Der beste Notfall der Welt - Lorenz Pauli - E-Book

Der beste Notfall der Welt E-Book

Lorenz Pauli

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Beschreibung

Bloß das nicht! Gustav und Ben sind keine Freunde. Nur ihre Väter sind es. Und jetzt soll Ben für fast zwei Wochen bei Gustav wohnen? Das Einzige, was die beiden verbindet, ist eine angefahrene Maus, die sie gemeinsam pflegen. Doch hinter dem Geheimnis der sonderbaren Maus steckt ein noch viel größeres Geheimnis.Die beiden kommen dem Rätsel auf die Spur. Sie müssen die Welt wieder in Ordnung bringen, und zwar zusammen. Das verspricht noch mehr Abenteuer.Lorenz Pauli ist bekannt für witzige Dialoge und sprühende Ideen. Sein erster Kinderroman pendelt ganz selbstverständlich zwischen Alltagskonflikten und fantastischen Überraschungen. Und wir sind mittendrin.

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Lorenz Pauli

Der beste Notfall der Welt

Mit Bilder von Adam Vogt

Adam Vogt

atlantis

Das Leben ist schön

Ein richtiges Lächeln kommt nicht vom Mund.

Ein Lächeln kommt aus dem Gesicht. Die Augen lächeln mit. Eigentlich lächelt der ganze Mensch. Einem Lächeln, das sich auf den Mund beschränkt, ist nicht zu trauen.

Papa lächelte, als er Gustavs Zimmer betrat. Aber das Lächeln kam nur vom Mund. »Freu dich, Gustav! Ben kommt ein Weilchen zu uns. Nächsten Sonntag gehen wir ihn abholen.«

Gustav sah seinen Vater ungläubig an. Er schluckte. »Ja. Ich freue mich. Das Leben ist schön. Noch genau bis nächsten Sonntag ist das Leben schön.«

Papa machte »Pfff …«. Das machte er immer, wenn ihm sonst nichts einfiel. Das Lächeln war weg. »Vielleicht lernt ihr euch endlich mal richtig kennen. Und: Ihm geht es vielleicht genau gleich wie dir. Gut möglich, dass er auch lieber nicht zu dir kommen möchte.«

 

Das traf Gustav wie ein nasser Lappen:

Daran hatte er nicht gedacht. Klar mochte er Ben nicht. Aber war es möglich, dass Ben ihn auch nicht mochte?

Das fängt ja gut an

Vielleicht hätte es gereicht, wenn Ben und Gustav sich am Sonntag beim Abholen von Ben nicht sofort angeknurrt und gestritten hätten. Dann wären sie früher losgefahren, nicht erst, als es dunkelte. Oder wenn sie sich nicht nur gestritten, sondern auch gehauen hätten. Dann wären sie später dran gewesen. Wegen der Pflaster, die sie dann noch gebraucht hätten, oder wegen der ausgeschlagenen Zähne, die sie hätten einsammeln müssen. Aber daraus wurde nichts. Sie waren weder früher noch später. Leider. Oder glücklicherweise. Genau jetzt stiegen sie ins Auto. Ausgerechnet genau jetzt.

Eigentlich wäre es anders gedacht gewesen: Ben wäre zu seiner Oma gefahren, während seine Eltern eine Reise zu zweit machten. Aber die Oma hatte kurzfristig abgesagt. Bens Vater hatte das Gustavs Vater erzählt. Die beiden waren alte Freunde. Gustavs Vater hatte es den besten Notfall genannt, den man sich denken konnte, und hatte Ben eingeladen.

Ben versuchte zu lächeln, als er seinen Eltern zum Abschied winkte. Gustav hatte sich vorne auf den Beifahrersitz gesetzt. Gustavs Vater dachte wohl, Mama hätte das so erlaubt. Und Gustavs Mutter dachte wohl, Papa hätte das so erlaubt. Jedenfalls fragten beide nicht, und nun saß Gustavs Mutter hinten bei Ben.

 

Es war schon dunkel. Die Straße schlängelte sich durch die Landschaft. Hier gab es keine Straßenlampen. Rechts und links war alles grau und schwarz; graue Felder, schwarze Hügel. Die Scheinwerfer malten nur einen kleinen Bereich vor ihnen in Farbe.

Der Wald tauchte auf. Alle schwiegen schon lange, sogar das Radio. Kein einziges Auto war ihnen bisher entgegengekommen, niemand sonst schien unterwegs zu sein. Die weißen Streifen auf der Straße kamen aus dem Nichts und wurden vom Auto gefressen. Ben schaute zum Seitenfenster hinaus, obwohl es da gar nichts zu sehen gab. Gustav gähnte, obwohl er nicht müde war.

Plötzlich eine Vollbremsung. Es ratterte fürchterlich. Das Auto stand still. Alle saßen wie gefroren da.

In die Stille hinein sagte Ben: »Das Rattern war das ABS. Das Antiblockiersystem der Bremsen.«

»Was war da auf der Straße?«, fragte Mama und schaute zum Heckfenster hinaus. Aber da war nur Finsternis. Papa schüttelte nur den Kopf und drückte auf die Warnblinkanlage. Es sah gespenstisch aus: Die Bäume ringsum schienen gelb zu blinken. Sie waren da und wieder weg. Da und wieder weg.

 

»Ihr bleibt im Wagen, ich schau nach.« Papa stieg aus und ging mit einer Taschenlampe den Straßenrand entlang zurück.

Tonnenschwere Stille

Auf der Straße lag etwas Kleines. Papa beugte sich darüber. Dann suchte er an der Böschung ein großes Rindenstück und einen Stock. Mit dem Stock schob er das kleine Ding auf das Rindenstück und legte es an den Straßenrand. Dann kam er zurück. Als er einstieg, schüttelte er den Kopf. »Nur eine Maus. Es sah im Scheinwerferlicht größer aus.«

Mama fragte leise: »Ist sie tot?«

Papa schüttelte den Kopf. »Nein …«

»Schlimm?«, fragte Mama.

»Ein Auto fährt eine Maus an: Natürlich nicht schön.«

Gustav wollte aussteigen und nachschauen. Aber die Eltern verboten es ihm. »Wenn ein Auto kommt, überfährt es dich auch noch!«

Gustav gab sich nicht zufrieden. »Wir müssen der Maus doch helfen! Wir sind schuld, dass sie verletzt ist. Wir können sie doch nicht einfach verletzt liegenlassen! Sie braucht einen Tierarzt.«

Papa machte sein »Pfff …«, und Mama sagte, dass der Tierarzt bestimmt lachen würde, wenn jemand mit einer gewöhnlichen Maus zu ihm käme. Weil doch Katzen jeden Tag jede Menge Mäuse fressen.

»Ja, aber …«, begann Gustav wieder.

 

Papa zuckte mit den Schultern. »Hör mal, Gustav! Ich habe die Maus an den Straßenrand gelegt. Es gibt genau zwei Möglichkeiten: Entweder sie wird von der Eule gefressen. Oder sie wird vom Fuchs gefressen. Das sind die zwei Möglichkeiten. Und egal, ob Eule oder Fuchs – die sagen dann: ›Danke, dass es mit der Jagd heute ein bisschen einfacher war.‹«

Dann seufzte er: »Wir können nicht zu allen schauen.«

Neben Mama saß Ben. Und ihn hatten sie in der ganzen Aufregung vergessen. Er sagte nur ein Wort. Wenn das überhaupt ein Wort war. Ben sagte: »Ach …«

Es war ein sehr besonderes Ach …. Es war nicht ein Ausruf. Also ohne Ausrufezeichen. Es war aber auch keine Frage. Also kein Fragezeichen. Es war ein Ach … das nicht wirklich aufhörte. Es ging von diesem ›ch‹ in ein nachdenkliches, erstauntes Hauchen über, bis es nur noch ein Atmen war. Ein Ach …, das eine beklemmende Stimmung verbreitete. Eine tonnenschwere Stille füllte das Auto aus.

Endlich machte Papa sein »Pfff …« Aber das half auch nicht weiter. Das merkte auch er. Und er sagte: »So habe ich das natürlich nicht gemeint, Ben. Zu dir schauen wir natürlich gern. Aber das ist etwas anderes. Wir können doch nicht –« Weiter kam er nicht. Gustav und Ben riefen im Chor: »Doch, wir können!«

Ben erklärte, in seinem blauen Rucksack sei die Plastikbox mit den Schachfiguren. Die Figuren könne man problemlos in den Rucksack kippen. Dann sei die Box für die Maus frei. Papa holte nochmals tief Luft. Aber Gustav nahm schon die Taschenlampe, öffnete die Tür, stieg aus und öffnete den Kofferraum. Mama schimpfte, das sei gefährlich und er solle zurückkommen.

Aber sie saß hinten, und hinten gab es die Kindersicherung in der Tür. Mama konnte nicht aussteigen und ihn zurückholen. So sagte sie zu Papa: »Joachim, tu doch was!« Aber Papa beschränkte sich auf ein weiteres »Pfff!«

Gustav öffnete den Koffer. Ben hörte den Reißverschluss und war sofort wie elektrisiert. »Ich habe gesagt, im blauen Rucksack! Nicht im Koffer! Im Rucksack!«

Gustav machte sich am Rucksack zu schaffen. Die Schachfiguren kippte er neben das Gepäck in den Kofferraum. Mit der leeren Plastikbox ging Gustav dann der Straße entlang zurück. Er suchte mit der Taschenlampe das Gestrüpp ab. Die Schatten sahen aus wie scharfe, schwarze Zähne. Ein zerdrückter Pappbecher lag da und wippte hin und her. ›Konnte Stille wirklich so still sein?‹, fragte sich Gustav. Die Bäume blinkten noch immer: da und wieder weg. Da und wieder weg. Gustav kam sich plötzlich klein und beobachtet vor. »Ach was«, sagte er halblaut und streckte sich. Dann sah er das Rindenstück. Das kleine Unfallopfer lag reglos darauf. Gustav sprach leise: »Hab keine Angst. Es wird alles gut. Wir werden dich gesund pflegen. Versprochen.«

 

Er legte ganz vorsichtig das Rindenstück mit der Maus und zusätzlich ein paar Blätter in die Plastikbox. Die Maus blieb still liegen. War das Vertrauen? War es lähmende Angst? War es wegen der Verletzung?

Gustav redete beruhigend auf das Tier ein und sah es an. Es war eine eigenartige Maus, wenn es eine Maus war: groß und mit langen Haaren. Sie hatte einen langen Kopf. ›Wie ein Pferd‹, dachte Gustav. Das Tier atmete schnell und zitterte. An beiden Hinterbeinen klebte Blut an den langen, zotteligen Haaren. Das Tier blieb ruhig liegen und schaute mit seinen glänzenden dunklen Augen zu Gustav hoch.

Als Gustav zurück zum Auto kam, schimpfte Mama nur noch leise. Sie schauten alle in die Box, die nun ein Krankenzimmer war. Schließlich wechselten sie die Plätze.

Mama setzte sich ans Steuer, Papa setzte sich auf den Beifahrersitz, und Gustav rutschte mit der Plastikbox zu Ben auf die Rückbank. Er stellte die Box zwischen sich und Ben.

Ben schaute interessiert in die Box. Das Licht im Auto war schwach. Ein Blatt lag halb über dem Tier; man sah nicht viel. Und doch flüsterte Ben in Gustavs Richtung: »Ich will kein Besserwisser sein, aber das ist eine sehr, sehr eigenartige Maus.«

Gustav flüsterte zurück: »Du bist aber ein Besserwisser.«

Mama startete den Motor und merkte, dass der Kofferraum noch immer offen war. Papa stieg nochmals aus und schloss ihn.

Wäre der Kofferraum nicht so lange offen gewesen, wäre wohl alles anders gekommen. Aber wer konnte schon ahnen, dass das eine Rolle spielte?

Camping

Zu Hause sahen wieder alle besorgt in die Plastikbox. Das Tier lag still da. Es atmete immer noch sehr schnell. Die Box war auf die Dauer zu klein, das war klar. Gustavs Vater holte vom Balkon die Holzkiste mit dem Gartenwerkzeug. Gartenhandschuhe, Schnur und Gartenschere stopfte er in einen leeren Blumentopf. Vorsichtig legte er das Rindenstück mit der Maus in die leere Kiste. Dann wurde über das Futter für die Unfallmaus beraten. Sie entschieden sich für eine breite Auswahl, damit das Tier selber wählen konnte, was ihm guttat: ein Apfel, eine Nuss, ein Stück Käse und eine Karotte, dazu Wasser in einem Marmeladenglasdeckel. Es war spät geworden. Sehr spät. Gustav und Ben mussten ins Bett. In Gustavs Zimmer hatten sie ein Campingbett aufgebaut.

Ben fragte: »Petra, ist das für mich?«

Gustavs Mutter zuckte mit den Schultern. »Das machen wir ganz unkompliziert. Wo würdest du lieber schlafen? Im richtigen Bett oder im Campingbett? Du kannst wählen!«

Gustav sah sie ungläubig an. »Mein Bett gehört mir! Punkt. Ich gebe es nicht her. Das habe ich dir schon heute Morgen gesagt!«

Gustavs Mutter schnappte nach Luft. »Es ist zwar schon sehr spät, aber trotzdem ist es Zeit für eine Gutenachtgeschichte. Ganz, ganz klarer Fall. Sie handelt heute von zwei Vögeln. Hinsetzen! Hier! Nebeneinander! Näher! Gustav! Hör auf, Grimassen zu schneiden!«

Dann wurde die Stimme der Mutter weich. »Los geht’s: Es war einmal ein Grünschnabel, der saß in einem alten Autoreifen. Der Autoreifen lag im Wald. Der Grünschnabel tat, als wäre der Reifen sein Nest. Da kam ein Blauschnabel und setzte sich auf den Rand des Reifens: ›Guten Tag, hat es hier vielleicht Platz für zwei?‹

Der Grünschnabel plusterte sich auf: ›Niemals! Das Nest gehört mir! Ich habe es gefunden.‹

Der Blauschnabel nickte. ›Kein Problem. Dann baue ich mir selber eines.‹ Gesagt, getan. Der Grünschnabel im Autoreifen staunte. Das kleine Nest des anderen Vogels sah gemütlich aus. Er baute es hoch oben, an bester Lage. Von dort hatte man einen guten Überblick über die Gegend.

Und dann kam der Fuchs! Er sah den Vogel im Autoreifen. Der Vogel hoch oben im Baum hatte einen Halm im Schnabel, als er rief: ›Paff auf!‹

Gerade noch rechtzeitig flog der Grünschnabel aus dem Autoreifen. ›Danke!‹, sagte er zum Blauschnabel. Und: ›Wollen wir zusammen weiterbauen?‹

Zusammen bauten sie weiter am Nest in den Bäumen. Dann zupften sie dem Fuchs, der sich für ein Nickerchen in den Autoreifen gelegt hatte, immer wieder ein paar Haare aus. Damit polsterten sie das gemeinsame Nest. Es wurde alles schön und gut.«

Gustav sah seine Mutter missmutig an: »Ich mag es nicht, wenn du Geschichten erzählst, mit denen du die Welt oder mich ändern willst.«

Mama grinste und hauchte ein »Gute Nacht!«.

 

Sie schlich mit übertriebenen Schleichbewegungen aus dem Zimmer, als würden die Jungs nicht auf der Bettkante sitzen, sondern schon schlafen.

Gustav dachte an die vielen Geschichten, die seine Mama für ihn schon erfunden hatte. Die meisten waren wild, wirr, schräg und viel zu kurz. Er schielte zu Ben hinüber, der still neben ihm saß. Wäre das hier eine Geschichte, dann würde bestimmt alles gut. Ben und er würden etwas erfinden, sie würden Freunde werden, am Ende würden sie zusammen die Welt retten, und alles käme dann groß in den Nachrichten. Aber das hier war keine Geschichte, das war Ben, und das war er. Und in echt ist alles anders als in den Geschichten, und nicht alles wird gut.

Gustav zuckte zusammen, als Ben plötzlich sagte: »Ist schon gut. Ich nehme gern das Campingbett. Ich war noch nie campen.«

Gustav sah ihn mürrisch an. »Nein. Ich nehme das Campingbett. Nimm du meins. Ist okay.«

Ben schüttelte den Kopf. »Nein wirklich: Ich nehme das Campingbett.«

Gustav winkte ab. »Da bin ich schon. Wenn du auch noch da schläfst, wird es zu eng.« Ein schmales Lächeln ging hin und her.

Die Kiste mit der Maus stellten sie auf Gustavs Schreibtisch. Die Maus war auch noch immer wach, bewegte sich aber kaum. Gefressen und getrunken hatte sie nichts.

»Gute Besserung, Hinkemaus!«, sagte Ben leise.

Und Gustav sagte: »Ja.« Sie hätten die Maus gern gestreichelt. Aber sie trauten sich nicht.

Ben öffnete seinen Koffer nur eine Handbreit und tastete nach seinem Pyjama. Den Koffer schloss er wieder sorgfältig, noch bevor er sich umzog.

Bald lagen sie in den Betten. Gustav löschte das Licht.

Für Ben war es ein fremder Ort. Er versuchte, im Dunkeln etwas Vertrautes zu sehen. Er sah nur Schatten. Dann dachte er: ›Es ist gar nicht möglich, dass ich im Dunkeln Schatten sehe. Um Schatten sehen zu können, muss es irgendwo heller sein. Und es ist alles düster.‹ Er hätte gern noch weiter darüber nachgedacht. Aber er war müde. Von Gustavs Seite her war nichts zu hören. Beide Kinder rührten sich nicht und fragten sich still, ob der andere wohl schon schlief.

Tage zählen

Bens Stimme war laut. »Was soll das? Ich habe dir gestern schon gesagt, dass du meine Sachen in Ruhe lassen sollst!«

Gustav zuckte zusammen. Verständnislos schaute er sich um. Bens Sachen lagen überall. Erstaunlich, wie viel im Koffer Platz gehabt hatte. Pullis, Bücher, Mikroskop, Socken, Hosen und Lötkolben. Vielleicht war der Koffer auch einfach explodiert? Nein. Der Koffer selbst sah nicht nach einer Explosion aus. Er schien fast unberührt. Der Reißverschluss war nur wenig geöffnet. Gustav schüttelte den Kopf. »Wenn du in der Nacht deinen Schnuller suchst, dann gib gefälligst nicht mir die Schuld. Ich habe damit nichts zu tun. Dein Kram interessiert mich nicht.« Und damit legte er sich wieder hin.

Mama kam ins Zimmer und öffnete das Fenster. »Lassen wir die schlechte Luft und die schlechte Stimmung raus. Gut geschlafen? Und wie geht es der Maus?«

Die Maus! An die hatten sie noch gar nicht gedacht. Sie lag noch immer an der gleichen Stelle. Das Futter war unberührt.

Gustav sah zu Bens Chaoskoffer. »Mama, wann geht Ben wieder nach Hause?«

Mama schaute noch immer besorgt in die Holzkiste, als sie antwortete: »In zwölf Tagen. Kommt! Frühstück steht auf dem Tisch.«

 

Nach dem Frühstück kramte Gustav in seiner Schreibtischschublade. Endlich fand er ihn: Seinen Adventskalender vom vergangenen Jahr. Er hatte ihn nicht wegwerfen wollen. Jetzt nahm Gustav die Schere und schnitt die untere Hälfte ab. Die warf er in den Papierkorb. Bei der oberen Hälfte drückte er die Türchen wieder zu. Nur eines ließ er offen. Mit Silberstift schrieb er ganz oben: ›Wie lange B.E.N.‹ Er sah Ben an, der ihm beim Schreiben zuschaute, und erklärte: »B.E.N. ist eine Abkürzung für ›Bleibt Er Noch.‹« Gustav pinnte den Wie-lange-bleibt-er-noch-Adventskalender über seinem Schreibtisch an die Wand.

Ben sah ihn finster an. Er öffnete die Tür und fragte hinaus: »Petra, stimmt es, dass es noch immer zwölf Tage geht, bis ich nach Hause gehen kann?« Dann nahm er die andere Hälfte des Adventskalenders aus dem Papierkorb und schnappte sich den Silberstift. Er schrieb: ›Gehen Unglaublich Schlechte Tage Auch Vorbei?‹ Ben pinnte seinen G.U.S.T.A.V.-Adventskalender auch an die Wand. Dann öffnete er wieder die Tür und rief: »Petra, und wie viele Tage sind es jetzt noch?« Mit steinerner Miene sahen sich die Jungs an.

Es war sehr still. Dann kroch eine Unterhose an den beiden vorbei.

Es war Bens Unterhose. Sie kam vom Koffer her, kroch langsam im Slalom an den anderen Sachen vorbei und blieb schließlich an Gustavs Bürostuhl hängen. Ben hob die Unterhose hoch. Die Maus! Keiner hatte bemerkt, dass sie aus der Kiste verschwunden war. »Die?«, fragte Ben.

Gustav nickte. »Ja. Die. Die hat deinen Koffer ausgeräumt. Es ist zwar keine gewöhnliche Wühlmaus. Aber sie scheint gern zu wühlen. Und am Morgen tut sie, als wäre sie hilflos und schwach. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen bei mir.«

Ben grinste: »Oh! Keine Sorge, das hatte ich auch nicht vor.« Er legte das Rindenstück direkt vor die Maus. Tatsächlich kroch sie darauf. Die Hinterbeine zog sie kraftlos hinter sich her. Ben legte die Maus zurück in die Holzkiste. In der Küche holte Gustav den Gitterrost aus dem Backofen. Den legte er über die Kiste.

Sie zogen sich an. Gustav schaute die Maus an und sprach leise mit ihr.

Ben räumte inzwischen seinen Koffer wieder ein. Er öffnete den Koffer dazu nicht ganz, sondern zwängte alles durch einen kleinen Spalt hinein, wie in einen Briefkasten. Ben war nicht wohl dabei, Gustav falsch verdächtigt zu haben. Hatte man nur dann die Möglichkeit, jemanden nicht zu mögen, wenn er in irgendeiner Weise schuldig war? Oder konnte man auch einen Unschuldigen nicht mögen? War man selber schuldig, wenn man einen Unschuldigen nicht mochte? Zu Hause hätte er über diese Frage mit den Eltern reden können. Hier nicht. Gab es ein Messinstrument für Freundschaft? Eine Skala, die von minus 10 bis plus 10 ging? Was würde das Messinstrument bei Ben und Gustav anzeigen? »Minus 10«, murmelte Ben. Dann korrigierte er sich: »Minus 9«, denn er rechnete jederzeit bei Gustav mit noch schlimmeren Gemeinheiten. Da musste die Anzeige weiter sinken können. Oder sollte die Skala nicht bei minus oder plus 10 aufhören, sondern immer weiter gehen wie die Erdbebenskala, die kein Ende hat?

»Ja«, murmelte Ben.

Das Ding

Etwas pikste. Gustav griff in seine Hosentasche. Da war etwas. Das Ding war klein und hatte vorstehende Ecken. Oder eher Zacken. Es war aus Metall und glänzte. Nicht silbern, nicht golden. Irgendetwas dazwischen. Mit einem beinahe regenbogenfarbigen Schimmer.

Gustav drehte das Ding zwischen seinen Fingern hin und her. Ben schaute zu. Gustav erklärte: »Gefunden. Gestern im Wald. Das ist wohl nicht von unserem Auto abgefallen beim Bremsen, oder?«

Ben schüttelte den Kopf. »Denk doch mal nach! Du musst nur logisch überlegen. Ist doch nicht so schwierig: Es sieht nicht wie ein technisches Bauteil aus. Es hat kein Gewinde. Und was wäre das denn für ein Auto, bei dem beim Bremsen alles auseinanderfällt.«

Gustav versuchte ruhig zu bleiben, obwohl Ben ihn nervte. »Ich sagte ja, dass es wohl nicht vom Auto ist! Zuerst dachte ich, es sei eine Playmobil-Krone …«

Ben nahm Gustav das Ding aus der Hand und schnaubte. »Gustav! Playmobil-Zeug ist aus Plastik. Aber das Ding hier ist nicht aus Plastik. Das Gewicht! Der Klang, wenn man dagegen klopft. Eindeutig: Es ist aus Metall.«

 

Zum Beweis klopfte er mit einem Bleistift an das Ding. Es klang leise und irgendwie unheimlich. Als würde der Klang nicht nur von den Ohren gehört, sondern vom ganzen Körper gefühlt. Wie Schneeflocken auf der Haut. Aber sie hätten niemals zugegeben, dass sie es so empfanden. Also ließen sie den Ton einfach verklingen. Beide hofften, dass der andere nicht nochmals dagegenklopfen würde.

Gustav musste sich dringend bewegen. Er nahm seine Jonglierbälle und jonglierte. Er konnte sehr gut jonglieren. Er hatte erwartet, dass Ben staunen und den Mund halten würde. Aber Ben war mit den Gedanken nicht von dem eigenartigen Ding abzubringen. Er packte sein Mikroskop aus und sah sich das Ding genauer an. Feine, winzige Verzierungen waren ringsum angebracht. Von bloßem Auge hatte man sie nicht gesehen. Es hätten fremde Buchstaben sein können. Aber Ben murmelte: »Das ist nicht Arabisch, nicht Chinesisch oder Koreanisch … es ist sehr sorgfältig gemacht … Was auch immer es ist: Es scheint wertvoll zu sein. Nicht irgendein Müll. Was sollen wir damit tun?«

Das war zu viel. Gustav blieb die Luft weg. Die Jonglierbälle plumpsten zu Boden. »Wir?! Du redest, als würde es uns gehören. Ich habe es gefunden! Es gehört mir!«

Ben sah ihn mitleidig an. »Es gehört weder dir noch uns. Es gehört jemandem, der es verloren hat. Und du bist verantwortlich, den Besitzer zu finden … oder eben: Wir sind verantwortlich. Hat man dir nicht beigebracht, dass man gefundene Dinge zurückgibt? Dann müssten Petra und Joachim dir das endlich beibringen. Das sind Selbstverständlichkeiten.«