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»Meine Großmutter las mir die Postkarten vor und wenn sie fertig war, verfinsterte sich ihr Blick und ihre Augen wechselten die Farbe, genauso wie das Wasser eines Teichs die Farbe wechselt, wenn eine Wolke die Sonne verdeckt.« José Carlos Llop entwirft mit diesem Kurzroman ein diffuses Bild von Mallorca inmitten der franquistischen Diktatur. Die Ereignisse, die das Leben der jungen Protagonisten – Schüler eines Jesuitenkollegs – bestimmen, reichen bis in die Geschichte des Spanischen Bürgerkriegs zurück, als die Baleareninsel zum Stützpunkt des faschistischen Italiens wurde.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Wir trugen keine Schuluniformen, aber es war, als gingen wir uniformiert zur Schule. Alle hatten einen blassen Teint, rochen nach dem gleichen Kölnischwasser und trugen einen Scheitel, egal wie kurz das Haar war. Die Farben der Pullover: Marineblau, Grau, Braun, wie das Federkleid der Rebhühner auf dem Feld, zu Hause von Müttern gestrickt, außer meine, die meine Großmutter strickte. Die Knöpfe waren aus Leder, wie halbe Fußbälle in Miniatur und die Hosen waren die abgetragenen Hosen unserer Väter, außer meine, die aus den Hosen meines Großvaters bestanden. Meine waren folglich noch älter. Sie reichten uns bis über die Knie und waren ebenfalls grau, blau oder braun, wie das Federkleid der Rebhühner auf dem Feld. Weißes Hemd und braune Schuhe. Und die gestreiften Westen, auf der Brusttasche bestickt mit dem Schulwappen und unseren Nachnamen. Die Weste trug man unten auf dem Hof.
Guillermo Stein hatte keine Weste, seine Pullover waren viel feiner gestrickt und besser verarbeitet als unsere. Sie waren bis zum Hals geschlossen und hatten keine Knöpfe, waren auch nicht grau, blau oder braun. Guillermo Stein trug Pullover, rot wie sein Regenmantel; grün wie das Glas von Olivenölflaschen; gelb wie die Streifen, die das Handballfeld markieren, auf dem wir Fußball spielten. Und er trug Hosen aus dunklem Leder mit vielen Taschen, um die ihn Palou beneidete, weil sie verwegen wirkten. Und sogar die Hosen, die nicht aus Leder waren, hatten viele Taschen. Als hätte Guillermo Stein mehr Dinge in seinen Hosentaschen aufzubewahren als wir, als bräuchte er deswegen mehr Taschen, um seine geheimen Stein’schen Besitztümer unterzubringen und nicht wie wir anderen, ein einsames weißes Taschentuch.
Es war Palous Idee gewesen, Stein im Sportunterricht zu umzingeln und auszufragen, woher er kam, welche Schulen er besucht hatte, warum er mitten im Schuljahr gekommen war und warum mit dem Fahrrad. Stein war nicht überrascht, sondern schien eher auf uns gewartet zu haben, als kenne er bereits die Gebräuche dieser Gruppe Einzeller, die ihn da umgab. Mit einem starren Blick und ohne uns in die Augen zu sehen, sagte er: »Mein Vater war mit Graf Ciano befreundet und ich bin Geheimagent Seiner Heiligkeit.«
Palou war wie vom Blitz getroffen, weil er keine Antwort parat hatte. Es war, als würde das Fehlen der Worte einen starken Stromstoß durch ihn hindurchjagen. Seine Unterlippe zitterte und die Augäpfel rutschten in einer Flüssigkeit seitlich weg, die nicht aus Tränen bestand, sondern eher der milchigen Substanz ähnelte, die die Toten absondern. Palous Augen glichen den Augen eines verendeten Fischs. Denn für Palou war das Keine-Antwort-Haben wie tot sein; eine seiner Regeln lautete: »Wenn du keine Antwort parat hast, heißt das, du bist gestorben.« Das war der Moment, in dem ich sagte: »Wollen wir vielleicht Planas holen?«
Planas war unser Spezialist in Sachen Zweiter Weltkrieg und Bürgerkrieg. Er hatte einen Onkel, der Raimundo hieß und der viel von der Welt gesehen hatte. Onkel Raimundo hatte im Bürgerkrieg und in der Blauen Division in Russland gekämpft. Er hatte außerdem General Muñoz Grandes Pläne überbracht. Als er dann in einem Hotel in Barcelona starb, waren die einzigen Habseligkeiten, die die Polizei bei ihm fand, seine Erinnerungen aus Russland: eine Luger-Pistole und das Eiserne Kreuz. Anderswo hieß es, sie hätten auch einen Koffer mit falschen Banknoten und zahlreiche Packungen mit Penicillin-Ampullen gefunden. In der Zeitung stand jedoch nur etwas von der Luger und dem Eisernen Kreuz, als hätten eine Pistole und eine Medaille das Rätsel um den Tod von Planas’ Onkel lösen können.
Unser Bote Rovira wurde damit beauftragt, Planas zu holen. Er rannte wie der Blitz und kam, klein wie er war, fast überall ungesehen durch. Rovira lächelte immer und zeigte dabei seine großen Pferdezähne. Planas dagegen lächelte nie. Er hatte rabenschwarzes Haar und konnte der Reihe nach alle Bauteile des Maschinengewehrs MG-47 aufsagen, die Geheimcodes des Widerstands vor der Landung in der Normandie, die Aufstellung der Marinetruppen in Okinawa oder die Strategie der Wehrmacht bei der Ardennenschlacht. Planas wusste eben alles aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und über die wichtigsten Ereignisse drumherum.