Der brennende See - John Düffel - E-Book
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Der brennende See E-Book

John Düffel

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Beschreibung

Hannah, Tochter eines Schriftstellers, kehrt nachdem Tod ihres Vaters in die Stadt ihrer Kindheit zurück. An seinem Erbe ist sie wenig interessiert. Doch als Hannah erste Schritte unternimmt, die Wohnung des Verstorbenen aufzulösen, findet sie an seinem Totenbett das Foto einer Unbekannten. In der flimmernden Hitze eines erneut rekordverdächtig trockenen Aprils begibt Hannah sich mit diesem Bild auf Spurensuche. Bald muss sie erkennen, dass nicht nur die vertraute Landschaft ihrer Kindheit sich in Staub und Rauch auflöst. Alle Bilder der Vergangenheit entgleiten ihr, das ihres Vaters nicht zuletzt. Als sie dann auf die Fridays-for-Future-Aktivistin Julia stößt, die sich in ihrem Kampf um Klimagerechtigkeit auf fragwürdige Weise radikalisiert hat, muss sie feststellen, dass ihr Vater dieser jungen Frau am Ende näher stand als ihr. Womöglich ist sie sogar die wahre Tochter des Schriftstellers ... Ein Roman über eine Generation zwischen den Generationen: zwischen den Erblasten der Vergangenheit auf der einen Seite und einer sich rasant verändernden Zukunft auf der anderen.

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Seitenzahl: 440

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Hannah, Tochter eines Schriftstellers, kehrt nach dem Tod ihres Vaters in die Stadt ihrer Kindheit zurück. An seinem Erbe ist sie wenig interessiert. Doch als Hannah erste Schritte unternimmt, die Wohnung des Verstorbenen aufzulösen, findet sie an seinem Totenbett das Foto einer Unbekannten. In der flimmernden Hitze eines erneut rekordverdächtig trockenen Aprils begibt Hannah sich mit diesem Bild auf Spurensuche. Bald muss sie erkennen, dass nicht nur die vertraute Landschaft ihrer Kindheit sich in Staub und Rauch auflöst. Alle Bilder der Vergangenheit entgleiten ihr, das ihres Vaters nicht zuletzt. Als sie dann auf die Fridays-for-Future-Aktivistin Julia stößt, die sich in ihrem Kampf um Klimagerechtigkeit auf fragwürdige Weise radikalisiert hat, muss sie feststellen, dass ihr Vater dieser jungen Frau am Ende näher stand als ihr. Womöglich ist sie sogar die wahre Tochter des Schriftstellers … Ein Roman über eine Generation zwischen den Generationen: zwischen den Erblasten der Vergangenheit auf der einen Seite und einer sich rasant verändernden Zukunft auf der anderen.

© Katja von Düffel

John von Düffel wurde 1966 in Göttingen geboren, er arbeitet als Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und ist Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Seit 1998 veröffentlicht er Romane und Erzählungsbände bei DuMont, u.a. ›Vom Wasser‹ (1998), ›Houwelandt‹ (2004), ›Wassererzählungen‹ (2014) und zuletzt ›Das Klassenbuch‹ (2017). Seine Werke wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem aspekte-Literaturpreis und dem Nicolas-Born-Preis.

John von Düffel

Der brennende See

Roman

Von John von Düffel sind bei DuMont außerdem erschienen:

Vom Wasser

Zeit des Verschwindens

Ego

Houwelandt

Hotel Angst

Beste Jahre

Wovon ich schreibe

Goethe ruft an

Wassererzählungen

KL – Gespräch über die Unsterblichkeit

Klassenbuch

eBook 2020

© 2020 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: Arev Hambardzumyan/Alamy Stock Foto

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-7007-3

www.dumont-buchverlag.de

Für

»Der Bellandursee ist die apokalyptische Sehenswürdigkeit von Bangalore: Das größte Gewässer der Stadt ist so verschmutzt, dass die Chemikalien und Abfälle darin immer wieder Feuer fangen. So im Februar, dann wieder im Mai. Zwölf Stunden lang loderten die Flammen, und Rauch stieg über der Stadt auf. Indiens drittgrößte Stadt, eigentlich bekannt als Silicon Valley des Landes, macht einem neuen Namen alle Ehre: Bangalore, Stadt der brennenden Seen.«

spiegel.de, 10.6.

TEIL I

1

Bei einer Durchschnittstemperatur von 18° Celsius klettert das Thermometer auf Tageshöchstwerte von bis zu 25°. Nachts Abkühlung auf 8° bei klarem, wolkenlosem Himmel. Tagsüber viel Sonne, gelegentlicher Durchzug leichter Wolkenfelder. Schwacher bis mäßiger Wind aus westlichen Richtungen. Regenwahrscheinlichkeit unter zehn Prozent.

Drei-Tages-Prognose vom 21. bis 24.April

Reisen mit leichtem Gepäck war eine Gewohnheit, die sie von ihrem Vater übernommen hatte – eine der wenigen, für die sie sich nicht schämte. Hannah saß im Zug, dicht gedrängt zwischen Fahrgästen, Rollkoffern, Reisetaschen, ihren Rucksack auf den Knien, und wartete auf den Moment, in dem sie aufstehen und sich zum Ausgang durchschlängeln würde. Ihr Vater hätte in dieser Lage gelesen. Sie las nicht, sondern schaute an ihrer Sitznachbarin vorbei aus dem Fenster. Draußen zog das vertraute flache Land vorbei, das sie als Mädchen hingenommen hatte, um es später zu hassen und noch später lieben zu lernen in seiner Ausgestorbenheit. Was sie früher als endlose Ödnis empfunden hatte, erschien ihr jetzt wie eine Wahrheit, die sie verstand.

In die Gegend war sie bisher nur gefahren, um ihren Vater zu besuchen, heute fuhr sie diese Strecke, weil er nicht mehr da war. Es gab viel zu regeln nach seinem Tod. Und eine Spur der Abwesenheit, die sie in seiner Wohnung erwartete, schien sich aufzutun in der Weite über den Wiesen, den Entfernungen von Hof zu Hof, in dem unübersehbar leeren Raum zwischen Himmel und Erde. Diesmal besuchte sie niemand.

Es war nicht mehr dieselbe Reise und vermutlich ihre letzte in diese Landschaft. Das Grün hinter den von Sonne gesprenkelten Scheiben wirkte weniger satt und saftig als sonst. Über den Feldern schwebte in dünnen Schwaden Staub, so als wäre die Erde eine Wolke und der Himmel fest. Sogar die Entwässerungsgräben, die sich wie Gitter durch die Wiesen und Weiden zogen, waren ausgetrocknet und lehmig braun oder mit Unkraut statt Wasser gefüllt. Wieder hatte es den ganzen Monat nicht geregnet.

Was ihr Vater dazu gesagt hätte, konnte Hannah sich vorstellen und wandte den Blick ab. Sie wollte den Gedanken nicht zu Ende denken. Früher war es ihr peinlich gewesen, wenn jemand zu ihr sagte, dieser oder jener Satz hätte von ihrem Vater sein können. Das reichte, um sie zum Schweigen zu bringen. Der Satz mochte noch so wahr und richtig sein, sie fühlte sich widerlegt, weil seine Wahrheit ihr wie etwas Vererbtes vorkam, für das sie nichts konnte. So als hätte sie keine eigene.

Mittlerweile begegnete sie kaum noch Leuten, die sich an ihren Vater erinnerten. Er hatte sich völlig zurückgezogen die letzten Jahre und war verstummt. Schon lange hatte sie niemand mehr auf Sätze hingewiesen, die nach ihm klangen. Doch sie ertappte sich selbst dabei und stellte Ähnlichkeiten fest, die sie vor sich weder verbergen konnte noch wollte. Peinlich war ihr das schon lange nicht mehr, sie erschrak nur manchmal über sein Spiegelbild in ihren Gesten und Gedanken, seit er tot war.

Doch sie reiste, wie er reiste, mit leichtem Gepäck. Das hatte sie immer an ihm gemocht. Selbst auf großen Fahrten, Schiffsreisen, Langstreckenflügen war er meist nur mit seinem Rucksack unterwegs gewesen. Es gab Bilder von ihm, wie er über eine Gangway lief oder einem Terminal zustrebte, verblasste Schwarz-Weiß-Fotografien, die sie sich früher immer wieder angesehen hatte, weil ihr Vater darauf wirkte wie ein Schuljunge, der mit einem Ranzen auf dem Rücken in die weite Welt zog. Es gab sogar einen Satz, der ihm nachgesagt wurde, auch wenn er ihn vielleicht nie gesagt hatte, dass er für eine Reise nur sein Schwimmzeug brauche und ein paar Äpfel Proviant. Ihr Vater hatte immer einen Apfel dabei. Und wenn er wiederkam, waren die Äpfel alle und sein Schwimmzeug nass. Von jeder seiner Reisen kehrte ihr Vater mit weniger zurück. Und schon als Kind glaubte sie zu verstehen, dass dieses Weniger zu dem Kunststück gehörte, der Leichtigkeit des Reisens, die er sich zur Gewohnheit gemacht hatte, auch wenn das hieß, dass er ihr nie etwas mitbrachte.

Hannah hob ihren halb vollen Rucksack kurz an wie zur Probe und lauschte dem Rattern des Zuges, der über die alte Kanalbrücke fuhr. In den Fenstern verschwand das Land hinter den Parkplätzen und Lagerhallen von Speditionen, Möbelhäusern, Autowaschanlagen, Hinterhöfen und Gebäuderückseiten an den Gleisen zum Hauptbahnhof. Was jetzt kam, kannte sie auswendig.

Noch vor der unvermeidlichen Lautsprecherdurchsage breitete sich Unruhe unter den Fahrgästen aus, so als sei ihnen plötzlich bewusst geworden, wie lange sie stillgesessen hatten. Die ersten fingen an, ihr Gepäck zusammenzuraffen und ihre Mäntel anzuziehen, die vielleicht zur Jahreszeit passten, aber zu warm waren und zu voluminös für das Wetter. Hannah rührte sich nicht. Sie hatte nichts weiter anzuziehen oder zu tragen. Sie reiste mit leichtem Gepäck. Doch sie bezweifelte, dass es ihr auch gelingen würde, mit weniger zurückzukommen und leichter zu gehen, als sie gekommen war.

2

Die Temperatur um 11.45 h beträgt 19° Celsius nach einem Anstieg um sieben Grad in den zurückliegenden vier Stunden. Zu erwartende Tageshöchstwerte um 22° zwischen 13 und 15 h, anschließend nur leichter Temperaturrückgang bis zum Abend bei durchgehend wolkenlosem Himmel.

Tagesprognose 21.April, aktualisiert um 11.47 h

Der Hausmeister wartete bereits vor der Wohnung und meinte zur Begrüßung, sie hätten einander schon einmal die Hände geschüttelt. Hannah nickte eilig und ohne Erinnerung. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken an das, was auf sie zukam. Lieber hätte sie nicht noch einmal gesehen, was ihr Vater alles zurückgelassen hatte, das ganze aufgegebene Gepäck, sondern die Wohnung stattdessen wie einen Sarg behandelt und sämtliche Überreste geschlossen beerdigt oder verbrannt.

Sie stellte ihren Rucksack gleich neben die Eingangstür und hielt sich im Rücken des Hausmeisters, der die Schuhe nicht auszog und den Flur ohne Zögern betrat. In seinem Beruf hatte er vermutlich schon viel erlebt, verwahrloste, vollgemüllte Behausungen, Chaos, Dreck und Gestank. Verglichen damit war hier alles in bester Ordnung. Die Wohnung wirkte fast schon ausgeräumt, spärlich möbliert, wie sie war, und nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Wenig deutete darauf hin, dass hier ein Mensch den Rest seines Lebens verbracht hatte.

Anlässlich der Aufbahrung vor zwei Wochen hatte der Bestatter sie angerufen und gefragt, ob es etwas gäbe, das sie ihrem Vater mit auf den Weg geben wollte. Zuerst hatte sie den Kopf geschüttelt. Die Frage zielte vermutlich auf irgendein Kleidungsstück, ein Lieblingshemd oder einen besten Anzug. Doch in ihren Ohren klang es wie Grabbeigaben nach Pharaonen-Art, das passte nicht zu ihrem Vater. Wer mit leichtem Gepäck reiste, nahm seine weltlichen Güter nicht mit ins Jenseits, auch keins seiner Bücher, um sich auszuweisen als der Schriftsteller, der er war. Also hatte sie Nein gesagt. Damals glaubte sie noch, der Abschied von ihrem Vater könnte so leicht werden wie die Abschiede, die sie von ihm kannte. Ein paar Stunden später hatte sie den Bestatter zurückgerufen. Da wäre doch etwas, das sie ihrem Vater gerne mitgeben würde auf seine letzte Reise, wenn das ginge, einen Apfel.

Ihr Vater wurde mit einem Apfel verbrannt. In der Urne, die beigesetzt wurde, waren seine Asche und die Asche eines Apfels. Hannah war sich sicher, dass ihm das gefallen hätte. Aber es war das Ende der Leichtigkeit, das war ihr jetzt klar.

Der Hausmeister machte einen Bogen ums Schlafzimmer, so als wollte er nicht indiskret sein, musterte Küche und Bad nur im Vorbeigehen und führte sie weiter ins Wohnzimmer. Hannah war froh, dass er sie begleitete. Seine Routine wirkte beruhigend, seine Rücksicht geübt. Gut zu wissen, dass alles, was hier zu geschehen hatte, überall immer wieder geschah und die Dinge ihren gewohnten Gang gingen.

Auf der Balkonseite öffnete er ein Fenster und ließ frische Luft herein. Auch dafür war Hannah ihm dankbar. In der Mitte des Raumes blieb sie stehen und sah sich um. Sie war mehrmals hier gewesen in den vergangenen Monaten, als ihr Vater noch lebte. Jetzt war sie zum ersten Mal in der Wohnung des Toten. Heftiger als bei der Aufbahrung und der Beisetzung auf dem Friedhof empfand sie plötzlich, dass es ihren Vater nicht mehr gab. In der Zwischenzeit, seit ihrem letzten Besuch, hatte der Tote hier gewohnt und alles in Besitz genommen. Er war es, der den Abdruck auf den Polstern hinterlassen hatte und die Mulde in den Sofakissen. Von seinem Hinterkopf stammte der schattengraue, ölige Glanz auf der Lehne. Der Tote war von einem Stuhl zum anderen gezogen und hatte sich die besten Plätze gesucht. Die Flecken auf dem Teppich waren von ihm, so wie die Haare an der Kopfstütze des Fernsehsessels. Man konnte ihn riechen. Der Geruch, der von Bad und Küche herüberzog, war Totengeruch, das Geschirr in der Spüle Totengeschirr.

»Meine Mutter möchte nichts davon«, sagte Hannah, ihre Stimme hallte wider. »Kein Erinnerungsstück.«

Der Hausmeister nickte ohne ein weiteres Wort. Vermutlich wartete er darauf, dass sie weitersprach, doch Hannah hatte nicht die geringste Ahnung, was sie von ihrem Vater behalten sollte, nachdem der Tote alles in seinen Fingern gehabt hatte.

Unwillkürlich sah sie sich nach einem Schreibtisch um, einem Sekretär oder dergleichen. In den letzten Nächten hatte sie immer wieder überlegt, einen Studenten damit zu beauftragen, den Nachlass ihres Vaters zu sichten und zu archivieren, falls sich jemand dafür interessierte. Doch vor dem Fenster stand nur ein schmaler Esstisch ohne Schubladen, und in den Bücherregalen klafften große Lücken. Keine Manuskriptstapel oder Notizbücher, kein alter Laptop oder PC – nichts deutete darauf hin, dass hier, vor dem Tod, ein Schriftsteller gelebt hatte.

Ich habe ihn in dieser Wohnung nie schreiben sehen, dachte Hannah, doch sie erinnerte sich, dass ihr Vater auch damals in ihrem Elternhaus nie am Schreibtisch gesessen hatte, sondern mit dem Tageslicht von Zimmer zu Zimmer gewandert war. Am liebsten schrieb er draußen im Garten, auf der Terrasse, auf Parkbänken oder sogar an Bushaltestellen. Er war ein Reisender, ohne festen Ort, auch zu Hause.

»Gibt es noch einen Abstellraum oder Speicher auf dem Dach, wo mein Vater seine Papiere und den Rest seiner Bibliothek gelagert haben könnte?« Die wenigen Bücher in den Regalen sahen aus wie zerlesen und liegen gelassen in irgendeinem Hotel, nicht der Mühe des Mitnehmens wert.

»Da wäre noch der Keller«, antwortete der Hausmeister bereitwillig und zog einen weiteren Schlüssel hervor. »Wollen Sie mal sehen?«

Ihr blieb nichts anderes übrig.

Während sie das Treppenhaus hinabstiegen und auf eine schwere Eisentür zusteuerten, machte sie sich auf feucht gewordene Umzugskisten gefasst, Bücher mit welligen Einbänden und Stockflecken. Doch der Keller war so trocken und warm wie ein Dachboden im Sommer, und der Verschlag, den der Hausmeister aufschloss, leer. Nur ein Fahrrad lehnte an der Wand, daneben ein Werkzeugkasten, der so verrostet und veraltet aussah, als hätte ihr Vater ihn gleich bei seinem Einzug dort abgestellt, um ihn nie wieder anzurühren.

»Ich hoffe, es fehlt nichts …« Der Hausmeister sah sie halb fragend, halb abwartend an, vermutlich um herauszufinden, ob von ihrer Seite irgendein Vorwurf oder gar eine Beschwerde drohte. Doch Hannah bemühte sich, freundlich zu bleiben und unkompliziert. »Mein Vater hat sich zeit seines Lebens nur mit wenigen Dingen verbunden, und ich verbinde sehr wenige Dinge mit ihm.«

Sie lächelte, aber ihr war zum Heulen zumute.

Das Ausmaß der Leere hatte etwas Befremdendes, und sie war sich nicht sicher, ob sie ihren Vater darin noch wiedererkannte und seinen Drang, immer weniger und wesentlicher zu werden. Es grenzte an Selbstauslöschung, so als hätte sein Verschwinden schon lange vor dem Tod eingesetzt. Als wären seine letzten Jahre nur ein Aufhören gewesen, eine immer größere Annäherung ans Nichts.

Aber wann hatte das angefangen?

Als sie den Kellerraum wieder verließen, drehte sie sich noch einmal nach dem Fahrrad um, einem roten Damenrad ohne Querstange. Ihr Vater war bei seinen Rädern nie wählerisch gewesen, hatte auf Flohmärkten gekauft und genommen, was er kriegen konnte. Hannah wunderte sich nur, dass es im Gegensatz zu dem Werkzeugkasten so aussah, als wäre es noch in Gebrauch.

»Ist außer mir sonst noch jemand hier gewesen in letzter Zeit?« Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihr Vater bis vor Kurzem damit herumgefahren war. »Ich meine, abgesehen von der Putzfrau und dem Pflegedienst?«

Der Hausmeister, der zwei, drei Schritte vor ihr ging, blieb auf halber Treppe stehen und schaute belustigt über die Schulter. »Damenbesuch?«

»Besuch von Damen oder Herren …«

»Ich bin Hausmeister, kein Blockwart«, sagte er, doch das war längst keine bissige Bemerkung mehr, sondern Routinehumor. Sicher hatte er oft mit Angehörigen zu tun, die neugieriger waren, als ihnen zustand.

Sie gingen nicht noch einmal zurück in die Wohnung. Hannah hatte genug gesehen und folgte dem Hausmeister auf den Vorhof, wo sie ihr Gesicht einen Augenblick lang in die Sonne hielt. Die Strahlung hatte schon Kraft, die frische Luft tat gut nach dem Staub. Hannah atmete auf, ohne dass sich etwas löste. Es war, als sei ihr in der Leere dieser Räume eine Frage begegnet, für die sie noch die richtigen Worte finden musste. Und es war klar, dass ihr niemand dabei helfen konnte.

Der Hausmeister reichte ihr die Visitenkarte eines Umzugsunternehmens, das er für empfehlenswert hielt. An dem Wort »Umzug« blieb sie kurz hängen, weil es ihr manchmal so vorkam, als sei ihr Vater nicht tot, sondern nur nach unbekannt verzogen. Dann las sie im Kleingedruckten den Hinweis: »spezialisiert auf Haushaltsauflösungen und Zwischenlagerungen«.

Sie könne sich ein paar Tage Zeit nehmen, Bedenkzeit, die Miete für den Monat sei ja schon bezahlt, hörte sie den Hausmeister sagen. »Warm«, fügte er hinzu und drückte ihr die Schlüssel in die Hand. Die Schlüssel zur Wohnung des Toten.

Weil sie nicht wusste, was sie dazu sagen sollte, fragte Hannah nach einem Hotel in der Nähe, nicht zu trist, nicht zu teuer, und bekam zwei, drei Namen genannt. Doch dem Hausmeister war anzumerken, dass er fand, sie könne ebenso gut hier übernachten – ein Gedanke, der ihr völlig abwegig erschien.

»Wird schon«, sagte der Mann wie aus Erfahrung. Vielleicht hatte er es auch nur eilig und musste zum nächsten Termin. Das Leben ging weiter.

Er hatte sich schon verabschiedet, als ihr doch noch eine Frage einfiel. »Hat eigentlich das Schwimmbad schon geöffnet, das Sport- und Freizeitbad hinter den Fußballplätzen?«

Sie hatte nicht wirklich vor, jetzt schwimmen zu gehen. Es war nur das, was ihr Vater getan hätte, seine feste Gewohnheit, wenn er irgendwo ankam. Er ging nach jeder Reise immer und überall zuerst ins Wasser.

Der Hausmeister blinzelte gegen die Sonne und ein bisschen zu ihr, so als wüsste er, dass sie ihn nur aufhielt, um nicht allein zu sein mit der Leere hinter der Wohnungstür.

»Ihr Vater ist immer in den See gegangen, zu jeder Jahreszeit«, sagte er dann und hob kurz die Hand für einen zweiten Abschied. Damit hatte er sich verraten. Offenbar kannte er ihren Vater besser als ein Hausmeister einen Mieter kennen musste. Vielleicht sogar besser als sie.

3

Hinweis für Allergiker: starke Belastung durch Birken- und Gräserpollen. Aufgrund erhöhterUV-Werte wird Menschen mit empfindlicher Haut empfohlen, sich nicht übermäßig der Sonne auszusetzen oder entsprechende Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.

Pollenflugvorhersage vom 21.April, aktualisiert um 12.31 h

Die Reifen hätten etwas mehr Luft vertragen können. Die Kette knirschte jedes Mal bedenklich, wenn sie kräftiger in die Pedalen trat, aber sie kam voran. Hannah hatte die Wohnung nicht noch einmal betreten, sondern nur im Keller vergeblich nach einer Luftpumpe gesucht und sich dann entschieden, das Fahrrad nach Flohmarktmanier so zu nehmen, wie es war. Auch sie wollte nicht wählerisch sein, sie wollte zum See.

Im Gegensatz zu ihrem Vater hatte sie kein Schwimmzeug dabei. Nie wäre sie vor dieser Reise auf die Idee gekommen, dass sie es brauchen könnte. Doch nach der Leere und Unpersönlichkeit seiner Wohnung schien ihr der Lieblingssee ihres Vaters als der einzige Ort und Schwimmen als die einzige Möglichkeit, ihm nahe zu sein. In die verwaisten Zimmer konnte sie nicht zurück.

Die Sonne brannte fast schon hochsommerlich. Egal, wie kalt das Wasser sein mochte, Hannah würde nach dem Schwimmen schnell wieder warm und trocken werden, auch ohne Handtuch. Sie ließ die Häuserreihen hinter sich und erreichte den Stadtrand. In den letzten Jahren war sie mit ihrem Vater ein paar Mal hier spazieren gewesen und kannte die Gegend, die wie überall war. Wiesen, Zäune, Entwässerungsgräben, ein kleines Waldstück da und dort, dann wieder Entwässerungsgräben, Zäune, Wiesen. Das Gras neigte sich silbrig, beinahe weiß unter der Sonne. Die Gräben flossen über vor Brennnesseln und Disteln mit lila Blüten. Die wenigen Bäume hatten nicht nur längst ausgeschlagen, sie wirkten erschöpft. Auch hier war der Boden offensichtlich sehr trocken. Von den Wiesen her roch es nach Heu.

Der See kam nicht sofort in Sicht. Wenn man sich ihm näherte, sah es lange so aus, als würde man auf ein weiteres Waldstück zufahren, nur etwas größer und lichter vielleicht. Doch die Anordnung der Bäume hatte etwas Kulissenhaftes, Vorgeschobenes, wie ein Wald ohne Tiefe. Auch die in Reihe stehenden Pappeln passten nicht ins Bild. Und irgendwann verbargen die Bäume das Wasser nicht mehr, seine vage, graublaue Weite, die zwischen den Stämmen aufschien und den Himmel spiegelte.

Ihr Vater hatte das geliebt. Auf ihren Spaziergängen war zu spüren gewesen, wie seine Schritte immer schneller wurden auf diesem Feldweg mit dem sandigen, fest gefahrenen Untergrund, auch als er schon nicht mehr konnte. Alles in ihm lief dem Wasser zu. Er hatte diesen See geliebt und sich beeilt, sein Leben lang. In seiner Liebe war immer eine Art Eile gewesen, bis zuletzt. Wenn Hannah an ihn dachte, sah sie ihren Vater diesen Feldweg zum See hinunterlaufen, als müsste er sich davon überzeugen, dass sich das Wasser nicht zurückgezogen hatte, dass es noch da war und auf ihn wartete wie jeden Tag.

Jetzt schien die Sonne ohne ihn.

Über die Böschung hinweg sah Hannah den Sand in weiter Ferne leuchten, die Sandberge und Abbrüche auf der anderen Seite. Das Ufer gegenüber kam ihr viel heller vor als in der Erinnerung, so als wäre der Sand immer höher und weißer geworden. Der Lieblingssee ihres Vaters war ein Baggersee ohne Namen. Früher sollte an dieser Stelle einmal ein Weizenfeld gewesen sein und später ein Kartoffelacker, all das wenig ergiebig, hieß es. Dann hatte man hier den Sand geholt, und nach dem Sand kam das Wasser. Das in die Landschaft gerissene Loch hatte sich gefüllt und war ein graublauer See geworden. Der karge Boden ringsum wuchs zu, bewaldete sich, und es entstand das unwegsame Ufer, das diesen See zugleich verbarg und offenbarte. Hannah schob das Fahrrad die Böschung hinauf bis zum Rand. Vor ihr breitete sich das Wasser aus, glatt und unberührt, wie mit dem allergrößten Recht. Unvorstellbar, dass es nicht immer so war und so sein würde.

Eine Postkarten-Schönheit war der See nie gewesen. Der ungleichmäßig aufgeschüttete Uferwall war mit Gestrüpp überwuchert und von Trampelpfaden durchkreuzt. Es gab keinen Strand, keine Sandbucht auf dieser dem Kieswerk gegenüberliegenden Seite, nur vereinzelte Badestellen von der Größe einer Picknickdecke neben Brandflecken von Wild-Campern. Die Aschekreise ihrer erloschenen Feuerstellen und der Plastikmüll vom letzten Sommer waren die einzige Unterbrechung in dem rankenden, blütenlosen Grün. Und was wie Wind in den Bäumen klang, war das Rauschen der nahe gelegenen Autobahn, deren Bau die Kiesgrube ihre Existenz verdankte. Für ihren Vater hatte das keine Rolle gespielt, für ihn war all das gar nicht auf der Welt, wenn er wie sie hier oben auf der Böschung stand. Er hatte nur Augen für den See gehabt und ihn nicht geliebt, weil er schön war, sondern weil es ihn gab.

Und weil es der tiefste See war, mit dem klarsten Wasser, wie er zu sagen pflegte, Grundwasser.

Hannah glaubte die Tiefe zu sehen wie einen Schatten, der sich über das Wasser erstreckte und ins Bodenlose fiel. Auch an einem strahlend hellen Tag wie heute war die Oberfläche dunkel, glich nicht einmal einer Fläche, sondern einer Wölbung, gebeugt wie der Rücken von etwas Großem. Was auch immer es sein mochte, es nahm den ganzen See ein, begrub jede Sandbank unter sich und zog alles Seichte zu sich herab, bis nichts mehr da war, nur Schatten von Wasser auf Wasser. Schon nach ein, zwei Metern, das wusste Hannah, würde sie mit ihren Füßen, ihren Zehenspitzen keinen Halt mehr finden und ins Leere treten.

Sie stellte das Fahrrad oben auf der Böschung ab, um sich mit den schlappen Reifen keinen Dorn einzufangen. Der Ständer funktionierte immerhin, doch in dem Ringschloss steckte kein Schlüssel mehr. Es sah aus, als wäre es irgendwann aufgebrochen worden. Erst jetzt, im vollen Sonnenlicht, fiel Hannah auf, wie unpassend rot dies Fahrrad war, knallrot. In den Rahmen, eine Handbreit unterm Sattel, war ein »F« geritzt, womit sie nichts anzufangen wusste. Es gab kein F im Namen ihres Vaters. Vermutlich stammte es vom Vorbesitzer.

Zwischen Brombeerranken und Brennnesseln hindurch bahnte sie sich den Weg zur Einstiegsstelle ihres Vaters. Wenn sie sich richtig erinnerte, war es nicht die nächstgelegene Mulde, sondern der flache Stein weiter unten am Rand. Hannah war lange nicht mehr hier gewesen und noch länger nicht mehr hier geschwommen. Doch je ernsthafter sie daran dachte, ins Wasser zu gehen, desto abweisender wirkte der See. Im Näherkommen spürte sie die Kühle, die aus der Tiefe aufstieg, als käme sie aus einer Art von Nacht. Hannah kannte sie gut von ihrem Vater, seinen Händen, seiner Haut. Bei jeder Begrüßung war es diese Kühle gewesen, die sie gespürt hatte. Immer wenn er von seinen Reisen zurückkam, war er zuerst in den See gegangen und hatte den Geruch von Wasser mit nach Hause gebracht. Eine Zeit lang war sie regelrecht eifersüchtig gewesen auf diesen See, der für ihn an erster Stelle zu kommen schien. Sie hatte es nicht verstanden, und so richtig verstand sie es immer noch nicht. Aber sie war entschlossen, es ihm gleichzutun.

Hannah stellte sich auf den Stein, schob mit dem Fuß die verkohlte Silberfolie eines Wegwerfgrills beiseite und löste ihren BH unterm T-Shirt. Vorsichtshalber schaute sie sich noch einmal um, konnte aber niemanden entdecken, keinen Spaziergänger, keinen Angler, der zwischen Uferbüschen hockte, geschweige denn andere Badegäste. Die Nächte waren noch immer zu kalt und das Wasser zu tief. Wohl deshalb hatte ihr Vater diesen See geliebt, nicht trotz, sondern wegen seiner Kühle und Unnahbarkeit.

Schnell zog sie sich aus und ignorierte das Frösteln, das sie überkam, als sie ihre Sachen auf einen Haufen legte, Schuhe, Gürtel, Hose, T-Shirt. Der Stein unter ihren nackten Sohlen fühlte sich so kalt an, wie der See sein würde. Doch sie versuchte, die vielen kleinen Nadelstiche nicht als feindlich zu empfinden, sondern als ein Kribbeln, das an Wärme erinnerte. Dann tat sie den ersten Schritt. Sofort stand ihr das Wasser bis zum Nabel. Reflexartig riss sie die Arme hoch, wie um sich der Umklammerung zu entziehen, ihr möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, möglichst wenig Haut. Doch das steile Ufer ließ ihr keine Wahl. Hannah stieß sich ab und lachte, lachte die brennende Kälte weg und kraulte drauflos, zuerst mit dem Kopf über der Oberfläche, dann tauchte sie ganz ein und öffnete unter Wasser die Augen. Es war, als könnte sie im Dunkeln sehen.

Dennoch schwamm sie nicht weit hinaus, sondern in einem Bogen parallel zum Ufer, um sich bei einem Krampf oder dergleichen selbst retten zu können. Das rote Fahrrad behielt sie im Auge, es diente ihr als Orientierungspunkt. Sie war noch keine hundert Meter davon entfernt, da erschien eine Frau auf der Böschung, eine jüngere, vielleicht sogar junge Frau mit mittellangen, mittelblonden Haaren. Einen Moment stand sie da und schaute sich um. Hannah konnte ihr Gesicht nicht erkennen wegen des Wassers in ihren Augen, hielt mitten im Zug inne und blinzelte mehrmals, bekam sie aber nicht scharf. Umgekehrt musste sie Hannah im Wasser längst ausgemacht haben, sah aber nicht zu ihr herüber. Stattdessen ging sie vor dem Rad kurz in die Hocke, strich mit der Hand über den Sattel, setzte sich und fuhr los.

»He«, schrie Hannah, »he!«

Doch die Frau auf dem Fahrrad wandte nicht einmal den Kopf. Ihr Gesicht mit dem irgendwie mädchenhaften Profil war von den mittellangen, mittelblonden Haaren verhangen.

»He«, schrie Hannah noch einmal, so laut sie konnte, und schlug mit der flachen Hand aufs Wasser, dass es klatschte. Aber auch das beeindruckte die Fahrraddiebin nicht im Geringsten. Aufreizend langsam radelte sie weiter die Böschung entlang, mit der größten Selbstverständlichkeit, als hätte sie es überhaupt nicht eilig zu entwischen.

Hannah schwamm ein paar Züge hinter ihr her – ein aussichtsloser Verfolgungsversuch, selbst die schnellste Schwimmerin der Welt konnte mit einer Radfahrerin nicht mithalten. Und auch wenn sie auf kürzestem Weg an Land geschwommen wäre, hätte sie ihr über die Böschung hinterherrennen müssen, durch Ranken und Dornen, splitternackt.

»Eine Schwimmerin zu beklauen, ist wirklich das Allerletzte«, rief Hannah ihr nach, »so was von hinterhältig und feige!«

Doch das war es nicht, was sie so wütend machte. Am meisten empörte es Hannah, dass die andere tat, als gäbe es sie gar nicht.

Und dann war sie verschwunden.

4

Zum Abend hin wenig Wetteränderung. Leichter Temperaturrückgang. Nach Sonnenuntergang Werte zwischen 11 und 13° Celsius. Schwachwindig.

Tagesprognose 21.April, aktualisiert um 16.34 h

Die langen Wege der Vergangenheit hatten sich beim Wiedergehen sonst immer als kürzer erwiesen, nur der Rückweg vom See kam Hannah endlos vor. Irgendwo am Uferstein oder zwischen den Ranken hatte sie sich unterm Fuß verletzt, geritzt oder geschnitten, jedenfalls konnte sie nicht mehr normal auftreten. Außerdem hatte sie für einen Feldweg die falschen Schuhe an. Jetzt rächte es sich, dass sie ohne Handtuch losgefahren war und sich tropfnass wieder angezogen hatte. Jeans und T-Shirt klebten an allen möglichen und unmöglichen Stellen. Die Kälte, die sie im Wasser nahezu spielend überwunden hatte, machte sich an Land durch ein erbärmliches Zittern bemerkbar. Erst gegen Ende des Weges ließ es langsam nach.

Von ihrem Fahrrad und der Diebin nirgends eine Spur.

Als Hannah die Wohnung ihres Vaters erreichte, war ihr weder kalt noch warm, sie empfand vor allem eine große Mattigkeit und Leere. Vielleicht war es auch nur das Gefühl, eine Niederlage erlitten zu haben. Die Hotelsuche hatte sich erledigt. Hannahs Unbehagen an der Wohnung war ihrer Erschöpfung gewichen. Nachträglich gab sie dem Hausmeister recht, Miete und Nebenkosten waren schließlich bezahlt. Nur das Schlafzimmer, in dem der Tote gelegen hatte, würde sie nicht betreten. Gleich nach dem Aufschließen schob sie den Schuhschrank im Flur vor die Schlafzimmertür. Danach fühlte sie sich besser. Den Rucksack mit ihrem Zeug deponierte sie im Wohnzimmer neben der Couch, auf der sie zu Lebzeiten ihres Vaters ein paar Mal übernachtet hatte, um im Notfall zur Stelle zu sein.

Durch die fleckigen Fenster schien die Sonne auf einen schlichten Holzstuhl ohne Polster. Ob er ihn ins Licht gerückt hatte oder sie selbst bei ihrem letzten Besuch, wusste sie nicht mehr, dazwischen lag ein Loch aus Zeit. Doch sie schätzte, dass sie es hier im hellsten Zimmer aushalten konnte. Eine hoch aufgeschossene Birke warf sprudelnden Blätterschatten auf den kleinen Balkon hinter der Glastür und auf die graue Auslegware. Einen Augenblick sah sie dem zu. Irgendwie hatte das etwas Tröstliches.

Es war sehr still.

Die Balkontür quietschte, als Hannah sie aufhebelte. Sie hängte ihr nasses T-Shirt übers Geländer und huschte halb nackt ins Bad. Bei ihrem Vater konnte man nicht im Stehen duschen, das hatte sie bei ihren kurzen Besuchen seinerzeit davon abgehalten. Doch nach der Demütigung am See hockte sie sich, ohne zu zögern, in die Wanne. Hannah schraubte eine Weile an den Armaturen, bis Temperatur und Brausestrahl einigermaßen stimmten. Dann ließ sie das Wasser auf sich niederprasseln und vermied jeden Hautkontakt mit dem Duschvorhang.

Der Gedanke, den Fahrraddiebstahl bei der Polizei zu melden und Anzeige zu erstatten gegen unbekannt, erschien ihr mittlerweile noch abwegiger als im ersten Moment. Zum einen war das Schwimmen im Baggersee angesichts der Förderanlage auf der anderen Uferseite allenfalls geduldet, aber nicht gestattet. Zum anderen konnte sie weder einen Erbschein vorweisen noch eine Quittung über den rechtmäßigen Erwerb des Fahrrads durch ihren Vater bzw. den entsprechenden Kaufpreis. Und was den »ideellen Wert« anbelangte: Sie hatte bis heute nicht einmal gewusst, dass dieses Fahrrad existierte, geschweige denn, für wen oder was das F im Rahmen stand.

Hannah drehte mit beiden Händen tastend die Regler zu und verharrte in der Hocke, bis das Wasser so weit aus ihren Haaren abgeflossen war, dass sie die Augen wieder öffnen konnte. Ihre Niederlage schien ihr nach dem Duschen nicht mehr ganz so groß.

Im Badezimmer fand sie genau zwei Handtücher, ein großes und ein kleines, mehr schien ihr Vater zuletzt nicht besessen zu haben. Hannah nahm das kleinere für die Haare und band es zu einem Turban, das große wickelte sie sich um die Brust. Der Spiegel in dem fensterlosen Kachelraum war komplett beschlagen, dabei hatte sie keine fünf Minuten geduscht. Die Lüftung gab ein rachitisches Pfeifen von sich und würde vermutlich noch Stunden weiter vor sich hin rasseln. Zum Glück brauchte sie für den Abend heute kein Make-up. Sie trug nur ihren Duft auf, der ungewohnt wolkig wirkte in der feuchten Luft, und sprühte noch ein paar Spritzer extra in den Wasserdampf, um den muffigen Altherrengeruch zu überdecken, der mit der Feuchtigkeit ebenfalls aufwallte. Dann ging sie und setzte sich auf den Balkon.

Der Blätterschatten war ein kleines Stück weitergewandert. Nachmittagssonne fiel auf ihre Beine, Schultern, ihr Gesicht. Es war der beste Platz, warm, aber nicht zu warm, an der Luft, aber nicht zugig, erhoben, aber durch einen Mauervorsprung vor Wind und den Blicken der Nachbarn geschützt. Hannah vergewisserte sich noch einmal, dass sie nicht zu sehen war, von keiner Seite. Dann legte sie die Füße hoch, spielte mit den Zehen an den Streben des Balkongeländers und versank in dem billigen Korbstuhl-Imitat aus Plastik, das ziemlich durchgesessen war, aber auch ziemlich bequem. Als sie den Kopf zurücklehnte, löste sich ihr Turban, sie ließ es geschehen, ließ ihre Haare in der Sonne trocknen. Im Moment hätte sie nirgendwo anders sein mögen. Am liebsten wäre sie hier sitzen geblieben bis Sonnenuntergang, um das Gefühl zu genießen, dass sie nicht unter Menschen musste.

Ihre Füße hätten schlimmer aussehen können nach der ganzen Humpelei. Nur die Wunde unterhalb der Ferse gefiel ihr nicht: kein sauberer Schnitt, sondern eine Schwellung mit gewölbten Wundrändern, so als wäre da etwas unter der Haut, etwas Dunkles, Spitzes, ein abgebrochener Dorn oder Splitter, nicht sehr tief, nicht sehr groß. Ihr würde nichts anderes übrig bleiben, als die Stelle mit einer Stecknadel aufzubohren und dieses Etwas, was immer es war, schnellstmöglich zu entfernen. Wohl oder übel raffte sie sich auf, auch wenn sie wenig optimistisch war, im Haushalt ihres Vaters ausgerechnet eine Nadel zu finden.

Als sie bei den ersten Schritten vorsichtig über die Ferse abrollte, ging es merkwürdigerweise. Sie lief weiter barfuß über Fliesen, Teppich, Laminat – die Wunde tat nicht weh, auch nicht als sie fester auftrat. Vielleicht war es doch nur ein bisschen Dreck unterm Fuß, der mit der Zeit rauswachsen würde, hoffte sie und traute sich sogar aufzustampfen. Doch leider kannte Hannah diesen Trick des Gehirns nur zu gut. Oft schienen kurz vor einem Zahnarzttermin jegliche Schmerzen wie weggeblasen, um dann, kaum dass sie abgesagt hatte, wieder anzufangen. Es half nichts. Die Wunde musste gesäubert werden. Und wenn sich hier keine Nadel fand, dann würde sie es eben mit einem anderen spitzen Gegenstand versuchen, einer Nagelschere, einem Taschenmesser oder dergleichen.

In dem halb ausgeräumten Bücherregal entdeckte Hannah zwischen vergilbten Wörterbüchern und Nachschlagewerken eine alte Packung Gauloises ohne Filter, die es so nicht mehr zu kaufen gab. Manchmal, an besonders erfolgreichen Schreibtagen, hatte sich ihr Vater eine Filterlose zur Belohnung gegönnt, eine »Siegerzigarette«, wie er sagte. In den letzten Jahren waren seine Siege am Schreibtisch offenbar nicht sehr zahlreich gewesen. Er hatte kaum mehr als acht oder neun Stück geraucht. Die Packung war noch halbvoll. Als Hannah eine Zigarette herausschnippte und daran roch, rieselte der trockene Tabak aus den offenen Enden.

Nicht dass sie einen Grund gehabt hätte, sich zu belohnen, doch die Siegerzigaretten nahm sie trotzdem mit, holte sich Streichhölzer und eine angebrochene Flasche Rotwein aus der Küche. Vor dem Geschirrschrank blieb sie kurz stehen und überlegte, ob es noch zu früh am Tag war für ein erstes Glas. Andererseits hatte sie heute nichts mehr vor, und auf dem Balkon schien, wenn man so wollte, schon die Abendsonne. Vor allem aber musste sie sich Mut antrinken für die bevorstehende Operation. Sie hatte zwar noch immer keine Nadel, doch wenigstens etwas zur Betäubung.

Der Probeschluck schmeckte staubig, sie hätte das Glas vorher ausspülen sollen. Aber der Wein war noch gut und besaß genau die richtige Schwere für eine Gauloises, ihre Bitterkeit und den Geschmack von Salz.

Hannah machte es sich auf dem Balkon wieder bequem, zog einen leeren Blumentopf als Aschenbecher heran und gab sich Feuer. Die ersten Züge rauchte sie halb paffend, halb inhalierend. Doch die Zigarette war nicht so stark oder sie nicht so entwöhnt, wie sie dachte. Ein leichter Taumel überkam sie, wie früher bei der Morgenzigarette vorm Frühstück, dieses Schwindelgefühl, wenn das Nikotin ins Blut schoss. Das hatte sie immer gemocht.

Eine Zeit lang hatten sie und ihr Vater sogar zusammen geraucht, nach dem Abendessen, er seine Siegerzigarette am Ende eines langen Schreibtags, sie die Zigarette vor dem Ausgehen. Es war die Art von Unterhaltung gewesen, die man am besten mit ihm führen konnte, in der Gleichzeitigkeit der Gewohnheiten, erinnerte sich Hannah nicht ohne ein Stirnrunzeln, so merkwürdig erschien es ihr nach all den Jahren. Damals hatte sie mit ihm noch in ihrem »Elternhaus« gewohnt, wo es keinen Balkon gab, aber einen Wintergarten, in dem man zu jeder Jahreszeit sitzen konnte, bei gutem wie bei schlechtem Wetter, zwischen mehr oder weniger grünen Pflanzen. Wenn sie zusammen geraucht hatten, dann immer dort und immer französische Zigaretten – an dieser Gewohnheit hielten sie beide fest. Dabei hatten sie meistens gelesen und nicht viel gesagt.

Heute kam ihr das vollkommen unwirklich vor, nicht nur weil ihr Vater tot war, sondern auch weil es die Person, die sie damals war, nicht mehr gab.

»Vielleicht haben wir auch nicht zusammen geraucht, sondern nur nebeneinander«, sagte Hannah halblaut und blies den Rauch vor sich hin. Doch das war bei ihrem Vater so ziemlich dasselbe und bei ihr eigentlich auch.

Anstatt die Zigarette auszumachen, zündete sie sich an der Glut eine zweite an und sank noch tiefer in den Korbstuhl, sank ein Stück mit der Sonne. Ein Tabakkrümel auf ihrer Zungenspitze machte sich kurz wichtig, dann verschlang sie den Rauch der nächsten Gauloises – langsam kam sie auf den Geschmack. Ihr Vater hätte das nie getan. Für ihn war nach einer Zigarette konsequent Schluss. Seine Gewohnheiten waren im Laufe der Jahre hart geworden, und er hatte ihnen gehorcht wie einem Gesetz, das nur für ihn selber galt und dennoch unabänderlich war.

Bevor sie zur Tat schritt und den Splitter herausoperierte, genehmigte sich Hannah noch ein Glas Wein für die richtige Dosis. Doch sie musste vorsichtig sein. Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen, und der Wein stieg ihr schnell zu Kopf. Also trank sie noch drei, vier Schlucke, stellte das Glas ab und machte sich mit der Zigarette im Mundwinkel erneut auf die Suche. Wen störte es jetzt noch, dass sie in der Wohnung rauchte.

Zurück in der Küche öffnete sie die Besteckschublade, doch das einzige annähernd Brauchbare, was sie finden konnte, war eine Gabel mit langen Doppelzinken, vermutlich für Grillfleisch. Um damit ihr Glück zu versuchen, war sie nicht betrunken genug. Im Bad, wo sie sich nach einem Nagelset oder einer Pinzette umsehen wollte, wurde ihr fast schlecht von der Schwere und Schwülstigkeit ihres eigenen Parfüms. Sie warf die Zigarette ins Klo und öffnete das Spiegelschränkchen über dem Waschbecken, in dem nichts war, nur eine alte Zahnbürste mit breit gescheuerten Borsten. Hannah klappte den Schrank wieder zu und stützte sich auf den Waschbeckenrand, während der Schwindel seine Kreise drehte. Zu viel geraucht, zu schnell getrunken – ihr alter Fehler, sie kannte das. Der Nebelschleier auf der Spiegelfläche hatte sich verzogen und Muster von feinen Wassertröpfchen hinterlassen. Doch Hannah vermied es, sich ins Gesicht zu sehen. Sie mochte die schwammige Maske nicht, die ihr entgegengrinste, wenn sie getrunken hatte. Auch ohne den Blick zu heben, spürte sie das benommene Dauergrinsen auf ihren Lippen, das sie auch dann noch verfolgte, als sie in den Flur taumelte und den Schuhschrank beiseiterückte, um im Zimmer des Toten nachzusehen.

Er lag nicht mehr da. Der Abdruck seines Körpers war unter der Tagesdecke kaum zu erahnen und die Mulde im Kopfkissen nicht sonderlich tief oder gar nicht vorhanden. Womöglich bildete sie sich das alles bloß ein. Einen Moment widerstand Hannah der Schwere und dem Schwanken, dem sie so gerne nachgegeben hätte – am liebsten hätte sie die Vergangenheit vergessen und sich einfach hingelegt. Stattdessen setzte sie sich auf die Bettkante und bemerkte dann erst, dass sie das Badehandtuch unterwegs verloren hatte.

Ich sitze nackt auf dem Totenbett meines Vaters, dachte sie schlagartig. Das Schwammgesicht grinste nicht mehr.

Hannah stand auf und öffnete den mit Billigfurnier überzogenen Kleiderschrank. Neben zwei, drei Jacken und Sakkos hing sein alter brauner Bademantel, »bärenbraun« hatte sie ihn früher immer genannt. Der Kragen roch ein bisschen ranzig. Aber sie schlüpfte trotzdem hinein und drehte sich kurz, um die Gürtelenden zu fassen zu kriegen.

Ich drehe mich in einem bärenbraunen Bademantel im Sterbezimmer meines Vaters, dachte sie wieder. Dann besann sie sich darauf, warum sie hier war, und nahm sich den kleinen Nachttisch am Kopfende vor.

Aus irgendeinem Grund hatte sie damit gerechnet, dass er verschlossen sein würde oder klemmte. Doch als sie daran rüttelte, hatte sie sofort die ganze Schublade in der Hand. In dem tapezierten kleinen Holzgeviert, das mit Blumen und Blüten gemustert war, befanden sich die übrig gebliebenen Medikamente ihres Vaters, Beipackzettel, Taschentücher. Ein, zwei Pillendöschen waren durch den Ruck zu Boden gefallen und unters Bett gerollt, schneller, als sie danach fassen konnte, seine Gute-Nacht-Lektüre landete vor ihren Füßen, ein ziemliches schmales Buch, eher ein Büchlein. Sie bückte sich und hob es auf. Als sie auf den Umschlag schaute, stand dort sein Name.

Ein Laut der Überraschung kam ihr über die Lippen und hallte von den kahlen Wänden wider. Es war ein seltsames Gefühl, ihre eigene Stimme zu hören in diesem leer gestorbenen Raum, seltsam wie ihr Fund. Dass er in seinen eigenen Büchern las, hatte sie bei ihrem Vater nie erlebt. Alles, was er geschrieben hatte, schien für ihn erledigt. Er blickte nicht gerne zurück, auch dafür hatte er es zu eilig, und diese Eile verstand sie nicht nur, Hannah teilte sie auch. Dann fiel ihr Blick auf das Foto, das er wie ein Lesezeichen zwischen die Seiten gesteckt hatte. Es war ein Schnappschuss, nicht besonders scharf, doch die junge Frau auf dem Bild kam ihr bekannt vor, das verhangene Profil, die mittellangen, mittelblonden Haare.

Es war die Frau vom See.

5

Ein Hoch über der Biskaya bringt weiterhin warme Meeresluft nach Mitteleuropa und sorgt für sommerliche Temperaturen. Aktuell 18° Celsius. Temperaturanstieg im Tagesverlauf auf Höchstwerte von 24°. Anzahl der zu erwartenden Sonnenstunden: neuneinhalb.

Tagesprognose 22.April, aktualisiert 10.13 h

In der Raufasertapete war jedes Dübel-Loch, jeder herausstehende Nagel zu sehen. Auf halber Höhe zeichnete sich in der Morgensonne der Schatten vom Fensterkreuz ab und ein bisschen Birkenlaubflimmern am äußersten Rand. Das ganze Wohnzimmer war lichtdurchflutet. Hannah erschien es heller als bei ihren früheren Couch-Übernachtungen. Doch sie hatte auch nicht so tief und fest geschlafen, als ihr Vater noch lebte, und auch nicht so lang.

Der laufende Fernseher erinnerte unangenehm an letzte Nacht. Ächzend tastete sie nach der Fernbedienung und schaltete ihn aus. Dann ließ sie sich in die Kissen zurückfallen. Einen Moment lang lag sie mit offenen Augen da und versuchte festzustellen, wie es ihr ging nach dem Rotwein und dem Wodka, der noch auf dem Couchtisch stand. Sie hatte es übertrieben. Doch wer sich mit einer Grillfleisch-Gabel den Fuß operieren musste, durfte bei der Betäubung nicht zimperlich sein.

Hannah wollte sich die Wunde lieber nicht näher ansehen, sondern damit warten, bis sie sich in der Magengegend fester fühlte. Auch für eine Guten-Morgen-Zigarette war dies nicht der Moment. Die Gauloises-Packung lag zerknüllt auf dem Couchtisch. Am besten lüftete sie erst mal.

Als sie sich hochstemmte, merkte sie den Restalkohol. Hannah hielt im Sitzen inne, Ellbogen auf die Knie gestützt, und starrte auf die Auslegware am Boden, wo sich eine Vielzahl unterschiedlich großer, unterschiedlich schwarzer Flecken zu einem Muster formierte. Eine duselige Weile sinnierte sie über deren Form und Farbe, wobei es sich nur um Blut handeln konnte, geronnenes Blut. Ihr Vater war zuletzt nicht mehr so sicher auf den Beinen gewesen. Seine Stürze mit teilweise rätselhaften Blessuren hatten sich gehäuft. Mal war er mit einer Platzwunde am Kopf aufgewacht, mal mit Abschürfungen an Armen und Beinen, Blutergüssen und Prellungen an den Hüften, Rippen, im Gesicht. Irgendwann, damit hatte sie eigentlich gerechnet, würde er in einer Blutlache auf dem Teppich liegen und nicht wieder aufwachen.

Er selbst hatte das seinerzeit heruntergespielt und die Blutflecken abgetan wie verschütteten Kaffee. Jedes Mal, wenn sie sich damit nicht zufriedengeben wollte, hatte er sich in abstruse Erklärungen geflüchtet, die darüber hinwegtäuschen sollten, dass er sich an nichts mehr erinnern konnte. Offenbar waren es weniger die Wunden gewesen als seine Gedächtnislücken und Kontrollverluste, die er ihr gegenüber vertuschen wollte wie ein geheimes zweites Leben oder Sterben.

Am blutigsten allerdings war die Wolldecke, in die sie sich eingewickelt hatte. Über das Fußende breitete sich ein kreisrunder, seeähnlicher Fleck. Insofern musste Hannah sich eingestehen, dass die Blutspuren wohl größtenteils aus dem Loch in ihrer Ferse stammten. Ihr Fuß roch nach Wodka.

Zum ersten Mal seit Langem überkam sie das Gefühl, ihren Vater zu brauchen. Vielleicht war es das, was sein Tod verändert hatte.

Als sie beide noch unter einem Dach gewohnt und geraucht hatten, war er morgens immer als Erster aufgestanden, immer zur selben Zeit, um halb fünf, und hatte Kaffee gekocht, für zwei. Ihre Mutter war schon ausgezogen, die Scheidung lief, das Haus stand zum Verkauf. Doch er blieb vorerst dort wohnen, solange es ging, und sie wohnte weiter bei ihm. Am Ende wurde daraus fast ein ganzes Jahr.

Von allen Wohngemeinschaften ihres Lebens war die mit ihrem Vater die merkwürdigste, auch wenn sie es damals normal gefunden hatte oder einfach nur praktisch. Sie war gerade mit der Schule fertig gewesen, bereitete sich aufs Studium vor, büffelte und bewarb sich auf ein Übersetzer-Stipendium in Paris, jobbte ein bisschen und feierte viel. Alles schien sich zu verändern, nur ihr Vater nicht. Falls sie es schaffte aufzustehen, stellte er einen zweiten Teller auf den Tisch und teilte mit ihr sein spartanisches Frühstück. Man konnte nicht behaupten, dass er sie verwöhnt hätte oder »für sie da gewesen« sei. Ihr Vater hatte immer denselben Tag wiederholt wie ein Mönch in einem nicht endenwollenden Exerzitium. Doch in jener chaotischen Phase und Zwischenzeit waren seine Gewohnheiten auch für sie so etwas wie ein Halt gewesen.

Sie hatte die strikte Ordnung, die er sich auferlegte, oft belächelt. Wie man freiwillig ein so abwechslungsloses Leben führen konnte, war ihr schleierhaft, und hatte sie manchmal traurig gemacht, manchmal wütend. Doch auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte, ein Teil von ihr ergriff sogar Partei für seine Art zu leben, wenn sie mit ihrer Clique mal wieder seinen Weinvorrat vernichtet und ihre Joints in den Zimmerpflanzen ausgedrückt hatte oder wenn ihre beste Freundin in ihrer Kotze neben dem Klo ihren Rausch ausschlief. Ihr Vater hatte sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen lassen, sondern weiter Kaffee gemacht und einen zweiten Teller geholt, falls sie es schaffte aufzustehen, und wenn sie erst am Abend aus dem Bett kam, rauchte er eine Zigarette mit ihr, bevor sie wieder ausging.

Auch ihr Leben hatte angefangen, sich zu wiederholen. Und es schien, als hätte ihr Vater das immer schon gewusst.

Hannah erhob sich vorsichtig von der Couch, raffte die vollgeblutete Wolldecke zusammen und stopfte sie in die kleine Waschmaschine neben der Wanne. Streng genommen änderte sein Tod an ihrem Leben nichts. Nur etwas in ihrem Rücken, eine Stütze oder ein Widerstand, etwas, das sie aufrecht gehalten hatte all die Jahre, war auf einmal nicht mehr da.

Vom Bad humpelte sie weiter in die Küche, um sich Kaffee zu kochen. Ihr Wodka-Fuß sah geschwollen aus, aufgedunsener und irgendwie größer als der andere. Es tat nicht wirklich weh, wenn sie auftrat, kein stechender Schmerz, eher ein Drücken und Pulsieren hinter Wolken aus Watte. In ihre Schuhe, fürchtete sie, würde sie erst mal nicht passen.

Die Kaffeemaschine schräg hinter der Spüle war völlig verkalkt und offensichtlich seit Jahren unbenutzt. Möglicherweise stammte sie sogar noch aus dem Hausstand ihrer Eltern. Ein halbwegs appetitlicher Becher war auch nicht in Sicht. Als Hannah die Hängeschränke aufklappte, kam ihr ein Plastiktrichter entgegen, mit dem man sich Filterkaffee eigenhändig aufbrühen konnte. So schien es ihr Vater gemacht zu haben, als er für niemanden mehr Kaffee kochte als für sich.

In der Spüle lag die Gabel mit den langen Zinken. An einer der aufgebogenen Spitzen hingen Fetzen von irgendetwas Faserigem, Gewebeartigem, von dem sie hoffte, dass es nicht ihre Haut war. In geäderten rötlichen Rinnsalen verzweigten sich Blutspuren über das Spülbecken und verliefen im Abfluss. Hannah drehte den Wasserhahn auf. Der erste Schwall kam mit einem Huster aus der Leitung und sah rostig aus. Das nachströmende Wasser roch abgestanden und ungenießbar. Es schien ratsam, sich einen Kaffee beim Bäcker zu holen.

Der Geruch von Fäulnis wurde schlimmer. Offenbar war es nicht nur das Wasser, sondern auch der Rest von irgendwas, das sich im Abfluss festgesetzt hatte. Hannah drückte den Stöpsel in den Ausguss, doch der Verwesungsgeruch blieb. Vorsichtig sah sie im Mülleimer nach, der leer war, zu ihrer Erleichterung. Dann öffnete sie die Spülmaschine einen Spalt, aber auch da fand sich nichts Verdächtiges, Vergammeltes, nur zwei Kaffeebecher und zwei Teller. Kurzerhand schaltete sie das Programm an und ließ heißes und kaltes Wasser laufen, um die Leitungen richtig durchzuspülen.

Zwei, wunderte sie sich dann. Ihr Vater war immer mit einem Becher, einem Teller, einem Löffel und so weiter ausgekommen. Er hatte sein Geschirr auch nie in die Spülmaschine geräumt, weil die wenigen Dinge, die er brauchte, ständig in Benutzung blieben. Offenbar war nach ihrem letzten Besuch noch jemand hier gewesen.

Das Foto aus der Nachttischschublade kam ihr wieder in den Sinn: die Frau vom See, die Fahrraddiebin mit den mittellangen, mittelblonden Haaren. Hannah beschloss, sie »F« zu nennen. Möglich, dass sie sein letzter Gast gewesen war und das Geschirr darüber Aufschluss geben konnte anhand der eingetrockneten Kaffeereste, Zuckerrückstände, Lippenstiftränder. Doch um die Becher und Teller unter die Lupe zu nehmen, war es zu spät. Der Geschirrspüler rotierte bereits, und Hannah war nicht nach Detektivspielen zumute. Einen Moment überlegte sie, wo sie das Foto hingetan hatte, so als könnte man auf dem Bild erkennen, wie nahe F und ihr Vater sich gekommen waren, wie oft sie sich getroffen hatten und wann zuletzt. Doch Hannah hatte nicht vor, ihrem Vater oder irgendwem nachzuspionieren. Es ließ ihr nur keine Ruhe, dass sie das Foto nicht mehr fand.

Mit ihrer durchlöcherten Ferse hinkte sie durch die Wohnung, auf den Balkon hinaus und in die Küche zurück. Das Foto schien auf so unwirkliche Weise verschwunden wie die Frau gestern am See. Hannah sah sogar im Bad nach, hinter dem Spiegel, unter der Couch und in allen Papierkörben – nichts. Eher zufällig entdeckte sie es schließlich bei einem Seitenblick ins Schlafzimmer, das sie zwar nicht wieder verbarrikadiert hatte, aber immer noch ungern betrat. Fs Foto lag auf dem Bett, auf der glatt gestrichenen Tagesdecke in Kopfkissenhöhe, so sauber und ordentlich, als würde es dort hingehören.

Am plausibelsten erschien Hannah, dass es sich um eine der Pflegekräfte handelte, die für ihren Vater zuständig gewesen waren, die junge Polin zum Beispiel, die sie ein paar Mal am Telefon gehabt hatte, mit ihrer sanften Stimme und dem harten Akzent. Vielleicht hatte sie ihm zum Einschlafen vorgelesen oder etwas von ihm gelesen und ihm ihr Bild dagelassen, damit er sich beim Aufwachen nicht so einsam fühlte. Doch was auch immer sie gestern Nacht dazu gebracht hatte, das Bild auf das Bett ihres Vaters zu legen, irgendwie fand sie auch am Morgen danach, dass F dort ihren angemessenen Platz hatte, in dieser WG mit einem Toten.

Hannah verließ das Zimmer. Sie brauchte dringend einen klaren Kopf.

Vor ihrem Gang zum Bäcker wollte sie kurz nachsehen, ob sie die Nummer der polnischen Pflegekraft gespeichert hatte. Wider Erwarten steckte ihr Handy genau da, wo es sein sollte, in der Seitentasche ihres Rucksacks. Das Display zeigte zwei Mitteilungen an, zum einen den niedrigen Batteriestand, zum andern eine Nachricht vom Notariat, dass ihr Termin mit Dr.Lüders heute nicht in der Kanzlei stattfinden würde, sondern um halb eins beim Italiener am Rathausmarkt. Sie sei zum Mittagessen eingeladen.

Im ersten Moment hätte Hannah am liebsten zurückgeschrieben, dass sie auf Einladungen jeder Art gerne verzichte und lediglich um einen Termin gebeten habe. Doch sie fühlte sich zu angegriffen für eine Auseinandersetzung mit der Chefsekretärin, die schon immer schlecht auf sie zu sprechen gewesen war und von der sie kein Verständnis erwarten konnte.

Lüders – Dr.Lüders – hatte ihren Vater als Anwalt in Urheberrechtsstreitigkeiten vertreten und war als einer der wenigen mit ihm in Kontakt geblieben bis zum Schluss. Offensichtlich legte er Wert darauf, einen Schriftsteller zu seinen Klienten zu zählen. Die größte Traueranzeige als »Freund der Familie« stammte von ihm. Bei der Beerdigung hatte er in vorderster Reihe gestanden, um ihrem Vater die letzte Ehre zu erweisen und ihr sein Beileid auszusprechen. Trotz seines vollen Terminkalenders war er bis zum Ende der Trauerfeier geblieben, hatte die ganze Zeit mit einer Flasche Champagner um sie herumgestanden und sich jede erdenkliche Mühe gegeben, sie abzufüllen. In der Hinsicht war Lüders nicht schwer zu durchschauen. Die schmutzigen Umstände seiner eigenen Scheidung hatten zum Stadtgespräch gehört, genauso wie seine Vorliebe für Frauen, die seine Töchter sein könnten. Schon nach ihrer Schulzeit hatte er sich mehr als nur freundschaftlich für Hannah interessiert und ihr diverse Jobs in seiner Kanzlei angeboten. Später kamen von ihm alle Jahre wieder lukrative Übersetzungsaufträge aus dem internationalen Schriftverkehr mit seinen Mandanten. Hannah hatte gewusst, worauf sie sich einließ. Doch in der Nacht nach der Trauerfeier war ihr alles egal gewesen. Sie bestand nur darauf, dass sie sich ein Hotelzimmer nahmen. Zu ihm nach Hause wollte sie nicht, das war ihr zu persönlich. Sie wollte keine neuen Geschichten anfangen, sondern die alten beenden und mit der Vergangenheit abschließen. Deshalb war sie hier. Jetzt hatte Lüders dafür gesorgt, dass die Testamentseröffnung auf einmal wirkte wie ein Date.