Der Blutadler - Manon Schröter - E-Book

Der Blutadler E-Book

Manon Schröter

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Beschreibung

Was, wenn die Schatten der Vergangenheit die einzige Spur zur Wahrheit sind? Als ihre Mutter stirbt, kehrt Kriminalpsychologin Lizzie Moeller nach Jahren des Exils in ihr Heimatdorf zurück, begleitet von ihrem treuen Hund Marlo. Doch anstatt der ersehnten Ruhe erwartet sie ein unheimliches Rätsel: Eine Mordserie an älteren Männern erschüttert die Kleinstadt. Mit Hilfe des Polizisten Matthias begibt Lizzie sich auf die Suche nach Antworten. Doch die düsteren Spuren sind nicht nur auf die Gegenwart begrenzt, sondern führen tief in ihre eigene Vergangenheit. Mit jedem weiteren Schritt entfaltet sich ein Netz aus Geheimnissen, das nicht nur ihr eigenes Leben bedroht ...

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Seitenzahl: 332

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Die Autorin

Manon Schröter, Jahrgang 1975, beschäftigte sich, seit sie denken kann, mit Literatur. Nach vielen beruflichen Umwegen hat sie nun ihren ersten Kriminalroman geschrieben. Sie hat zwei, bereits erwachsene Kinder und lebt in einem kleinen Ort in Bayern.

Für

Julia & Aliya

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Ein letztes Wort!

Prolog

Die Dunkelheit hatte längst das letzte Licht verschlungen, als er seinen Wagen vor dem Haus parkte. Der Motor gab krachende Geräusche in einem beunruhigendem Unisono von sich, als würde er sich jeden Moment in einer Feuerball-Explosion auflösen. Zu seinem Glück waren die wenigen Häuser hier seit Jahren unbewohnt, sodass er keinerlei Angst vor neugierigen Blicken haben musste. Er hatte ihr versprochen, rechtzeitig nach Hause zu kommen. Doch der Überfluss an Alkohol und die ausgelassene Feierstimmung hatten jedes Zeitgefühl verschwinden lassen. Als er auf die alte Armbanduhr blickte, ein Erbstück seines Vaters, stellte er mit Entsetzen fest, wie spät es bereits war.

Die kalte, klare Luft prallte ihm entgegen, als er aus dem Auto stieg. Mit einem Schlag verschwand die Benommenheit in seinem Kopf. Seine Augen suchten das Fenster seines Hauses, hinter dem immer noch ein schwacher Lichtschein zu sehen war. Lag sie vielleicht noch wach in seinem Bett und wartete auf ihn? Die Vorfreude auf die Wärme ihres Körpers war wie ein Balsam für ihn. Nackt an ihrer Seite liegend, erinnerte er sie immer an Marianne. Es schmerzte ihn, dass das Bild seiner Frau langsam vor seinem inneren Auge immer mehr verblasste, dabei hatte er sie so geliebt.

Die Autotüre gab ein krachendes Geräusch von sich, als er sie zuschlug. Beim Rascheln im Gebüsch fuhr er erschrocken zusammen, wandte sich schnell um und wühlte hektisch in seiner Jackentasche, bis seine Fingerspitzen die kleine Taschenlampe ertastete.

Langsam, mit vorsichtigen Schritten, näherte er sich der Wand aus Dunkelheit und Blättern, der schwache Lichtstrahl suchte verzweifelt nach einem Zeichen. Doch das Einzige, was er erkennen konnte, waren die glühenden Tieraugen, die ihn bedrohlich anstarrten. „Dämliches Vieh“, murmelte er leise, bevor er sich zur alten Haustür wandte. Erst jetzt spürte er die Erschöpfung in seinen Knochen. Ein letztes Mal blickte er sich um und atmete ein letztes Mal die kühle Luft ein, bevor er in der Dunkelheit seines Hauses verschwunden war.

Unter normalen Umständen hätte er vielleicht bemerkt, dass er nicht alleine war. Doch der Alkohol hatte seinen Verstand zu sehr betäubt.

Eins

Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich zuletzt diesen Weg genommen hatte. Als Kind hatte ich oft meinen Vater begleitet, die Fahrten schienen für mich endlos zu sein. Ich liebte es, auf dem Rücksitz unseres alten Autos zu liegen und die Lichtspiele an der Decke zu beobachten. Mein Vater redete während der ganzen Fahrt und schien nie aufhören zu wollen. Als kleines Mädchen hatte ich Besseres zu tun, als diesen scheinbar langweiligen Geschichten zuzuhören. Doch erst, als er nicht mehr da war, wurde mir schmerzlich bewusst, wie sehr ich diese Monologe geliebt hatte.

Als mich der Anruf des Krankenhauses erreicht hatte, war ich erleichtert, einen Grund zu haben, mein Zuhause zu verlassen. Endlich hatte ich eine Ausrede, warum ich überstürzt meinen Koffer packte, um mir eine Auszeit von Johannes zu nehmen. Ich war jedes Mal aufs Neue entsetzt darüber, wie unsensibel er sein konnte.

Das Geräusch der zuschlagenden Haustüre hinter mir war befreiend. Endlich weg von hier! Marlo blickte mich neugierig an, er konnte nicht verstehen, warum wir Hals über Kopf sein ihm vertrautes Zuhause verlassen hatten.

Es war bereits dunkel, und die Fahrt in das kleine Dorf, in dem ich die ersten Jahre meines Lebens verbracht hatte, schien eine Ewigkeit zu dauern. Als das Ortsschild auftauchte, trat ich auf die Bremse. Meine Finger krallten sich immer tiefer in das Lenkrad, während ich auf das Schild starrte, von dem bereits an einigen Stellen die Farbe abgeblättert war. Erst die nasse Schnauze meines Hundes riss mich aus meinen Gedanken. Mir war nicht bewusst gewesen, wie lange ich so da gesessen hatte. Als ich sein braunes Fell streichelte, legte er seinen Kopf schief und gähnte mich lautstark an. Ich musste an das denken, was ich zurückgelassen hatte. Ein Teil in mir hegte noch immer die Hoffnung, dass sich meine Beziehung zu Johannes wieder einrenken würde, doch dieser Teil wurde mit jeder Auseinandersetzung mit ihm immer kleiner.

Als ich vor dem Haus meiner Eltern stoppte, war es bereits weit nach Mitternacht. Natürlich war der Ersatzschlüssel immer noch an derselben Stelle versteckt. Vorsichtig öffnete ich die Türe und sofort stieg mir der wohlbekannte Duft meiner Kindheit in die Nase. Marlo war der Erste, der das Haus betrat. Seine kindliche Naivität brachte mich immer zum Lächeln. Er inspizierte alles ausgiebig und beschnüffelte jedes Eck, wahrscheinlich in der Hoffnung, etwas zum Fressen zu finden. Doch leider musste ich ihn enttäuschen. Meine Mutter hatte noch nie etwas für Tiere übrig gehabt, die Wahrscheinlichkeit, dass sich hier etwas für ihn finden würde, war eher gering.

Es kostete mich Überwindung, die Türklinke meines alten Zimmers im ersten Stock zu drücken. Viele Jahre war ich nicht mehr hier gewesen, aber alles sah noch genauso aus wie an dem Tag, an dem ich mein Zuhause verlassen hatte.

Mit meinem Finger malte ich undefinierbare Zeichen in die dicke Staubschicht, die sich auf der alten Kommode gebildet hatte. Mich schauderte es bei dem Gedanken, hier die nächsten Stunden zu verbringen. Obwohl es Sommer war, spürte ich die Kälte, die sich immer weiter in meinem Körper ausbreitete.

Marlo kuschelte sich neben mich unter der dünnen Decke auf dem grünen Sofa und ich drückte den warmen Hundekörper fest an mich. Seine Anwesenheit hatte immer etwas Beruhigendes auf mich. Die unzähligen Gedanken in meinem Kopf hielten mich vom Schlaf ab, doch irgendwann übermannte mich die Müdigkeit, und meine Augen wurden immer schwerer.

Mein Kopf dröhnte wie ein dumpfer Trommelschlag, als ich aus dem Schlaf gerissen wurde. Ein wilder Mix aus Träumen und düsteren Gedanken hatte mich die Nacht über geplagt. Seit meinen Studientagen hatte ich keine solchen quälenden Kopfschmerzen mehr verspürt. Langsam versuchte ich, mich zu orientieren und wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen.

Obwohl ich einen großen Teil meiner Kindheit hier an diesem Ort verbracht hatte, fühlte ich mich wie ein entwurzelter Fremder in meiner eigenen Heimat, doch die alten Erinnerungen schienen von einer trüben Patina überzogen zu sein, die meine Verbindung zu ihnen verschleierte.

Das Telefon in meiner Tasche gab ein letztes, eindringliches Klingeln von sich, als ob es meine Aufmerksamkeit erzwingen wollte, dann war es verstummt.

Marlo starrte mich mit seinen kleinen, verschlafenen Augen an, als würde er mir den Vorwurf machen, dass ich diesen unheilvollen Weckruf nicht schon früher beachtet hatte.

Als ich die Nummer des Krankenhauses erkannte, machte sich ein ungutes und mulmiges Gefühl in meinem Bauch breit. Ich konnte mir denken, welche unangenehmen Worte mir bevorstanden. Mein Herz begann zu rasen und meine Intuition flüsterte mir eine düstere Vorahnung ins Ohr. Ich wusste, dass die Nachricht, die am anderen Ende der Leitung auf mich wartete, nichts Gutes verhieß.

Erst nach quälend langen Minuten konnte ich schließlich den inneren Widerstand überwinden und wagte es, den kleinen Knopf mit dem grünen Hörer zu drücken. Die Zeit schien stillzustehen und es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis endlich jemand abnahm. Sofort erkannte ich die bekannte Stimme es Arztes, der mich Stunden zuvor angerufen hatte und mein bis dahin vermeintlich glückliches Leben durcheinandergewürfelt hatte.

„Guten Morgen, Frau Moeller. Es tut mir wirklich leid, Sie zu so früher Stunde anzurufen. Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt?“

Ich glaubte, einen Hauch von Verlegenheit in seiner Stimme zu hören, er versuchte, eine seltsame Distanz zwischen uns beiden aufzubauen. Seine Worte waren freundlich, doch es schien, als würden sie aus einer anderen Welt kommen. Einer Welt, in der solche Nachrichten zum Alltag gehörten.

„Nein, äh, nein. Ich war schon wach“, brachte ich mühsam hervor, unfähig, irgendetwas Sinnvolles zu sagen.

„Leider muss ich Ihnen mitteilen dass Ihre Mutter vor einer Stunde friedlich eingeschlafen ist.

Seine Worte hallten wie ein Echo meiner düsteren Gedanken wider. Obwohl ich glaubte, auf diesen Moment vorbereitet zu sein, fühlte es sich an, als würde die Zeit plötzlich stillstehen.

„Frau Moeller? Hören Sie mich?"

Der Arzt schien sichergehen zu wollen, dass ich noch bei ihm war.

„Ja, ich höre Sie“, brachte ich schließlich mühsam hervor. In diesem Moment wünschte ich mir, mehr sagen zu können, doch ich fühlte mich innerlich nur leer.

„Könnten Sie irgendwann einmal vorbeikommen, um die Sachen Ihrer Mutter abzuholen? Es muss nicht heute sein, aber demnächst wäre gut“, fuhr der Arzt fort. Seine Worte brachten mich zurück in die kalte Realität.

„In Ordnung, ich werde sehen, wann ich kommen kann“, was sollte ich in so einer Situation sonst sagen?

Während meiner Arbeit saßen oft Menschen vor mir, denen ich die traurige Nachricht vom Tod eines nahen Menschen mitteilen musste, doch jetzt war ich an dieser Stelle. Zu gerne hätte ich mir jemanden gewünscht, der bei mir gewesen wäre.

Minutenlang starrte ich auf das Telefon in meiner Hand, während sich die Wirklichkeit langsam um mich herum neu ordnete. Behutsam legte Marlo seine Schnauze auf mein nacktes Knie, als wüsste er, dass ich Trost brauchte. Es war bemerkenswert, wie Tiere immer spüren konnten, wenn es ihren Besitzern schlecht ging. Vorsichtig wuschelte ich durch sein weiches, braunes Fell.

"Na, du? Hast du Hunger?"

Er antwortete mit einem aufgeregten Schwanzwedeln. Die Worte "Hunger" und "Futter" schienen er immer zu verstehen. Die Dose mit Corned Beef, die ich in dem obersten Küchenschrank gefunden hatte, verbreitete einen widerlichen Fleischgeruch, aber Marlo sprang vor Freude fast in die Luft, als er den Duft wahrnahm. Es war für mich unbegreiflich, wie jemand so etwas essen konnte, ich konnte mich aber daran erinnern, dass meine Mutter diese undefinierbare Masse in den altmodischen Dosen geliebt hatte.

Erst jetzt fand ich Zeit, mich hier genauer umzusehen. Es sah genauso aus wie früher, es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass ich zuletzt einen Fuß hierhin gesetzt hatte. Alles wirkte verstaubt und bedrückend. Ich konnte nie verstehen, warum meine Mutter hier nichts verändert hatte. Nachdem mein Vater uns verlassen hatte, war es nicht mehr mein Heim. Doch jetzt, nach all den Jahren der Abwesenheit, sah ich es mit den Augen einer Fremden.

Mein Blick fiel auf die alte Standuhr in der Ecke. Neun Uhr! Ich musste Mike anrufen. Bei uns gab es eine strenge Hierarchie, trotzdem war unser Umgang miteinander freundschaftlich.

"Kriminalpolizei, Mike Nauman hier", meldete er sich.

"Hallo Mike, hier ist Lizzie. Es tut mir wirklich leid, aber ich bin gerade im Haus meiner Mutter." Meine Worte stockten, und ich spürte, wie die Tränen in meinen Augen aufstiegen.

"Sie ist letzte Nacht gestorben, und... und ich muss mir ein paar Tage freinehmen, bis hier alles geregelt ist", meine Stimme war leise, kaum wahrnehmbar.

Die Worte kamen plötzlich aus mir heraus, als könnten ich sie nicht länger in mir halten, doch Mike unterbrach mich.

"Lizzie, beruhige dich erst einmal. Du kannst dir so viel Zeit nehmen, wie du brauchst. Wir kommen hier zurecht. Nimm dir alle Zeit der Welt."

Ich wusste, dass meine Kollegen aufgrund des Personalmangels nicht auf meine Hilfe verzichten konnten, doch Mike kannte mich schon zu lange. Als die Streitereien mit Johannes begonnen hatten, hatte er mir beigestanden, so auch jetzt.

"Mike?"

"Was, Lizzie?", seine Stimme war ruhig und verständnisvoll.

"Danke!"

Mehr musste ich nicht sagen. Als ich auflegte, fühlte es sich an, als wäre ein schwerer Stein von mir gefallen. In der Küche hörte ich das Geräusch von Marlos Hundezunge, die den Teller akribisch sauberleckte. Er sah mich gelangweilt an, dann trottete er gemächlich in Richtung des Sofas.

"He, du Faulpelz! Nicht nur fressen und schlafen!“

Er schien mich vorwurfsvoll anzusehen, als ich ihm die Decke wegzog. Manchmal schien es fast, als würde nicht ein Hund, sondern ein mir vertrauter Mensch vor mir stehen.

Die kühle Morgenluft strömte in das Haus, als ich die Haustüre öffnete. Mein Hund zögerte zunächst und schnüffelte skeptisch für ihn unbekannte Gerüche, die im Wald auf ihn warteten, doch dann siegte seine Neugierde und er war im dunklen Dickicht verschwunden. Vorsichtig setzte ich mich auf die alte Holzbank vor dem Haus und hielt die heiße Tasse Tee mit beiden Händen fest umklammert. Alles hier fühlte sich auf eine gewisse Art und Weise vertraut an, obwohl ich hier so lange nicht mehr gewesen war. Der kleine Garten war von Blumen und Beeren überwuchert, und mir fielen die glücklichen Stunden ein, die ich vor Jahren dort verbracht hatte.

In der Ferne hörte ich das aufgeregte Bellen meines Hundes, der durch das hohe Gras auf mich zustürmte. Seine Ohren tanzten im Wind, und trotz der traurigen Nachricht, die ich vor Kurzem erhalten hatte, musste ich bei seinem Anblick lächeln.

"Na, Marlo. Wie wäre es, wenn wir etwas zu essen besorgen?"

Er neigte seinen Kopf und gab ein leises, zustimmendes Wuffen von sich.

Die kurze Fahrt ins Dorf dauerte nur wenige Minuten, der Weg war mir in Fleisch und Blut übergegangen, schließlich war es mein täglicher Schulweg gewesen, als ich noch ein Kind war. Doch jetzt schien alles kleiner zu sein, als ich es in Erinnerung hatte.

Der Anblick des kleinen Ortes, das ich nach ein paar Minuten erreichte, erstaunte mich. Vieles hatte sich hier verändert. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, die kleinen, verwitterten Häuschen in ansehnliche Gebäude zu verwandeln. Die einzige Konstante war der kleine Laden von Hans Pfeiffer, der noch immer wie aus einer anderen Zeit wirkte. Als ich die Tür öffnete, erklang die vertraute Glocke über der Ladentür.

Herr Pfeiffer war schon alt gewesen, als ich ein Kind war, doch als ich den alten Mann erblickte, fiel mir auf, dass er sich kaum verändert hatte. Nur sein einst schütteres Haar war nun vollkommen weiß. Doch sein Lächeln war noch genauso warm und einladend wie in meiner Kindheit. Hinter seiner Ladentheke stehend, fing er an, bis über beide Ohren zu grinsen, als er mich erblickte.

„Lizzie, meine Güte, dass ich das noch erleben darf!" Er kam mit weit geöffneten Armen auf mich zu, bereit für eine herzliche Umarmung. Dieses wohlige Gefühl, als er mich in die Arme nahm. Hatte sich sowenig verändert? Wenn ich weinend von der Schule kam, konnte nur er mich wieder aufmuntern und die Trauer fortwischen. So wie jetzt.

„Wie geht es dir, Kleines? Du siehst traurig aus. Was bedrückt dich?“

Ich brauchte nicht viel zu sagen. Nach all den Jahren, erkannte er sofort, wie es mir ging.

„Meine Mutter ist heute im Krankenhaus gestorben.“ Als ich mich diesen Satz sprechen hörte, wunderte ich mich über mich selbst, wie leicht er über meine Lippen ging.

„Oh nein, das tut mir aber leid.“

Er machte ein betrübtes Gesicht und drückte mich noch einmal fest in seine Arme.

„Seit wann bist du hier?“

Vorsichtig setzte er sich auf den alten Holzstuhl hinter dem Tresen, der noch der Gleiche wie damals zu sein schien.

„Ich bin letzte Nacht angekommen. Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich es noch schaffen würde, aber leider war es zu spät.

Er blickte mich ernst an, doch sein Mund formte ein kleines Lächeln.

„Ich bin mir sicher, dass sie gewusst hat, dass du sie trotz allem geliebt hast.“

Ich versuchte zu lächeln, seine Worte gaben mir ein wärmendes Gefühl. Es entstand eine Pause, in der ich nicht wusste, was ich sagen sollte.

„Ich habe schon gehört, dass du Karriere gemacht hast.“

Fragend sah ich ihn an.

„Du weißt doch, dass sich hier bei uns nichts verheimlichen lässt.“

Ich nickte, nur zu gut konnte ich mich daran erinnern, wie die Menschen hier über uns geredet hatten. Als ich zu Johannes gezogen war, war ich froh über die Anonymität der Stadt, die dort herrschte.

„Also, was kann ich für dich tun?“

„Ich brauche ein paar Lebensmittel für mich und meinen Freund. Ich weiß noch nicht, wie lange wir hier bleiben werden, aber im Haus ist fast nichts, was er mag. Er ist da etwas speziell.“

Ich zeigte nach draußen zu meinem Auto, das vor dem kleinen Geschäft stand. Marlo hatte seinen Kopf durch das Beifahrerfenster gesteckt und sah neugierig zu mir herüber.

Ich wusste, dass Herr Pfeiffer Hunde über alles liebte. Früher hatte er einen kleinen vierbeinigen Freund, der eigentlich seiner Ehefrau gehört hatte. Als diese gestorben war, war dieses kleine, plüschige Etwas das Einzige, was ihn aus seiner Trauer herausgeholt hatte. Ich erinnerte mich noch sehr gut daran, wie traurig er war, als Poppy eingeschläfert werden musste. Ich konnte sehen, wie sehr es ihn freute, als er meinen Hund hinter seinen Ohren kraulte. Marlo verstand es hervorragend, die Menschen um den Finger zu wickeln, beziehungsweise um seine Pfote. Dafür wurde er mit einer dicken Umarmung und Hundekeksen belohnt.

Während Herr Pfeiffer unsere Lebensmittel in eine braune Tüte einpackte, sah ich mich in dem kleinen Laden um. Die alte, schwarze Kasse war noch dieselbe. Auch alles andere hatte sich hier anscheinend kaum verändert. In meiner Erinnerung war dieser Ort hier immer eine Zuflucht gewesen. Hier konnte ich vergessen, dass die Welt draußen manchmal grausam und traurig sein konnte.

„Wollen wir Papa besuchen?“

Marlo blickte mich neugierig an, als wir wieder im Auto saßen. Obwohl ich seit Ewigkeiten nicht mehr dort gewesen war, konnte ich mich noch sehr gut an den Weg zum Friedhof erinnern. Nach all den Jahren verspürte ich noch immer das große Loch, das sein Tod bei mir hinterlassen hatte. Ich hatte angenommen, dass ich damit längst abgeschlossen hatte. Doch als ich vor dem Tor stand, kam dieses schmerzliche Gefühl wieder in mir hoch und ich verspürte einen Kloß in meinem Hals, der immer größer zu werden schien. Von einem Tag auf den anderen war er nicht mehr da und unser Leben war nicht mehr wie zuvor. Ich versuchte, die düsteren Gedanken so weit wie möglich von mir wegzuschieben und machte mich auf die Suche nach dem Grab meines Vaters.

Zu dieser Tageszeit waren kaum Menschen auf dem kleinen Friedhof. Nur ein paar schwarz ge-kleidete alte Frauen standen vor dem Eingang zur Kirche und unterhielten sich lautstark. Als sie Marlo sahen, starrten sie zornig zu mir herüber. Hunde waren hier anscheinend nicht gern gesehen. Mir war in diesem Moment nicht nach Diskussionen zumute und ignorierte ihr leises Flüstern und Zischen.

Minutenlang irrte ich zwischen den Gräbern umher, bis ich vor dem alten Grabstein stand. Das kleine, schwarz-weiße Foto war verblasst und kaum noch zu erkennen. Der junge Mann darauf lächelte mich an und ich spürte wieder einen Stich in meiner Brust. Obwohl mir in diesem Moment zum Weinen zumute war, unterdrückte ich das Bedürfnis danach.

Warum nur hatte er uns verlassen? Natürlich war mir bewusst, dass er nicht mit Absicht einen Herzinfarkt bekommen und die Kontrolle über sein Auto verloren hatte. Aber als Kind hatte ich ihm unbewusst die Schuld dafür gegeben, dass er nicht mehr bei mir war.

Bis auf ein paar vertrocknete Pflanzen befand sich nichts auf dem spärlichen Grab. Eine alte Lampe stand im Eck, die wahrscheinlich seit Ewigkeiten nicht mehr angezündet worden war. Dafür hatte sich Unkraut seinen Weg gesucht und überwucherte fast vollkommen die weißen Kieselsteine. Zwei einsame Schnecken krochen mir entgegen, als ich notdürftig versuchte, das Gestrüpp zu entfernen.

Für heute hatte ich genug von Tod und Leid und wollte nur noch nach Hause, oder das, was es früher einmal war.

Als ich vor dem Haus meiner Mutter, in dem ich so viele Jahre meiner Kindheit verbracht hatte, stand, wurde mir bewusst, dass ich jetzt dafür verantwortlich war. Bewaffnet mit Putzmitteln wollte ich mir wenigstens die unteren Räume vornehmen. Die Arbeit war anstrengender als gedacht, doch es fühlte sich auf eine gewisse Art und Weise befreiend an. Ich versuchte die ganze Trauer und Schmerzen aus dem Haus zu vertreiben. Marlo lag inzwischen in der Nachmittagssonne und ließ es sich gut gehen. Unbemerkt war in der Einkaufstüte ein Knochen gelandet, den er genüsslich bearbeitete.

Eigentlich hätte ich Johannes anrufen müssen und mich kurz melden. Ich dachte über unseren Streit nach. Er hatte wieder einmal das leidige Thema vom Zaun gebrochen: was ist wichtiger, mein Beruf oder er? Als wir uns kennen lernten, wusste er, dass mir meine Arbeit einfach zu wichtig war und ich dafür in meinem Privatleben Abstriche machte. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie es wäre, Mutter zu sein. Aber sein Verständnis schlug bald in Ärger und Frust um und so viele Male konnte ich mir anhören, dass mir alles Andere wichtiger war als er.

Ich fand das nicht fair von ihm. Schließlich hatte er gewusst, auf was er sich eingelassen hatte. Und mir jetzt vorzuhalten, dass ich ihn vernachlässigen würde, war einfach nur ungerecht. Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich diese Ehe überhaupt noch weiter führen wollte.

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als ich eine nasse Hundeschnauze auf meinem Bein spürte. Marlo verstand es immer, zum richtigen Zeitpunkt da zu sein.

“Wollen wir Feierabend machen?“

Er wedelte aufgeregt mit seinem Schwanz und versuchte an mir hochzuspringen. Wenn ich nur wüsste, was dieser kleine Knopf mir manchmal sagen wollte.

Nach einer Ewigkeit kamen wir wieder Zuhause an. Ich hatte es genossen, stundenlang in den mir so vertrauten Wäldern herumzustreifen. Es war mir sogar gelungen, die Beerensträucher wiederzufinden, unter denen ich als Kind oft stundenlang gelegen hatte. Mir war in den letzten Jahren gar nicht bewusst gewesen, wie sehr mir das gefehlt hatte.

Auch Marlo hatte seinen Spaß dabei, jedes Mauseloch, das er fand, ausgiebig zu erkunden. Zu meinem, beziehungsweise dem Glück der Mäuse ohne Erfolg. Ich war immer der Meinung, dass die Stadt kein geeigneter Platz für ein glückliches Hundeleben war. Umso mehr freute es mich zu sehen, wie mein Hund in dieser kurzen Zeit hier auflebte.

Als ich kurze Zeit später auf dem Sofa lag, spürte ich die Müdigkeit und Erschöpfung, die von meinem Körper Besitz ergriffen hatten.

Marlo hatte sich unter meiner Decke zusammengerollt und wärmte meine Füße. Tausend Gedanken schienen durch meinen Kopf zu schwirren. Durch das Fenster konnte ich sehen, wie es immer dunkler wurde. Ich schloss meine Augen und versuchte, die Geräusche vor der Türe zu erkennen.

„Morgen werde ich in das Krankenhaus fahren und Mamas Sachen holen“, schoss es durch meinen Kopf, dann war ich eingeschlafen.

Zwei

Es kostete mich Überwindung, das kalte Wasser der Dusche anzustellen und unter den kühlenden Wasserstrahl zu treten. Doch nach kurzer Zeit spürte ich, wie die restlichen schlechten Gefühle von mir abgespült wurden. Der Gedanke an die Fahrt in das Krankenhaus verursachte ein nicht zu beschreibendes Gefühl in meinem Magen, das sich leider nicht beiseite schieben ließ.

Während ich in der Küche stand und und gedankenverloren mit dem Löffel in meiner Tasse Tee rührte, beobachtete ich meinen Hund, der sich gierig über seinen Futternapf hermachte. Ich war so in Gedanken vertieft, dass ich das Geräusch des vorfahrenden Autos nicht wahrnahm. Marlo hob seinen Kopf und sah in Richtung Türe. Neugierig stellte er seine Ohren auf.

Bis auf Herrn Pfeiffer wusste niemand, dass ich hier war. Vorsichtig öffnete ich die Türe um zu sehen, wem ich diesen unerwarteten Besuch zu verdanken hatte. Ich wusste sofort, dass es sich bei dem jungen Mann, der aus dem dunkelgrauen Auto stieg, um einen Polizisten handelte. Nach so vielen Jahren hat man einfach ein Gespür dafür. Marlo streckte kurz seinen Kopf aus der Türe, dann war er wieder verschwunden. Als Wachhund war dieser Hund einfach ungeeignet.

„Guten Tag, Frau Moeller.“

Er kam auf mich zu und streckte mir seine Hand entgegen.

„Mein Name ist Matthias Freud. Ich hoffe, ich störe Sie nicht?“

Vorsichtig schüttelte ich seine Hand, ratlos, was er von mir wollte. Sein Händedruck war fest und energisch.

„Woher wissen Sie, dass ich hier bin?“

Obwohl sein Blick ernst war, versuchte er, mich anzulächeln.

„Sie müssten doch wissen, wie schnell sich hier in so einem kleinen Dorf etwas herumspricht.“

Ich musste an die Frauen auf dem Friedhof denken. Bestimmt hatten sie ihren Mund nicht halten können.

„Also, was kann ich für Sie tun?“

Ich versuchte, nicht allzu mürrisch und unfreundlich zu wirken, doch Herr Freud wirkte erleichtert.

„Nun, ich bin ganz inoffiziell hier, aber ich bräuchte eventuell Ihren Rat. Mir ist bewusst, dass Sie jetzt wahrscheinlich andere Dinge im Kopf haben, aber ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir bei etwas behilflich sein könnten.“

Ich konnte ihm ansehen, wie unangenehm die ganze Sache für ihn war, doch aus irgendeinem Grund war meine Neugierde geweckt.

„Letzte Nacht wurde hier jemand im Wald gefunden, und um ehrlich zu sein, wissen wir nicht, wie wir damit umgehen sollen. So etwas hatten wir bis jetzt noch nie hier, also habe ich mir gedacht, dass Sie sich vielleicht die ganze Sache einmal ansehen könnten. Das ganze Dorf weiß um Ihren Ruf und da dachte ich, dass Sie uns eventuell…..“

Er redete unaufhörlich und schien nicht enden zu wollen. Wahrscheinlich wäre ich unter anderen Umständen ungehalten gewesen über diese Unterbrechung, im Moment kam mir eine Abwechslung genau recht. Vielleicht suchte ich auch einfach nur eine Ausrede, nicht in das Krankenhaus fahren zu müssen.

„In Ordnung, ich könnte, glaube ich, eine Pause einlegen. Aber meinen Polizeihund muss ich mitnehmen.“

Irritiert sah mich Herr Freud an, als ich Richtung Türe zeigte.

Es war schwer einzuschätzen, wie alt er war. Er konnte nicht älter als dreißig sein, nur ein paar Jahre jünger als ich selbst. Sein dunkelblondes Haar hätte einen Besuch beim Friseur vertragen können, an manchen Stellen blitzten schon ein paar graue Strähnen hervor. Die dunkelblauen Augen lachten mich verschmitzt an, auch wenn er einen eher besorgten Eindruck auf mich machte.

„Heute morgen haben zwei Jogger um 7.23 Uhr in einem abgelegenen Waldstück eine Leiche gefunden. Normalerweise passieren hier keine größeren Verbrechen. Manchmal ein paar Jugendliche, die ein bisschen randalieren oder Einheimische, die etwas über den Durst getrunken haben und ihre Streitereien mit der Faust austragen wollen. Aber eine Leiche?“

Irgendetwas in seiner Stimme verriet mir, dass er nicht von hier stammte.

„Als ich hierher versetzt wurde hatte ich schon die Befürchtung, mich zu Tode zu langweilen, aber wenn man dann so etwas zu sehen bekommt …“

Ich fragte mich, was mich erwarten würde, doch ich sollte mich bald selbst davon überzeugen können. Das Auto bog auf eine kleine Seitenstraße ab und wir fuhren in ein kleines Waldstück.

Als Kind war ich stundenlang in diesen Wäldern unterwegs, immer auf der Suche nach neuen Abenteuern. Damals wäre es für mich undenkbar gewesen, dass an diesem friedlichen Ort irgendetwas Schreckliches passieren könnte. Aber als Kind ist man oft naiv und sieht die Welt mit anderen Augen.

Als wir ausstiegen, hüpfte Marlo aufgeregt auf der Rückbank hin und her.

„Nimm mich mit, nimm mich mit!“, schien er zu rufen, aber dieses Mal musste er hier bleiben.

Schon von Weitem konnte ich die abgestellten Polizeiautos sehen. Zwei Polizisten waren anwesend, einer saß auf dem Beifahrersitz, während der andere davor stand und zu mir herüber sah. Als ich zu ihm blickte, drehte er beschämt seinen Kopf beiseite. Sein Gesicht war aschfahl und auf seinem Hemd konnte ich einen großen, dunklen Fleck erkennen.

Herr Freud und ich sprachen kein Wort miteinander, die ganze Situation wirkte auf mich sehr surreal, wie in einem schlechten Film, in dem die Hauptdarstellerin gleich etwas Schreckliches zu Gesicht bekommen würde. Nach ungefähr 150 Metern erreichten wir eine kleine Lichtung, jemand hatte hier ein größeres Lagerfeuer errichtet. Zum Glück brannte es nicht mehr, nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn das Feuer sich ausgebreitet hätte.

Es ist schon seltsam, welche Gedanken einem manchmal durch den Kopf schwirren. Weiter hinten stand eine kleine Gruppe Bäume und etwas, das wie eine Vogelscheuche aussah. Als ich näher kam, wurde mir schlagartig bewusst, was ich dort sah und erstarrte. Ich blickte zu Herrn Freud und wusste, was ihn so entsetzt hatte. Das, was ich für eine, mit Stroh ausgestopfte, Puppe gehalten hatte, war bei näherem Betrachten der geschändete Körper eines Menschen.

Neben mir hörte ich Herrn Freud tief Luft holen. Kein Wunder, dass er so etwas hier noch nie gesehen hatte. Selbst während meiner Laufbahn bei der Polizei hatte ich noch nie so einen Anblick zu Gesicht bekommen, das hier ging selbst für mich zu weit und etwas in mir hinderte mich daran, weiter zu gehen. Ich fragte mich, wer zu so etwas fähig war. Langsam näherte ich mich der Szenerie, fast hätte ich meinen können, ich würde vor einem riesigen Gemälde stehen, doch hier war alles echt. Das, was hier veranstaltet wurde, machte das Bild auf seine Weise unrealistisch und grotesk.

Zwei Bäume standen im Abstand von zwei Metern, dazwischen hing das, was früher einmal ein lebender Mensch war, ein Wesen, das einen Herzschlag hatte. Doch jetzt war davon nichts mehr übrig. Der Mann war vollkommen entkleidet und zwischen seinen Beinen hatte sich ein Schwall von Körperflüssigkeiten ergossen, die an manchen Stellen schon angetrocknet waren. Im Todeskampf verliert man gelegentlich die Kontrolle über seine Körperfunktionen. Ein paar Fliegen schwirrten umher, auf der Suche nach etwas Nahrhaften. Der Geruch von Blut, Urin und Stuhlgang kroch in meine Nase und instinktiv hielt ich meine Hand vor mein Gesicht um nur nicht mehr von diesen übelriechenden Körperflüssigkeiten wahrnehmen zu müssen.

In jeder der Handflächen befand sich ein großes Loch, darin steckte ein großer, eiserner Ring. Dadurch war es ein Leichtes, den Mann zwischen den beiden Seilen mit zwei dicken Seilen aufzuspannen, unfähig, von diesem schrecklichen Platz zu fliehen.

Als ich nach unten sah, erstarrte ich vor Entsetzen. Eine große Wunde klaffte zwischen seinen Beinen. Anhand der ausgetretenen Blutmenge konnte ich nur erahnen, welche Schmerzen er ertragen mussten, als ihm seine Genitalien bei lebendigem Leib abgetrennt wurden.

Langsam ging ich ein paar Schritte zurück und betrachtete den Leichnam. Irgendetwas stimmte mit seinem Gesicht nicht. Ich grübelte einen kurzen Moment, dann fiel mir ein, was mich störte. Der Mund war sorgfältig zugenäht worden.

Der Mörder, oder besser gesagt, Folterknecht, hatte sich anscheinend mit seiner Arbeit viel Zeit gelassen. Als Kind hatte ich mich im Handarbeitsunterricht mit Nähen versucht, war aber immer an meiner Feinmotorik gescheitert. Aber das hier war sorgfältig und akkurat, beinahe schon liebevoll gearbeitet, sofern man das in so einer Situation behaupten konnte.

„Verstehen Sie mich jetzt?“, für einen kurzen Moment erschrak ich kurz, als ich die Stimme von Matthias Freud neben mir hörte. Ich sah ihn an und nickte.

„Sie sollten sich die Rückseite ansehen.“

Ich zögerte. Konnte es noch etwas Schrecklicheres geben?

Dann sah ich, was er meinte. Dort, wo einmal Haut war, klaffte nun ein tiefes Loch. Jemand hatte sorgfältig den ganzen Rücken geöffnet. Wie ein Buch waren beide Seiten aufgeklappt und ich konnte auf das Innere blicken. Fast die kompletten Rippen waren durchtrennt und nach und nach säuberlich herausgezogen worden. Die Lungenflügel, normalerweise in einem zarten Rosa, trieften nur so voller Blut und waren jetzt tiefrot gefärbt.

„Und, was sagen Sie dazu?“

“So etwas ist mir noch nie unter die Augen gekommen. Wissen Sie, um wen es sich hier handelt?“

Er nickte.

„Martin Eberhardt. Er ist unser Metzger hier im Dorf. Oder war es zumindest mal.“

“Wurde er denn vermisst?“

“Meiner Kenntnis nach nicht. Soweit ich weiß, war er verwitwet und seitdem alleinstehend. Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie deshalb behellige.“

Er machte eine kurze Pause.

„Ich kann mir vorstellen, dass Sie wahrscheinlich andere Sachen im Kopf haben. Aber ich bin jetzt sozusagen der Dienst führende Polizist hier, seitdem mein Chef pensioniert ist. Ich könnte wirklich Ihre Hilfe gebrauchen.“

Es war ihm anzusehen, wie unangenehm die Situation war. Eigentlich wollte ich die Zeit nutzen, um mich um die Hinterlassenschaften meiner Mutter zu kümmern, aber, um ehrlich zu sein, scheute ich mich davor, mich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Im Moment war ich wirklich froh über eine Ablenkung, auch wenn ich mir etwas Schöneres hätte vorstellen können.

„Haben Sie die Spurensicherung schon verständigt?“

“Bevor ich zu Ihnen gefahren bin. Ich weiß, der offizielle Dienstweg schreibt da etwas anderes vor, aber ich dachte mir, Sie könnten vorher einen Blick darauf werfen, solange der Tatort mehr oder weniger noch frisch ist.“

Der Wind hatte zugenommen und wiegte die Baumwipfel hin und her. Obwohl es Sommer war fröstelte es mich und ich vergrub mich tief in meine Strickjacke. Ich fragte mich, wer zu so einer Tat imstande war. Die Neugier in mir hatte zugenommen und tief in mir stand mein Entschluss schon fest.

Drei

Das Polizeirevier sah noch genauso aus wie in meiner Kindheit. Hier hatte sich nicht viel verändert. Es hätte der Drehort für eine Polizeiserie aus den 70er Jahren sein können. Im Vergleich zu meiner Arbeitsstelle wirkte es alt und schäbig.

An der Wand hing das Bild von Max Hofmann während seiner Abschiedsfeier. Meine Erinnerungen an ihn waren eher spärlich. In der ersten Klasse waren wir einmal am Tag der offenen Tür hier, eine Maßnahme, damit die Kinder Vertrauen zum Gesetz aufbauten. Damals fand ich hier alles spannend und aufregend, ich konnte mir damals aber nicht vorstellen, selbst einmal in diesem Bereich zu arbeiten.

Meine zweite Erinnerung an Herrn Hofmann war dagegen nicht so schön. Ich erinnerte mich noch ganz genau an den Tag, als jemand an unsere Haustüre klopfte. Von der ersten Minute an strahlte er eine Ruhe und Autorität aus, die wahrscheinlich jeden beeindruckt hätte.

Meine Mutter hingegen wusste sofort, dass der Grund für diesen Besuch kein Guter war. Ich konnte an ihrem Gesicht erkennen, dass etwas Schreckliches passiert war. Seitdem hatte sich so viel verändert.

Matthias Freud reichte mir eine Kaffeetasse mit der Aufschrift „Die Polizei – wir sorgen für Ihre Sicherheit.“ Billige Massenware, die wahrscheinlich unzählige Male im ganzen Land verteilt war. Aus der Tasse dampfte der frisch aufgebrühte Kaffee.

„Herrn Hofmann habe ich so viel zu verdanken. Er hat Jahre gebraucht, um endlich in den Ruhestand zu gehen. Nicht, dass ich ihn los haben wollte, aber irgendwann ist es auch Zeit, seine Lorbeeren zu ernten. Kannten Sie ihn?“

Ich nickte.

„Als Kind habe ich ihn ein paar Mal gesehen. Und jetzt sind Sie also sein Nachfolger?“

Ich nahm einen großen Schluck und setzte mich an einen der freien Schreibtische. Der alte Holzstuhl gab ein knarrendes Geräusch von sich. Auf dem Boden hatte sich Marlo breit gemacht und sich genüsslich ausgestreckt. Seine Augen waren geschlossen und er gab ein fiependes Geräusch von sich. Anscheinend jagte er in seinen Träumen ein paar Hasen.

„Eigentlich sollte schon längst ein Ersatz hier sein, aber so ein Dorf ist halt nicht so spannend wie die Stadt. Und so lange halte ich, zusammen mit meinen Kollegen, die Stellung.“

„Was können Sie mir über das Opfer sagen?“

Sein Gesicht nahm wieder diesen ernsten Ausdruck an, als er hektisch auf seine Tastatur tippte. Sogar die Computerausstattung hier schien aus einem vergangenen Jahrhundert zu sein und ich fragte mich, wie man damit arbeiten konnte.

„Martin Eberhart, unser hiesiger Dorfmetzger, 65 Jahr alt. Weder ein Strafzettel noch irgendeine andere Ordnungswidrigkeit. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, womit man so einen furchtbaren Tod verdient hat.“

Vor meinen Augen erschien das Bild des Tatortes. In irgendwelchen amerikanischen Trillern hatte ich so etwas schon gesehen, aber hier? Während meines Studiums wurden meistens nur „normale“ Fälle besprochen. Doch ich hatte schon immer eine Vorliebe für außergewöhnliche Verbrechen. Mich faszinierte es, herauszufinden, warum Menschen zu so etwas fähig waren. Die wenigsten kommen als blutrünstige und gestörte Wesen auf die Welt. Ich wollte immer wissen, was diesen Menschen zugestoßen war, damit sie zu so etwas fähig waren. Natürlich entschuldigt die Vergangenheit nicht solche Verbrechen, es erklärt aber vieles und macht eine Tat verständlicher.

„Und, was denken Sie?“, er riss mich aus meinen Gedanken.

„Ich denke, wir sollten erst einmal den Bericht des Gerichtsmediziners und der Spurensicherung abwarten, dann lässt sich vielleicht mehr über den Tathergang sagen. Inzwischen würde ich gerne zu den zwei Joggern fahren, die das Opfer gefunden haben.“

Er machte einen tiefen Atemzug.

„Ich hoffe, dass ein Besuch schon möglich ist. Wir mussten den Arzt rufen, weil die Frau einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Kein Wunder bei dem Anblick. Der war selbst mir zu viel.“

„Ich glaube, ich habe da jemanden, der uns dabei helfen kann.“

Als ich unter meinen Stuhl sah, blickte ich in die Augen meines Hundes, der mich gelangweilt angähnte.

Wir fuhren nur ein paar Minuten bis wir vor einem großen, gelben Haus hielten. Man erkannte sofort, dass hier Menschen lebten, die sich keine Gedanken über ihr Gehalt machen mussten.

Marlo hüpfte aufgeregt aus dem Wagen, so als würde er wissen, was für eine wichtige Aufgabe auf ihn wartete.

Herr Freud öffnete das Gartentor und wir betraten den großzügig angelegten Garten. Anscheinend wohnten hier Menschen mit viel Geschmack. Das große, goldene Schild war schon von weitem zu erkennen.

J. Bach & K. Weiss – Werbeagentur

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis uns jemand die Türe öffnete. Vor uns stand ein junger Mann. Sein Anblick überraschte mich. Wenn ich mir das Haus und den Garten ansah, hätte ich die Bewohner mindestens 30 Jahre älter eingeschätzt.

„Herr Weiss, wir würden uns gerne mit Ihnen und Ihrer Freundin unterhalten und ein paar Fragen stellen.“

Der Mann versuchte seine Gefühle zu verbergen, aber selbst ein ungeschultes Auge hätte erkennen könne, was gerade in seinem Inneren vorging.

„Aber bitte seien Sie vorsichtig, Janine geht es noch nicht so gut. Sie hat von unserem Arzt eine Beruhigungsspritze bekommen. Kein Wunder, bei dem Anblick.“

Er schluckte hörbar.

„Natürlich, wir werden vorsichtig sein. Das hier ist meine Kollegin, Frau Moeller. Wir werden versuchen, den Besuch so kurz wie möglich zu halten.“

Matthias Freud war anzusehen, wie sehr ihn die Situation belastete und wie behutsam er versuchte, mit dem jungen Mann zu sprechen, ohne den Schmerz nicht noch größer werden zu lassen.

Marlo stand unbemerkt zwischen uns und verfolgte aufmerksam unser Gespräch. Ich bückte mich nach unten und kraulte behutsam den Kopf meines Hundes.

Während Herr Freud und ich in dem großen, geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer warteten, entstand eine unangenehme Stille, die keiner von uns unterbrechen wollte. Nach all den Jahren ist es auch für mich immer eine schwierige Situation, mit den Zeugen eines Verbrechens zu reden. Distanz zu den Gefühlen des Gegenübers ist wichtig um nicht selbst zu sehr mitzuleiden, doch manchmal nehme ich lieber den Schmerz in Kauf um mich besser in das Erlebte hineinzufühlen.

Janine Bach war eine wunderschöne Frau mit langen, blonden Haaren und strahlend grünen Augen. Ihre schlanke Figur verlieh ihr etwas Elfenhaftes. Ihren Augen waren rot angelaufen und ich sah, dass das Erlebnis im Wald sie außerordentlich geschockt hatte.

„Frau Bach, bitte setzen Sie sich, wir hätten nur ein paar Fragen an Sie beide.“

Matthias Freud versuchte, der jungen Frau behilflich zu sein, doch ihr Freund war schneller. Langsam nahm sie auf dem geschmackvollen Sofa Platz.

„Vielleicht können Sie uns nur kurz beschreiben, wie Sie heute Morgen den Tatort entdeckt haben.“

Die junge Frau holte tief Luft, es viel ihr sichtlich schwer, die richtigen Worte zu finden.

„Herr Freud hat gesagt, dass Sie im Wald gejoggt sind?“, bis jetzt hatte ich noch kaum ein Wort gesagt. Der junge Mann nickte.

„Normalerweise laufen wir einen ganz anderen Weg, aber wir wollten eine andere Route ausprobieren. Wir trainieren für den nächsten Marathon, müssen Sie wissen. Warum sind wir nur da lang gelaufen?“

Er schüttelte seinen Kopf und legte die Hand auf die Schulter seiner Freundin. Vorsichtig berührte sie diese. Ich sah, dass sie kurz davor war, wieder in Tränen auszubrechen. Aber auf meinen vierbeinigen Freund war Verlass. Während unseres Gespräches mit den beiden jungen Leuten war er nicht von meiner Seite gewichen und hatte uns interessiert beobachtet. Er hatte in der Vergangenheit schon oft, nur durch seine Anwesenheit, dazu beigetragen, dass es den Menschen schlagartig besser ging und diese oft gesprächsbereiter wurden. Vor allem bei der Arbeit mit traumatisierten Kindern war er meine Wunderwaffe.

Behutsam legte er seinen Kopf auf das Bein von Frau Bach. Sie hatte ihn zuerst überhaupt nicht bemerkt und zuckte kurz zusammen. Als sie aber in diese zwei tiefschwarzen Augen blickte, wurde sie zusehends ruhiger. Nach ein paar Minuten schaffte sie es sogar, ihre Hand auf seinen Kopf zu legen und begann, ihn vorsichtig zu streicheln.