Der Bruch - Oliver Pautsch - E-Book

Der Bruch E-Book

Oliver Pautsch

5,0

Beschreibung

Klaus wird den Bruch machen, das weiß ich. "Wenn du eine Sache anfängst, musst du sie auch durchziehen!" Seine Worte. Er sagt diesen Satz oft und meint es ernst. Denn mein Vater meint immer alles völlig ernst. Johannes ist fast sechzehn, als eine ganze Menge gleichzeitig passiert. Plötzlich ist Klaus wieder da. Der saß nämlich jahrelang im Knast, da war Sendepause. Jetzt verbringt Johannes fast jede freie Minute mit seinem Vater. Denn Klaus ist cool, so ganz anders als seine Mutter und der Wolf, sein Stiefvater. Klaus packt das Leben an. Er tut, was er sagt. Und er nimmt Johannes ernst. Auch wenn er manchmal von jetzt auf gleich völlig ausrastet - auf Klaus ist Verlass. Doch ab und zu kommen Johannes Zweifel. Warum spricht sein Vater nie darüber, weshalb er im Gefängnis war? Macht er immer noch krumme Geschäfte? Und was verbirgt sich in dem Zimmer, das für Johannes tabu ist? Klaus spielt doch nicht mit seinem Vertrauen, oder? Dann verliebt sich Johannes zum ersten Mal - und seine ganze Familie fliegt ihm um die Ohren. Der Bruch - Ausbruch, Abbruch, Umbruch, Aufbruch

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Oliver Pautsch, 1965 in Hilden geboren, lernte in Solingen laufen, ging in Hilden zur Schule und studierte in Düsseldorf. Er wohnte und arbeitete lange Jahre in Köln. Heute lebt der Autor mit seiner Frau und drei Kindern wieder in Hilden.

Wenn er behauptet, die Region besser als den Inhalt seiner Schreibtischschublade zu kennen, kann man ihm ruhig Glauben schenken. Der Autor hat in der Region viele Jahre lang Klaviere und Flügel transportiert. Das tut er noch heute manchmal – falls er nicht gerade Romane oder Drehbücher schreibt.

Der Autor freut sich über einen Besuch seiner Heimseite:

www.pautsch.net

Für Ursula Pautsch

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

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Epilog

1.

Klaus wird den Bruch machen, das weiß ich. »Wenn du eine Sache anfängst, musst du sie auch durchziehen!«

Seine Worte. Er sagt diesen Satz oft und meint es ernst. Denn mein Vater meint immer alles völlig ernst. Zum ersten Mal habe ich den Spruch gehört, als er mir das Fahrradfahren beigebracht hat. Nach dem dritten Sturz wollte ich aufhören. Meine Ellenbogen und Knie waren total zerschrammt. Blutig! Das linke Hosenbein hatte sogar ein Loch. Doch Klaus hat nicht zugelassen, dass ich absteige und aufgebe. Oh nein, nicht mein Vater!

Als ich mit Rotznase und Tränen in den Augen endlich zehn Meter auf dem verdammten Kinderrad ohne Stützräder geradeaus fahren konnte, hat Klaus mich vom Rad in die Luft gehoben. Über seinen Kopf, ganz hoch. Dann hat er mir mit seinem Ärmel den Schnodder abgewischt, mich geküsst und gedrückt, bis ich kaum noch Luft bekam. So stolz war er auf mich. Das weiß ich heute, weil er es mir erzählt hat. Ich war erst vier und weiß nur noch, dass ich ihn damals gehasst habe. Dafür, dass er mich gezwungen hat auf diesem kleinen Scheißrad sitzen zu bleiben, bis ich fahren konnte.

Heute macht mir auf dem Bike keiner mehr was vor. Irgendwie hat Klaus also recht behalten.

Dieses Mal wird Klaus es wieder durchziehen. Bis zum bitteren Ende. Woher ich mir so sicher sein kann? Ganz einfach, mein Vater war schon einmal im Knast, deshalb! Das ist der Grund, warum ich mich an die Episode mit dem Fahrrad so gut erinnere. Es war das Letzte, was wir zusammen gemacht haben. Denn kurze Zeit später war Klaus weg vom Fenster, komplett aus meinem Leben verschwunden. Mama hatte es nur gut gemeint und wollte mich „vor seinem schlechten Einfluss« schützen, hat sie mir später erklärt. Aber es ist schon seltsam, einen Vater gekannt zu haben, der auf einmal nicht mehr da ist. Und dafür einen Wolfgang zu bekommen, der bei uns einzog, als ich gerade sechs wurde, und den ich plötzlich »Papa« nennen sollte.

Im Knast habe ich Klaus nie besucht. Mama wollte das nicht. Sein Gefängnis war irgendwo in der Nachbarstadt und wir hatten kein Auto. So ähnlich hat sie es begründet, und ich habe ihr natürlich jedes Wort geglaubt. Dass man mit dem Bus bis vor den Haupteingang fahren konnte, hat Klaus mir erst später erzählt. Als er schon lange wieder aus dem Gefängnis raus und Mama und Klaus geschieden waren. Ich war total naiv und habe den beiden viel zu viel geglaubt. Heute ist das anders, aber einfacher wird es dadurch nicht.

Klaus hat eine eigene Wohnung im Zentrum der Stadt. Ich gehe ihn oft besuchen. Wir unternehmen auch viel. Allerdings immer nur zu zweit, denn Mama, Wolfgang und Klaus verstehen sich nicht besonders gut. Wir haben mal einen Ausflug in den Zoo zusammen gemacht, da haben sich Wolfgang und Klaus vor dem Pinguinbecken fast geprügelt. Mama und meine kleine Schwester Claudi haben geheult. Seitdem hat Claudia sogar Angst vor Klaus. Weil der so gruselig ausgesehen hat, als er wütend war, sagt sie.

Seitdem bin ich lieber allein mit Klaus unterwegs. So Babyzeug wie Zoo oder Kirmes ist sowieso nicht mehr mein Ding. Wenn ich sechzehn werde, will Klaus mit mir ein Bier trinken gehen. Richtig in einer Kneipe! Natürlich nur, wenn ich Mama nichts davon erzähle. Da ich ab und zu bei Klaus übernachten darf, wenn es spät wird, mit DVDs gucken oder so, wird sie nichts davon mitbekommen, wenn Klaus und ich mal so richtig einen Saufen gehen. Ich freue mich total darauf! Obwohl ich natürlich schon Bier getrunken habe, ist ja klar. Aber nur heimlich mit Acki. Wenn meine Eltern oder Klaus das rauskriegen würden, – ich darf gar nicht drüber nachdenken. Außerdem ist es natürlich was völlig anderes, sich hinter der Schule eine warme Flasche Pils aus dem Supermarkt zu teilen, als mit seinem Vater eine richtige Kneipentour zu machen. Aber rauchen darf ich trotzdem nicht. Auch nicht, wenn ich sechzehn bin, das hat Klaus mir schon gesagt.

»Wenn ich dich beim Rauchen erwische, muchacho, dann trete ich dir in den Hintern, bis dir die Scheiße aus den Ohren spritzt!«

Solche Sachen sagt Klaus manchmal. Ich muss dann immer lachen, obwohl er mir mit diesen Sprüchen in Wirklichkeit tierische Angst einjagt. Denn seine Lippen werden ganz schmal und seine Augen bekommen einen kalten Glanz. Wenn er wüsste, dass ich ab und zu schon an einem der Joints ziehe, die bei uns die Runde machen – nee, darüber denke ich lieber nicht nach.

2.

»Wer ist denn jetzt dein Vater? Wolfgang? Oder der Knacki?«, fragt mich Acki.

»Nenn ihn nicht Knacki, du Lutscher! Er heißt Klaus.«

»Ist ja gut. Aber sag doch mal!« Acki gibt nicht auf.

»Was weiß ich? Wolf ist in Ordnung. Aber Klaus ist eben … cooler!«, sage ich.

»Stimmt. Aber er is ‘n Knacki.«

»Lass ihn das bloß nicht hören!«

»Bist du verrückt?« Acki grinst und fragt: »Meinst du, er wird noch mal was, äh … versuchen?«

»Halt die Fresse!«

»Is ja gut! Bleib loggä, Aldä.«

Seine hessischen Wurzeln klingen immer dann durch, wenn »Aggi« sich aufregt. Denn solche Diskussionen führen er und ich oft. Er kommt aus einer normalen Familie mit Reihenhaus, Zweitwagen, einem Hund und so was. Normal eben. Doch Acki findet seine Schergen total langweilig, hasst seinen größeren Bruder und meint wahrscheinlich deshalb, dass wir als Familie cooler sind. Obwohl Acki mit Familie eher Klaus und mich meint, als Wolfgang, Mama und Claudia. Denn Acki darf manchmal mit, wenn wir in Klaus’ Reich Filme gucken oder Xbox spielen.

Klaus hat schnell kapiert, dass Acki und ich beste Kumpels sind.

»Freunde sind mehr wert als Familie«, sagt Klaus. Aus seiner Sicht stimmt das. Denn was Mama abgezogen hat, während er im Knast saß – Kontaktsperre, die Scheidung und der neue Mann, dann sogar die neue Tochter – na ja, da würde ich über die Familiensache auch ins Grübeln kommen. Und mich lieber auf Freunde verlassen. Obwohl ich noch nie einen richtigen Freund von Klaus kennengelernt habe. Er nennt die Männer, die wir zufällig gemeinsam auf der Straße treffen, immer anders.

»Das ist Harald, ein Kollege von mir«, sagt er dann, oder: »Sag Hallo zu Gerry, meinem alten Partner.«

Klaus ist zwei Köpfe größer als ich. Als er aus dem Knast kam, hatte er eine Glatze. Deswegen habe ich ihn gar nicht erkannt, als ich ihn zum ersten Mal wiedergesehen habe nach all den Jahren. Aber er hatte sich den Kopf nur rasiert, weil ihm die Haare ausfielen. Denn das fand er wohl nicht so cool. Die Glatze war cooler, stimmt schon. Ein bisschen sah er damit aus wie Vin Diesel, der Schauspieler. Doch jetzt denkt er darüber nach, sich wieder Haare wachsen zu lassen. Die Frauen finden das vielleicht besser, glaubt er.

Wenn wir bei Benni trainieren, hält Klaus die Gewichte für mich. Das darf kein anderer machen, damit mir nichts passiert. Wir gehen nur ein paarmal im Monat ins Studio. Ich würde gern öfter trainieren, aber Mama weiß nichts davon. Sie erlaubt zwar, dass ich mit Klaus was unternehme, aber die Muckibude ist verbotene Zone. Schlechter Einfluss, Prolls und Halbwelt, findet sie. Mama muss es wissen. Sie sitzt an der Kasse vom Baumarkt schräg gegenüber von Bennis Studio. Ich brauche keine Tasche, habe immer was zum Wechseln im Spind. Sachen, die ich bei Klaus ab und zu wasche, damit sie es nicht merkt. Duschen kann ich da auch. Wenn ich über den Parkplatz fahre, ducke ich mich immer hinter den Autos und hoffe, dass sie nicht gerade eine Kippe vor der Tür raucht, oder dass mich keiner ihrer Kollegen sieht.

Benni und Klaus zocken wohl ab und zu im Studio. Genau weiß ich das nicht, aber manchmal tauchen Kollegen am Tresen auf, die weder Taschen dabeihaben, noch Spinde im Studio besitzen. Trainieren tun die auf keinen Fall, und wenn Klaus sagt, dass ich die Biege machen soll, haue ich ab und fahre nach Hause. Deswegen weiß ich nicht, was die da genau treiben.

Benni war wohl mal Pilot bei der Lufthansa, bevor er das Studio über dem Getränkeladen aufgemacht hat. Keine Ahnung, warum er nicht mehr fliegt. Da redet er nicht drüber. Klaus natürlich auch nicht, der redet ja noch weniger als Benni.

Donnerstags steht ein Hähnchengriller auf dem Parkplatz vor dem Baumarkt. Wenn Benni oder Klaus gute Laune haben, schicken sie mich nach dem Training schon mal »Flatermänner« holen. Benni ist noch einen Kopf größer als Klaus. Der verdrückt zwei von den Vögeln, ohne mit der Wimper zu zucken. Echt! Ich glaube, Benni ist der beste Freund von Klaus. Auf jeden Fall hat Klaus vor ihm Respekt, obwohl …

»Respekt musst du vor jedem Lebewesen haben«, sagt Klaus. »Egal, ob Tier oder Mensch. Egal, ob schwarz oder weiß. Egal, ob Feder oder Fell!«, ist auch so’n Spruch von ihm. Aber Benni ist auf jeden Fall mehr als nur ein Kollege für Klaus, denke ich.

Meine Trainingseinheiten sind für Bizeps, Schulter, Rücken und Bauch. Benni meint, dass ich nur oberhalb der Gürtellinie trainieren soll. Da ich sonst alles mit dem Bike mache, muss ich für die Beine nichts weiter tun, findet er. Als ich mal davon angefangen habe, einen Roller zu kriegen, hat Klaus nur gelacht. »Willst du auf die Fresse fallen und dir den Hals brechen? Scooterfahrer haben Streichholzbeine und ein dickes Handgelenk, sonst nix. Du hast ’ne Lunge wie ein Zehnkämpfer und richtige BEINE, Mann!«

Damit war das Thema für ihn vom Tisch. Ich hab nicht mal mehr zu Hause bei Mama und dem Wolf nach einem Roller gefragt und die Kohle lieber für ein richtiges Bike gespart. Pentacross. In Gelb. Acht Gänge ohne Schnickschnack und teurer als Ackis Motorroller. Wenn ich richtig gut drauf bin, hänge ich ihn auf dem Weg zur Schule damit ab, kein Witz.

Bennis Spruch, dass ich oberhalb der Gürtellinie trainieren soll, nimmt Klaus für meinen Geschmack zu ernst.

»Du musst auch was für die Birne tun!«, sagt er.

Ausreichend ist eben nur eine Vier. Mit ausreichend kann ich Klaus nicht kommen. Das ist für ihn das Gleiche, wie beim Radfahren auf die Fresse zu fallen.

»Die Siegertreppe hat nur drei Stufen, muchacho. Keine vier!«, sagt er. Und damit hat er ja nun wirklich recht.

Seitdem bin ich sogar in Mathe dabei. Als ich kapiert habe, dass es reicht, einfach dazusitzen und die Klappe zu halten, wurde vieles leichter. Keine Gespräche mehr im Lehrerzimmer, keine Briefe und keine Besuche von Mama in der Schule.

»Du musst nicht der Beste sein. Es reicht, wenn du nicht unangenehm auffällst.« Noch so’n Spruch von Klaus. Aber es stimmt ja. Seit ich keinen Stress mehr in der Schule mache, bin ich eine gute Drei. Und das, ohne mich dafür nass machen zu müssen! Ab und zu geht eine Arbeit daneben. Manchmal komme ich auch ohne Hausaufgaben. Aber im Schnitt freuen sich die Schergen ja schon, dass ich ihnen überhaupt zuhöre.

Und das ist echt einfach.

3.

Früher habe ich ein Zeit lang ins Bett gemacht. Echt wahr. Den ganzen Mist dann morgens mit der Hand gewaschen oder versteckt, bis ich die Chance dazu hate, die fleckigen Laken verschwinden zu lassen. Aber der Wolf und Mama haben es trotzdem rausbekommen. Das war in der Zeit, bevor Klaus raus war. Ich musste stundenlang mit einer Psychologin von der Schule quatschen, warum ich ins Bett pisse. Oder wieso ich dem Lutscher aus der b den Arm gebrochen habe. Die wollten mich sogar von der Schule werfen. Aber irgendwie habe ich die Kurve gekriegt. Wenn ich drüber nachdenke, wann das aufgehört hat, fällt mir immer der Moment ein, als Klaus durch die Glastür bei McDoof gekommen ist.

Mama war furchtbar aufgeregt. Wir waren zu zweit bei McDonald’s. Keine Ahnung, warum sie mich für das erste Treffen ausgerechnet in die Frittenbude am Autobahnkreuz geschleppt hat. Aber Tatsache ist, dass ich den Kerl, der durch die Tür kam, auf Anhieb cool fand. Er sah eben aus wie Vin Diesel in diesen Filmen. Triple X und die ganzen Fast and Furious-Dinger. Richtig. Cool!

Er trug eine Sonnenbrille – und dann diese Glatze. Es war Sommer und er hatte nur ein Hemd mit kurzen Ärmeln an. Mann!

Ich weiß noch, dass Mama eingeatmet hat, als wäre sie erschrocken. Sie war natürlich auch erschrocken, wegen der Glatze und so. Aber es war nicht nur das. Dieser coole Typ kommt also auf uns zu und hält mir seine Hand hin.

»Hallo, ich bin der Klaus«, sagt er zu mir. Und Mama fängt an, irgendwas zu stottern. Von wegen »so eine Freude«, was er essen will. So Zeug halt. Dann fängt sie auch noch an, zu heulen und es könnte echt peinlich werden. Aber er nimmt nur die Sonnenbrille ab und lächelt mich an.

»Ich bin der Klaus«, sagt er noch einmal. Blaue Augen, heller als der Himmel. Nicht, dass ich auf so was achte, aber sie strahlen eben einfach heller als der verdammte Himmel! Er hat kleine Fältchen neben den Augen. Mama nennt das Krähenfüße, wenn sie sich selbst im Spiegel ansieht.

Wenn sie sich im Badezimmer über ihre Falten auf der Stirn und an den Augenwinkeln beschwert, sagt der Wolf immer, das sei ein gutes Zeichen. Dass sie nämlich oft und gern lacht. Daher kommen die Falten, behauptet der Wolf und Mama winkt dann immer ab. Obwohl ich mir irgendwie blöd vorkomme, weil ich total fettige Hände von den Fritten habe, nehme ich Klaus’ Hand. Sie ist riesig und sehr weich. Er lächelt. Und das ganze Blau beginnt auf einmal zu verschwimmen. Dann murmelt er was und verschwindet an die Theke. Noch bevor er wieder mit einem Tablett zurückkommt, auf dem übrigens mehr Zeug ist, als wir in einer ganzen Woche futtern können, wusste ich plötzlich, dass mir nichts mehr passieren kann. DAS war der Moment! Von da an ging kein Tropfen mehr ins Bett. Nicht, dass ich es steuern konnte. Es war einfach so. Schreib DAS auf, Psychotante!

4.

Ich darf keine Schränke öffnen. Nicht, ohne zu fragen. Das war so ziemlich das Erste, was mir Klaus beigebracht hat, als ich zu Besuch in seiner Bude war. Im Prinzip ist die Wohnung nichts Besonderes. Ein Mehrfamilienhaus eben, und Klaus wohnt im vierten Stock. Von dem kleinen Balkon im Wohnzimmer aus glotzt du auf die anderen Karnickelställe direkt gegenüber. Warum er auf die Bude so stolz ist, habe ich zuerst nicht begriffen. Es ist alles viel kleiner als bei uns zu Hause. Außerdem irgendwie leer. Da steht nichts rum, außer dem Zeug, das man braucht. Sofa, Sessel, Tisch, TV. Sense.

In der Küche das Gleiche. Eine weiße Zeile mit Geschirrspüler, dem Herd und Schränken.

»Und?« Ich war wirklich nicht beeindruckt.

Klaus lachte laut auf. Das Blöde bei ihm ist, dass man oft nicht weiß, woran man ist. Selbst wenn er lacht. Klaus erklärt nicht viel. Außer natürlich, wenn er seine Sprüche macht. Aber in dem Moment stand ich wirklich auf dem Schlauch und wie blöd in dieser Bude herum!

»Es ist halt ’ne Wohnung. Was ist so lustig?«

»Nix, Johnny, schon okay«, antwortete er und ging weg.

Es gibt eine Regel, die ich selbst lernen musste. Wenn Klaus »schon okay« sagt, hast du meistens etwas falsch gemacht. Es ist nicht so, dass er dich deshalb anmacht. Aber er geht dann einfach weg und das Thema ist durch. Wahrscheinlich habe ich ihn enttäuscht, denke ich. So lange kennen wir uns ja noch nicht. Deshalb sage ich: »Nee, ist echt schön hier! Und so sauber!«

Keine Ahnung, wieso mir ausgerechnet das einfällt. Aber die Bude ist wirklich wie aus dem Ei gepellt. Dafür, dass Klaus schon seit Wochen dort wohnte. Seit er raus ist, eben. Mein Zimmer sieht bereits nach zwei Stunden immer ganz anders aus. Echt wahr.

Aber er geht einfach ins Badezimmer. Das Letzte, was ich höre, ist: »Sein Reich komme. Sein Wille geschehe.«

Seit dem Moment heißt die Bude für Acki und mich nur noch: »Sein Reich«.

5.

Seit Montag weiß ich, dass Klaus etwas vorhat. Aber ich kann mit niemandem darüber sprechen, außer mit Acki.

Mit Mama oder dem Wolf? Ja klar. Sonst noch was?

Zuerst war es nur der Plan. Das Ding sah aus wie ein Schnittmuster. Mama hat solche Pläne auf dem Tisch liegen, wenn sie sich Sachen näht. Es lag aber nicht auf dem Tisch. Aber es war auch nicht im Schrank. Nicht ganz. Eher so halb draußen. Ich musste also keine Tür öffnen, sondern nur ein wenig an der Rolle ziehen. Wenn Klaus rausbekommt, dass ich in seinen Schränken rumwühle, passiert was. Keine Ahnung, was genau. Aber allein die Vorstellung reichte, dass ich mir das Ding nur ganz kurz ansah und es dann zurück in den Schrank im Flur stopfte!

6.

»Wenn er Wind davon bekommt, dass du den Plan kennst, bringt er dich um«, sagt Acki.

»Ach, Quatsch.«

»Doch. Du bist ein Mitwisser!«

»Alter, ich weiß überhaupt nicht, was das für ein Plan ist. Das kann die Betriebsanleitung für den Boiler im Bad gewesen sein«, lüge ich. Und komme natürlich nicht damit durch.

»Blödsinn! Ey, ist doch klar: Der Knacki plant wieder was.«

»Du sollst ihn nicht so nennen, verdammt!«

»Wenn dein Vater merkt, dass du was weißt, killt er dich!«, wiederholt er mit Grabesstimme. Acki weiß einfach immer Bescheid, auch wenn er keine Ahnung hat. Ich bereue, dass ich so blöd war, mich ihm anzuvertrauen.

»Dann muss er dich aber auch umbringen«, sage ich.

»Wir halten also einfach die Klappe, okay?«

Acki wird blass. Er wird nie wieder davon reden, so viel ist sicher. Aber beruhigt mich das? Nein.

»Du musst ihn anzeigen!«, sagt er.

»Hör auf.«

»Doch, Alter! Du musst mit diesem Dings, diesem Plan, zu den Bullen gehen. Die ziehen ihn aus dem Verkehr und die Sache ist vom Tisch.«

»Du hast sie ja nicht alle. Was ist, wenn das zu seiner Arbeit gehört?«, frage ich.

»Ey, dein Vater ist Aushilfstaxifahrer, richtig?«

»Klaus ist Taxifahrer«, korrigiere ich Acki. »Aber er hat Mechaniker gelernt. Vielleicht bewirbt er sich mit diesem Plan. Oder so.«

Acki zögert. Ich verliere ihn als Vertrauten. Ich belüge meinen besten Freund, als ich sage: »In dem Schrank waren noch andere Unterlagen.«

»Was denn?«

»Konstruktionspläne und so Zeug.«

»Konstruktionspläne? Von was?«, hakt er nach.

»Mann, was weiß ich denn. Es waren halt einfach Baupläne mit technischen Zeichnungen. Nix Dolles, also komm wieder runter.«

Was soll ich bloß tun? Schließlich geht es um meinen Vater!

7.

»Du musst dem Gegner in die Augen sehen. Du musst seine Gestalt begreifen. Seine Gefühle empfinden.

Nur so hast du eine Chance!«

Als Klaus mich mit dem Bluterguss unter dem Auge sieht, wird er wütend. Tierisch! Da ist wieder dieser Glanz in seinen Augen. Ich bekomme davon eine Gänsehaut. Ich konnte doch nichts dafür. Habe eine ältere Sache mit dem Typ aus der b klären müssen. Ich dachte, das Ganze wäre gegessen, aber …

»Was heißt klären?«, will Klaus wissen.

»Na ja, er war sauer auf mich.«

»Wieso?«

»Wir hatten Streit.«

»Worum ging es?«

»Äh … damals oder heute?« Ich spiele auf Zeit. Klar spiele ich manchmal auf Zeit, Mann!

»Johnny …« Der Glanz, der Glanz, der Glanz. Wir betreten eine SEHR verbotene Zone, merke ich.

»Er, äh … wollte sich bedanken. Für ’ne alte Sache.«

»Er haut dir zum Dank eins aufs Maul?«

»Zum Dank. Das hat er jedenfalls gesagt.«

Klaus steht vor mir. Er hat eine 501 und ein »Everlast«

Kapuzenshirt in Dunkelblau an. Everlast und Levi’s sind seine Lieblingsmarken. Eigentlich wollten wir auf ein Eis raus. Aber jetzt ist es in seiner Bude kalt genug geworden, um meinen Atem gefrieren zu lassen.

Und das mitten im Sommer.

»Johnny! Wenn ich mich verarschen lassen will, schalte ich die GLOTZE AN!«, brüllt Klaus.

Aber das wird er ganz sicher nie wieder tun. Nicht mit diesem Fernseher, auf dem wir schon Filme gesehen und Xbox gespielt haben. Denn Klaus nimmt die große Kiste als sei sie aus Pappe und wirft das Ding direkt neben mir an die Wand. Er reißt mit dem Kabel vom Fernseher das ganze Regal mit dem Blue-ray und der Xbox um. Der Fernseher verpufft in einem Regen aus Glas und Splittern neben mir. Ich rufe erschrocken:

»Was hast du denn für’n Scheiß Problem, Mann?!?«

»Sag mir die WAHRHEIT!«

»Was willst du hören?«

»Wieso kann der Typ dir die Fresse polieren? Weil er stärker ist?«

Ich schweige.

»Ist er stärker als du? Antworte mir, Johnny!«

»Nein, fuck!«

»Also warum?«

Wir brüllen. Die ganze Zeit. Er ist sauer, weil ich lüge. Ich bin sauer, weil er es weiß. Ich fuchtele herum und sage irgendwas. Ich stapfe durch die Glas- und Plastikscherben der Glotze und will raus. Aber er lässt mich nicht. Er blockt ohne Körperkontakt, wie ein guter Basketballer. Er wird mich nicht rauslassen. Ich rieche seinen Schweiß, obwohl er gerade erst aus der Dusche gekommen ist. Kein Parfum, kein After Shave, kein Deo.

Klaus benutzt noch nicht einmal Weichspüler, hat er mir erzählt. Er kann künstliche Düfte und so was nicht ausstehen.

»Was ist passiert?«, will er wissen.

Ich gebe auf. »Ich hatte ihm den Arm gebrochen«, sage ich. Einen Moment lang herrscht Stille. Klaus sieht traurig aus. Seine Stimme klingt brüchig, als er leise fragt: »Und? Hat es geknackt? Hat er vor Schmerz geheult?«

Mir kommen die Tränen und ich nicke. Klaus kommt auf mich zu und setzt sich neben mich. Es scheint, als wolle er mich trösten. Doch statt meine Tränen wegzuwischen, drückt er mir mit dem Daumen auf die Schwellung unter meinem Auge.

»Wenn du einen Fehler machst, holt er dich wieder ein. Das tun Fehler immer. Kapierst du das?«

Ich sehe Sterne und stöhne leise.

»Geh nach Hause«, sagt Klaus und steht auf, »ich muss diese Schweinerei beseitigen.«

Das war unser erster Streit. Ich kam mir in meinem GANZEN LEBEN noch nie beschissener vor.

8.

Claudi schläft schon, als ich nach Hause komme. Wir müssen uns ein Zimmer teilen, bis die größere Wohnung vom Bauverein im Haus gegenüber frei wird. Vier Zimmer und ’ne richtige Badewanne!

Wenn ich abends da bin, schläft Claudi bei Mama und dem Wolf im Wasserbet ein, damit ich in unserem Zimmer Musik hören oder am Computer spielen kann, oder beides. Aber spätestens, wenn der Wolf schlafen gehen will, müssen er oder ich Claudi ins Bett tragen, weil sie für Mama schon zu schwer geworden ist. Der Floh wacht dann fast immer auf. Weil sie einen noch leichteren Schlaf als Mama hat. Wenn Claudi zu mir ins Bett kriechen darf und ich mich für zehn Minuten ganz still verhalte, schläft sie meistens wieder ein. Dann kann ich im Wohnzimmer noch eine Weile in der Glotze rumzappen. Wenn ich der Letzte in unserer Bude bin, der noch wach ist, bewege ich mich wie ein Ninja durch die dunkle Wohnung. Weil Mama und Claudi so einen leichten Schlaf haben. Ich bin wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Welt, der sich absolut lautlos einen Uitsmijter machen kann. Das ist ein Brot mit Käse oder Schinken und einem Spiegelei drauf. Ich liebe diese Dinger und nehme meistens beides – Käse und Schinken. Super! Uitsmijter ist holländisch und heißt Rausschmeißer, hat Klaus erzählt, als er mir das Ding zum ersten Mal serviert hat. Keine Ahnung, wieso diese leckeren Teile diesen komischen Namen tragen. Das wusste er auch nicht. In Deutschland heißen sie »Strammer Max«. Es gibt zwar absolut nichts Besseres, als sich vor dem Schlafengehen noch so’n Ding reinzufahren, aber heute habe ich keinen Hunger. Ich bin sauer und schlapp. Der Heimweg von Klaus fühlte sich schon doppelt so lang an wie sonst. Also steige ich im Bad aus meinem Zeug, Zähneputzen fällt aus. Ich schleppe das Klamottenbündel durch die Dunkelheit, lasse es lautlos fallen und will barfuß in Unterhose und T-Shirt in mein Bett kriechen. Aber dort schnarcht schon meine kleine Schwester, ausgebreitet wie ein toter Schwan. Die Decke hat sie zu einer Wurst an die Wand geschoben, mein Kissen liegt unter ihren Füßen. Ich würde ja in ihr Bettchen kriechen und einfach schlafen, aber das ist so’n winziges Kinderteil, aus dem meine Beine raushängen und mir spätestens nach zehn Minuten die Unterschenkel weh tun. Das geht gar nicht. Also versuche ich, so vorsichtig wie möglich, die Schnarchnase etwas zusammenzufalten, damit wir beide in meinem Bett liegen können. Gerade, als ich die Decke über sie breite, wacht sie auf und schmatzt.

»Basti Bono«, murmelt sie. Ich decke uns zu und atme kaum noch. »Bärenbude, kann ich, kann ich … ich will auch …«

Das ist total süß, und ich muss grinsen, obwohl ich kein Wort von dem Gebrabbel verstehe. Sie dreht sich zu mir und schlingt ihre kleinen Arme um meinen Hals. Ich habe keine Ahnung, warum ich ausgerechnet jetzt wieder in Tränen ausbreche. Es ist ja nix Schlimmes, wenn die kleine Schwester im Schlaf rumlabert und mich umarmt. Doch als ich da so liege, haut mich der ganze Tag einfach noch mal um. Ich muss sogar leise schluchzen. Claudi wischt mir mit der Hand übers Gesicht und murmelt: »Wein doch nicht.«

»Mach ich nicht«, flüstere ich. Und weine noch mehr.

»Du bist aber ganz nass«, sagt sie, »fühl doch mal, da!«

Ihre kleine Hand patscht mir im Gesicht herum. Obwohl ich ihre großen offenen Augen in der Dunkelheit nicht sehen kann, weiß ich, dass es nun zu spät ist, versuche es aber trotzdem: »Ich hab mich nur gestoßen, Claudi, deshalb. Schlaf einfach weiter.«

Sie furzt leise unter der Decke und kichert.

»Hey, Frau Sau!«, zische ich und sie kichert noch mehr.

»Liest du mir unter der Decke noch was vor?« Ihr Atem riecht nur mittel, nach Schlaf eben. Sie reibt mir die Tränen aus den Augenwinkeln über die Ohren in die Haare, gibt mir einen Kuss und kitzelt mich.

»Nee«, flüstere ich, »unter der Decke stinkt es doch.«

»Ich lüfte«, antwortet Claudi und setzt sich auf. Sie wedelt mit der Decke, bis ich sie wieder ins Kissen drücke und mir eine neue Ausrede einfallen lasse.

»Die Batterien von der Taschenlampe sind leer. Wir müssen jetzt schlafen.«

Sie brummelt beleidigt herum und tritt mich unter der Decke.

»Hör auf! Oder du gehst rüber in dein Bett«, drohe ich. Für einen Moment ist Ruhe. Ich muss an Klaus denken. An diesen verdammten Plan, den ich gefunden habe. Und an unseren Streit und an das, was er gesagt hat:

»Wenn du Fehler machst, holen sie dich wieder ein.«

Die wunde Stelle am Auge brennt. Ich bin immer noch sauer auf ihn. Wenn Klaus wirklich was vorhat, wird es ihn einholen. Denn ich weiß, dass es ein Fehler ist. Doch bevor ich den Gedanken zu Ende denken kann, steckt ein kleiner Zeigefinger in meinem Ohr und eine leise Stimme flüstert: »Jo?«

»Was?«

»Wenn du mir ’ne Geschichte erzählst, brauchen wir nicht unter die Furzdecke. Und keine Taschenlampe.«

Es dauert einen Moment, um zu kapieren, dass Claudi die ganze Zeit darüber nachgedacht hat, wie sie mich rumkriegen kann. Zum Glück kann sie mein Grinsen nicht sehen.

»Du?«, sagt sie.

»Was denn?«

»Die Geschichte von der Prinzessin mit dem Silberhaar.«

»Was ist damit?«, frage ich.

»Die ist doch nicht lang, oder?«

Sie hat es echt raus zu verhandeln. Aber ich bin auch nicht schlecht: »Versprichst du mir, dann sofort einzuschlafen?«

Claudi denkt fieberhaft darüber nach, ob sie mir dieses Versprechen wirklich geben kann. Ich mache es noch schwieriger für sie: »Und versprichst du mir, dass du in meinem Bett nie wieder furzt?«

»Na gut«, flüstert sie, »aber nur für heute.« Sie richtet sich leicht auf, damit ich meinen Arm unter ihren Kopf schieben kann. Dann kuschelt sie sich an meinen Hals und schnauft erwartungsvoll. Mir fallen zwar fast die Augen zu, aber diese Geschichte kann ich im Schlaf runterbeten, so oft habe ich Claudi schon von der Prinzessin erzählt, die eigentlich rothaarig war. Außerdem schläft sie meistens ein, bevor es richtig losgeht.

»Eines Tages …«, flüstere ich, denn unsere Geschichten fangen immer so an. Claudi strampelt erwartungsvoll mit den Beinen und unterbricht mich. Also von vorn: »Eines Tages wachte die wundervolle Prinzessin Kunigunde auf. Die Sonne schien durch ihr Fenster im großen Schloss und kitzelte ihre Nase. Sie nieste, streckte sich und bemerkte völlig überrascht: Etwas war ganz anders als sonst …«

Noch während ich die schönste aller Prinzessinnen vor Claudias und meinen Augen aufwachen, sich räkeln und gähnen lasse, entspannt sich Claudi in meinem Arm. Ich beschreibe das Lächeln der Prinzessin und ihr tolles, rotes Haar, das in der ganzen Welt berühmt ist. Dabei denke ich an Cora, die Halbamerikanerin aus meiner Stufe. Sie hatte mir einmal durch die Haare gestreichelt, als ich zum ersten Mal die Sache mit dem Gel ausprobiert habe, und damit in der Schule aufgetaucht bin.

»Sieht cool aus«, hate sie mit ihrem amerikanischen Akzent gesagt. Ich war hin und weg. Einen Tag später, ich sah immer noch genauso cool aus, kannte sie mich nicht mehr. Was ich immer noch SEHR schade finde.

»… Kunigunde nahm ihre goldene Bürste und setzte sich vor den Spiegel …«

»… an den Schminktisch«, murmelt Claudi noch, bevor sie endgültig einschläft.

»Genau, an den Schminktisch«, flüstere ich. Während ich meiner leise schnarchenden Schwester erzähle, dass die Prinzessin über Nacht plötzlich silbernes Haar bekommen hat, fällt mir etwas auf. Dass in meinem Leben plötzlich auch etwas ganz anders geworden ist. Nicht über Nacht. Aber mindestens genau so überraschend wie bei der wundervollen Kunigunde. Da Claudia nie lange genug wach geblieben ist, um das Ende zu erfahren, weiß ich selbst nicht, ob die Geschichte gut oder schlecht für die Prinzessin ausgehen wird. So weit sind wir noch nie gekommen. Jetzt, wo ich hellwach in der Dunkelheit liege und Claudi beim Schnarchen zuhöre, bekomme ich es auf einmal mit der Angst zu tun. Weil ich die leise Ahnung habe, dass uns die ganze Geschichte bald um die Ohren fliegt. Ich habe da so ein Gefühl, dass schon bald etwas passieren wird.

9.

Der neue Tag beginnt beschissen. Der Wolf hat mich geschlagen! Ich habe mich im Badezimmer eingeschlossen und kann ihn draußen hören. Claudi weint und Mama flippt im Flur aus. Wolfgang entschuldigt sich leise. Nicht bei mir, oh nein! Nur bei den Mädels. Er ist im Recht, findet er. Und er will nicht, dass ich ihn höre. Aber ich habe die besten Ohren. Mein Schluchzen schlucke ich runter. Von dieser Seite der Tür wird er nichts zu hören bekommen, auf gar keinen Fall! Auf der anderen Seite tobt meine Restfamilie gegen den Wolf. Fast tut er mir leid. Aber weil meine linke Wange brennt und er nicht zur Familie gehört, lasse ich ihn für seinen Ausraster leiden. Ich beiße in ein Handtuch, während er Entschuldigungen stammelt. Erst als die Mädels halbwegs beruhigt sind, beginnt er, auf die Tür zwischen uns einzureden.

»Hey, es tut mir leid! Mir ist die Hand ausgerutscht.«

Eine lahme Entschuldigung, die nicht mal halbwegs reicht, mich wieder milde zu stimmen. Ich sehe mir die Zahnbürsten in den beiden Glasbechern an, während der Wolf weitere Entschuldigungen hinter der Tür stammelt. Meine ist rot und steht neben Claudis Bärchenbürste im Glas. Sie hat so ein Kinderding mit dickem Stiel, der in einem grinsenden Bären endet, der meistens kopfüber in einer milchig-weißen Brühe steht. Wenn ich morgens gut drauf bin – aber wann bin ich das schon? – stecke ich die Borsten von Claudis und meiner Zahnbüste zusammen, als würden sie sich innig küssen. Sie geht erst eine Stunde später in den Kindergarten, wenn ich schon lange weg bin. Knutschtag ist, wenn sich unsere Bürsten küssen. Das heißt, wir spielen oder basteln oder malen, wenn wir wieder zu Hause sind. So ’ne Art Zeichen. Die Süße freut sich dann immer.

Diesmal versuche ich, die gelbe Bürste im anderen Glas zu zerbrechen. Es geht nicht, das Ding ist zu weich und biegsam. Wolfs Bürste ist wie er – unzerstörbar. Ich gebe auf, stöhne frustriert und werfe das Ding einfach ins Klo. Scheiß drauf!

Er hat mich noch nie geschlagen. Eigentlich hat er immer versucht, nett zu sein. Als Mama und er schon länger zusammen waren, hat der Wolf mal versucht, mich zu drücken. Auf eine komische, kumpelhafte Art. Sogar küssen wollte er mich. Wie einen richtigen Sohn wollte er mich behandeln. Aber den Zahn habe ich ihm gezogen! Mama und Claudi dürfen mich drücken und küssen, er nicht. Niemals! Claudi darf mich sogar ablecken, wenn sie ihre schrägen fünf Minuten hat. Aber der Wolf fasst mich nicht an. So sind die Regeln.

Er kommt damit nicht wirklich klar.

Claudi sitzt gern auf seinem Schoß und lässt sich knuddeln. Sie streichelt gern über seinen Bart und will ihn immer drücken »bis es knackt«. Er stöhnt dann übertrieben schmerzvoll und sagt »Aua! Ich halte das nicht mehr aus! Hilfe … Hilfe!«, und Claudi kichert. Mama lässt sich auch gern vom Wolf anfassen. Ich kann kaum zusehen, wenn er am Tisch sitzt und ihren Rücken streichelt. Er hat schmale Hände mit langen Fingern. »Pianistenhände«, sagt Mama manchmal. Dann muss ich fast kotzen. Dieses verliebte Gefummel kann ich echt nicht ertragen.

Aber der Wolf kann kochen. Er macht das Essen, wenn Claudi und ich mittags nach Hause kommen. Weil Mama oft bis acht oder länger arbeiten muss. Er will dann immer wissen, was wir erlebt haben, wie es im Kindergarten und in der Schule war. Ich habe keine Lust, ihm aus meinem Leben zu erzählen. Er gehört ja nicht dazu. Aber Claudi kann stundenlang erzählen – wer gerade ihr bester Freund ist, warum sie den Pudding am Montag besonders mochte oder wieso sie das Kinderfahrrad von Mikel fahren durfte. So Zeug halt. Ich denke, Klaus würde Claudi mögen, wenn er sie besser kennen würde. Bin mir sogar sicher, dass er die Süße lieben könnte. Besser als der Wolf. Obwohl Claudi seine Tochter ist. Schon komisch.

Irgendwann geben sie im Flur endlich auf und lassen mich im Badezimmer in Ruhe.

10.

»Was habt ihr denn vor?«, fragt Acki.

»Ehrlich keine Ahnung, Alter«, antworte ich. »Er hat nur gesagt, dass er ’ne kleine Spritztour machen will.«

Bei dem merkwürdig altmodischen Wort »Spritztour« hebt Acki die Augenbrauen. Ich zucke nur mit den Achseln. Klaus redet eben manchmal so. Der letzte Gong ertönt und wir werden vom Strom der anderen durch die engen Aluminiumtüren auf den Schulhof gedrückt.

»Bis später«, sage ich.

»See ya!« Acki klopft mir auf die Schulter und biegt Richtung Fahrradständer ab. Ich weiß, dass er enttäuscht ist, denn eigentlich haten wir was anderes vor. Er hat einen neuen Basketball bekommen. Ein richtig gutes NBA-Teil von Spalding, mit dem wir nachmittags ein paar Körbe werfen wollten. Aber irgendwie hate Klaus so geklungen, als sollte ich den Trip auf keinen Fall ablehnen. Als ich fast über den gesamten Schulhof marschiert bin, ohne Klaus zu sehen, kapiere ich, wieso ich auf keinen Fall ablehnen durfte. Zuerst schimmert nur ein giftiges Grün durch die Schüler. Es sind mindestens zwanzig, die in einem dichten Pulk um etwas herumstehen, was sich erst auf den zweiten Blick als ein alter Porsche herausstellt. Die Kiste muss mindestens dreißig Jahre alt sein. Knallgrün und wie aus dem Ei gepellt steht der Flitzer mitten auf dem Schulhof.

Das kann nur Klaus sein, denke ich. Denn sonst wäre wohl kaum jemand so frech, sich mitten auf das verbotene Gelände zu stellen, und dazu noch so zu parken, dass gleich drei der freien Lehrerparkplätze blockiert werden. Ich dränge mich durch die Schüler, auch ein paar Mädels stehen mit dabei, sehe durch das offene Fahrerfenster und: richtig! Klaus grinst mich an.

»Wartest du schon lange?«, frage ich.

»Ein Profi kommt immer zwanzig Minuten früher«, sagt er und grinst dermaßen cool hinter seiner Sonnenbrille hervor, dass ein Mädchen, ich glaube sie heißt Dörte oder so, aufgeregt zu kichern beginnt. Wir begrüßen uns wie immer mit dem »Checker« – seine geschlossene rechte Faust trifft meine ganz selbstverständlich durch das Fenster.

Ich ignoriere die leisen Sprüche der anderen. Hinter zwei Jungs erkenne ich Cora. Sie ist die Schönheit, die bisher nur ein einziges Mal von mir Notiz genommen hat. Obwohl wir in der gleichen Stufe sind, spielen wir absolut nicht in der gleichen Liga. Doch nun späht sie über den Rand ihrer Sonnenbrille und lächelt mich tatsächlich mit einen angedeuteten Nicken an. Ich nicke zurück, darauf konzentriert, nicht ZU erfreut zu grinsen. Dann steige ich auf der Beifahrerseite ein, als wäre ich es gewohnt, im Porsche von der Schule abgeholt zu werden.

»Überraschung gelungen?«, fragt Klaus, als er das Fenster hochgekurbelt hat.

Ich zucke betont lässig mit den Schultern. »Okay«

»Was heißt hier ›okay‹, du obercooler Lahmarsch! Du hast doch gesagt ›Porsche‹«, kommt es zurück. Seine Stirn runzelt sich ärgerlich über der Sonnenbrille, die aus der gleichen Zeit zu sein scheint wie der Wagen. Überhaupt sieht Klaus aus, als würde er in einem alten Film mitspielen. Er trägt ein weißes Shirt mit Rollkragen unter einer hellbraunen Lederjacke, die ihn aussehen lässt wie einen Hollywoodstar aus alten Filmen.

»Ich meinte einen Carrera oder einen GT3«, sage ich.

»Aber keinen Vorkriegsporsche.«

Klaus schnauft enttäuscht, da klopft es an seine Scheibe. Er kurbelt sie runter und Frau Kermeling, meine Mathelehrerin, beugt sich zu uns.

»Sie blockieren hier alles! Würde es Ihnen etwas ausmachen, anständig zu parken?«

Ich versuche unbeteiligt in die andere Richtung zu sehen, doch sie erkennt mich natürlich.

»Oh, Johannes«, sagt sie. Ihrem Blick ist die Überraschung anzusehen, als ich mit einem Winken zurückgrüße.

»Das ist mein Vater«, sage ich. Es klingt wie eine Rechtfertigung. Keine Ahnung, was die Kermeling von der Situation hält, aber geheuer ist ihr die ganze Sache nicht. Das kann ich sehen.

»Wir machen Ihnen sofort den Weg frei, Teuerste«, antwortet Klaus mit einem Lächeln, das Marmor schneiden könnte. Dann passiert etwas, was mir schon oft in solchen Situationen aufgefallen ist: Die Frau wird rot. Tiefrot. So, als hätte Klaus ihr irgendetwas völlig anderes gesagt. Er startet den Motor und lässt ihn mehrmals hintereinander aufheulen. Das wütende Röhren treibt auch die letzten Neugierigen auseinander. Klaus scheint das Schneckentempo zu genießen, mit dem er über den Schulhof rollt. Dann biegt er links ab und tritt das Gaspedal erst durch, als sich der Wagen in stabiler Geradesauslage befindet. Wir lassen schätzungsweise ein Drittel des Reifenprofils auf dem kurzen Stück Straße an der Schule zurück. Und mir ist völlig klar, dass sich morgen zwei Dinge geändert haben, wenn ich hier wieder auftauche. In der Skala cooler Typen werde ich um einige Plätze weiter nach vorn gewandert sein. Und die von mir unter den Teppich gekehrte Tatsache, dass der Wolf NICHT mein leiblicher Vater ist, wird sich herumsprechen. Ob das gut oder schlecht ist, kann ich nicht beurteilen. Noch nicht.

»Hast du geraucht?«, reißt mich Klaus’ Stimme aus meinen Gedanken.

»Nee, wieso?«

»Du riechst, als hättest du einen vollen Aschenbecher in der Tasche. Mach dein Fenster auf.«

»Es ist kalt«, protestiere ich.

»Riechst du das nicht?«, fragt er. Ich schüttele den Kopf.

»Bis gerade eben hat dieses Schmuckstück nach feinstem Leder gerochen. Jetzt stinkt es wie in einer Kneipe! Also mach endlich das Scheißfenster auf, Johnny!«