Der Bozen-Krimi: Am Abgrund - Corrado Falcone - E-Book

Der Bozen-Krimi: Am Abgrund E-Book

Corrado Falcone

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Beschreibung

Der Kriminalroman zur erfolgreichen ARD-Reihe mit über 5 Millionen Zuschauern pro Folge. Mord und Totschlag in Südtirol: Auch im 2. Band des Bozen-Krimis kommt Kommissarin Sonja Schwarz nicht zur Ruhe. Sie jagt Stefan und Charlotte Keller, die mit Mafiageld ein lukratives Hotel im Naturschutzgebiet bauen wollen und dafür über Leichen gehen. Doch dann trifft eine Kugel ihren Mann Thomas und alles ändert sich: Will Sonja weiterhin bei der Polizei arbeiten? Will sie weiterhin Verbrecher jagen? Hin- und hergerissen zwischen Winzeridylle und Polizei-Routine muss sich Sonja entscheiden. Eine dramatische Geiselnahme zwingt Sonja zum Handeln, wenn sie nicht verlieren will.

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Was bisher geschah:Bozen Krimi, Band 1, „Herz-Jesu-Blut“

Leben, wo andere Urlaub machen: Damit lockt der Winzersohn Thomas Schwarz seine Frau Sonja nach Südtirol, weil er das Weingut der Familie übernehmen will. Doch Sonja merkt schnell, dass die Postkartenidylle trügt. Als Provinzpolizistin in Bozen muss sie sich nicht mit Falschparkern und Weinpanschern herumschlagen, sondern mit Mord und Totschlag, Drogenschmuggel und der Mafia.

Aber es gibt noch mehr zu tun: Die Leiche eines vor siebzehn Jahren verschwundenen Mädchens taucht auf und ausgerechnet Sonjas eigener Ehemann Thomas gerät unter Mordverdacht. Sonja ist fest entschlossen, den Fall schonungslos aufzuklären, doch dabei ist die kämpferische Frau Commissario auf sich allein gestellt. Nicht nur ihr Kollege Jonas Kerschbaumer, sondern auch der neue Vorgesetzte Matteo Zanchetti halten ihren Mann Thomas für den Täter.

DERBOZENKRIMI

AM ABGRUND

CORRADO FALCONE

BAND 2

Zum Buch

Der Kriminalroman zur erfolgreichen ARD-Reihe mit über 5 Millionen Zuschauern pro Folge.

Mord und Totschlag in Südtirol: Auch im zweiten Band des Bozen-Krimis kommt Kommissarin Sonja Schwarz nicht zur Ruhe. Sie jagt Stefan und Charlotte Keller, die mit Mafiageld ein lukratives Hotel im Naturschutzgebiet bauen wollen und dafür über Leichen gehen.

Doch dann trifft eine Kugel ihren Mann Thomas und alles ändert sich: Will Sonja weiterhin bei der Polizei arbeiten? Will sie weiterhin Verbrecher jagen? Hin- und hergerissen zwischen Winzeridylle und Polizei-Routine muss sich Sonja entscheiden. Eine dramatische Geiselnahme zwingt Sonja zum Handeln, wenn sie nicht verlieren will.

Stimmen zu Band 1, „Herz-Jesu-Blut“:

„Wer die Filme mag – und es waren Millionen, die zugeschaut haben –, wird ‚Herz-Jesu-Blut‘ als leichte Sommerlektüre schätzen.“ Kurier

„Guter Kriminalroman, der die Fernsehglotzer vielleicht wieder an die Literatur bringt.“ fachbuchkritik.de

„Ein toller Roman zur TV-Krimi-Reihe. Absolut lesenswert.“ Manuela Pfleger, Bloggerin

Mit freundlicher Unterstützung der Kulturabteilung der Südtiroler Landesregierung

© 2017, Rundfunkanstalten der ARD und Merfee Film- und Fernsehproduktions

GmbH, Lizenz durch Degeto GmbH

Der Bozen-Krimi:

Band 1: Herz-Jesu-Blut

Band 2: Am Abgrund

Edition Raetia, Bozen 2017

1. Auflage

ISBN 978-88-7283-597-5

ISBN E-Book: 978-88-7283-624-8

Grafisches Konzept: Typoplus, Frangart

Druckvorstufe: Typoplus, Frangart

Lektorat: Josef Rabl, Helene Dorner

Cover: Philipp Putzer, Farbfabrik

Anregungen an [email protected]

Unser gesamtes Programm finden Sie unter www.raetia.com

Inhalt

Zum Buch

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundachtzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Neununddreißig

Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Dreiundvierzig

Vierundvierzig

Fünfundvierzig

Sechsundvierzig

Siebenundvierzig

Achtundvierzig

Neunundvierzig

Fünfzig

Einundfünfzig

Zweiundfünfzig

Dreiundfünfzig

Vierundfünfzig

Fünfundfünfzig

Sechsundfünfzig

Siebenundfünfzig

Achtundfünfzig

Neunundfünfzig

Sechzig

Einundsechzig

Zweiundsechzig

Dreiundsechzig

Vierundsechzig

Fünfundsechzig

Sechsundsechzig

Siebenundsechzig

Achtundsechzig

Neunundsechzig

Siebzig

Einundsiebzig

Zweiundsiebzig

Dreiundsiebzig

Vierundsiebzig

Fünfundsiebzig

Sechsundsiebzig

Siebenundsiebzig

Achtundsiebzig

Neunundsiebzig

Achtzig

Einundachtzig

Zweiundachtzig

Dreiundachtzig

Vierundachtzig

Fünfundachtzig

Sechsundachtzig

Siebenundachtzig

Achtundachtzig

Neunundachtzig

Neunzig

Einundneunzig

Zweiundneunzig

Dreiundneunzig

Eins

Die Septembersonne lag längst hinter ihr, hinter dem Bergmassiv des Schlerns, und das Blau des Himmels auch, so weit entfernt bereits, dass nicht einmal mehr das Bild im Rückspiegel ihres roten Porsches an das gute Wetter erinnerte. Hinter Bruneck fiel ihr Blick nur noch auf die Nässe, die aus den Wiesen und Wäldern des Pustertals dampfte und sich mit dem Regen, der wie ein alter Bergsteiger von den Dolomiten herunterkam, verband. In ihrer Nase breitete sich der stockige Geruch der Feuchtigkeit mit ihren Aromen von Pilzen und Früchten, von Tannen- und Fichtennadeln aus. Die Erinnerung an ihre Jugend, die unerwartet auflebte, schob sie schnell zur Seite. Während sie die Scheinwerfer einschaltete, fielen rechts und links zwei Falten von ihren Mundwinkeln zum Kinn. Das etwas zu dick aufgetragene Make-up bildete feine Risse. Es war ihr nicht ganz gelungen, die Anspannung zu überschminken. Angetrieben von der Angst, zu spät zu dem entscheidenden Treffen zu kommen, klebte sie beim Fahren fast an der Windschutzscheibe, den Oberkörper über das Lenkrad gekrümmt, den in einen Manolo-Blahnik-Schuh gehüllten rechten Fuß auf dem Gaspedal, die Hände um das Steuer gekrampft. Gasgeben und Bremsen wechselten sich übergangslos ab. Obwohl sie für gewöhnlich einen ausgeglichenen Fahrstil pflegte, fuhr sie ungewohnt ruppig. Die letzten Wochen hatten viel Energie, Klugheit und Mut erfordert, denn sie ging ein großes, vielleicht sogar zu großes Risiko ein. Doch einen anderen Ausweg sah sie nicht mehr, wenn sie ihr Leben retten wollte.

Hätte sie hin und wieder in den Rückspiegel geschaut, wäre ihr vielleicht aufgefallen, dass sie ein alter, etwas verbeulter Volvo verfolgte, der einst silbern geglänzt haben dürfte. Doch sie war gedanklich mit anderem beschäftigt. Nicht nur die Zeit, sondern auch ein unschönes Erlebnis, das sie in dem Augenblick hatte, als sie aufbrechen wollte, saß ihr im Nacken. Immer wieder kämpfte sie gegen das erniedrigende Gefühl an, verraten worden zu sein. Wie konnte er ihr das nur antun? Aber er tat es ihr ja immer wieder an und besserte sich nicht, tausend Schwüre geschworen und allesamt wieder gebrochen – geschenkt, aber ausgerechnet heute, wo es doch um so viel ging, für sie beide. All die Jahre hatte sie die Verletzungen als Teil ihrer Abmachung hingenommen, ohne sich zu beschweren, sowohl das Wegschauen als auch das diskrete Hinter-ihm-Aufräumen. Er hatte dafür Geld und Einfluss in die Ehe eingebracht. Um Liebe, dachte sie plötzlich, um Liebe war es eigentlich nie gegangen. Sie lachte bitter auf. Um Sexualität, um Erotik, zumindest in den ersten Jahren, bis ihr Körper immer fraulicher wurde und das Mädchenhafte verlor. Aber Liebe? Sie hatte nur Spott für die Frauen übrig, die in jungen Jahren ihre Körper verschenkten für ein so unklares und flüchtiges Gefühl, anstatt ihn als Kapitalanlage zu nutzen, um sich ein angenehmes Leben zu sichern. Immer öfter stellte sich ihr in letzter Zeit die Frage, ob sie wirklich ein angenehmes Leben führte, im Luxus zwar, doch bei Licht besehen auch leer. Sie trat das Gaspedal durch, um an der nächsten Kurve wieder abzubremsen, nein, leer war ihr Leben nicht, nicht vergeudet, wenn ihr der große Coup gelänge. Jetzt ging es die Serpentinen hoch auf den Berg. Ein Blick auf die Uhr am Armaturenbrett verriet ihr allerdings, dass sie in dieser Sekunde schon oberhalb des Toblacher Sees und unterhalb der Goswand hätte sein müssen, wo bereits Hermann Bichler, der einflussreiche Chef des Südtiroler Umweltvereins, auf sie warten sollte. Ihn zu versetzen konnte sie sich nicht leisten. Wie mühsam war es doch gewesen, ihn zu bewegen, sich mit ihr zu treffen. Himmel nicht, aber die ganze Hölle hatte sie dafür in Bewegung gesetzt. Sie hatte nicht einmal seine Handynummer, um ihre kleine Verspätung anzukündigen.

Zwischen der Tachonadel und dem Uhrzeiger tobte ein stiller, aber erbitterter Wettkampf. Wieder sah sie vor ihrem geistigen Auge den weißbeblusten Rücken des sechzehnjährigen Mädchens, das im Hotel zur Kellnerin ausgebildet wurde und, was so gar nicht zu ihrer Ausbildung gehörte, auf dem Schoß ihres Mannes ritt, der auf einem schwarzen Stuhl mit reichlich Schnitzwerk saß, den Rücken an die Lehne gepresst. Er hatte die Augen geschlossen und Schweiß perlte von seiner Stirn, während er leise stöhnte. Das Auf und Ab des Mädchens hatte in seiner einförmigen Mechanik etwas Tristes. Sie hatte die Tür hinter sich zugeknallt und ihn mit ihrem Blick durchbohrt, während er die Augen aufschlug, die verschleiert und verhangen waren. Sie kannte seine Sucht nach Sex mit jungen Mädchen, das hatte ihm letztlich das Landtagsmandat gekostet und ihn gezwungen, aus dem Wahlkampf um den einflussreichen Posten des Bozner Bürgermeisters auszusteigen. Verärgert darüber, gestört zu werden, fuhr er sie an: „Ich dachte, du bist schon weg!“, dann strich er dem Mädchen über die Wange: „Mach weiter, Mandy“, und schloss wieder die Augen. Ihre Wangen glühten von der Ohrfeige, die sie eben erhalten hatte. Und als ob das nicht alles schlimm genug gewesen wäre, machte Mandy weiter, als ob sie nicht mehr im Zimmer, als ob sie Luft wäre … und durch das Bild des auf dem Schoß ihres Mannes hüpfenden Mädchens hindurch, das sich auflöste, sah sie plötzlich ein Auto, das ihr in der Haarnadelkurve entgegenkam, und blickte in die schreckgeweiteten Augen einer noch jungen Frau, drückte mit ihrem rechten Fuß die Bremse ganz durch, lenkte nach links zur Bergwand, und wusste doch, dass es dafür bereits zu spät war … Sie hörte nur noch das Quietschen der Bremsen und einen Schrei, der ihr Schrei gewesen sein könnte, aber nicht musste …

Zwei

Zur selben Zeit betrat Sonja Schwarz das Büro und stieß auf Jonas Kerschbaumer, der aus dem Dienstzimmer des Capos stolperte. Das schlechte Gewissen stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Die Augen sehnten sich nach Schlaf, die verwuschelten Haare nach einem Kamm und an Kinn und Wangen leuchteten Bartstoppeln im einfallenden Licht der tiefstehenden Sonne. Kurz darauf nahm sie den aufdringlichen Geruch von Alkohol wahr, der von ihm ausging.

„Ich soll nach Hause gehen und meinen Rausch ausschlafen, hat der Capo befohlen“, sagte er unbeteiligt.

„Der Suff macht deinen Bruder auch nicht wieder lebendig“, hörte sie sich schroff entgegnen und wusste, wie wenig Sätze dieser Art, die so patent klangen, in Wirklichkeit halfen. Jonas ließ sich erschöpft auf seinen Stuhl fallen, der kurz nachfederte, und schaute sie aus waidwunden Augen an. „Manchmal bin ich sogar froh, dass er tot ist. Wie geht man denn um mit einem Bruder, der drei Mädchen getötet hat?“

„Jonas, dafür kann keiner was, keiner außer Ludwig!“

„Hätte ich ihn aufgehalten, wenn ich es gewusst hätte? Hätte ich ihn angezeigt, ihn verhaftet, die Waffe auf ihn gerichtet? Aus Notwehr geschossen? Wäre ich Polizist oder Bruder gewesen?“

„Du hättest das Richtige getan!“

„So? Hätte ich? Habe ich mich genügend um meinen Bruder gekümmert? Klar, der Ludwig hat mich nie an sich rangelassen. Warum, Sonja?“

„Du hattest die Position, die er gern gehabt hätte.“ Jonas schüttelte nur den Kopf und stand auf. Das, was in seinem Herzen vorging, war mit Worten nicht zu lindern und mit Logik nicht zu erklären. Er schaute unschlüssig um sich, als hätte er vergessen, was er jetzt tun sollte.

„Hör auf zu trinken!“, sagte sie fast flehend. Der junge Polizist brummte nur, als wollte er sich ihre Ratschläge verbitten, doch dann zog er seine Brieftasche aus der Hosentasche und entnahm ihr ein Foto, das er Sonja wie ein Beweisstück präsentierte. Auf dem Bild entdeckte sie ein neues, schickes Mountainbike. „Wenn mir etwas hilft, dann das hier. Ich trainiere für die Südtiroler Downhill-Meisterschaft.“ Vollkommen überrascht starrte ihn Sonja an.

„Keine Sorge. Es war nur, weil ich auf dem Friedhof war. Ich wollte der Evelyn Blumen bringen … und dann schaute ich noch beim Ludwig vorbei. Nun liegen sie beide wenige Meter voneinander entfernt. Auf demselben Friedhof. Ein Irrsinn ist das. Gott muss sich auf einer Bergwanderung verirrt haben. Er war jedenfalls nicht da, als er gebraucht wurde“, spottete er zynisch und schüttelte wieder den Kopf. Als könne er es immer noch nicht verstehen, und es gelang ihm tatsächlich nicht, sich die Katastrophe zu erklären, die seine Familie, die ihn ereilt hatte. „Wie konnte der Ludwig die Evelyn totmachen? Sie war doch ein Engel …“

Engel kann man nicht töten, widersprach sie innerlich, begriff dann aber, dass er genau das gemeint hatte. Irgendetwas stimmte mit der Welt nicht, wenn Engel starben. Sonja schaute mit diesem deprimierenden Gedanken ihrem Kollegen hinterher, der aus dem Büro trottete, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. In einem ersten Reflex wollte sie zum Telefon greifen, um sich in Frankfurt in ihrer alten Dienststelle zu erkundigen, ob sie im Fall des getöteten Mädchens weitergekommen waren, entschied sich aber dagegen, denn sie musste wirklich nicht alles Elend dieser Welt um sich versammeln. Aus seinem Büro kam derweil Matteo mit tadellosen Bluejeans und einer schicken schwarzen Lederjacke über einem weißen Baumwollhemd. Bei ihrem Anblick heiterte sich sein verdrossener Gesichtsausdruck auf. „Principessa!“ Dann verzog er ironisch die Mundwinkel: „Ich muss erst mal mein Büro lüften, wenn ich nicht betrunken werden will.“

Sonja nickte. „Ich habe Jonas noch getroffen.“

Matteos Miene wurde plötzlich sehr ernst. „Sollten wir uns Sorgen um ihn machen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nicht um Jonas. Um seinen Vater. Er redet wenig und schon gar nicht darüber. Frisst seinen Kummer in sich hinein. Geht Peter zum Psychologen?“

„Ja, aber dort schweigt er nur und sitzt pflichtschuldig seine Zeit ab.“

Sonja zog die Augen zu einem Schlitz zusammen, dann kam ihr eine Idee. „Ich rede mal mit Capo Burger. Die beiden kennen sich schon so lange. Vor dem kann er sich nicht verkriechen.“

„Perfetto. Und Burger kann sicher in seinem Ruhestand eine Abwechslung gebrauchen.“

Sie wollte ihm gerade sagen, dass sie heute früher gehen würde, weil sie mit ihrer Tochter verabredet war, als das Telefon klingelte. Matteo ging ran, meldete sich und hörte zu, während sein Gesicht wieder die professionelle Undurchdringlichkeit annahm, die er bevorzugte, wenn es um Dienstliches ging. „Wir sind unterwegs.“ Sonja warf ihm einen fragenden Blick zu. „Unfall mit Fahrerflucht“, sagte er im Gehen und sie folgte ihm. Kurz darauf brausten sie auch schon in Matteos Audi TT los. Er fuhr wie immer zu schnell. Sie blickte auf sein scharfes Profil, das ein düsterer Zug umspielte.

„Was bedrückt dich, Matteo?“ Der Capo wollte erst einen Scherz machen, doch dann sprach er von seiner Sorge, dass sich die Mafia in Bozen ausbreitete.

„Ach du mit deinem Rossi, der scheint ja dein Hobby zu werden“, winkte sie ab.

„Er ist der Brückenfuß.“

Lachen ihrerseits, verunsicherter Blick seinerseits. „Sagt man nicht so?“

„Brückenkopf heißt es.“

„Für die Mafia ist er eher der Fuß nach Südtirol, nicht der Kopf. Der sitzt in Neapel oder in Bari, da blicke ich noch nicht richtig durch. Sonja, wenn die erst richtig Fuß gefasst haben, ihre Verbindungen, ein Netzwerk aufgebaut haben, ist es zu spät. Die Mafia ist wie ein Krebsgeschwür, zu spät behandelt, und man kann nichts mehr dagegen tun.“

Sie schaute ihn prüfend von der Seite an. „Vermisst du sie?“

„Wen?“

„Die Mafia. Ich habe das Gefühl, dass du Rossi überschätzt. Ein kleiner Gauner, aber meinst du wirklich, er ist der Mann, der die Mafia hier etablieren kann? Als Pate von Bozen?“

„Ich hoffe, Sonja, dass ich übertreibe. Eine gesunde Paranoia ist besser als tödliche Sorglosigkeit.“ Sie konnte nicht ahnen, dass Commissario Capo Matteo Zanchetti ein Geschlagener war, dass er seine ganze Arbeit als fortgesetzte Niederlage im Kampf gegen die Mafia begriff, als ein einziges großes Rückzugsgefecht. Wie sollte er auch in einer Gesellschaft siegen können, die immer mafiöser wurde?

Eine gute Stunde später standen sie am Fuß des Bergmassivs unterhalb der Serpentinen. Vor der Absperrung standen ein Fahrzeug der Gemeindepolizei und ein Notarztwagen, dahinter gab ein zerbeulter Fiat Panda, der offensichtlich die Böschung heruntergestürzt war, einen mitleiderregenden Anblick ab. Ein paar Meter weiter lag ein menschlicher Körper auf einer wasserdichten Plane, die ihn vor der Nässe des Wiesenbodens schützte. Er wirkte unwirklich auf dem Stück Plastik, wie eine misslungene Werbeaktion.

Als sie auf den Gemeindepolizisten zugingen, hörten sie den Motor eines weiteren Autos, Sonja und Matteo blickten sich um und entdeckten den schwarzen Wagen eines Bestatters. Und es regnete Bindfäden. Dass der Regen ihre hellblaue Bluse aufweichen würde, daran dachte sie jetzt nicht. Mit diesem Wetter hatte sie nicht gerechnet. Aber sie hatte auch nicht geahnt, heute noch zur Goswand fahren zu müssen. Matteo hob routiniert das Absperrband hoch, unter dem sie in gebückter Haltung hindurchging, gefolgt vom Capo. Vor ihnen lag eine Frau, Ende zwanzig, mit streng geschnittenem Gesicht, eine herbe Schönheit. Stirn und Haare waren blutverklebt.

„Schädelbasisbruch“, erläuterte der Arzt, der sich ihnen zugewandt hatte.

„Danke“, sagte Matteo knapp. „Kripo Bozen. Commissario Schwarz, und ich bin Commissario Capo Matteo Zanchetti.“

„Stand die Frau unter Drogen, unter Alkohol? Ein Diabetesschock oder ein anaphylaktischer Schock?“, fragte Sonja routiniert.

„Außer Drogen kann ich alles ausschließen. Was Drogen betrifft, wäre ein Screening erforderlich.“

„Heidi Grüner muss sich die Frau ansehen“, entschied Zanchetti.

„Eines kann ich aber mit Bestimmtheit sagen: Sie könnte noch leben, wenn rechtzeitig Hilfe eingetroffen wäre.“

„Umso wichtiger, dass Heidi die Tote untersucht“, bekräftigte Sonja, die die Leiche professionell musterte, die abgetragenen Jeans, das billige T-Shirt, die ausgelatschten Sneakers. Passte zum Auto, das in Deutschland vom TÜV wohl nicht mehr zugelassen worden wäre. Abgefahrene Reifenprofile, angerostete Karosserie. Nach dem Zustand der tragenden Teile wollte sie lieber nicht fragen. Reich wirkte die junge Frau jedenfalls nicht.

Ein Gemeindepolizist trat neben den Arzt und salutierte nachlässig, ein baumlanger Kerl, dessen Pferdegesicht von Sommersprossen übersät war. Sonja schätzte ihn auf Mitte zwanzig.

„Agente Scelto Korn.“

„Wie kommen Sie auf Fahrerflucht, Agente Scelto?“, fragte der Capo den Gemeindepolizisten. Der Regen ließ nach, doch dafür kam ein empfindlich kühler Wind auf. Korn wies mit dem Kopf nach oben. „Schauen Sie sich den Unfallort an. Ein zweites Fahrzeug war am Unfall beteiligt. Doch von dem Fahrer ging keine Meldung ein. Wir haben den Panda zufällig entdeckt.“

„Und Sie sind sich ganz sicher, dass es ein zweites Auto gab?“, vergewisserte sich Sonja noch einmal.

„Ja. Der Drecksack von Fahrer …“

„Oder Fahrerin.“

„… hat sie von der Straße gedrängt und ist einfach weitergefahren. Die Spurensicherung ist bereits am Arbeiten.“

„Perfetto“, lobte Zanchetti. „Der Fiat muss ebenfalls auf Spuren des Unfallgegners untersucht werden.“

„Kennen Sie die Tote?“, fragte Sonja, die einen Kummer auf dem Gesicht des jungen Polizisten wahrnahm.

„Wie sollte ich sie nicht kennen? Hier kennt doch jeder jeden. Das ist die Kutzner Anna, die jetzt Sonnleitner heißt. Sie arbeitet im Hotel als Zimmermädchen.“

„Woher kennen Sie Anna Sonnleitner?“

„Wissens, i bin aus Niederdorf. Und die Kutzner Anna, die jetzt Sonnleitner heißt, wohnte in der Nachbarschaft, dort, wo ihre Mutter heute noch lebt, bis sie den Andi Sonnleitner geheiratet hat und mit ihm nach Toblach gegangen ist. Wir haben die gleiche Schule besucht.“

„Kannten Sie die Anna näher?“

„Nein, ich bin drei Jahre jünger, das macht in der Schule viel aus.“

„Was wollte sie auf der Bergstraße, wenn sie im Hotel arbeitet?“, fragte Sonja, die auf ihrem Smartphone die Umgebung des Unfallorts auf einer Karte betrachtete.

Der Polizist zuckte mit den Achseln.

„Noch was?“, drängte Matteo, dessen Gedanken schon wieder um Rossi kreisten. Vielleicht hatte Sonja recht und die Mafia wuchs sich wirklich langsam zu einer fixen Idee in seinem Kopf aus.

Als der Gemeindepolizist nur den Kopf schüttelte, befahl ihm der Capo, ihnen die genaue Unfallstätte zu zeigen. Er wollte nur schnell nach Bozen zurück, um die Unterlagen über Rossi durchzusehen, die ihm ein alter Freund, der bei der Direzione Investigativa Antimafia in Rom arbeitete, gemailt hatte. Sie kannten sich von der gemeinsamen Arbeit in Bari.

Der Agente Scelto führte sie zu seinem Auto, dann fuhren sie die Serpentinen hinauf und vor Sonjas Augen öffnete sich das einzigartige Panorama des Toblacher Sees, über dem eine dichte schwarzblaue Wolkendecke hing. Sie wirkte, als könnte sie jeden Moment herabfallen und wie ein Leichentuch alles unter sich bedecken, den See, die Hotels, das ganze Tal. Viel zu schön, um hier zu sterben, dachte sie, als ob Schönheit vor dem Tod bewahren könnte. Schließlich hielten sie vor einer scharfen Kurve, stiegen aus, gingen an der Absperrung, die ein weiterer Gemeindepolizist, dem Korn zunickte, sicherte, vorbei und umrundeten sie. Hier oben war es deutlich windiger. Sie fröstelte etwas in ihrer nassen Bluse und dachte nur, hoffentlich hole ich mir keine Erkältung. Als ob Matteo ihre Gedanken erraten hätte, legte er ihr seine Lederjacke über die Schultern. Sie warf ihm ein so dankbares wie flüchtiges Lächeln zu. Mit einem Blick auf die Bremsspuren wurde Sonja der Hergang klar. „Anna Sonnleitner kam aus den Bergen, da bog um die Kurve ein zweites Fahrzeug, das noch versuchte zu bremsen, wie Anna auch, und schob es über die Straßenkante, sodass der Fiat den Hang hinunterstürzte.“

Matteo nickte zustimmend. „Es war eine schwere Karosse, ein Audi, Mercedes, BMW.“

„Ja, ein SUV oder ein teurer Sportwagen, wie der TT oder ein Porsche. Ein Auto mit guter Straßenhaftung eben.“

„Jedenfalls hat sich der Fahrer oder die Fahrerin nicht um den Unfall gekümmert. Ist einfach weitergefahren.“

„Was den Fahrer zum Täter macht. Fahrerflucht mit Todesfolge.“

„Auf alle Fälle scheint der Täter etwas zu verbergen zu haben, ein Geheimnis, das er mit der Polizei nicht teilen möchte. Dein Fall, Sonja“, entschied der Capo.

Nachdem Sonja mit der Gemeindepolizei, der Spurensicherung und dem Bestatter, der die Leiche nach Bozen in die Gerichtsmedizin bringen sollte, das weitere Vorgehen abgestimmt hatte, fuhren Matteo und sie zur Steinwaldalm, die von den Sonnleitners bewirtschaftet wurde. In Sonjas Kopf hakte sich die Frage fest, was der Fahrerflüchtige zu verbergen hatte. Doch spekulieren half nichts.

Agente Scelto Korn hatte Sonja anhand der Karte, die sie nun auf den Knien hatte, den Weg zur Steinwaldalm erklärt und mit einem Bleistiftkreuz in der Karte die Stelle eingezeichnet, an der sie sich befand.

Drei

Im Grunde konnte Charlotte Keller mit sich zufrieden sein. Sie war ihren prallen Briefumschlag, in dem sich 250 Zweihunderteuroscheine befanden, losgeworden. Bichler hatte ihn wie nebenbei, als befände sich in dem Kuvert nur die überflüssige Einladung zur Eröffnung eines Supermarkts, in die innere Brusttasche seines Trachtenjankers gesteckt. Im Gegenzug händigte er ihr mit eisiger Miene das Bewilligungsschreiben aus. „Danken Sie mir damit, dass Sie mich nicht mehr kontaktieren, auch nicht über Dritte, mich weder anrufen noch einladen. Erwähnen Sie nicht einmal meinen Namen.“

„Wie Sie wünschen“, antwortete sie mit der glatten Freundlichkeit der routinierten Geschäftsfrau. Man merkte es ihm an, dass ihm diese Begegnung einiges abnötigte, sie ihm zutiefst unangenehm war und er sie deshalb so kurz wie möglich halten wollte. Er nickte ihr noch knapp zu, dann stiefelte er zu seinem Mercedes, während Charlotte das Bewilligungsschreiben prüfte. Die Anspannung fiel von ihr ab und sie atmete befreit auf. Glück, so fühlte sich Glück an, eine Droge, die alle Zellen flutete. Nun war alles rechtens, sie hatten die Genehmigung, mitten im Naturschutzgebiet ein Hotel zu errichten. Ein exquisites würde es werden, für Gäste, die für den Luxus und die einzigartige Lage bezahlen wollten und bezahlen konnten. Zehrende Verhandlungen krönte der hart erarbeitete Erfolg. Wie hatte ihr davor gegraut, als gewöhnliche Hotelbesitzerin, die einen letztlich aussichtslosen Kampf gegen die großen Ketten zu bestehen hatte, alt zu werden und am Ende doch verkaufen zu müssen. Doch diese Genehmigung erlaubte ihr den Einstieg in die Welt der wirklich Reichen, des Jetsets. Wenn ihr Mann schon nicht Bürgermeister von Bozen wurde und sogar das Landtagsmandat wegen der Affäre um Evelyn Kronstadt niederlegen hatte müssen, hielt sie nun das Ticket in der Hand, zur ersten Hotelierin Südtirols aufzusteigen und eben auf andere Weise in der ersten Liga mitzuspielen. Wofür hatte sie denn sonst die vielen Liebschaften ihres Mannes all die Jahren nicht nur ertragen, sondern ihn immer wieder aus heiklen Situationen gerettet, in die er regelmäßig gestolpert war, wenn nicht dafür, Mittelpunkt der Südtiroler Gesellschaft zu werden, schließlich ganz oben anzukommen.

Als sie in ihren Porsche stieg, erinnerte sie die Beule am Kotflügel an den Unfall. Sie fluchte über die Frau in dem Fiat Panda. Wieso musste sie ihr auch in der Kurve entgegenkommen? Wenn das Hotel erst gebaut werden würde, dann durften diese Straße nur noch Hotelgäste, Lieferanten und Angestellte benutzen. Das Aufkommen eines leichten Schuldgefühls darüber, dass sie sich nicht um die junge Frau gekümmert hatte und einfach weitergefahren war, erstickte sie mit dem Blick auf den Toblacher See, den eines Tages auch ihre Gäste haben würden, wenn sie auf der Veranda Tee oder Kaffee oder einen Drink serviert bekämen. Das Projekt war einfach zu groß dafür, dass sie sich in Nebensächlichkeiten verhedderte. Der kleinen Gucci-Handtasche entnahm sie ihr Smartphone, tippte die Kurzwahltaste ihres Mannes ein und dachte sarkastisch, dass er ja nun mit der Kleinen längst fertig sein dürfte. Und richtig, kurz darauf hatte sie ihn am Telefon.

„Es hat alles super geklappt, Stefan. Ich hatte nur einen Unfall, um den ich mich nicht kümmern konnte. Besser, es weiß niemand davon. Ich bin auch nicht gesehen worden. Kennst du eine diskrete Werkstatt?“ Ihr Mann wirkte ausgesprochen aufgeräumt. Er versprach, sie gleich zurückzurufen. Als sie ihr Handy wieder einsteckte, spürte sie einen kleinen Schmerz darüber, dass er weder über den Unfall etwas wissen wollte noch darüber, wie es ihr ging. Charlotte flüchtete vor der Tristesse ihrer Beziehung in die Vorstellung, wie ihr Hotel einmal aussehen sollte. Diesen Genuss hatte sie sich verdient. Sie musste den Unfall aus dem Kopf bekommen, denn jetzt ging es um weit mehr als um einen gerammten Fiat Panda, jetzt drehte sich alles nur noch um den lukrativsten Hotelbau in Südtirol, um eine Überraschung, und der Zeitpunkt, zu dem sie mit ihrem Projekt an die Öffentlichkeit ging, wollte gut überlegt sein, da mit Protesten von Umweltschützern zu rechnen war. Der Fanfarenton, der anschwoll, rief sie an ihr Handy. Ihr Mann teilte ihr mit, dass sie zum Autohaus Gstaller fahren und nach Jockel Gstaller fragen sollte, der ein alter Freund von ihm sei und das Problem diskret lösen würde. Sie dankte ihm, dann fuhr sie los, doch kurz vor der Kurve trat sie auf die Bremse, als sie die Absperrung der Polizei entdeckte, legte den Rückwärtsgang ein und rollte zurück hinter die nächste Serpentine. Sie merkte nicht einmal, dass sie dabei die Luft anhielt. Hinter der Kurve wendete sie, suchte in ihrem Navi eine alternative Strecke, die sie auch fand, auch wenn sie sich als ein besserer gepflasterter Waldweg herausstellte. Das Polizeiaufgebot hatte sie erschreckt, denn es deutete darauf hin, dass der Unfall eine größere Sache war, als sie gedacht hatte. Doch mit dem Schicksal wollte sie sich nicht belasten. Sie würde deshalb nicht nur den Schaden an ihrem Wagen beheben, sondern auch die Reifen wechseln lassen.

Dann schüttelte sie den Gedanken an den Unfall ab, niemand würde auf den Gedanken kommen, dass sie hier entlanggefahren war, denn ihr Treffen mit Bichler hatte unter strengster Geheimhaltung stattgefunden und Bichler besaß fünfzigtausend Gründe, darüber nicht zu sprechen. Nein, das Missgeschick musste sie wirklich nicht beunruhigen, zumal sie spürte, dass ihre Hände das ganz große Rad zu greifen bekamen, das sie unbedingt drehen wollte. Und plötzlich ging ein Lächeln über ihre Lippen. Es fühlte sich doch gut an, Charlotte Keller zu sein, tausendmal besser als Charly Niedermeier.

Vier

Kurz nach Toblach bog Matteo auf einen besseren Forstweg, der sie unterhalb des Haunoldmassivs entlangführte. Von dort ging es ins Gebirge hinein, vorbei an der Riese-Haunold-Hütte ins Untertal. Der Gedanke an das Gespräch, das ihnen bevorstand, erstickte jeden Genuss, der beim Anblick der Wiesen und des Walds rechts und links von der Straße unweigerlich aufkam. Unterhalb des Haunoldköpfls hatten sie den Eindruck, vom Nichts verschlungen zu werden, denn der Forstweg wurde immer schmaler. Wenden und Umkehren waren nicht mehr möglich. Gelegentlich fuhren sie über Wurzeln und Matteo ließ nur noch einen Singsang von sich hören, der aus einem endlosen mamma mia mamma mia mamma mia bestand. Hin und wieder schepperten dicke Regentropfen, die sich auf den Blättern der Bäume gesammelt hatten, auf das Dach des Autos, auf die Windschutzscheibe und die Motorhaube. Er bereute zutiefst, nicht den Dienstwagen, sondern seinen tiefer liegenden Audi TT genommen zu haben, und befürchtete, zu guter Letzt stecken zu bleiben. Einmal warf ihm Sonja einen flüchtigen Blick zu und beschloss, das während dieser Fahrt besser zu unterlassen: Er wirkte blass, die Nase wurde lang und spitz. Noch nie hatte sie ihn so leiden gesehen, als ob jeder Stoß nicht von den Stoßdämpfern des Sportwagens, sondern von seinem Herzen abgefangen werden müsste. Vor einer mittelgroßen Almhütte hielten sie an. Sonja sprang raus und hielt beherzt auf einen Mann in Lederhose und weißem Hemd zu, der gerade aus der Hütte trat.

„Grüß Gott. Bin ich auf der Steinwaldalm?“

Der Mann schüttelte den Kopf. „Essen können Sie auch hier.“

„Bedaure. Ich muss zur Steinwaldalm.“

„Wie Sie wollen“, antwortete der Mann ungerührt. „Sie müssen die Straße …“

„Straße?“, fragte Sonja ironisch.

„Den Almweg zurück und vorn an der kleinen Kreuzung, wo es nur nach rechts oder links geht, links abbiegen. Was auch immer geschieht, bleiben Sie auf diesem Weg, er führt Sie zur Steinwaldalm.“

„Danke. Nächstes Mal kommen wir zu Ihnen.“

„Isch recht.“ In diesem Moment trat eine Familie, Mutter, Vater, zwei Kinder, in zünftiger Wanderkleidung mit Rucksäcken aus der Tür.

„Danke, es war toll bei Ihnen.“

„Besonders der Kaiserschmarrn“, schwärmte der schätzungsweise dreizehnjährige Sohn.

Sonja schmunzelte wehmütig, dann saß sie bereits wieder neben Matteo und dirigierte ihn. Der Weg schlängelte sich den Berghang entlang, bis er schließlich zu einer kleinen Almhütte führte. Sonja nickte und Matteo lenkte den Audi auf den Parkplatz rechts neben der zweistöckigen Hütte. Sie stiegen aus und schauten sich über das Dach des Autos kurz tief in die Augen, denn jetzt kam das Schwerste; auch wenn sie Übung darin besaßen, ließ es sie dennoch nicht kalt, Angehörigen die Nachricht vom Tod des Vaters, der Mutter, des Bruders, der Schwester oder des Kindes zu überbringen, zumal es sich immer, wenn sie es taten, um keinen natürlichen Tod handelte, sondern um eine Unordnung, die in die Welt gekommen war, um ein Verbrechen, mit einem Wort, um eine menschliche Katastrophe. Und ihre Ermittlungen verfolgten auch das Ziel, den Hinterbliebenen die Möglichkeit zu geben, den Verlust zu verarbeiten.

Unterhalb der Alm breitete sich eine Wiese in sanfter Hanglage aus, auf der Kühe weideten. Links von der Hütte stand ein kleiner Stall mit einem Zaun davor. Vor der Hütte standen drei lange Tische, von nicht minder langen Bänken eingefasst. Allerdings trieften sie vor Nässe. Über der geschwungenen schwarzen Klinke war ein Fenster in die Tür gelassen, das aus vier bunten Gläsern bestand. Matteo ließ ihr den Vortritt und das, argwöhnte sie, würde er weiter tun, denn wie hatte er vorhin so schön gesagt: „Dein Fall, Sonja.“

Ein drahtiger junger Mann im Alter von Anna Sonnleitner mit gebräuntem Gesicht, einer Hakennase und verwegenen blaugrünen Augen servierte in der Stube gerade zwei Wanderern Wasser, Wein und ein Speckbrettl. Ein jungenhafter Charme ging von ihm aus. Neben der Tür zur Küche gab es eine Holztheke, davor standen sieben Tische, von denen vier besetzt waren. Jetzt fiel sein Blick auf die Ankömmlinge.

„Griaß enk, hockts enk nieder. Ich bin glei bei enk.“

„Herr Sonnleitner?“

„Ja“, der amtliche Ton irritierte ihn.

„Wir würden gern mit Ihnen reden.“

Sein Gesicht wurde frostig. „Dann gehen wir am besten raus.“ Sonnleitner öffnete die Tür und stellte sich neben die Hütte, um auf seine Wiese und seine Kühe zu schauen. Das beruhigte ihn. Sonja und Matteo folgten ihm.

„Seids vom Finanzamt?“, fragte er, ohne sie anzuschauen.

„Nein, Kripo Bozen, ich bin Commissario Schwarz, das ist mein Kollege Matteo Zanchetti.“ Überrascht wandte er sich ihnen zu. Er sagte nichts, dafür brüllten seine erstaunten Augen die Frage: „Kripo?“

„Herr Sonnleitner, Ihre Frau …“

„Holt gerade die Kinder ab.“

„Nein, leider nicht. Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass sie tödlich verunglückt ist.“

„Ihr Deppen wollts mich über die Wiesen jagen. Zeigts mal eure Ausweise her.“ Sonja holte ihren Dienstausweis heraus und hielt ihn dem Mann hin, doch der schaute nicht drauf, sondern ließ sich auf seinen Hosenboden fallen und saß nun mit ausgestreckten Beinen wie ein etwas zu groß geratener Dreijähriger auf dem schlammigen Boden. Sonja beugte sich zu ihm hinunter.

„Wer ist denn in der Küche?“

„Meine Mutter“, antwortete der Wirt tonlos.

„Ich geh zu ihr“, sagte Matteo.

Er starrte nur kopfschüttelnd vor sich hin, der Sonnleitner Andi. Und es war nicht ganz klar, ob er es nicht verstehen konnte oder nicht verstehen wollte, dass seine Frau umgekommen war. „Wie … sie ist doch eine gute Autofahrerin? Viel besser als ich.“

„Der beste Fahrer hätte da nichts ausrichten können. Unterhalb der Goswand ist ein Auto in einer Kurve in den Wagen Ihrer Frau gefahren und hat ihn von der Straße geschoben.“

„In den Abgrund“, entfuhr es ihm tonlos. Er sah sie immer noch nicht an und stierte weiter geradeaus. Er wirkte, als kannte er die Stelle und hatte sie jetzt vor seinem geistigen Auge. „Wieso Kripo, wenn’s ein Unfall war?“

„Der Unfallgegner hat Fahrerflucht begangen. Hätte er den Unfall gemeldet, hätte Ihre Frau gerettet werden können.“

„Das Schwein!“

„Wir kriegen ihn!“

Sonnleitner bedachte sie mit einem langen Blick. „Tun Sie das?“

„Warum war Ihre Frau in den Bergen?“

„Sie arbeitet halbtags im Hotel, weil die Alm noch nicht genügend abwirft. Und dann ist da noch der Kredit. Und die Steuern. Und der ganze Scheiß! Nach der Arbeit holt sie die Kinder von der Schule. Den Hermann und die Dorothea. Aber dienstags hat der Hermann etwas länger und die Doro kann in den Hort gehen, da nutzt die Anna gern die Zeit, um Beeren und Pilze zu sammeln. Deswegen war sie auf dem verfluchten Weg.“

„Sie sollten aufstehen.“

„Aufstehen?“ Die Frage klang so, als ob ihm gar nicht bewusst war, dass er saß.

„Ja.“

Sonnleitner erhob sich mechanisch. „Es war immer unser Traum, so eine Hütte zu bewirtschaften. Schon in der Schule, im Studium, wir kennen uns doch schon ein Leben lang, seit der neunten Klasse … ich meine, wir waren doch füreinander bestimmt …“ Als ob sich etwas gelöst hatte, ein Damm gebrochen war, schossen jetzt Tränen aus seinen Augen und er trommelte mit beiden Fäusten gegen die Hüttenwand. Dann ließ er die Fäuste sinken, die er aber immer noch geballt hielt.

„Hatte Ihre Frau Feinde?“

„Feinde?“

„Wir müssen in alle Richtungen ermitteln.“

„Die Anna doch nicht!“

„Und Sie?“ Er schüttelte nur den Kopf. „Bis auf das Finanzamt wüsste ich keinen.“

„Wie sind Sie an die Hütte gekommen?“

Und da erzählte ihr Sonnleitner, dass er ökologischen Landbau studiert und dann beim Südtiroler Umweltverband ein Praktikum absolviert hatte. Eines Tages hatte ihn der Vorsitzende des Verbands, Hermann Bichler, auf die Almhütte hingewiesen, die ökologisch und mit Produkten aus der eigenen Produktion und von Biobauern aus der Umgebung bewirtschaftet werden sollte. „Er half uns beim Kredit. Besorgte sogar noch eine kleine Förderung. Ist ein guter Typ, der Bichler Hermann. Aber die Alm, das war unser Traum, und so haben wir zugegriffen, auch wenn wir dafür hart arbeiten müssen. Aber es geht, meine Mutter hilft und sogar die Kinder packen mit an.“ Er griff sich an den Kopf. „Die Kinder, ich muss ja die Kinder abholen.“

„Kann Ihre Mutter Auto fahren?“ Sonnleitner nickte. „Dann fährt am besten sie und Sie kümmern sich um die Gäste. The show must go on. Sie hätte es nicht anders gewollt.“

„Woher wissen Sie das? Sie haben die Anna doch gar nicht gekannt.“ Er schüttelte den Kopf, doch dann schaute er sie plötzlich mit großen Augen an, in denen die Panik wuchs: „Wie soll ich das den Kindern sagen?“

„Ich weiß es nicht, Herr Sonnleitner.“

„Wie sagt man Kindern, dass sie keine Mutter mehr haben?“

„Ich weiß es nicht.“ Sonja griff in ihre Jackentasche und holte eine Visitenkarte heraus. „Rufen Sie an, jederzeit, wenn Sie mir noch etwas sagen wollen, wenn Sie das Bedürfnis verspüren, wenn ich Ihnen helfen kann. Rufen Sie an. Ich kriege den Schuft, verlassen Sie sich drauf!“

Aus der Tür trat eine kleine dralle Frau mit weißen, wilden Haaren, die sie zu einem Dutt hochgesteckt hatte. Andi Sonnleitner und sie schauten sich einen Moment in die Augen, dann rief sie ihm harsch zu: „Die Gäste warten, die einen wollen zahlen, die anderen noch Wein. Ich hol die Kinder.“ Sonnleitner nickte und ging mechanisch wie eine Gliederpuppe von fremder Hand geführt in die Wirtschaft zurück, vorbei an Matteo, ohne ihn anzusehen, während seine Mutter sich in den Suzuki setzte und losfuhr.

Zwischen Matteo und Sonja herrschte Stille, schweigend gingen sie zum Auto und brachen auf. Sonja war nicht in der Lage, etwas zu sagen, und auch Matteo verspürte keine Lust auf ein Gespräch. Ihr kam in den Sinn, was Jonas heute Morgen gesagt hatte: Gott muss sich wohl auf einer Bergwanderung verirrt haben und fehlte dann, als man ihn am nötigsten brauchte. Stumm starrte sie aus dem Fenster und ließ die Landschaft an sich vorbeifliegen. Sie dachte an die Tochter und an den Sohn und an den Vater, der nun mit allem allein zurechtkommen musste. Manchmal war das Schicksal ein mieser Schurke.

Fünf

Noch schien in Bozen die Sonne, aber den Himmel überzogen so gemächlich wie unaufhaltsam weißgraue Wolken und ein Lüftchen kam auf, das die Gelassenheit der Siesta zu stören begann. Laura, vor sich einen Latte Macchiato, warf einen prüfenden Blick schräg nach oben und einen missmutigen auf ihre Uhr. Sie saß vor den Kolonnaden eines roten Hauses am Walther-von-der-Vogelweide-Platz am Tisch eines Cafés, das sich so weit auf den Platz vorwagte, wie es gerade noch von der Polizei toleriert wurde, angelte das Handy aus ihrer Hosentasche und wählte die Nummer ihrer Mutter, wobei sie die Mundwinkel nach unten verzog. Die Außenplätze des Cafés waren ausnahmslos besetzt. Sollte es zu regnen beginnen, würde sich das bald ändern, einige sehr vorsichtige oder vorausschauende Gäste zogen bereits ins Innere um, um sich drinnen die besten Plätze zu sichern.

Wieder erreichte Laura nur die Mailbox, was ihren Ärger erhöhte. Sie verzichtete darauf, die fünfte Ansage zu machen, und steckte resigniert das Handy wieder ein. Als sie aufschaute, stand ihre Mutter gehetzt vor ihr. Am liebsten hätte sie Laura in diesem Moment umarmt, und zugleich fühlte sie sich schuldig für das Glück, das sie mit ihrer Familie besaß.

„Mann, Mama, weißt du, wie lange ich hier schon auf dich warte!“, stöhnte Laura mit unüberhörbarem Vorwurf in der Stimme.

Sonja setzte sich ihrer Tochter gegenüber. „Tut mir leid.“

„Mir auch“, patzte sie weiter, zumal sie ja nicht zum ersten Mal warten musste. Das Mädchen beschloss, ihre Mutter zappeln zu lassen, so schnell wollte sie ihr nicht vergeben. Es sollte sie etwas kosten.

„Einen Espresso doppio“, bestellte Sonja bei dem smarten Kellner, der auf sie zusteuerte. Dann wandte sie sich wieder ihrer Tochter zu. „Ich kann nichts dafür.“

„Stimmt, schuld bin ich.“

„Nein, natürlich nicht, aber ich auch nicht!“ Sonja schaute ihre Tochter versöhnlich an und streckte die rechte Hand nach ihr aus, doch Laura zog ihre ruckartig und schmollend zurück.

„Ach ja. Auch nicht dafür, dass du nicht einmal dein Handy offen hattest? Das macht man so, dafür hat man ein Handy, dass man den anderen informieren kann, wenn man sich verspätet. Soll in normalen Familien so sein.“ Laura lief zur großen Form auf und sie genoss es, ihren ganzen Ärger zu entladen. „Weißt du überhaupt, wie oft ich draufgequatscht habe?“

Sonja griff nach ihrem Handy: „Stimmt, ich habe vergessen, es wieder anzustellen.“ Ihr kam der Streit so überflüssig vor. Sie hatten einander doch.

„Warum lässt du es dann nicht einfach an, wenn du schon so vergesslich bist?“, häufte Laura Vorwurf auf Vorwurf und schaute ihre Mutter mit großen, anklagenden Augen an. Damit überschritt sie eindeutig eine Grenze. Sonja kniff die Augen zusammen. „Weißt du was, Fräulein, jetzt, in diesem Augenblick, wird ein Vater seinem elfjährigen Sohn und seiner achtjährigen Tochter mitteilen müssen, dass ihre Mutter nicht mehr lebt, weil ihr Unfallgegner nicht die Polizei und die Rettung verständigt hat und sie einfach verbluten ließ! Wie soll er das seinen Kindern beibringen, wo er doch selbst nicht weiß, wie er damit umgehen soll, wo es ihm doch selbst das Herz zerreißt! Zumindest wollte ich nicht durch einen Handyanruf dabei gestört werden, als ich dem armen Mann die Nachricht vom Tod seiner Frau überbringen musste. Verstehst du das wenigstens?“ Laura sackte wie von einem Schlag in die Magengrube getroffen in sich zusammen. Sonja konnte ihrer Tochter das schlechte Gewissen ansehen, das sich in ihr ausbreitete. Da tat es ihr leid, dass sie so heftig reagiert hatte. Laura konnte ja nichts dafür und sie hatte sie entgegen ihrer Verabredung tatsächlich warten und im Ungewissen gelassen.

„Entschuldige. Das war unfair.“

„Mh“, antwortete Laura mit einer Träne im Auge.

„Das konntest du ja nicht wissen. Komm, wir trinken jetzt den Kaffee aus und dann suchen wir ein Geburtstagsgeschenk für deinen Vater.“ Sie schnitt das ratloseste Gesicht von der Welt, zumindest hätte sie damit gute Chancen besessen, ins Guinnessbuch der Rekorde aufgenommen zu werden. „Was schenkt man einem Mann bloß zum Vierzigsten? So kurz vor der Midlife-Crisis?“

Die Ironie ihrer Mutter zauberte Laura ein Lächeln auf die Lippen. „Wir werden schon etwas finden.“

„Etwas?“

„Quatsch, natürlich das ultimative Geschenk für den Mann ab vierzig.“

Doch die Suche gestaltete sich schwieriger, als Mutter und Tochter gedacht hatten. Nach zwei Stunden, in denen sie sich durch unzählige Bekleidungsgeschäfte, durch einen Buch- und CD-Laden, durch kleine Galerien gekämpft und nichts gefunden hatten, auf das sie sich einigen konnten, blieben sie auf der Gasse stehen und schauten sich ratlos an. Sonja sah nachdenklich zu einem Weingeschäft hinüber und Lauras Blick folgte dem ihrer Mutter.

„Kaufen wir ihm doch eine Flasche Wein“, meinte Laura sarkastisch.

„Oder zwei“, stimmte Sonja in den Sarkasmus ihrer Tochter ein. Doch dann stieß sie ihre Tochter in einer jähen Eingebung an: „Komm“, und steuerte auf die Tür des Geschäfts zu.

„Das ist nicht dein Ernst“, stöhnte Laura, die das Ganze bis jetzt für einen Scherz gehalten hatte, und folgte unwillig ihrer Mutter.

„Nein, aber meine Ernestine“, meinte die nur verschmitzt, öffnete die Tür und trat ein. Laura verdrehte die Augen und dachte nur: O Gott, wie peinlich. Zum Glück entdeckte sie keinen Mitschüler oder jemanden, den sie kannte.

Der Händler, rund und strahlend wie ein Baby, lächelte die beiden Frauen so professionell wie aufgeräumt an. Er trug ein weiß-rot kariertes Hemd und Lederknickerbocker. Sonja verkniff sich das Lachen, das sie bestürmte, als ihr plötzlich einfiel, dass man die von einem Haarkranz umschlossene Glatze in ihrer Kindheit respektlos Glatze mit Vorgarten genannt hatte.

„Womit kann ich den Damen helfen? Falls Sie einen Prosecco wünschen, empfehle ich Ihnen, lieber einen guten Winzersekt zu nehmen.“ Seine Stimme klang etwas hoch, aber samtig, sodass Sonja vermutete, dass er die Stimmbänder mit der gleichen Lotion einrieb wie Gesicht und Glatze. Der Händler glänzte, wie sie bald schon merken sollten, tatsächlich in wirklich jeder Beziehung.

„Mein Mann ist Winzer“, entgegnete sie.

„Bedaure, ich habe meine Lieferanten“, wies der Händler sie fast ein wenig traurig ab.

„Keine Sorge, wir wollen Ihnen nichts verkaufen. Wir suchen ein Geschenk zu seinem vierzigsten Geburtstag.“ Einen Moment verharrte der Händler in einer kleinen Ratlosigkeit. „Ihm einen Wein zu schenken, könnte er auch als Kritik an seinen Kreationen auffassen.“

„Deshalb denken wir auch nicht an Wein.“

„Aber er ist leidenschaftlicher Winzer?“ Sonja nickte, das Gesicht des Händlers hellte sich nicht nur auf, sondern es wirkte sogar verschmitzt. „Ich glaube, ich habe etwas für Sie.“ Der Händler entschuldigte sich und entschwand ins Hinterzimmer. Nach gut fünf Minuten kehrte er mit frohem Pfannkuchengesicht zurück.

„In der Tat habe ich etwas für einen passionierten Winzer. Zwei zweihundert Jahre alte Fässer aus slawonischer Eiche.“ Nach dieser Eröffnung lachte er Mutter und Tochter Bewunderung erheischend an. Doch die wetteiferten um die Tiefe der Ratlosigkeit, in die sie versanken.

„Fässer?“, stieß Laura schließlich hervor, als würde ihr in der Wüste eine Gießkanne angeboten.

„Nicht einfach nur Fässer, junge Dame, Geschichte, die Sie trinken können. Damit stellen Sie einen außergewöhnlichen Wein her. So etwas bekommen Sie wirklich selten.“

„Was soll es denn kosten?“, fragte Sonja.

„Das ist es ja, nur fünfhundert Euro.“

Sonja nickte. „Aber mein Mann muss sich die Fässer vorher ansehen!“

„Natürlich. Kein Problem, er wird sie lieben.“

„Okay, dann fahre ich mit ihm und dem Geld in der Tasche zu Ihnen, er überprüft die Fässer und wenn alles in Ordnung ist, bezahle ich und das Geschäft ist gemacht.“

„Perfekt. Allerdings müssen Sie nach Entiklar, zwischen Kurtatsch und Margreid, fahren, zum Weingut Halderer. Ihren Namen hätte ich noch gern gewusst, damit wir die beiden Fässer reservieren können und ich Sie avisiere.“

„Schwarz.“

„Ah, Sie sind die Frau vom Schwarz Thomas. Dann kann ich Ihnen versichern, so wie ich Ihren Mann kenne, haben Sie das schönste Geschenk ausgewählt, das Sie für ihn finden können.“

Der Händler schrieb Adresse und Telefonnummer des Weinguts auf, dann begleitete er sie zum Ausgang, verabschiedete sich, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass ab nächstem Jahr auch Weine ihres Mannes im Geschäft vertreten sein würden.

„Wie lautet Ihr Vorname, gnädige Frau?“

„Sonja.“

„Und Ihrer, junge Dame?“ „Laura.“

„Dann soll er den Wein Sonja e Laura nennen. Und wenn er mir den exklusiv zum Vertrieb gibt, dann drücke ich den Preis für das Fass auf 450 Euro.“

„So soll es sein!“, willigte Sonja ein.

Als sie auf der Straße standen, fiel Laura ihrer Mutter um den Hals. „Das hast du toll gemacht. Hattest du das eigentlich von Anfang an vorgehabt?“

„Nein, aber hin und wieder hilft es, einfach den Ball ins Rollen zu bringen und zu schauen, wo er hinläuft.“

Kaum dass sie ausgesprochen hatte, klingelte das Handy und Laura verdrehte die Augen, was ihr bei der vielen Übung, die sie darin hatte, malerisch gelang. Doch ihre Mutter zog nur die Schultern hoch, während sie nach dem Handy griff.

„Du wolltest doch, dass ich das Handy anlasse“, sagte sie zu ihrer Tochter, dann ging sie ran.

„Ja? Schwarz.“ Die technisch verzerrte Stimme eines Mannes informierte sie, dass die Fahrerin, die den Unfall in Toblach verursacht hatte und dann geflohen war, eine alte Bekannte von ihm wäre, nämlich Charlotte Keller. Dann legte der Mann auf. Obwohl Sonja wusste, dass der Anrufer seine Nummer unterdrückt hatte, schaute sie auf das Display und fand ihre Vermutung bestätigt. Wahrscheinlich hatte er sie ohnehin von einem Prepaidhandy angerufen.

„Was ist los?“, fragte Laura, der die Veränderung im Gesicht ihrer Mutter nicht entgangen war.

„Ein anonymer Anruf, den ich nicht einordnen kann.“ Was sollte Charlotte Keller in Toblach, wo sie ihr Hotel doch in der Nähe des Kalterer Sees führte? Auf der Strecke ging es in die Berge. Und warum rief der Zeuge anonym an? Vielleicht eine Falle? Schließlich hatte ihr Charlotte Keller Rache geschworen, denn ihre Ermittlungen hatten letztendlich dazu geführt, dass ihr Mann zurücktreten musste.

So beschloss sie, sich mit Matteo zu beraten, ehe sie etwas unternahm, denn die Angelegenheit war zumindest heikel.

Sechs

Zur selben Stunde, in der Sonja mit Mann, Tochter und Schwiegermutter frühstückte und Thomas von der Ernte schwärmte, die den Hof aus den Schulden katapultieren würde, nahm Jonas Kerschbaumer liebevoll das Mountainbike aus dem Wagen, setzte den Helm auf, verriegelte die Türen und radelte langsam zum Start der Downhillstrecke. Dort hielt er inne. Sein Blick fiel auf das Schild, das den Verlauf der Route zeigte und die Fahrer ermahnte, aus Gründen des Naturschutzes nicht von der freigegebenen Strecke abzuweichen. Er wusste, dass hier im Frühjahr die Südtiroler Downhill-Meisterschaft ausgetragen werden würde. Auch wenn Jonas sich auf keinen vorderen Platz, schon gar nicht auf einen Sieg Hoffnungen zu machen brauchte, reichte es für ihn erst einmal, dabei zu sein, Wettkampflust zu schnuppern in dem Sport, der ihn aus Trauer, Verzweiflung und Lethargie riss, in die ihn Ludwigs Morde und schließlich der Tod des Bruders getrieben hatten.

Mit allen Poren nahm er die Natur in sich auf, ihre Schönheit, ihre Erhabenheit, und fühlte in diesem Moment Glück. Hatte es gestern noch geregnet, stand heute Morgen die Sonne bereits am Himmel, nicht allzu hoch, wie zu dieser Jahreszeit üblich, aber dafür warm wie eine Umarmung, und ließ die Tautropfen auf den Halmen der Gräser und auf den Blättern glitzern, als wären es zahllose kleine Diamanten.

Einem Ritual folgend prüfte er penibel die Bremsen, die Schaltung, den Sitz des Helms, der Sonnenbrille und der Handschuhe. Jonas genoss den ausführlichen Sicherheitscheck in der Vorfreude darauf, die neue Strecke auszuprobieren, und sog mit beiden Nasenflügeln den erdigen Geruch des Waldes ein. Doch als er gerade starten wollte, raste ein Mountainbiker in einer schwarzen Ledermontur, mit schwarzem Helm und einem schwarzen Bike in halsbrecherisch hoher Geschwindigkeit so dicht an ihm vorbei, dass sie sich beinahe berührten und Jonas erschrak. „Was soll das, Black Beauty“, brüllte er ihm in einem Anfall von Wut hinterher, schüttelte dann aber den Kopf und atmete noch einmal tief ein, um sich nicht die Stimmung verderben zu lassen und wieder ganz eins mit sich und der bevorstehenden Fahrt zu werden. Kaum hatte er Gelassenheit und Freude zurückgewonnen, drang eine kurzatmige, aber wütende Stimme an sein Ohr: „Ihr machts mit eurem Scheiß die ganze Natur kaputt.“ Die Stimme besaß Scheren und Schneiden. Lauter Irre heute Morgen unterwegs, dachte Jonas resigniert.

Er drehte sich um und entdeckte einen vom Aufstieg außer Atem gekommenen jungen Mann mit schwarzen Haaren, Fransenbart und roten Pickeln im Gesicht. Was wollte dieser Ökoajatollah bloß von ihm? Schweiß perlte von dessen Stirn und die kleinen schwarzen Augen, die ihn an einen Spitz erinnerten, glänzten vor Hass. Es ärgerte Jonas, dass ihm die Vorfreude auf diese Tour so beharrlich verdorben werden sollte, erst durch den rabiaten Sportsfreund, dann durch den Naturschutzmessias, sodass er ihn nur anblaffte: „Die Strecke ist zugelassen.“

Das machte den Naturschützer nur noch zorniger, der jetzt unmittelbar vor Jonas stand und dessen Körper geballte und kaum noch zur beherrschende Aggressivität ausstrahlte. „Meinst du, die Pflanzen und Tiere wissen das?“, zischte er.

„Bin ich Jesus? Wächst mir Gras aus der Tasche oder Moos aus den Ohren? Woher soll ich wissen, was die Pflanzen und Tiere wissen?“

„Arschloch! Eure Meisterschaften könnt ihr euch gepflegt an die Kniescheibe nageln, die werden wir schon zu verhindern wissen!“

Jonas wollte mit dem Tier- und Pflanzenschützer nicht weiter streiten. Es lohnte nicht, denn der Fransenbart hatte sich mit seinen Argumenten in einer Feste höherer Moral eingeigelt. Jonas hob sein Fahrrad am Lenker nach rechts, dann fuhr er an dem Aktivisten vorbei. Er konnte es nicht fassen, als ein Stein an ihm vorbeiflog, den der Naturschützer in seiner Wut nach ihm geworfen hatte. Eigentlich hätte er umkehren müssen und den Mann wegen versuchter Körperverletzung verhaften, aber er hatte keine Lust darauf. Statt zu trainieren hätte er nur viel Papier zu beschreiben und am Ende würde der Steinewerfer behaupten, er habe absichtlich vorbeigeworfen.

Wie man es nahm, der Beginn war definitiv verdorben! Jetzt half nur noch, den Körper brutal anzutreiben, um alles Denken abzustellen. Das war es auch, was er an diesem Sport so liebte, er forderte die ganze Kraft und Aufmerksamkeit und ließ keinerlei Möglichkeit, seinen Gedanken zu folgen und mit Erinnerungen zu kämpfen. So trieb er sich an, um die ihm maximal mögliche Beschleunigung zu erreichen.

Er genoss es, seinen Körper zu fühlen, die Anstrengung seiner Muskeln, seiner Bronchien, und schließlich das Rauschen des Blutes zu hören. Der schmale Trail führte Jonas vom Hügel nach unten tief in den Wald hinein, in einem Tempo, das bald zu schnell für seine Fähigkeiten war. Und umso tiefer er in den Wald kam, umso dichter die Kurven aufeinanderfolgten, er seinen ganzen Körper einsetzen musste, in die Pedale treten, bremsen, wieder antreten, umso mehr verdrängte das rasende Herz, das er bis in die Schläfen hörte, jeden Gedanken, auch seinen Ärger. Mountainbike und Fahrer verschmolzen zu einer Einheit. Dort, wo der Trail nicht aus Wurzeln und Steinen, sondern aus lockerem Boden bestand, hatten ihn unzählige Reifenspuren durchzogen wie Striemen eines mit einer neunschwänzigen Katze ausgepeitschten Rückens. Vor ihm stieg eine natürliche Rampe an, die er leichtsinnig mit ungedrosseltem Tempo anging, um schließlich mit dem Rad durch die Luft zu fliegen – ein ungeheures Gefühl. Sein ganzer Körper bestand nur noch aus Adrenalin, kein Gedanke mehr, keine Erinnerung, keine Idee, kein Ludwig und keine Evelyn vor seinem geistigen Auge, keine Befürchtung mehr, weit mehr als alle Freuden dieser Welt, nur noch pures Adrenalin, dem teuersten Stoff der Welt, er könnte süchtig danach werden. Kurz vor dem Aufsetzen blitzte etwas in seinen Augen auf. Instinktiv stieg er so stark auf die Bremse, dass sich das Hinterrad wegdrehte, er im Bruchteil einer Sekunde um sein Gleichgewicht rang, dabei ein Stoßgebet gen Himmel sandte, nicht ins Schleudern zu geraten, und schließlich gerade noch so quer zum Weg und haarscharf parallel zu einem Holzbrett zum Stehen kam. Was er sah, jagte ihm einen ungeheuren Schreck ein, denn er begriff, dass ein sehr fähiger Schutzengel seine Hände über ihn gehalten hatte. Der Bruchteil einer Sekunde hatte über Tod und Leben entschieden. Hätte er das Hindernis nicht rechtzeitig entdeckt, wäre das Mountainbike nicht mehr davor zum Stehen gekommen.

Quer über den Trail lag eine Planke, durch die jemand große Nägel getrieben hatte. Die perfekte Falle, dachte Jonas, denn diese Stahlspitzen würden jeden Reifen zerfetzen. Im entscheidenden Moment war ein Lichtschein auf den Stahl gefallen und dessen Blinken hatte den jungen Polizisten gewarnt. Er atmete schwer aus, dann schaute er betreten zu Boden: Vielleicht existierte Gott ja doch, denn wer hätte sonst in der höchsten Not diesen Lichtstrahl gesandt.

Jonas lehnte das Mountainbike an einen Baum, um sich die Falle näher anzusehen. Mit seinem Handy machte er mehrere Fotos, bevor er sie nach rechts an den Rand des Trails schob, damit sie niemanden mehr gefährden konnte. Als er sich wieder aufrichtete, fiel sein Blick auf die Felswand, die unterhalb der Kurve abfiel. Trail und Fels trennte eine steinerne Rinne, wie wenn sich hier ein Bergbach sein Bett gegraben hatte. Und dort gewahrte Jonas auch den schwarzgekleideten Fahrer, seltsam verdreht in der Felsrinne und zudem in sein Bike verhakt. Jonas stieg pochenden Herzens zu ihm hinunter. Vorsichtig klappte er das Visier des Helms auf. Tote blaue Augen aus einem Jungengesicht starrten ihn an. Er griff nach dessen Gelenk, um den Puls zu fühlen, doch es überraschte ihn nicht, dass er nicht einmal ein schwaches Zeichen bemerkte. Er hielt ihm sein Handydisplay vor Mund und Nase, doch es beschlug nicht.

Der junge Mountainbiker war der erste Tote, den Commissario Jonas Kerschbaumer nach der Leiche seines Bruders sah. Es ging wieder los. Ein Toter löscht den anderen aus. So seltsam es auch anmuten mochte, doch Jonas Kerschbaumer fühlte, dass er wieder im Job zurück war. Alltag. Aus dem toten Bruder begann allmählich ein Fall zu werden, den abzuschließen ihm eines Tages gelingen würde. Der Polizist erhob sich und rief seinen Vorgesetzten an.

Sieben

Der Anruf platzte in Sonjas Beratung mit dem Capo hinein. Mit einem Blick auf das Display ging er ran, grüßte kurz, dann hörte er Jonas zu.

„Okay, bleib vor Ort. Ich informiere Gemeindepolizei, Spurensicherung und Heidi Grüner. Sonja ist schon auf dem Weg zu dir!“ Dann legte er auf und zog damit Sonjas fragenden Blick auf sich.

„Wohin bin ich schon unterwegs?“

„Toter Radfahrer auf der Downhillstrecke vom Piz de Plaies! Fahr hin, ich statte in der Zeit Charlotte Keller einen Besuch ab“, erklärte Matteo Zanchetti. Sonjas Gesicht drückte nur Ratlosigkeit aus: „Piz de Plaies, wo um alles in der Welt liegt das denn?“

Matteo zuckte nur mit den Achseln. „Schau ins Navi. Oder besser, du nimmst Peter Kerschbaumer mit, der kennt die kürzesten Wege.“

Zehn Minuten später saß sie neben dem alten Polizisten, der entgegen seines Temperaments mehr als zügig fuhr.

„Willst du Matteo Konkurrenz machen?“, stichelte Sonja.

„Ich hab dem Jungen immer wieder gesagt, dass er die Finger von dem Downhillkram lassen soll“, schimpfte er sichtlich erregt.

„Es hilft ihm“, wandte Sonja ein.

„Hilft es ihm auch, wenn er tot ist?“ Peter Kerschbaumer hatte sich verändert, er war nach dem Tod seines Sohnes sichtlich gealtert. Die Konturen seines Gesichts wurden scharfkantiger. Auch hatte er abgenommen, aber nicht in gutem Maße. Es war der Kummer, der an ihm fraß.

„Hast du Capo Burger getroffen?“

„Noch nicht, wir sehen uns morgen zur privaten Psychotherapie. Fein ausgedacht, Sonja“, brummte Kerschbaumer in einer Art, die Sonja nicht verriet, wie er darüber dachte.

„Ach Peter, der Mensch muss reden.“

Sie spürte bei ihm die Andeutung eines Lächelns. „Auch wenn er Polizist ist?“

„Dann erst recht.“

Nach einer knappen Stunde Fahrt, in der jeder weitere Versuch eines Gesprächs an Kerschbaumers Einsilbigkeit zerschellte, jagten sie bereits die Serpentinen hinter St. Vigil zum Piz de Plaies hinauf. Der alte Polizist lenkte das Fahrzeug auf einen kleinen Parkplatz, auf dem bereits ein Wagen der Gemeindepolizei, der Carabinieri und das Auto seines Sohnes standen. Ohne auf Sonja zu warten, stieg Kerschbaumer senior aus und rannte zur Strecke. Der Gemeindepolizist hielt ihn nicht auf, weil er die Uniform sah. So schnell hatte Sonja ihn noch nie gesehen. Sie hingegen zog es vor, den Ausweis zu zeigen und sich kurz informieren zu lassen, dann folgte sie ihrem Kollegen, allerdings im normalen Tempo. Sie hatte keinen Grund zur Eile. Eigentlich schade, dachte sie unterwegs, dass ein so schöner Pfad für Wanderer zum Sicherheitsrisiko wurde angesichts des Tempos, mit dem die Radfahrer die Strecke herunterrasten. Der sich zwischen Bäumen schlängelnde Pfad strahlte etwas Mystisches aus. Eine verborgene Welt voller verstecktem Leben. Das beharrliche Klopfen eines Spechts heiterte sie auf. Die bunten Blätter glühten im Licht der Septembersonne. Das Gefühl von Reife und Ernte breitete sich in ihr aus und sie verstand angesichts dieses Paradiessteiges den Konflikt zwischen Radfahrern und Wanderern und ertappte sich dabei, dass ihre Sympathie den Wanderern zuneigte.

Unterhalb der Rampe angekommen, warf sie einen Blick auf die mit Nägeln gespickte Planke. Und schüttelte den Kopf. Das ging eindeutig zu weit.

„Da hat einer ganze Arbeit geleistet“, kommentierte ein Carabiniere.

„Vor allem steckt da sehr viel Hass drin“, sagte sie mehr zu sich als zu dem Polizisten, nickte ihm noch einmal zu, bevor sie vorsichtig zur Felsrinne hinunterkletterte, denn Moos und Blätter waren nach dem Regen glatt, nur um in einen Streit zwischen Kerschbaumer senior und Kerschbaumer junior zu geraten.

„Sieh es endlich ein, ich will dich doch nicht auch noch verlieren!“, flehte Peter Kerschbaumer seinen Sohn an, der sich abwandte.

„Können die Herren ihre Meinungsverschiedenheit nach Dienstschluss austragen? Wir befinden uns nämlich an einem Tatort!“, herrschte Sonja die beiden Männer an und befahl dann: „Peter, du schaust mal, wo Heidi Grüner bleibt! Komm nicht ohne sie zurück!“ Grummelnd zog der Polizist ab. Endlich konnte sie sich in Ruhe der Leiche widmen.

„Der Reifen platzte …“, versuchte Sonja den Unfallhergang zu rekonstruieren.

„… er kam ins Schleudern und stürzte mit dem Rad in die trockene Rinne und gegen den Felsen …“

„… und brach sich bei der Gelegenheit vermutlich das Genick.“ Mit einem Blick auf die Mountainbikermontur, die ihr Kollege trug, verstand sie plötzlich die Erregung seines Vaters. „Es hätte auch dich treffen können.“

Jonas atmete schwer aus. „Hätte es auch beinah. Ich habe die Falle noch im letzten Moment wahrgenommen. Sag es aber nicht meinem Vater, der bekäme einen Herzkasper.“ Dann schüttelte er lachend den Kopf. „Weil ein Sonnenstrahl von den Stahlnägeln reflektiert wurde und weil ich wohl nicht so schnell war wie er.“

„Woher weißt du das?“

„Als ich losfahren wollte, ist er rücksichtslos an mir vorbeigeschossen. Er fuhr sehr aggressiv.“

„Macht ihr das nicht alle?“

„Ja, nein, bei ihm war es aber weit über das übliche Maß hinaus.“

„Wissen wir, wer der tote junge Mann ist?“

„Ja, der Gemeindepolizist da oben kennt ihn. Johann Falkenstein, zweiundzwanzig Jahre alt, führt nach dem Tod seines Vaters den Berghof der Familie.“

„Teure Ausrüstung für einen jungen Bergbauern.“

„Könnt ich mir nicht leisten“, kommentierte Jonas kleinlaut. „Das ist die Ausrüstung eines Profis in Spitzenqualität, übrigens auch das Rad.“

„Vielleicht hat er ja einen Sponsor.“