Der Bozen-Krimi - Der Pate - Corrado Falcone - E-Book

Der Bozen-Krimi - Der Pate E-Book

Corrado Falcone

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Inmitten der traumhaften Landschaft Südtirols müssen die Kommissare Matteo Zanchetti und Sonja Schwarz den Tod eines pensionierten Richters aufklären, der in seinem eigenen Haus erschossen wurde. Schon bald sind sie einer Einbruchserie auf der Spur, bei der Alarmanlagen auf rätselhafte Weise außer Betrieb gesetzt werden. Und dann wird auch noch ein toter Arbeiter im Marmorsteinbruch aufgefunden. Doch wer steckt hinter all dem? Und welche Rolle spielt der Mafiaboss Francesco Rossi?

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Seitenzahl: 379

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Der Pate

Kriminalroman

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Teresa Storkenmaier

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © GTK / shutterstock

ISBN 978-3-8392-5874-3

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1.

Sie hatte sich ausbedungen, noch etwas auf der Küchenbank zu sitzen und das arbeitsreiche Wochenende ausklingen zu lassen, während sich Katharina und Laura zurückzogen, um ins Bett zu gehen. Laura wollte noch etwas lesen und Katharina gleich schlafen, so müde fühlte sie sich. Einen arbeitsreichen Tag im Weinberg steckte sie doch nicht mehr so leicht weg.

Sonja bewunderte die Unermüdlichkeit und Kraft ihrer Schwiegermutter, denn auch sie fühlte ihre Knochen, den Schmerz in den Muskeln. Doch so anstrengend die Arbeit im Weinberg war, so hatte sie auch etwas Friedvolles, einen Frieden, der sie dennoch nicht zu verführen vermochte, ihren Beruf als Kriminalistin an den berühmten Nagel zu hängen. Sturheit war es nicht, Angst davor, sich ganz und gar auf die Weinwirtschaft einzulassen, auch nicht. Sie strich mit einer unvermittelten Geste mit der flachen Hand über den Holztisch, dann erhob sie sich langsam und genoss das Ziehen in den Oberschenkeln, nahm ein Becherglas aus dem Hängeschrank, dessen Holz so angenehm nach Alter, nach gelebtem Leben roch, nahm aus dem Kühlschrank eine angebrochene Flasche Traminer und füllte sich etwas davon in das Glas. Er besaß einen leicht rötlichen Schimmer, was untypisch war. Sie lächelte, weil sie vermutete, dass ein paar rote Trauben mit hineingekommen waren. Aber was spielte das bei dem einfachen Literwein schon für eine Rolle. Sie schlurfte zur Bank zurück, setzte sich und trank mit einem langen, versonnenen Zug. Immer besser gelang es ihr, die Trauben, die Sonne, den Regen, die Luft und den Boden, all das, was leidenschaftliche Winzer Terroir nennen, zu schmecken, und wenn sie dazu noch die Augen schloss, glückte es ihr, die Aromen in Bilder vom Weinberg umzusetzen, von ihrer Arbeit, vom Lachen und vom Fluchen, denn auch sie und Katharina und Laura und Stefan waren Terroir. Sie sah ihn vor sich, wie er zwischen den Rebstöcken stand und die Hand nach ihr ausstreckte. Wie gern hätte sie zugegriffen. Stattdessen öffnete sie in einer geradezu unverständlichen Hoffnung die Augen und schaute zum Stuhl ihr gegenüber. Doch der war leer, natürlich war er leer. Nie würden sie einander je wieder berühren. Dazwischen standen der Tod und ihre Schuld, an der sie bis zum letzten ihrer Tage zu tragen haben würde, die niemals geringer, niemals abnehmen, niemals von ihr vergessen werden würde. Sonja Schwarz trug an der Bürde, dass sie ihren Mann auf dem Gewissen hatte. Diese Schuld vergab sie sich nicht, auch wenn es ein furchtbarer Zufall war, eine Verwechslung mit Matteo Zanchetti, der das eigentliche Ziel des Mörders gewesen war. Doch der Grund der Verwechslung lag in der Tatsache begründet, dass sie Polizistin war und eng mit Matteo zusammenarbeitete. Wie ein böser Tumor hatte sich der Gedanke in ihrem Hinterkopf eingenistet, dass Stefan Schwarz noch leben würde, wenn sie Gärtnerin oder Architektin gewesen wäre. Den Rest des Weins trank sie in einem Zug aus, weil das Terroir sie mit einem Mal traurig machte, und stand abrupt aus Angst vor dem Selbstmitleid auf, das bereits seine spinnenartigen Finger nach ihr ausstreckte. Sie schüttelte leicht den Kopf und sagte sich, dass es Zeit fürs Bett war, denn sie musste morgen früh raus, um mit Matteo Zanchetti nach Rom zu fahren, was ungewöhnlich genug war. Lorenzo di Ruggierio, Hauptabteilungsleiter der Anti-Camorra-Behörde, hatte Matteo und sie in die Zentrale nach Rom zu einer Besprechung gebeten – und das klang überhaupt nicht gut. Wenn die DIA sie, einfache Kriminalisten, ins Hauptquartier rief, dann lief etwas gründlich schief. So wie Matteo lehnte sie es zwar ab zu spekulieren, doch fühlte sie sich nicht weniger alarmiert als er.

Das Leben konnte so friedlich sein – als Winzer.

2.

Es war nur ein Hauch, der Haar, Stirn, Augen, Nasenrücken, Wangen, Lippen und Kinn berührte. Stefan Karcher dachte nicht darüber nach, was ihn auf diesen Bergsporn, den er nur allzu gut kannte, weil er zu seiner Kindheit gehörte, verschlagen hatte. Er stand plötzlich da. So als befände er sich hier schon immer. Wie der Himmel, der Bergsporn, die Bäume hinter ihm, der Duft nach wildem Wacholder.

Früher, bevor eine Nacht und ein Urteil sein Leben vor sechs Jahren verändert – er würde nicht sagen: zerstört – hatten, war er oft hierhergekommen. Von der Alm seiner Familie führte der Weg über die Wiese durch den Wald, der 100 Meter vor der Klippe endete. Vom Hag ging es über den nackten Karst, in dessen Löchern sich Moos und Giersch rekelten, Felsenabbruch und von dort 150 Meter in die Tiefe. Aber nun stand er an der Kante und schaute flüchtig in das Tal, das der Vajolet gegraben hatte, dann über das Tal, über Hotel und Fluss hinweg zum gegenüberliegenden Gebirgsmassiv. Das Himmelsblau empfand er jetzt als Hohn. Deshalb ließ er seinen Blick in den Abgrund stürzen. Die Sehnsucht, ihm zu folgen, zerrte ihn Richtung Klippe. Unwiderstehlich zog ihn der sträucherbewachsene Schlund an. Schon einmal hatte einer aus seiner Familie diesem Wunsch nachgegeben. Tief unter ihm zwischen dem Gestrüpp, das den Felsboden überzog, war vor über 30 Jahren der Körper seines Großvaters aufgeschlagen. Es hatte ihn von der Klippe geweht, weil seine Seele zuvor den Halt verloren hatte. Alles, was er über seinen Großvater mütterlicherseits wusste, hatte er von seiner Mutter und seiner Großmutter erfahren. In ihren knappen Reden kam Joseph Alfons Hochthaler lediglich als Spinner und Leller vor, am häufigsten aber nur als der grässliche Mensch. Nur ein einziges Mal brach aus seiner Mutter eine scheue Wehmut aus, als sie sagte, dass der Seele seines Großvaters keine Hornhaut gewachsen wäre. Aus ihrer Sicht war ihr Vater zu nichts zu gebrauchen, nur eine Last für sie und für ihre Mutter. Aus diesem Grund hatte sie an ihrem 18. Geburtstag den Karcher Martin geheiratet, um der Armut und der Trostlosigkeit des Elternhauses zu entkommen. Trotz allen Fleißes gelang es ihrer Mutter lediglich, den kleinen Waldbauernhof so zu bewirtschaften, dass er das Überleben der Familie sicherte. So oft es irgend ging, zog sich ihr Vater zu seinen Büchern zurück, von denen er aus Geldgründen nicht allzu viele besaß, die er aber immer wieder las. Einzig die Bücher halfen ihm noch, litt er unter seinen Depressionen, die ihn regelmäßig überfielen. Es glich einem Wunder, als Stefans verhärmte Großmutter einmal den seligen Ausdruck erwähnte, der sich auf das Gesicht des Großvaters legte, wenn er sich in Hermann Meyers »Weltgeschichte« vertiefte oder in der Bibel las. Diesen seligen Ausdruck hatte sie allerdings mit ihrer Händearbeit zu schultern, sonst wäre die Familie zugrunde gegangen. Doch was sollte sie tun, zwischen ihrem Mann und dem Selbstmord stand nur ein Buch. Durfte sie ihm das Buch, die Bücher nehmen, auch wenn sie argwöhnte, dass aus den Büchern die schwarzen Gedanken, das große graue Tier, das ihn regelmäßig überfiel, kamen? Einmal erzählte Stefan Karchers Mutter ihrem Sohn, dass ihr Vater, sein Großvater, an dem Tag, an dem sie den Sprung in die Ehe wagte, von der Felsenklippe in die Tiefe gesprungen war. Kein Buch hatte an diesem Tag geholfen. Ihr Geburtstag wurde zu ihrem Hochzeitstag und ihr Hochzeitstag zu seinem Todestag. Das konnte sie ihm nicht verzeihen. Seine Mutter misstraute seit frühester Kindheit und von Jahr zu Jahr immer stärker allem Geistigen, und die Bücher hatte für sie der Teufel erschaffen. Wenn Stefan Karcher ein gutes Zeugnis nach Hause brachte, dann lobte sie ihren Sohn nicht etwa, sondern er bekam die Warnung zu hören: »Werde nicht wie dein Großvater.« Und wenn sie ihn beim Lesen ertappte, sagte sie: »Lies nicht so viel, davon wirst du nur dumm im Kopf … wie dein Großvater.«

Nach seinem Tod hatte sie mit ihrer Mutter gemeinsam dessen kleine Buchsammlung der örtlichen Bibliothek übergegeben, weil sie sich am Ende nicht dazu durchzuringen vermochten, die Werke des Teufels zu verbrennen, wie es eigentlich richtig gewesen wäre. Und dort – in der örtlichen Bibliothek – traf Stefan Karcher auf die Bücher, die seinem Großvater einst gehört und die er wieder und immer wieder gelesen hatte. Er erkannte sie an dem in schöner, stolzer Schrift hingesetzten Besitzvermerk: »Das ist dem Alfons sein Buch.« Bald schon gelang es Stefan Karcher mühelos, die Schrift seines Großvaters, in der er Bemerkungen an die Ränder geschrieben hatte, zu entziffern, so als hätte er die Marginalien selbst gesetzt. Es war, als ob ein Gespräch zwischen ihnen anhob. Eine der vielen Randbemerkungen beschäftigte Stefan Karcher besonders. Sie bestand nur aus einem einzigem Wort: Weggehen. Und eine andere Marginalie lautete: Weggehen, Seinen Weg gehen. Auf diese Weise tauchte Stefan unbemerkt vom Argwohn seiner Mutter und seiner Großmutter in die Welt seines Großvaters ein, denn die örtliche Bibliothek besuchte er heimlich. Er hätte ihn gern kennengelernt, vielleicht wäre dann alles anders verlaufen, für beide.

Wind kam auf und der Wunsch zu springen wuchs. Dennoch hielt ihn etwas zurück. Deshalb nahm er den Stoß der fremden Faust in seinen Rücken wie eine Erlösung auf. Augenblicklich verlor er das Gleichgewicht, breitete die Arme aus, als wollte er fliegen, fiel aber stattdessen nur. Sein Herz setzte aus. Bevor er aufschlug, entrang sich seiner Kehle ein Schrei. Er klang nach Erlösung, nach Angst, nach Staunen, nach Fremdheit.

3.

Das Auto flitzte durch den Tunnel aus Nacht nach Norden. Im Inneren des Wagens herrschte Schweigen. Die Frau und der Mann saßen auf ihren Sitzen einfach nur nebeneinander und folgten ihren Gedanken, die um dasselbe Thema kreisten, während die Scheinwerfer der anderen Fahrzeuge eine Prozession aus gelben, weißen und roten Glühwürmchen bildeten. Sie dachte hin und wieder, dass er viel zu schnell fuhr, er wusste, dass er raste, doch der Audi TT stellte einen Teil seines Körpers dar. Er war mit der Maschine auf Gedeih und Verderb verbunden. Vielleicht wäre es besser, wenn sie führe, doch das konnte er nicht zulassen, weil er es nicht ertrug, völlig seinen Gedanken ausgeliefert zu sein. Untätigkeit war das Letzte, was er jetzt brauchte. Die Konzentration, die das Fahren erforderte, bildete einen Wall gegen die peinigenden Gedanken, die ihn seit der Besprechung mit Carla Pisani und ihrem Chef Lorenzo di Ruggierio in der Zentrale der Anti-Camorra-Behörde bestürmten. Ihr Bericht hatte ihn kalt erwischt. Unvermittelt stand er an einem Wendepunkt – und Sonja Schwarz wusste das. Im Grunde hatten sie den Kampf gegen die Camorra längst verloren, sie gestanden es sich nur nicht ein, weil sonst der letzte Wall auch noch brach. Ach dieser letzte, dieser traurige Wall.

Was dem Bozener Commissario Capo Matteo Zanchetti von der Ermittlerin der DIA, Carla Pisani, eröffnet wurde, war nichts anderes als die Dokumentation seines gründlichen Scheiterns. In den quälenden Minuten, in denen er Carlas Vortrag über die Ausbreitung der Camorra im Südtirol folgte, wuchs die Einsicht, dass alles vergeblich gewesen war, seine Arbeit als verdeckter Ermittler, die sein Privatleben vernichtet und die große Liebe seines Lebens getötet hatte. Er fühlte sich noch immer schuldig, nur, dass er zuweilen fühlte, dass die Schuld von Jahr zu Jahr wuchs, er weder Vergebung noch Erlösung fand. Aber auch die besondere Aufmerksamkeit, die er als Kripochef in Bozen der Camorra, besonders Francesco Rossi, geschenkt hatte, hatte bei Weitem nicht ausgereicht, die Ausbreitung der »Familie« auch nur um eine Sekunde zu verlangsamen. Rossi hatte mit ihm gespielt, wie man mit einem Welpen spielt, und ihn schließlich einfach ausgetrickst. Ganz klar, der Mafioso war ihm überlegen. Schmach brannte in ihm, Schmach und Scham, denn nicht nur sein Stolz war verletzt, sondern er schämte sich auch für sein Versagen. Die Verletzung reichte so tief, dass es ihn nicht einmal interessierte, ob Carla es genoss, ihn vorzuführen.

Sonja und Matteo hatten die Zentrale der Anti-Camorra-Behörde, der DIA (Direzione Investigativa Anti Camorra), in der Via Torre di Mezzavia in Rom gegen 21 Uhr nach einem kurzen, unterkühlten Abschied von Carla und di Ruggierio schweigend verlassen. Er stürmte durch die Korridore, raunte ihr zu, dass er über Carla Pisanis Angebot nicht zu reden wünschte, wiewohl er keinerlei Interesse an einer Unterhaltung zeigte, ließ er den Fahrstuhl rechts liegen und lief die vier Treppen zur Parkgarage herunter, so dass Sonja Schwierigkeiten hatte, Schritt zu halten. Wütend hatte er sich hinter das Steuer gesetzt und war mit aufheulendem Motor losgefahren, links auf die Via Cesare Polacco. Im nächsten Kreisverkehr hatte er dann die erste Ausfahrt genommen, die ihn auf die A 1 Richtung Neapel führte. Hier im Latium berührte der Frühling in seiner Blütenpracht bereits den Sommer. Die Strecke kannte er im Schlaf. Es hatte eine Zeit in seinem Leben gegeben, da war er hier 14-täglich entlanggefahren. Diesmal jedoch blieb er auf der Autostrada, die in den Norden führte, und bog nicht auf die A 1 Richtung Salaria ab. Damals wie heute arbeitete er als Ermittler, nur dass er in Bari verdeckt aufklärte und in Bozen inzwischen der Chef der Kriminalpolizei war. Letzteres gefiel ihm weitaus besser und mit keiner Faser seines Herzens sehnte er sich nach seinem früheren Leben zurück, auch wenn es abenteuerlicher, unkonventioneller, auch gefährlicher war, so wollte er diesen Schmerz, den er damals empfunden hatte, nicht noch einmal ertragen müssen. Und auch nicht die Persönlichkeitsspaltung, die eine doppelte Existenz mit sich brachte. Vor allem aber fehlten ihm die Illusionen, die er als junger Polizist hegte, als er noch sich, ja die Polizei in ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten, das organisierte Verbrechen zu bekämpfen, sträflich überschätzte. Er hatte die Lektion in Realismus auf die harte Art gelernt.

Vor Florenz gerieten sie in einen Regen, der heftig vom düsteren Himmel herunterprasselte. Dann beobachteten sie einen riesigen Blitz. Gleich darauf krachte der Donner mit einer Lautstärke, als berste die Welt.

»Fahr langsamer«, sagte sie nun doch. Er brummte nur, doch bremste er tatsächlich sacht ab, um nicht ins Schleudern zu geraten.

»Ein Unwetter«, fuhr sie fort.

»Merde«, quetschte er durch die Zähne.

»Warum hast du am Ende doch zugestimmt?«

»Sollten wir noch später aufbrechen?«

»Lenk nicht ab, Matteo. Du weißt sehr gut, wie ich das meine.« Natürlich wusste er, worauf sie anspielte, doch er wollte nicht darüber sprechen. Deshalb antwortete er nur mäßig überzeugend: »Willst du, dass sie einen anderen schicken, der in unserem Revier wildert?« Und nahm sich ein Stück Traubenzucker aus einer kleinen Schachtel, die unter den Armaturen vor dem Steuerknüppel lag.

»Ich will, dass es ohne verdeckten Ermittler geht, mit normaler Polizeiarbeit, capisci?«, antwortete Sonja, die nun auch nach dem Traubenzucker griff.

»Zu spät. Dafür ist es zu spät.« Wieder zackte ein Blitz auf, und der Donner schlug gleichzeitig ein. Das Gewitter stand jetzt über ihnen.

»Wir haben versagt, Sonja. Der Einsatz des verdeckten Ermittlers ist nur die logische Folge unseres Versagens«, zitierte sie augenrollend: »bei der normalen Polizeiarbeit.«

»Ich wüsste nicht, was wir falsch gemacht haben«, erwiderte sie und ärgerte sich zugleich, dass ihre Entgegnung etwas zickig klang.

»Du kennst die Camorra nicht, Principessa! Rossi hat geschafft, mich zu täuschen, obwohl ich sie kenne.« Diese Überheblichkeit stand ihm nicht zu. In Frankfurt hatte sie auch gegen die Camorra ermittelt und sie hatte Festnahmen durchgesetzt, Verurteilungen ermöglicht. Aber sie verspürte nicht die geringste Lust dazu, sich zu rechtfertigen. Commissario Capo Matteo Zanchetti blieb ein Macho. Jeglicher Kultivierungsversuch, dachte sie, war zum Scheitern verurteilt. Dennoch wollte sie nicht kampflos das Feld räumen und die Zurechtweisung stillschweigend schlucken. Sie schaute kurz zu ihm rüber und vertiefte sich in sein Profil, dann blickte sie wieder auf die Straße. »Geht es hier nur um dein gekränktes Ego?«

»Nicht dein Ernst?«, brauste er auf.

»Glaubst du wirklich, dass du noch mal als verdeckter Ermittler arbeiten kannst? Bist du psychisch wieder so stabil?«

Dass diese Frage an seinem Selbstvertrauen nagte, vermochte er nicht zuzugeben. »Claro«, beschied er sie einsilbig.

»Rossi ist kein Idiot. Er wird dir den Seitenwechsel nicht abkaufen. Der kennt deine Vergangenheit doch auch?«

Damit hatte sie ins Schwarze getroffen. Matteo schlug zweimal mit flachen Händen auf den Lenker ein.

»Das ist keine Antwort auf meine Frage«, wies sie ihn zurecht. Missmutig starrte sie durch die Windschutzscheibe auf den schwarzen Himmel, der gelegentlich durch einen grellen Zacken durchrissen wurde, bevor die Finsternis wieder zusammenfloss.

»Ausweichen ist keine Lösung«, sagte sie ruhig und wiederholte sich nur. Matteo sank etwas in sich zusammen, sie hatte ja recht. Aber das machte nichts besser. Er dachte an Carla Pisani, wie sie beiden die Ergebnisse der Ermittlungen der DIA um die Ohren gehauen hatte, wie stark die Camorra in den Ausbau ihrer Strukturen in Südtirol investierte und welche Fortschritte sie machte. Da eine Hotelbeteiligung, dort stiller Teilhaber einer Export-Import-Firma. Sie förderte den Touristikverband, die Weinwirtschaft, die Landwirtschaft insgesamt. Im Grunde existierte kein Wirtschaftszweig, in dem sie nicht vertreten war. Alle Firmen, ganz gleich welcher Branche, beklagten eine zu geringe Kapitaldecke, einen Mangel an freien Investitionsmitteln, so dass Investoren begehrt waren. Eine günstige Ausgangssituation für die Camorra. Matteo setzte besonders die Tatsache zu, dass sie nicht das ganze Ausmaß kannten, denn die Camorra stieg gern über Mittelsmänner ein. Das wirkliche Ausmaß der Unterwanderung der Wirtschaft durch die Kriminellen blieb im Dunklen. Während die Polizei regional, bestenfalls national agierte, betätigte sich die Camorra international. Sie war sogar im großen Stil in die Flüchtlingsindustrie eingestiegen.

»Am meisten ärgert mich«, sagte Matteo plötzlich unvermittelt, »dass ich Rossi unterschätzt habe.« Sie legte kurz ihre Hand auf seinen Arm. Der Regen ließ nach und der Capo gab wieder Gas.

»Es gibt nur eine Möglichkeit, mehr zu erfahren.«

»Mag sein, aber alles spricht gegen dich.«

»Bis auf ein Argument: Ich bin der Einzige, der die Verhältnisse vor Ort genau kennt.« Sie wusste, dass er sich entschlossen hatte, wieder verdeckt zu ermitteln, und dass er sich, obwohl er sich dazu zwang, diesen Entschluss nicht ausreden lassen würde. Auch wenn ein riskantes und kaum zu inszenierendes Täuschungsmanöver nötig war, nämlich ein überzeugender Seitenwechsel des Capos. Also rang sie sich dazu durch, dieses riskante Spiel mit ihm gemeinsam als sein Partner auf der anderen Seite des Flusses, der die Legalität von der Illegalität trennte, zu starten. »Können wir Carla Pisani trauen?«

Er zuckte mit den Achseln. »Sie will den Erfolg.«

»Du vertraust also ihrem Ehrgeiz, nicht ihr?«

»Carla Pisani besteht nur aus Ehrgeiz.« Dann schwieg er kurz. »Auch wenn wir auf die beiden Kerschbaumers zählen können …«

»Ich weiß«, erwiderte sie. »Zu ihrem eigenen Schutz sollten sie davon nichts wissen.«

»Und zu meinem. Je größer der Kreis der Eingeweihten, umso größer die Gefahr eines Lecks. Nur du und ich, Sonja, nur du und ich«, schwor er sie ein.

»Du trägst deine Haut zu Markte«, warnte sie noch einmal, doch ohne Hoffnung, ihn umstimmen zu können.

Als sie heute in aller Frühe nach Rom gefahren waren, einbestellt von Pisanis Chef di Ruggierio, ahnten sie, dass es um etwas Großes ging, nicht aber, dass es sie in einen Kampf auf Leben und Tod stürzen würde, denn ihr Feind kannte weder Gnade, noch machte er vor irgendjemand halt, wenn derjenige seinen Interessen entgegenstand, ganz gleich, ob es sich um Winzer, Kaufleute, Unternehmer, Politiker, Polizisten oder Richter handelte. Die Camorra war ein eigener Staat.

»Ich will dir nur sagen, Principessa, wenn du wegen Laura das Risiko nicht eingehen willst«, wandte Matteo ein, »dann verstehe ich das.« Sonja fühlte sich ertappt, denn sie hatte tatsächlich an ihre Tochter, an ihre Schwiegermutter gedacht und daran, dass sie lieber Eierdiebe als die Camorra jagen würde, aber das stimmte eben doch nicht, denn in ihr war etwas erwacht, das sie weder zu bändigen noch einzuhegen vermochte: der Jagdtrieb.

»Ich will Rossi und seine Scheißkerle genauso drankriegen wie du, Matteo! Hat man denn als Polizist die Wahl, sich zurückzuziehen? Sich rauszuhalten? Die Augen vor Straftaten zu schließen? Wenn wir keine Straftaten mehr aufnehmen, haben wir zwar eine tolle Kriminalstatistik und irgendwann Bürgerwehren. Der Krebs, den wir schneiden, würde ansonsten die Gesellschaft zerfressen. Gehen wir’s an, Matteo.« Es muss ein spezielles Bullen-Gen geben, dachte sie, manche haben es, andere nicht. Und sie hatte es, von wem auch immer.

»Heute ist der 23. Mai«, sagte er leise. Sie schaute fragend zu ihm. »Am 23. Mai 1992 wurde Richter Giovanni Falcone mit seiner Frau Francesca Morvillo, die ebenfalls Richterin war, allerdings am Jugendgericht, von der Camorra ermordet. Überleg es dir gut, Sonja.«

Sie spürte, dass er sich davor fürchtete, sie in Gefahr zu bringen. »Du kommst doch gar nicht ohne mich klar. Und jetzt gib Gas, ich will nach Hause. Oder soll ich fahren?«

Die Tachonadel sprang im nächsten Moment auf 180 km/h und Sonja legte sich in den Sitz zurück, während auf seinen Lippen ein schmerzliches Lächeln lag, das allerschönste Schwerenöterlächeln. Denn wenn die Würfel gefallen waren, sorgte die Klarheit für Ruhe. Er fühlte sich wie ein Gladiator, der ins Colosseum zog: »Morituri te salutant!«

4.

War das der Tod? Fühlte sich Sterben so an? Als ob man in eine Wesenlosigkeit, in die Dunkelheit, in die Nacht gefallen wäre. Die Sonne, der Felsen, das Tal, all das umgab ihn nicht mehr, hatte er mit einem Schlag verloren und er begriff allmählich, dass er im Bett saß, und fühlte zu seiner Verwunderung, dass das Leben in ihn zurückkehrte. Während er sich prustend durch das Haar strich, entdeckte er die zwei großen Augen, die ihn musterten und in denen Sorge stand: »Hast du schlecht geträumt?«

»Nein, doch, ja, aber ist ja auch egal. Wie spät ist es?« Er hatte den Traum verloren und fühlte sich in die dröge Banalität zurückgeworfen, die seine Wirklichkeit bildete. Diese Wirklichkeit roch nach abgestandener Luft.

»Zeit zum Aufstehen«, flötete Francesca. Er wusste, was das bedeutete, wozu es Zeit war. Deshalb wäre er jetzt viel lieber am Fuße des Berges als hier in diesem Zimmer, in dieser Wohnung, in dieser Stadt, neben ihr. Er kam sich vor wie ein Fußball, der getreten werden musste, wenn er sich bewegen sollte. So nahm er es einfach hin, dass Francesca und ihr Onkel über ihn entschieden, zumindest befreite ihn das von der Notwendigkeit, selbst Entschlüsse zu fassen, Pläne zu schmieden. Sich treiben zu lassen wie eine in den Fluss gefallene Nuss, wirkte verführerisch auf ihn und machte ihn süchtig nach Passivität, denn er hatte keine Ziele mehr und wusste auch nicht, was er in dieser Welt sollte, in der doch alles vergeblich blieb. Im Gefängnis hatte er sich noch nach dem Tag der Entlassung gesehnt, nun, da er frei war, fehlte ihm der geregelte Tagesablauf hinter Gittern. Die wiedergewonnene Freiheit ähnelte in nichts seiner alten Freiheit. Ihm schwante, dass er diese niemals mehr zurückbekommen würde und er ein Sträfling des Lebens bleiben würde.

Die junge Frau, mit der er Bett und Dasein, er würde es nicht Leben nennen, teilte, weckte keinerlei Gefühl in ihm, nicht Liebe, nicht Hass, nicht Zuneigung, nicht Abneigung, noch nicht einmal Gleichgültigkeit. Auch fragte er sich nicht, was ihn in Mailand, was ihn noch bei ihr hielt. Wozu auch, wo doch nur ein einziger Grund dafür existierte, dass er mit Francesca zusammenlebte. Stefan Karcher wusste schlicht nicht, wohin und zu wem er gehen sollte. Keiner wartete auf ihn und seiner Mutter und seiner Großmutter durfte er nach der großen Schande, die er über sie gebracht hatte, nicht mehr unter die Augen treten. Aus ihrer Sicht hatte er seinen Großvater noch übertroffen. Der hatte sich nur umgebracht, aber Stefan wurde von den Gendarmen in Handschellen vom Hof abgeholt und in Bozen vor ein Gericht gestellt. Sein Bild wurde sogar in einer Zeitung veröffentlicht. Weder seine Mutter noch sein Vater, auch nicht seine beiden Schwestern hatten ihm geschrieben, geschweige denn in der Strafanstalt besucht. So begann er, sich als lebender Toter zu fühlen. Wo es ihn hintreiben würde, blieb im Grunde gleich, es musste nur weit genug vom Vajolettal entfernt sein. Widerstrebend erhob er sich, bückte sich und griff nach der Jeans, die vor dem Bett lag. Während er sie über die Unterhose, in der er geschlafen hatte, zog, hörte er Schritte vor der Tür.

»Heh, aufstehen, ihr Turteltäubchen, es ist Zeit«, brummte Daniele auf Italienisch und pochte dreimal mit seiner Faust gegen die Tür. Als Südtiroler sprach Stefan gleichermaßen gut Deutsch und Italienisch. Obwohl ihm eigentlich das Südtiroler Deutsch näher war, hatte er die Sprache, die in seiner Familie und unter seinen Freunden benutzt wurde, in den sechs Jahren, die er im San-Vittore-Gefängnis gesessen hatte, nicht mehr gesprochen. Irgendwann fiel ihm auf, dass er immer weniger Deutsch sprach und in seinen Träumen seine Großmutter auf Italienisch fluchte, nur warf sie ihm keine Südtiroler Tiraden an den Kopf, sondern die Schimpfworte, die Drogendealer, Mörder, Diebe und Zuhälter, die seine neue Umgebung bildeten, zu benutzen pflegten.

»Wir sind schon wach«, rief Francesca wie elektrisiert und betätigte den Lichtschalter. Er sah ihr an, dass sie es kaum erwarten konnte, aufzubrechen. Die Glühbirne, die an einem grauen Kabel von der Decke hing, warf aggressiv ihr nacktes Licht in den Raum. Das weckte selbst die Fliegen, die aufgeregt im Zimmer brummten. Er hasste Fliegen, besonders die dicken schwarzen, die einen regelrechten Brechreiz in ihm hervorriefen. Vor seinem geistigen Auge sah er sie tot in abgestandener Milch schwimmen.

»Bene«, knurrte Daniele, während sich seine schlurfenden Schritte entfernten.

Stefan blickte in Francescas faltiges, verschlafenes Gesicht. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er sie schön finden sollte. Ihre etwas knabenhafte Figur, das kleine Gesicht, die grazile Nase über schmalen harten Lippen verliehen ihr etwas Androgynes.

Sie hatte früh schon lernen müssen, sich auf der Straße durchzusetzen. Das wusste er und auch, dass sie ihren Vater nicht kannte und ihre Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Darüber hatte sie nach ihrer ersten Nacht, an ihn geschmiegt und stockend, gesprochen. Nie würde er den Schreck vergessen, der ihn traf, als ihm ihre Verletzlichkeit auffiel. Ohne ihren Onkel, der sie zu sich genommen hatte, hätte man sie ins Kinderheim gebracht. Dabei war Daniele Pravo das ganze Gegenteil eines fürsorglichen Typs, doch irgendetwas hatte vor 14 Jahren sein Herz angerührt, als Francesca auf dem abgeschabten Holzstuhl mitten im Wohnzimmer der kleinen Wohnung saß, allein, verloren und mit ihrer hellen Kinderstimme ein Lied sang, das sie von ihrer Mutter gelernt hatte: Chella che tu me dice, ein kleines Lied über den Unterschied zwischen Liebe und Freundschaft, ein Lied, das das Kind sang, ohne den Inhalt wirklich zu verstehen, mit einem tiefen Gefühl, das aber etwas anderes meinte. Als damals Daniele Pravos Blick bei dem kleinen Mädchen mit dem Teddybären im Arm hängenblieb, brachte er es nicht über sich, sie ihrem Schicksal zu überlassen. Er adoptierte sie. Damals besaß er eine kleine Autowerkstatt. Aber die war nur Tarnung – in Wahrheit lebte er von Gelegenheitsgaunereien, bis er der täglichen Tretmühle entkommen wollte und zunächst von dem »großen Ding« träumte und es dann zu planen begann. Er hatte begriffen, dass die kleinen Gaunereien sich nicht lohnten, denn sie brachten ihn zwar auch mit dem Gesetz in Konflikt, doch warfen sie zu wenig ab, so dass er stets aufs Neue das Risiko einzugehen hatte. War es da nicht besser, einmal richtig abzukassieren, um dann ausgesorgt zu haben?

Stefan schaute zu Francesca. Mit ihrem schmalen Fuß hangelte sie nach der schwarzen Jeans, die sie schließlich überzog. Dann nahm sie vom Stuhl beim Fenster ein T-Shirt, das sie über ihre kleinen Brüste streifte. Im ersten Moment wunderte Stefan sich darüber, dass Francesca ein dunkles T-Shirt gewählt hatte, wo sie zwar stets schwarze Jeans, aber dazu immer ein weißes Shirt oder Hemd trug. Das war eine Marotte von ihr, die sie selbst nicht zu erklären vermochte. Er hatte ihr einmal ein buntes Hemd gekauft. Doch sie weigerte sich, das anzuziehen. Da warf er es wütend in den Müll.

Doch gleich darauf fiel ihm ein, dass für das, was sie sich vorgenommen hatten, dunkle Kleidung zu bevorzugen war, es wäre unklug gewesen, sich von der Nacht abzuheben. Sein Blick glitt von ihr zum Fenster, zur beleuchteten Stadt, die jetzt weit nach Mitternacht ein wenig zur Ruhe zu kommen schien. Doch ganz schlief Mailand nie. Irgendwo sang noch jemand, irgendwo schlug ein Hund an oder lachte eine Frau laut und ordinär auf; oder es zerriss das hektische Gasgeben eines ungeduldigen Autofahrers, der endlich ans Ziel zu gelangen wünschte, und immer mal wieder die Sirene eines Polizei- oder eines Rettungswagens die Nacht. Nein, im Unterschied zu den kleineren Städten und den Dörfern im Weichbild Mailands schlief die Metropole nie, sie ließ nur etwas in ihrer Geschäftigkeit nach.

Francesca, die hellwach und vor Tatendrang förmlich zu explodieren schien, tänzelte zu ihm, biss ihn verspielt ins Ohrläppchen, bevor sie flüsterte: »Das wird geil, echt, Stefano!« Ihre kindliche Freude, als ginge es zu einem Geburtstag, stieß ihn ab. Statt Erwartung und Aufregung verspürte Stefan Karcher nur eine ungute Anspannung, die in ihm wuchs. Wenn er die Kraft besessen hätte, sich von den beiden zu lösen, hätte er es längst getan. So trottete er mit.

Wenig später saß er auf dem Rücksitz des Renault Mégane und schaute lustlos aus dem Fenster. Die Nacht glitt an ihm vorbei. Bald schon hatten sie Mailand hinter sich gelassen und verfolgten die Straße, die sie nach Melegnano führte, einem kleinen Städtchen in der Nähe der lombardischen Metropole. Für ihren ersten Banküberfall hatte sich Daniele eine mäßig gesicherte Kleinstadtbank ausgesucht. »Zum Üben«, hatte er gesagt und durch seine Zahnlücke gepfiffen, was er gern tat, wenn er etwas als eigentlich unter seiner Würde empfand. Tagelang hatten sie das Geldinstitut ausspioniert und den Ablauf wieder und immer wieder durchgesprochen.

Francesca rutschte vor Aufregung auf dem Beifahrersitz hin und her. Sie empfand bereits die Vorstellung als Adrenalinstoß, während Daniele mit kühler Präzision vorging. Es würde auch nicht sein erster Raubüberfall werden, für den letzten war er allerdings in den Knast eingefahren. Niemals wieder wollte er dahin zurück, deshalb ging er vorsichtig und sehr überlegt vor.

Sie parkten den Wagen rückwärts in einer Parkbucht an der Ecke Via Toscana – Viale Lombardi ein. Auf der linken Seite träumte ein kleiner Park vor sich hin. »Oh, sind die Vögel schnell«, flüsterte Francesca und wies auf kleine dunkle Flugobjekte, die kreuz und quer durch die Nacht schossen. Stefan schmunzelte für den Bruchteil einer Sekunde. »Das sind keine Vögel.«

»Was dann, verflucht?«

»Fledermäuse. Die brauchen kein Licht, die orientieren sich mit Ultraschall.«

»Fledermäuse«, wiederholte sie und schüttelte ungläubig den Kopf.

Die siebengeschossigen Wohnhäuser, die sich rechts und links der Viale erhoben, erinnerten Stefan an eine Schlucht. In keinem der Fenster brannte Licht. Aber das wussten sie schon, dass die Bewohner der Häuser um diese Zeit schliefen, denn sie hatten den Weg bereits einmal nachts zurückgelegt. Kleine Städte schliefen gegen 2 Uhr morgens, große nie. Er hatte das Gefühl, als hörte er das Schnarchen der Menschen in ihren Betten.

Es begann zu nieseln. Nach wenigen Schritten standen sie bereits vor dem Eckhaus, in dem sich die Bank befand. Das Haus wand sich in einem Bogen um die Straßenecke. Schnell huschten sie zum Eingang neben der Bank. Daniele öffnete mühelos die Tür mit einer kleinen Schlosserzange. Dann glitten sie in den dunklen Hausflur, in dem es nach Moder roch. Links führte eine Treppe in die oberen Stockwerke. Rechts von ihnen zog sich eine Wand, hinter der sich die Bank befand. Sie kannten den Weg, hatten ihn bei ihrem »Probelauf«, der bis zu der Stahltür gegangen war, die vom Flur in die Büros der Bank führte, bereits erkundet. Diesmal kehrten sie nicht wieder um, sondern Daniele öffnete seinen Werkzeugkoffer, entnahm einen kleinen Uhrmacherschraubenzieher und begann routiniert, das Schloss abzubauen. Sie hofften inständig, dass Stefan bei ihrer Erkundung vor ein paar Tagen keine Sicherung und keine Alarmvorrichtung übersehen hatte, die sie beim Versuch, die Tür zu öffnen, verraten würde. Stefan schaute zu Francesca, die neben ihm stand. Die Lust an der Gefahr, die er in ihren Augen entdeckte, zauberte ein Strahlen auf ihr Antlitz, das ihrem Gesicht etwas Madonnenhaftes gab, eine Unschuld, obwohl sie schuldig wurde, die nur ein Mensch besitzen konnte, der ganz bei sich war. Plötzlich verstand er, dass Francesca sich in der Gefahr zu Hause fühlte, sie in ihr bei sich ankam und, so seltsam es auch war, nur in ihr zur Ruhe kam. Nicht Daniele, sondern die Gefahr hatte sie adoptiert. In diesem Moment liebte er die Frau, mit der er schlief und neben der er herlebte, so sehr, dass es ihn schmerzte. Sie spürte seinen Blick, doch erwiderte sie ihn nicht, sondern genoss ihn einfach. Was sie verband, war, dass dieser Augenblick hätte ewig dauern können.

Nach ein paar Minuten hatte Daniele, der eine kleine Taschenlampe zwischen den Zähnen hielt, um das Schloss im Dunkeln zu sehen, die Tür geöffnet. »Masken!«, brummte er und sie zogen Mützen über den Kopf, die wie Strümpfe wirkten und nur einen Sehspalt ließen, Mützen, wie sie Polizisten beim Zugriff oder linke Chaoten trugen. Stefan stöhnte leise, weil er es bedauerte, dass ihr schönes Gesicht unter der schwarzen Wolle verschwand. Daniele erhob sich, verstaute das Werkzeug und dann folgten sie ihm in einen kleinen Flur. Rechts an der Wand hing ein schwarzer Kasten, der sofort Stefans Aufmerksamkeit erregte. Seiner schwarzen, ledernen Umhängetasche entnahm er eine Taschenlampe, die er anschaltete und dann wie vorher schon Daniele zwischen die Zähne klemmte. Anschließend holte er einen Schraubenzieher, um die vier Schrauben, mit denen der Deckel befestigt war, zu lösen. Sie saßen nicht sehr fest. Vorsichtig nahm er den Plastikdeckel ab und schaute sich den Sicherungskasten und die Leitungen an. »Sodom und Gomorra«, fluchte er. »Wer soll sich denn in dieser Unordnung zurechtfinden.«

Geduldig versuchte er die einzelnen Kabel und die Sicherungen zuzuordnen.

»Okay«, flüsterte er schließlich. »Ich habe eine Idee. Könnte klappen. Wenn es aber schiefgeht, wird es hell und laut und wir müssen dann die Beine in die Hand nehmen.«

»Na los, Kleiner«, fuhr ihn Daniele an. Mit einer kleinen Schere durchschnitt Stefan ein Kabel. Nichts geschah. Er drehte nun die Sicherungen heraus, aber es regte sich wieder nichts. Francesca legte ihm anerkennend die Hand auf die Schulter, während Daniele bereits den Gang entlangschlurfte, hinter ihm Francesca und zum Schluss Stefan. Rechts von ihm gingen zwei Türen ab, die eine führte in den Schalterraum, die andere in die Angestelltentoilette. Ein Scheppern ließ Daniele sich ruckartig umwenden. »Merd…«, begann Stefan zu fluchen, doch blitzschnell hielt ihm Francesca den Mund zu. Ein wütender Blick von Daniele traf ihn, so dass er die Augen zu Boden schlug. »Pass besser auf«, zischte der. Schuldbewusst schaute Stefan nach unten und realisierte, dass er gegen einen Eimer mit Abfällen, darunter auch zwei Tomatendosen, deren saurer Geruch ihm in die Nase stach, gestoßen war. Offensichtlich wurde die Bank nur nachlässig gereinigt. Stefans Blick suchte die Decke und die Wände ab, dann wies er nach links oben. Dort hing sie, eine Kamera, doch die kleine rote Lampe leuchtete nicht. Die Entdeckung ließ Stefan grinsen, er hatte es geschafft, die Sicherheitstechnik lahmzulegen.

»Gelernt ist gelernt«, hatte seine Mutter immer gesagt. Das Objektiv der Kamera war auf eine Eisentür rechts gerichtet. »Wie in guten alten Zeiten«, geriet Daniele für die kurze Dauer eines Wimpernschlags ins Schwärmen. Die Tür besaß zwei ovale Schlüssellöcher, von denen eines sich über und eines sich unter einem Drehrad befand. Nachdem Stefan die Tür und was sie umgab nach einer Sicherung überprüft hatte, begann Daniele, sich daran zu schaffen zu machen. Er benötigte eine halbe Stunde, dann ließ sich das Rad bewegen und die Tür öffnen. Mit ihren Taschenlampen leuchteten sie den nicht allzu großen Tresorraum mit seiner erstaunlich niedrigen Decke aus und traten ein, Daniele geschäftsmäßig kühl, Francesca vom Adrenalin befeuert und Stefan mit Anspannung. Kühle empfing sie wie in einem Keller. An der rechten und linken Wand reihten sich Schließfächer von der Hüfthöhe bis zum Deckenpaneel, während sich hinter einem mitten im Raum stehenden Tisch mit zwei Holzstühlen ein mannshoher Tresor befand.

»Auch nicht das neueste Fabrikat«, befand Daniele zufrieden und machte sich an die Arbeit, während Francesca die Taschenlampe zum Boden richtete, sich zu Stefan beugte und ihm ins Ohr flüsterte: »Weißt du, was das Geilste wäre?« Er spürte ihren heißen Atem im Ohr und kannte die Antwort. »Du bist verrückt!«, antwortete er in einer Mischung aus Bewunderung und Ablehnung. Doch sie schaute ihn ungeniert und fordernd mit verlangenden Augen an. Unwillkürlich trat Stefan einen Schritt zurück, doch sie folgte seiner Bewegung.

»Nachher, okay, wenn wir es hinter uns haben«, raunte er ihr hastig zu und hoffte, dass Daniele nichts mitbekam.

»Dann ist es nur halb so gut. Im Bett kann jeder!«, maulte sie flüsternd.

»Könnt ihr nicht leise sein«, raunzte sie Daniele an. Sie nahm seine Hand und zog ihn auf den Gang, dem sie bis zur nächsten Ecke folgten, um dann nach links abzubiegen. »Hier!«, entschied sie plötzlich, drückte ihn an die Wand und knüpfte seine Hose auf. Sein Blick fiel auf die Kamera, die sie in die Optik nahm und deren rotes Kontrolllämpchen ebenfalls nicht leuchtete. »Und wenn die Kamera doch nicht aus ist?«

»Sehen die Bullen auch mal was Schönes.« Die Maske ließ nur ihre Augen frei, doch die waren nun wie ein tiefer Sumpf, dunkel und glänzend und groß und unentrinnbar.

»Und sei leise, wir wollen Onkelchen doch nicht nervös machen.« Sie war unglaublich, von einer natürlichen Schamlosigkeit, die ihn immer wieder überraschend aus dem Hinterhalt überfiel und gegen die er sich nicht zu wehren vermochte, weil sie ihn beeindruckte, indem sie alle seine Widerstände überrannte. Vielleicht hatte sie ihn deshalb bereits in der ersten Nacht, nachdem er aus dem Knast entlassen und von Daniele und von ihr abgeholt worden war, regelrecht überfallen. Zwar verspürte er nach der Haft und der dadurch erzwungenen sexuellen Abstinenz ein starkes Verlangen, doch geschehen war es eigentlich nur, weil sie ihm keine Wahl ließ. Er hatte es genossen, weil alles um ihn herum der Vergessenheit anheimfiel. Als sie nach ihrer heftigen Begegnung ermattet nebeneinanderlagen, überkam ihn die große Traurigkeit.

»Was ist?«, fragte sie verunsichert.

»Post coitum omne animal triste est«, erinnerte er sich plötzlich.

Sie richtete sich auf und schaute ihn wie einen armen Verrückten an. »Merde, ich versteh es nicht ganz. Was für ein verficktes Italienisch ist das denn?«

»Ist kein Italienisch, sondern Latein.« Sie pfiff anerkennend durch die Zähne. »Du kannst Latein, Dottore?«

»Lateinabitur, sogar mit Eins«, antwortete er und fühlte, als er das sagte, wie weit entfernt das alles lag, unerreichbar, kaum noch erinnerbar, in einem anderen Leben. »Und was hat es genützt?«

Sie schüttelte nur den Kopf. »Was heißt das denn nun? Oder sagst du es mir nur nicht, weil’s ’ne richtige Sauerei war? Heh, ich kenne alle Sauereien, nur keine auf Latein. Mach schon, lass mich nicht dumm sterben«, bat und bettelte sie plötzlich wie ein kleines Mädchen, das unbedingt ein Eis haben wollte. Er stierte erst an die Decke, dann sagte er: »Nach dem Geschlechtsverkehr sind alle Tiere traurig«, und schaute sie schließlich mit großen Augen an. Sie schüttelte den Kopf, dann lachte sie laut auf. »Muss sich einer ausgedacht haben, der keinen hoch bekommt.« Zärtlich kitzelte sie ihn. »Heh, das ist doch nicht dein Problem.«

Als sie in den Tresorraum zurückkamen, öffnete Daniele gerade den Tresor und Stefan fühlte sich etwas unbehaglich und hoffte, dass Daniele nichts mitbekommen hatte, schließlich hatten sie versucht, leise zu sein.

Da lagen sie vor ihnen, die Geldscheine, brav mit Banderolen umgeben. Francescas Augen glänzten. Daniele lächelte leicht in sich hinein. Dann fuhr er halb im Spaß seine Nichte an: »Glotz nicht wie ein frischgeficktes Eichhörnchen, pack das Geld in die Tasche. Ist ja schließlich dein Teil der Arbeit.«

»Si, Signore«, antwortete sie, ging zum Safe und packte Bündel nach Bündel in ihren schwarzen Lederrucksack. Für diese Momente lebte sie.

Eine Stunde später saßen sie bereits im Wohnzimmer der kleinen Wohnung in Mailand und hatten das Geld gezählt: zehn Millionen Euro.

»Etwas wenig für eine Bank«, stöhnte Francesca.

»Wahrscheinlich kommt heute Nachschub.«

»Dann waren wir zu früh?«, hakte Francesca nach.

»Ist doch ein guter Anfang«, brummte Daniele vergnügt.

»Wenn jeder von uns 50 Millionen Euro haben will, dann müssen wir noch 14 Banken überfallen, wenn alle so wenig gebunkert haben«, rechnete Stefan laut.

»Ach komm, ’n bisschen Arbeit vor dem Ruhestand ist doch okay, oder?«, sagte Francesca. »Schon, weil es so einen Spaß macht.« Stefan hatte die Anspielung verstanden. Bisher hatte er immer gedacht, dass Sex ihr über alles ging, aber es war eigentlich die Gefahr, die sie anturnte.

Stefan stand auf und trottete in sein Zimmer, denn er spürte nur bleischwere Müdigkeit. Francesca schenkte ihrem Onkel noch ein Lächeln, dann folgte sie ihm. Sie wollte noch nicht schlafen und sie würde es auch Stefan nicht gönnen, die Augen zu schließen.

Irgendwann gegen Morgen zog sie die Erschöpfung in den Tiefschlaf wie auf den Grund eines tiefen Meeres. Zu tief, um zu träumen.

Durch ein kräftiges Poltern an der Tür wurden sie brutal aus dem Schlaf gerissen. Die Sonne knallte ins Zimmer. Lange konnten sie nicht geschlafen haben. Sie beherrschte das Gefühl, dass sie eben erst die Augen geschlossen hatten. Weder Stefan noch Francesca besaßen eine Ahnung, wie spät es war, und sprangen alarmiert aus den Betten.

»Die Bullen?«, fragte Francesca. Stefan zuckte mit den Achseln, als Daniele mit einer Pistole, einer schwarzen Beretta 80, in der Hand, ins Zimmer gestürmt kam. »Stefano, mach die Tür auf und tritt dann zur Seite, damit ich im Notfall freie Schussbahn habe. Los, los, bevor sie uns die Tür eintreten!«

»Aber …«, er spürte, wie er den Boden unter den Füßen verlor.

»Willst du wieder in den Knast?« Doch bevor Stefan antworten konnte, war Francesca bereits mit kurzen schnellen Schritten zur Tür geeilt. Ihn traf ein vernichtender Blick Danieles. »Scheißkerl!« Francesca hatte die Wohnungstür erreicht, und Daniele ließ nun einen Spalt offen, so dass er verfolgen konnte, was sich an der Wohnungstür tat. Francesca schwenkte mit dem Türflügel, den sie öffnete, nach rechts. Danieles Augen weiteten sich vor Überraschung. Dann zog er sie zusammen, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Wer das auch immer war, um Bullen handelte es sich nicht.

5.

Er hatte wenig geschlafen, der Capo, war nach vier Stunden, in denen er sich im Bett von einer Seite auf die andere geworfen hatte, wieder aufgestanden und unter die Dusche geflüchtet. Das Wasser konnte für ihn nicht kalt genug sein, auch wenn er sich zwang, nicht zu zittern, beobachtete er, wie sich auf Armen und Beinen Gänsehaut bildete. Er fühlte sich wie ein Whisky, in dem zu viele Eisstücke schwammen. Den Kaffee beschloss er im Büro zu trinken.

Zanchetti nutzte die Zeit, in der sein Computer hochfuhr, um sich einen Espresso extra stark aufzubrühen. Carla Pisani hatte Matteo Zanchetti gestern bei dem Gespräch in Rom auf einen Mann aus Neapel aufmerksam gemacht, der vor einem halben Jahr eine Spielhalle in Meran eröffnete. Dem Capo, der Francesco Rossi weiterhin im Blick behielt, war dieser Franco Gentile bis dahin nur deshalb nicht aufgefallen, weil der Meraner Spielhallenbesitzer im Umkreis von Rossi nicht auftauchte. Mit triumphierendem Lächeln hatte Carla Sonja Schwarz und ihm ein abgehörtes Telefonat zwischen Gentile und Rossi präsentiert. Das war natürlich unfair, weil die beiden Bozener Polizisten nicht ihre Zeit mit der Observation von Rossi verbringen konnten, mehr, als den Mafioso im Auge zu behalten, ging nicht, noch weniger durften sie Telefonate abhören.

In der typischen Art der Camorra, Gespräche zu führen, die so oft und gern auch karikiert wurde, über die sich ganze Heerscharen von italienischen und amerikanischen Comedians so gerne lustig machten, beschwerte sich Gentile, dass Rossi seine Geschäfte behindere.

»Ach Gentile, mio«, hatte Rossi gesagt, »ich freue mich, dass du ein so erfolgreicher Geschäftsmann bist, aber du solltest deine Geschäfte nicht dadurch gefährden, dass du sie unnatürlich schnell wachsen lässt, und das zu einem Zeitpunkt, wo du nur Neider anlockst. Uns allen steht etwas Demut gut an.« Die Botschaft musste Zanchetti niemand übersetzen, sie lag für ihn auf der Hand. Gentile wollte expandieren zu einer Zeit, in der die Camorra größere Aktionen plante und deshalb kein Aufsehen erregen wollte – und Gentiles Aktivitäten provozierten Aufmerksamkeit. Rossi und Gentile steuerten, wenn Gentile nicht nachgab, auf einen Konflikt zu. Während der Capo mit kleinen Schlucken seinen starken Espresso trank und sich an seiner wohltuenden Bitterkeit erfreute, gab er in das interne Datensystem der Einwohnerbehörde den Namen Franco Gentile ein und fand vier Einträge: einen Franco Gentile, 2012 geboren und wohnhaft in Wolkenstein, der von vornherein nicht in Betracht kam. Auch nicht der in Brixen lebende 35-jährige Kellner und erst recht nicht der 80-jährige pensionierte Lehrer aus Bozen. Auf seinem Monitor erschien das Bild eines Mannes mit einem runden, derben Gesicht, kleinen Augen und vernarbten Wangen. Das war sein Mann, Franco Gentile, vor 40 Jahren in Parco Verde in Neapel geboren. Dieses Detail fesselte seine Aufmerksamkeit, denn Parco Verde war kein Geburtsort, Parco Verde war Schicksal, war ein langsam vollstrecktes Todesurteil. Die Camorra rekrutierte dort unter den Jungen, die keine Arbeit, keine Perspektive hatten, ihre Fahrer, Schmierensteher und Drogenkuriere. Sie waren für gewöhnlich schnell auf dem Motorrad, aber langsam im Kopf. Oft überschätzten sie sich, dann verwandelte sich ihr Motorrad zu einer Waffe, die sich gegen sie selbst richtete und die sie schließlich tötete, aber bei Lichte besehen strangulierte sie das erbärmliche Leben im Slum. Die Camorra schätzte die unversiegliche Quelle billiger Handlanger von Parco Verde, aber sie nahm keinen der Jungs in ihre Familien auf, sie wurden keine Mafiosi, sie blieben Freelancer, immer von Neuem angeworben, das kostengünstigste Outsourcing der Camorra.