lygdonen umstimmen, den Krieg fortzuführen. Sonst wäre der Tod seines Sohnes sinnlos gewesen.

Bei Sonnenuntergang hatten er und seine Jäger bereits das Gebirge passiert und schlugen nun den Weg nach Osten ein, zum Fluss Zirk. An einer einsamen Weide, inmitten zahlreicher großer Felsbrocken, rastete die Gruppe für eine Weile. Jeder der Krieger ließ sich auf einen Fels nieder, keuchend rangen sie nach Luft. Den gesamten Tag waren sie ohne Rast durchgelaufen. Doch Sarramnim hatte nicht vor, hier zu übernachten. Nach einer kurzen Verschnaufpause wollte er weiter Richtung Osten hetzen.

Keiner der Jäger protestierte, als Sarramnim nach ein paar Stunden den Befehl zum erneuten Aufbruch gab. Sie kannten ihr Ziel, sie kannten die Beweggründe und jeder von ihnen würde bis zum Tod an Sarramnims Seite kämpfen. Die Jäger bildeten eine Einheit, die nichts zu stoppen vermochte. Mit einem Zauber erfrischten sie sich, da es bis zum Morgengrauen keine weitere Rast geben würde.

Die Sonne war längst untergegangen, Insekten summten und die zehn Karraphim setzten ihren Weg fort. Sarramnim trieb die Gruppe unerbittlich vorwärts. Dieser Gewaltmarsch brachte selbst die Jäger an die Grenzen ihrer Kräfte. Erst als der erste Karraphim dem Zusammenbruch nahe war, befahl Sarramnim anzuhalten. Keuchend blieben sie stehen. Einige ließen sich in das saftig grüne Gras fallen, das am Ufer des Zirk wuchs. Rauschend floss er in Richtung Süden, der Heimat entgegen.

Sarramnim schnappte nach Luft, während er sich vornübergebeugt auf seine Knie stützte. Sein Herz raste und hämmerte schmerzend gegen die Brust. Schweißtropfen rannen seine Wangen hinab, sammelten sich am Kinn und tropften zu Boden. Geistesabwesend und mit verschleiertem Blick starrte er auf das glitzernde Nass.

Allmählich beruhigte er sich wieder. Herzschlag um Herzschlag fasste Sarramnim wieder einen klaren Gedanken. Sie mussten noch mehr als eineinhalb Tage diese Tortur ertragen, ohne Nahrung und ohne Schlaf. Erst in Zirkadim würden sie sich eine Pause gönnen. Er war sich nicht sicher, ob er von seinen Jägern zu viel verlangte. Jeder von ihnen hatte Höchstleistungen erbracht. Doch selbst ein Karraphim konnte an seine Grenzen gelangen.

Sarramnim starrte auf die glitzernde Wasseroberfläche. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen: Natürlich! Sie würden sich ein Floß bauen und nach Süden fahren, ohne jegliche Anstrengung. Warum war er nicht früher darauf gekommen! Jeglicher Ärger über sich selbst verflog jedoch in Anbetracht seines fantastischen Einfalls.

Sarramnim erhob sich, stellte sich aufrecht hin und rief: „Männer! Die Qualen haben ein Ende.“ Als sich Neugier und Hoffnung in ihren Zügen spiegelte, musste er grinsen. Er freute sich, seinen Männern diese Last zu nehmen. Aufgeregt erklärte er seinen Kriegern, wie sie vorgehen sollten.

Schon nach wenigen Stunden nahmen sie ihre Reise wieder auf. Mit einem kräftigen Stoß drückte Sarramnim das Floß vom Ufer ab und sprang auf. Ruckartig wurde es von den Strömungen mitgerissen. Beinahe wäre er rücklings in den Fluss gefallen, hätte ihm nicht einer seiner Krieger die Hand gereicht, an der er sich festhalten konnte. Lautes Lachen ertönte, als sich Sarramnim wieder gefangen hatte. Sie waren nicht einfach Kameraden, sondern waren mit der Zeit gute Freunde geworden, die alle Gefahren gemeinsam überstanden. Da sie keine Werkzeuge bei sich trugen, mussten sie die Baumstämme ihres Floßes mit Magie zusammenhalten, was jedoch den geübten Magiern keine Probleme bereitete.

Schon am späten Nachmittag sahen sie die Stadt Zirkadim am Horizont. Sarramnim huschte ein Grinsen über seine Lippen. Durch ihr Floß waren sie schneller vorangekommen als vermutet.

Lygdos rückte immer näher.

*

In der Ferne konnte man allmählich die weißen Mauern der Stadt Lygdos erkennen. Gleißend hell erstrahlten sie, waren der Wegweiser der Reisenden. Selbst bei Dunkelheit gaben die Mauern das am Tage gespeicherte Licht ab. Ein mystisches Schauspiel, das jeden in seinen Bann zog.

Am Rande des Flusses, der durch dichtes Buschwerk verdeckt wurde, gingen die Jäger an Land und versteckten die Bauteile ihres Floßes. So schnell wie möglich huschten sie durch den Wald. Am Waldrand angelangt, erstreckten sich vor ihnen riesige goldene Felder bis hin zur Stadt. Einzelne Scheunen verteilten sich willkürlich über die Ebene.

Ein beklemmendes Gefühl machte sich in Sarramnim breit. Er hätte nicht gedacht, dass die Trauer über den Verlust seines Sohnes wuchs, mit jedem Schritt, den er sich seiner Heimat näherte. Ein Gefühl der Beklemmung breitete sich von seiner Brust her im gesamten Körper aus und schnürte wie ein doppelt geknüpftes Seil seinen Hals zu. Mit einem tiefen Atemzug beruhigte er sich wieder. Für seinen bevorstehenden Weg benötigte er seine volle Konzentration.

Am Torhaus der Stadt wurde er feierlich begrüßt. Er und seine Schar waren im ganzen Land berühmt. Für einen Plausch oder eine kurze Erzählung ihrer Abenteuer hatte er aber keine Zeit, geschweige denn genug Geduld. Mit fester Stimme befahl Sarramnim der Wache, niemandem von ihrem Aufenthalt in Lygdos zu erzählen. Eine Rechtfertigung hielt er nicht für erforderlich, dafür stand ein Jäger zu hoch im Rang.

Vorsichtshalber bedeckte die Schar ihre Gesichter mit ihren Kapuzen. Vor ihnen lag die Hauptstraße, auf der sich zahlreiche Karraphim tummelten und mit ihren bunten Kleidern und Tuniken für ein farbenfrohes Schauspiel sorgten. Bewaffnete waren darunter nicht zu sehen, aber auch nicht notwendig, schließlich gab es unter ihnen keine Verbrecher. Sanfte Flötentöne drangen durch das Stimmengewirr an seine Ohren. Noch bevor sie vollends in die Menge eingetaucht waren, bog Sarramnim von der Hauptstraße ab. Er schleuste die Jäger durch enge Gassen und nahm große Umwege in Kauf, nur um nicht von Passanten entdeckt zu werden. Er musste zuerst mit dem König sprechen.

*

Vor dem Tor der Palastanlage wurden sie angehalten. Ein stattlicher Krieger stand vor ihnen, die Linke auf den Schwertknauf gelegt. Sein roter Umhang zeigte seinen Rang, er war der erste Wächter des Tores.

„Halt! Wer seid Ihr und was wollt Ihr? Sprecht, rasch!“, forderte der Krieger.

Mit einer fließenden Bewegung strich Sarramnim die Kapuze vom Kopf. „Ich bin Sarramnim, Anführer der Jäger. Ich muss unverzüglich den König sprechen.“

Der Wächter versuchte, seine Verwunderung zu verbergen, schaffte es jedoch nicht gänzlich. „Selbstverständlich könnt Ihr passieren“, sprach er und gab seinen Männern das Zeichen, das Tor zu öffnen. Mit einer kurzen Verbeugung ging er auf die Seite und ließ die Schar passieren.

Zielstrebig marschierte Sarramnim durch den Torbogen Richtung Palast, gefolgt von seinen Jägern. An der Tür des Palastes angelangt, drückte er mit einem kraftvollen Stoß dagegen. Laut knarrend schwang sie auf. Sofort eilte ein in Seide gehüllter Diener aus einem der ihnen gegenüber liegenden Räume herbei.

„Willkommen in Tarramdíls Palast.“ Der Diener deutete eine Verbeugung an. „Was ist Euer Begehr?“

„Wir müssen sofort mit König Tarramdíl sprechen“, forderte Sarramnim. Als der Diener immer noch keine Anstalten machte, ihnen den Weg zu zeigen, fügte er hinzu: „Es geht um den Feldzug gegen die Menschen.“

„Folgt mir“, sagte dieser nun knapp und ging stechenden Schrittes in Richtung Thronsaal.

Mit jedem Schritt wurde Sarramnim nervöser. Er musste Tarramdíl überzeugen. Um jeden Preis.

Am Ende eines langen Korridors hielten sie an. Vorsichtig schob der Diener die silberverzierte Tür auf und verschwand für einen kurzen Moment in dem Raum. Dann wurde sie schwungvoll aufgerissen, und mit klarer Stimme wurde Sarramnim angekündigt.

„Wartet hier“, raunte er seinen Kriegern zu und ging hinein.

Krachend fiel die Tür wieder zu. Der Karraphim verbeugte sich vor seinem Herrscher, der wie üblich auf seinem goldenen Thron saß. Er sah müde aus.

„Was wollt Ihr Sarramnim, Anführer der Jäger? Wo habt Ihr meine Armee gelassen?“ Gespannt blickte Tarramdíl auf den Krieger.

„Mein König, meine Männer und ich haben uns von Eurer Armee getrennt und sind so schnell wie möglich aufgebrochen, um Euch persönlich zu treffen.“

„Dann sprecht rasch.“ Tarramdíl gefiel die Eigenwilligkeit seines Jägers ganz und gar nicht.

„Wir standen kurz vor dem Sieg. Gegen die Macht der Karraphim sind die Menschen verloren. Sie sind es nicht wert, weiter auf dem Planeten zu wandeln. Genauso wenig wie die Orks, Goblins und alle anderen der abscheulichen Kreaturen.“

„Und Ihr denkt, dass die Menschen etwas mit den Orks gemein haben?“, unterbrach der König Sarramnim.

Überrumpelt antwortete dieser: „Selbstverständlich. Sie sind zwar zivilisierter als die Orks, aber genauso rachsüchtig und falsch wie sie.“

„Ihr wisst, dass die Menschen genauso wie wir gegen die Orks und anderen Abschaum gekämpft haben?“ Lauernd sah Tarramdíl ihn an. Er wusste, dass er eine Schwachstelle in Sarramnims Gedankengang gefunden hatte.

„Gewiss“, stammelte der Jäger, bis er wieder seine Fassung erlangte, „aber ist es nicht so, dass selbst unter den Kreaturen des Bösen Kriege herrschen? Dass Orks versucht haben, die Goblins auszurotten, und auch untereinander Krieg führten?“

„Eines jedoch vergesst Ihr, Sarramnim“, entgegnete der König. Der Jäger spitzte die Ohren, Ungutes erwartend. „Die Menschen besitzen etwas wie Liebe, das sie alle Gefahren vergessen lässt. Sie opfern bereitwillig ihr Leben, um das ihrer Liebsten zu beschützen. Das unterscheidet sie von allen bösartigen Kreaturen.“

Das raubte Sarramnim jegliche Hoffnung auf Erfolg. Die unverrückbare Meinung seines Königs ließ ihn resignieren. Tarramdíl hatte längst einen Entschluss gefasst und er, ein Krieger, konnte ihn nicht umstimmen.

„Ja, ich hatte das längst vergessen“, murmelte er. „Verzeiht mir, mein König.“

Er verbeugte sich tief und wandte sich zum Gehen um. An ein Aufgeben wollte er dennoch nicht denken. Bereits jetzt verdichteten sich seine Gedanken zu einem Plan, den Krieg zu gewinnen. War nicht der König der Kopf eines Volkes? Was geschah, wenn der Kopf abgeschlagen wurde?

„Sarramnim“, rief ihm Tarramdíl hinterher. Mitleid färbte seine Stimme. „Durch die Vernichtung der Menschheit wird Euer Sohn auch nicht mehr lebendig.“

Der Krieger schwankte. Seine Augen wurden feucht. Mit zugeschnürter Kehle flüsterte er, ohne dass ihn ein anderer hören konnte: „Aber sie hätten dafür bezahlt.“

Als er durch die Tür schritt, sahen seine Krieger ihn mit erwartungsvollen Blicken an. Er schüttelte nur den Kopf und ging an ihnen vorbei. Er wollte nur raus aus diesem verdammten Palast. Seine Männer folgten ihm.

Nachdem sie die Palastanlage hinter sich gelassen hatten, führte Sarramnim sie in ein kleines Gasthaus. „Zur aufgehenden Sonne“ stand auf dem hölzernen Schild, das über der Tür hing.

„Das klingt doch vielsprechend“, lachte einer der Krieger, als er die Worte las. Die anderen stimmten in seine Heiterkeit mit ein. Damit versuchten sie, ihren Anführer aufzumuntern, was ihnen aber nicht gelang.

Als sie den Schankraum betraten, schlug ihnen der Duft von Rosen und Lavendel entgegen. Durch die mannshohen Fenster fiel das Sonnenlicht und durchflutete den Raum. Der Boden war aus hellem Stein und bildete einen angenehmen Kontrast zu den schwarzen Tischen aus Ebenholz. Auf einigen lag silbernes Besteck bereit.

Genau gegenüber der Tür saß der Wirt, der ein grünes Leinenhemd trug, die Ärmel bis zu den Ellenbogen heraufgekrempelt.

„Was kann ich für Euch tun?“, fragte er freundlich und kam auf seine Gäste zu.

Erst als er die Krieger genauer betrachtete, fiel es ihm auf. Das sind die berühmten Jäger der Karraphim!, schien seine Miene zu sagen.

„Meine Herren, mein Haus soll Euer Haus sein. Sucht Euch im obersten Stockwerk Eure Zimmer aus. Die Jäger sind immer in der ‚aufgehenden Sonne‘ willkommen.“

Nachdem Sarramnim im Namen seiner Schar ihren Dank ausgesprochen hatte, begaben sich die Jäger zu den Schlafräumen. Die steinerne Treppe wand sich neben dem Tresen nach oben. Erst im vierten Stockwerk ging sie fließend in den Gang über, in dem zahlreiche Kunstwerke der Karraphim hingen.

„Meine Freunde, wir werden ein paar Tage hierbleiben. Ich muss über unseren nächsten Schritt nachdenken. Sucht euch ein Zimmer aus und geht wieder hinunter, um euch mit dem Besten zu stärken, was der Wirt zu bieten hat. Ihr habt euch in den letzten Tagen selbst übertroffen. Ich bin stolz auf euch.“ Mit diesen Worten wandte er sich von ihnen ab.

Einer jedoch folgte ihm. Es war Arkim, sein ältester Freund. „Sarramnim!“

Überrascht drehte dieser sich um. „Was ist, Arkim?“

„Geht es dir gut, mein Freund? Ich mache mir Sorgen. Du bist in letzter Zeit anders als sonst.“

Sarramnim lächelte. Er hoffte, so seinen Freund beruhigen zu können. „Mach dir keine Sorgen um mich.“

„Wenn es dir recht ist, bringe ich dir später etwas zu essen vorbei. Unser Anführer muss doch bei Kräften bleiben.“

Arkim musste lachen. Als sogar Sarramnim in das Lachen mit einfiel, prustete Arkim los, sodass seine dunkelroten Haare wild umherflogen. Ihre überschwängliche Freude lag vor allem an dem Erreichen von Lygdos, das eine magische Wirkung auf alle Karraphim zu haben schien, und an ihrer Freundschaft. Diese währte bereits seit fast zwei Menschenleben und sie waren froh, so viele Abenteuer gemeinsam überstanden zu haben – genauso wie den Krieg gegen die Menschen.

„Komm schon mit runter und gesell dich zu uns. Du hast dir das Festmahl mit deinen Männern verdient“, versuchte Arkim seinen Freund zu überreden, während er sich eine Freudenträne abwischte.

Nach kurzem Zögern willigte Sarramnim ein. Die anderen Krieger waren bereits unten im Schankraum und bestellten sich Nektarwein. Dazu wurde ihnen Weißbrot mit feinen Käsescheiben serviert. Danach wurde zart gegartes Huhn aufgetischt, garniert mit allerlei Soßen. Als Nachspeise brachte der Wirt ihnen exotische Früchte aus dem Süden Karra’aphims. Es wurde getrunken, gegessen und gelacht. Für einen Moment fielen all die Sorgen von Sarramnim ab und er konnte wieder der sein, der er war: einfach nur Sarramnim.

Spät in der Nacht löste sich die Gruppe auf. Gesättigt und müde schlurften sie in ihre Gemächer zurück. Den Wirt hatten sie schon vor Stunden aus seiner Pflicht entlassen und ihn zu Bett geschickt. Er hatte ihnen nur eine große Karaffe besten Nektarweins dalassen sollen.

Vor Sarramnims Zimmer verabschiedeten sich die Freunde und gingen zu Bett.

„Und vergiss nicht, ich will nicht gestört werden in den nächsten Tagen“, ermahnte er Arkim.

Kraftlos ließ sich der Anführer in das weiche Bett fallen. Die Zimmer waren eher schlicht gehalten. Ein Bett, ein Tisch unter der Dachschräge mit einem Fenster, durch das man wunderbar die Sterne beobachten konnte, und ein kleines Schränkchen genau neben der Tür. Hell schien der Mond und sandte sein Licht durch die Fenster. Keine Wolke wagte es in dieser klaren Nacht, sich vor dieses Gestirn zu schieben. Auf dem Tisch stand eine weiße Keramikschale mit blauen Verzierungen, in der das Wasser glitzerte, als bestünde es aus Diamanten.

*

Tag für Tag warteten die Jäger auf eine Entscheidung ihres Anführers. Um Aufsehen bei der Bevölkerung zu vermeiden, hielten sie den Wirt an, ihren Aufenthalt geheim zu halten und das Essen auf ihre Zimmer zu bringen. 

Nur die Kammer von Sarramnim durfte nicht betreten werden. Der Karraphim verharrte dort drei Tage und drei Nächte, bis ihm ein Plan in den Sinn kam, der ihn zufriedenstellte. Aufgeregt trommelte er seine Männer zusammen. Neugierig standen sie dicht gedrängt in dem Raum und warteten auf das, was er gleich verkünden würde.

„Männer“, erhob Sarramnim die Stimme, „ihr wart mir tapfere und treue Waffenbrüder im Kampf gegen das Böse. Doch diesen Krieg werde ich alleine zu Ende bringen müssen.“ Als er die enttäuschten Gesichter seiner Krieger sah, fügte er noch besänftigend hinzu: „Reist nach Narasis zu meiner Frau und sagt ihr, dass ich sie über alles liebe.“

Fassungslos blickten die Jäger ihren Anführer an. War das sein brillanter Plan, über den er drei Tage hatte nachdenken müssen? Enttäuscht stöhnten manche auf.

„Und dich, Arkim, möchte ich nun zum neuen Anführer der Jäger erheben. Du vereinst alle Eigenschaften, die ein Anführer benötigt: Mut, Aufgeschlossenheit und Weisheit.“

Arkim starrte seinen Freund an, ohne etwas sagen zu können. So sollte also ihr Abenteuer enden?

Geduldig ließ Sarramnim seinen Blick über die neun Karraphim schweifen. Jeder von ihnen war ihm ein treuer Freund geworden. „Lebt wohl“, sagte er sanft und schob sich an seinen Kriegern vorbei.

„Sarramnim, warte!“, rief Arkim, aber sein Freund hörte nicht auf ihn und stieg unbeirrt die Treppen hinab. Er rannte ihm hinterher und packte ihn schroff an der Schulter. „Was hast du vor? Bist du des Wahnsinns?“

Langsam drehte Sarramnim sich um und blickte tief in die Augen seines Freundes. „Ich kann euch in diese Sache nicht weiter mit hineinziehen. Meine Zeit als Anführer der Jäger ist abgelaufen.“ Er klopfte Arkim auf die Schultern. „Deine Zeit ist gekommen.“

Allmählich verstand der Karraphim, was sein Freund vorhatte. Am liebsten hätte er ihn aufgehalten, doch er wusste, wie viel es Sarramnim bedeutete. Außerdem wusste er, sobald er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte ihn niemand mehr davon abbringen. Mit belegter Stimme verabschiedete er sich von Sarramnim. Sie umarmten sich, bevor der Krieger seinen Weg nach unten fortsetzte.

Traurig stapfte Arkim die Treppen wieder hinauf, wo ihn die acht Männer erwartungsvoll ansahen.

„Ihr habt gehört, was Sarramnim sagte. Wenn jemand etwas dagegen hat, dass ich euer Anführer werde, dann sprecht oder schweigt für immer.“

Keiner der Anwesenden rührte sich.

„Dann sei es so. Ruht euch aus, bei Morgengrauen brechen wir auf.“

*

Den Schutz der Nacht nutzend huschte Sarramnim von Haus zu Haus, bis er die Weststallungen erreichte. Das quadratische Gebäude maß mehrere Hundert Meter. Ein Torbogen führte den Karraphim direkt in den Innenhof, wo zahlreiche Tränken umherstanden. Die Türen der Stallungen waren üblicherweise nicht abgeschlossen, nur ein Riegel hinderte die Tiere daran, möglicherweise auszubrechen. Vorsichtig öffnete er eine. Leise betrat er das Innere, dessen Boden mit Stroh ausgelegt war. Nervös fingen die Rösser an zu schnauben.

„Ruhig“, flüsterte er ihnen zu. Es dauerte nicht lange, bis Sarramnim ein geeignetes Reittier gefunden hatte. Mit seinen kräftigen Beinen konnte es über weite Strecken laufen, dessen war sich der Karraphim sicher. Sanft streichelte er den Hals des Pferdes, das der Guarrim-Rasse angehörte. Den Namen der Rasse hatten sie der geografischen Lage ihrer Heimat zu verdanken. Gezähmt wurden die Tiere in alter Karraphim-Manier mit Liebe und Respekt, die Menschen hingegen bevorzugten Gewalt und Einschüchterung. Schon allein deswegen verdienen sie den Tod, dachte Sarramnim, während er das Pferd betrachtete.

Das Tier hatte weder Zaumzeug noch Sattel. Für Sarramnim spielte das keine Rolle, er konnte genauso gut auch ohne Hilfsmittel reiten. Schließlich gehörte dies ebenfalls zur Ausbildung eines Jägers wie Bogenschießen, Schwertkampf, das Schleichen, der Kampf im Wasser und viele andere Disziplinen. Erst als Sarramnim das Pferd nach draußen gebracht hatte und die Tür wieder mit dem Riegel verschloss, wuchtete er sich schwungvoll auf den Rücken des Tieres. Nervös tänzelte es hin und her, ungewiss was der Fremde mit ihm vorhatte. Nach einem kräftigen Druck gegen die Flanken preschte es wiehernd los. Nun war es Sarramnim egal, ob man ihn hörte. Jetzt konnte ihn keiner mehr aufhalten.

Sarramnim kam erstaunlich gut voran, was vor allem an seinem Reittier lag, das er auf den Namen Sarashkir taufte, was so viel wie Rache bedeutete. Trotzdem ging ihm alles viel zu langsam. Er wollte so schnell wie möglich bei den Menschen in Aratúm, der Hauptstadt Laram’durs, sein. Er wollte so schnell wie möglich Rache an ihnen üben.

Nach einigen Tagen passierte er bereits die Stadt Zirkadim und einen Tag darauf die Grenze zu Laram’dur, stets sein Ziel vor Augen.

Mit dem Zauber, den er und seine Krieger schon in der Nähe von Barag’nim verwendet hatten, reiste er ungesehen durch das Land des Feindes. Wann immer er Durst oder Hunger verspürte, kehrte er in einem Dorf ein und nahm sich, was er brauchte. Ab und zu kam es vor, dass seine Gegenwart nicht unentdeckt blieb, wodurch er sich durch die anstürmenden Menschen kämpfen musste. Mit Leichtigkeit tötete er jeden der Dorfwachen und stellte zur Schau, wie groß die Macht der Karraphim war.

Die Nachricht eines marodierenden Karraphims erreichte die Stadt Aratúm längst nicht so schnell, wie Sarramnim die Stadt erreichte. Keine zusätzlichen Wachen waren an den Eingängen postiert worden, niemand patrouillierte durch die Straßen. Er war am Ziel.

Sarashkir band er an einen Baum, bevor er sich anschickte, den Wall zu überwinden. Erst als niemand auf dem Wehrgang zu sehen war, feuerte er ein halbes Dutzend Zauber gegen die Mauer. Krachend splitterte das Gestein, rieselte als feiner Staub auf ihn herab und hinterließ kleine Löcher in dem Wall. Nun musste es schnell gehen. Mit einem kräftigen Sprung katapultierte Sarramnim sich zu der ersten der sechs Einbuchtungen. Mit dem Fuß stieß er sich von dort ab und erreichte das nächste Loch, bis er leichtfüßig auf dem Wehrgang landete. Im Augenwinkel sah er einen Wachmann mit einer Fackel näher kommen. Fluchend nahm Sarramnim den Bogen von seinem Rücken und legte einen Pfeil auf. Der Mensch erkannte den Feind und wollte gerade zu einem Schrei ansetzen, als sich das Geschoss tief in seinen Rachen bohrte. Gurgelnd kippte der Getroffene nach vorn.

Es würde nicht mehr allzu lange dauern, bis man den Angriff bemerken würde. Sarramnim musste schnell handeln. Rennend erreichte der Krieger die nächste Treppe, von dort aus huschte er von Haus zu Haus, immer darauf bedacht, sich im Schatten der Häuser zu bewegen. Die ersten Alarmglocken ertönten, als er über eine breite Straße spurtete. Doch das Glück war ihm hold. Niemand entdeckte ihn auf dem Weg zum Palast, den man schon von Weitem sehen konnte.

Etliche Wachmannschaften tummelten sich vor dem Eingang des Palastes. Sarramnim überlegte kurz, ob er sich nicht doch mit erhobenem Schwert durch die feindlichen Linien hindurchmähen sollte, doch die Gefahr, selbst verletzt zu werden, war zu hoch. Er hatte noch den ganzen Weg bis nach Karra’aphim zurückzulegen. Also entschied er sich für einen gewaltfreieren Weg, was er sehr bedauerte. Er wollte jedem Einzelnen denselben Schmerz, den er seither verspürte, zufügen, ihnen das Leben nehmen, so wie sie das Leben seines Sohnes nahmen.

Sarramnim zwang sich zur Ruhe und ließ seinen Blick schweifen. Geduckt huschte er an ein Fenster, das er mit einem Zauber aufbrach. Vorsichtig drückte er es auf, jedes verräterische Geräusch vermeidend. Geschmeidig wie eine Katze sprang er auf den Fenstersims und weiter in das Innere des Palastes. Der Raum, in dem er sich jetzt befand, war schlicht. Nur ein Schrank und ein Bett befanden sich dort. Bei genauerem Betrachten fiel Sarramnim auf, dass im Bett jemand schlief. Es war eine Frau, womöglich eine Dienstmagd. Leise pirschte er sich an sie heran, den Dolch erhoben. Sie schlief friedlich. In dem Moment, als er die Klinge in ihr Herz bohren wollte, hallten die Worte Tarramdíls in seinem Kopf wider. Für einen kurzen Moment hielt Sarramnim inne. Er schüttelte sich, um die Stimme loszuwerden, und trieb anschließend voller Verachtung die Klinge in den schlafenden Körper. Kurz bäumte sich die Frau auf, dann erschlaffte sie. Gleich darauf schlich er leise aus ihrem Zimmer.

Der Korridor war hell erleuchtet vom Schein der Lampen, die überall ihr Licht verbreiteten. Solange sie brannten, konnte er leicht entdeckt werden. Sein Unsichtbarkeitszauber war hier nutzlos, da er auf kurze Distanzen dennoch sichtbar blieb. Die Finsternis bot ihm also Schutz. Er flüsterte einen Zauber und blies über seine linke Handfläche. Ein kräftiger Wind entsprang dieser und brachte die Lampen zum Erlöschen. Erschrockene Schreie ertönten. Mit einem zufriedenen Grinsen suchte er weiter nach dem Schlafgemach des Königs.

In dem Wirrwarr von Korridoren und Zimmern irrte er umher, ohne zu wissen, wo er war, und hetzte von einem Gang in den nächsten. Er suchte nach einem Gemach, das bewacht wurde, doch bis jetzt fehlte jede Spur.

Als er um eine weitere Ecke spurtete, lief er einer Kolonne Wachen in die Arme. Jeder erschrak bei dem Zusammenstoß, doch Sarramnim konnte sich schneller wieder fassen, zog sein Schwert und streckte den ersten Mann nieder. Die anderen wollten sich gerade gegen ihn werfen, als der Karraphim sie mit einer leuchtenden magischen Attacke auslöschte. Ohne einen Moment innezuhalten, setzte er seine Suche fort. Sein Herz pochte vor Aufregung.

Kurz darauf erreichte er ein Treppenhaus, in dem weitere Wachen standen. Der Jäger brachte ihnen so schnell den Tod, dass sie gar nicht wussten, wie ihnen geschah. Einen Menschen ließ er jedoch am Leben. Sarramnim war es leid, weiter in dem Palast umherzuirren. Sein Gefangener hatte eine tiefe Bauchwunde davongetragen. Beide wussten, dass er nicht mehr lange zu leben hatte.

„Wo ist dein Herrscher?“, schrie Sarramnim ihn an. Dabei packte er den Verwundeten am Kettenhemd und schüttelte ihn so kräftig, dass der Mensch mit schmerzverzerrtem Gesicht antwortete: „Aus mir bekommst du nichts heraus, Dämon.“ Angewidert spuckte er seinem Peiniger einen zähflüssigen Klumpen Blut in das Gesicht.

Außer sich vor Wut schleuderte Sarramnim den Krieger von sich. „Wie du willst“, zischte er ihn an.

Mit einer wilden Geste wurde der Mensch in Flammen gehüllt. Kreischend und sich windend vor Schmerzen verging er in dem magischen Feuer. Der Karraphim schenkte dem Sterbenden keine weitere Beachtung mehr und hetzte die Treppen hinauf. Dort vermutete er das Gemach des Königs.

Nach einer halben Ewigkeit erreichte Sarramnim das, wonach er gesucht hatte. Ein Gang mit zahlreichen Wachen, die sich vor einem doppeltürigen Durchlass sammelten. Endlich. Es bedurfte nur weniger magischer Attacken, um den Gang zu säubern.

Verdutzt blieb Sarramnim stehen, als sich in den Rauchschwaden eine Silhouette abzeichnete. In einer Aura aus blauem Licht stand der Mann da, einen weißen Kapuzenmantel tragend.