S.U.P.E.R. - Oliver Pautsch - E-Book

S.U.P.E.R. E-Book

Oliver Pautsch

4,9

Beschreibung

Eine SCHWARZE Limousine taucht aus dem Nichts auf. Eine GEHEIMNISVOLLE Frau streicht durch die Straßen. Ein spektakuläres FEUER in der Nacht. GEFAHR liegt in der Luft! Ergun und Paula entdecken neue, unglaubliche Fähigkeiten an sich. SUPERkräfte! Ergun kann plötzlich fliegen. Paula bekommt selbst beim leisesten Geräusch rasende Ohrenschmerzen. Was passiert mit ihnen? Und warum? Sind die beiden mit ihren neuen Fähigkeiten allein?

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Oliver Pautsch, 1965 in Hilden geboren, lernte in Solingen laufen, ging in Hilden zur Schule und studierte in Düsseldorf. Er wohnte und arbeitete lange Jahre in Köln. Heute lebt der Autor mit seiner Frau und drei Kindern wieder in Hilden.

Wenn er behauptet, die Region besser als den Inhalt seiner Schreibtischschublade zu kennen, kann man ihm ruhig Glauben schenken. Der Autor hat in der Region viele Jahre lang Klaviere und Flügel transportiert. Das tut er noch heute manchmal – falls er nicht gerade Romane oder Drehbücher schreibt.

Der Autor freut sich über einen Besuch seiner Heimseite:

www.pautsch.net

Für Luis

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

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Kapitel

Kapitel

Kapitel

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Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

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Kapitel

Kapitel

Nachwort

1.

Wie kann man nur an einem Montag in der ersten Stunde Sport haben?, dachte Ergun. Er seufzte in sein Kissen und konnte immer noch nicht fassen, was an diesem Morgen passiert war. Der Regen prasselte gegen das Fenster seines Zimmers. Im Kirchturm auf der anderen Straßenseite schlug die Glocke. Es war schon halb zwölf, doch statt zu schlafen, wälzte er sich todmüde im Bett herum. Ihm taten alle Knochen weh.

Obwohl das Schuljahr fast vorüber war, hatte Ergun sich immer noch nicht daran gewöhnen können, um acht Uhr morgens in kurzen Hosen im Freien auf einem Sportplatz stehen zu müssen. An diesem Montag war es Weitsprung gewesen. Bei Nieselregen in einen nassen Sandkasten zu springen war …

Bescheuert. Totaler Hirnriss!, dachte er.

»Um acht Uhr morgens in einen klitschnassen Sandhaufen zu springen, ist der totale Hirnriss!!«, hatte Luis wütend gesagt, als sie auf der Tartanbahn gestanden hatten. Triefnass und mit einer ekligen Sandschicht paniert.

Hirnriss … Das neue Wort musste er unbedingt aufschreiben. Ergun sprang aus dem Bett, knipste das Licht in dem kleinen Schrank mit der ausklappbaren Schreibtischplatte an und wühlte in seinen Heften herum. Aus dem zweiten Bett im Zimmer war ein Grunzen und Rascheln zu hören. Erguns größerer Bruder Cem drehte sich um und murmelte mit geschlossenen Augen: »Mach das Licht aus. Oder du bist tot, Alter!«

Neuerdings sprach Cem immer öfter wie ein Rapper oder ein Gangmitglied, was Ergun total bescheuert fand. Genauso wie Cems Rapperoutfit mit Hängearschhosen und dem viel zu hohen Basecap. Lächerlich!

Cem hat recht, es wird echt Zeit für ein eigenes Zimmer. Oder für einen neuen Bruder, dachte Ergun und seufzte wieder leise.

»Moment. Ich will nur eben was nachsehen.«

»Ey! Mach die fuckin’ Funzel aus!«

»Wie schreibt man ›Hirnriss‹?«, fragte Ergun, der das richtige Heft nicht finden konnte. »Mit Doppel-S oder Eszett am Ende?«

Cem richtete sich mit kleinen Augen im Bett auf.

»Sag mal, bist du noch ganz dicht, Bro’?«

»Was bedeutet ›Bro‹?«, fragte Ergun, ohne aufzusehen. Er sammelte Worte. Denn für einen Türken, der so türkisch war wie ein Leberwurstbrötchen – jedenfalls behauptete das sein bester Freund Luis –, konnte es nicht schaden, jedes, aber auch wirklich jedes Wort zu kennen, das irgendjemand sagte. In so vielen Sprachen wie möglich. Das zu sammeln, war sein Ziel. Dafür waren die verschiedenen Schulhefte, in die er alles notierte. Eins für jeden Buchstaben. Ergun sammelte die Wörter, ihre Aussprache, wo sie herkamen, einfach alles.

Aber jetzt konnte er das Heft für »H« nicht finden, es war weg. Verdammt!

»Nach dem langen Vokal Eszett, nach dem kurzen immer Doppel-S«, erklärte Cem und schmatzte verschlafen. »Du hast echt ‘n Schaden, Kleiner, weißt du das?«

»Noch mal«, sagte Ergun, der Heft »H« endlich gefunden hatte und nun nach dem richtigen Stift suchte. Der schwarze Kuli war für Deutsch.

»Was soll dieser Streberkram mitten in der Nacht?«, fragte Cem und gähnte.

»Du kennst doch die Eszett-Regel, wer ist hier der Streber?«, grinste Ergun.

»Aber erzähl’s nicht in der Hood, Bro’«, sagte Cem.

»Was?«

»›Hood‹ heißt Nachbarschaft, ›Neighborhood‹ abgekürzt auf englisch … und Bro’ ist die Abkürzung für Brother.«

»Englisch?«

»Jepp.«

»Ist ›jepp‹ auch Englisch?«

»Mann, du nervst vielleicht, Kleiner. Außerdem, wenn der Doc rauskriegt, dass du mitten in der Nacht in deinen Heftchen rumkritzelst, bekommen wir beide Ärger.«

Der »Doc« war Doktor Serdal Dervis. Vater von Cem und Ergun, außerdem Arzt mit einer Praxis auf der anderen Seite der Kirche, keine hundert Meter Luftlinie entfernt. Der Doc war meist abwesend, oft in Gedanken, aber liebevoll im Umgang mit den Jungs. Er wurde nur streng, wenn es im Haushalt oder Praxis nicht nach seinen Regeln lief. Und davon gab es einige.

Ergun hörte nicht auf die Warnung seines Bruder. Er schrieb mit Schwarz das Wort vom Sportplatz auf, bezeichnete »Hirnriss« als Fluch »so ähnlich wie ›Quatsch‹« und suchte dann nach dem roten Stift für die englischen Begriffe »Hood« und »Bro’«. Das waren zusammen mit »Amortisationsphase« und der zweiten Bedeutung des Wortes »Gummi« immerhin viereinhalb. Vier neue Wörter und eine neue Bedeutung.

Nicht schlecht für diesen mäßigen Montag, dachte Ergun. Er knipste das Licht aus, als er alles aufgeschrieben hatte, kroch unter seine Decke und merkte erst jetzt, dass seine nackten Füße und die Beine eiskalt waren.

Tja, die Beine, dachte Ergun unter der Decke, als er immer noch nicht schlafen konnte.

»Cem?«

Keine Reaktion.

»Cehemmmm?«

Stille.

»Cemmi! …Cemmilein?« Das half immer. Sein drei Jahre älterer Bruder hasste diese beiden Spitznamen, die ihm seine Mutter verpasst hatte.

»Was?!?«, hörte Ergun aus der Dunkelheit.

»Wie weit kannst du springen?«

»Schlaf jetzt, oder ich …«

»Ich meine Weitsprung«, unterbrach Ergun. Er bemühte sich, die nun folgende Frage ganz normal klingen zu lassen. »Schaffst du neun Meter?«

»Hast du sie noch alle? Kein Mensch springt neun Meter weit«, sagte Cem aus der Dunkelheit. Für ihn war Sport, egal welcher Art, das Größte.

»Weltrekord im Weitsprung der Männer ist acht Meter noch was. Neun Meter schafft niemand. Jedenfalls nicht ohne Doping. Und jetzt schlaf endlich!« Cem drehte sich absichtlich geräuschvoll im Bett um und nahm seinem kleineren Bruder den Mut, zu berichten, was ihm am Morgen passiert war.

Komisch, dachte Ergun. Zwischen »beichten« und »berichten« ist der einzige Unterschied das kleine »r«. Obwohl die beiden Wörter eine völlig unterschiedliche Bedeutung haben. Berichten wäre, wenn ich Cem oder Luis einfach erzählen würde, was im Sportunterricht passiert ist. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass bei der Sache etwas nicht stimmt. Also wäre es wohl eher beichten, wenn ich meinem Bruder oder meinem besten Freund erklären würde, dass mit mir irgendetwas nicht stimmt.

2.

»Acht Meter neunundneunzig.«

»Nee, das kann nicht sein«, sagte Scheffler. Er rümpfte seine nasse Nase.

»Doch«, beharrte Henri, dessen Brille vom Nieselregen gesprenkelt war. Er nahm das sandige Maßband hoch, als wäre das der Beweis. »Hier steht es!«

»Red keinen Quatsch, Henri«, sagte der Sportlehrer. »Das war schließlich Weitsprung, kein Dreisprung!« Er hatte aber bei Erguns Sprung nicht aufgepasst, weil Luis und zwei andere hinter ihm Unsinn mit den Speeren gemacht hatten, die neben der Bahn lagen.

Laserschwertkampf, so ein Blödsinn! So weit kommt es noch, dass die Kids sich hier mit den Sportgeräten die Augen ausstechen, während ich Aufsicht habe, dachte Scheffler. Er suchte im Sandkasten nach Fußabdrücken. Doch in dem nachlässig wieder glatt geharkten Sand waren keine Spuren zu erkennen. Also keine Anzeichen dafür, dass Ergun gelaufen statt gesprungen war.

Dieser verdammte Regen, dachte Scheffler frustriert. Alles war nass. Die Sportkleidung, die Gerätschaften, seine Tasche – Scheffler hasste solche Regentage auf dem Platz. Wieso konnte man die Leichtathletik nicht komplett in die Halle verlegen? Er seufzte, winkte Ergun »die Krücke«, wie er ihn insgeheim nannte heran und sagte: »Du sollst nicht über den Sand laufen, Ergun. Du sollst springen! Von da aus. Verstehst du?« Scheffler deutete auf den Absprungpunkt am Anfang des Sandkastens. »Nutze die Amortisationsphase!«

»Sie meinen den Übergang vom Anlauf zum Absprung, richtig?«, fragte Ergun ernsthaft.

»Jajaja, mach’s einfach noch mal.« Scheffler gab sich nicht die Mühe, dem Jungen weitere technische Einzelheiten zu erklären. Seiner Ansicht nach würde aus Ergun Dervis nie eine Sportskanone. Da konnte der Junge noch so neugierig sein.

»Selbst wenn du weißt, was Amortisationsphase bedeutet, oder wie man das verdammte Wort schreibt, wirst du nicht viel mehr herausholen«, murmelte Scheffler, während Ergun zum Startpunkt trottete. Hinter ihm machten die Jungs weiter Blödsinn und platschten lachend in den Pfützen herum. Aber dieses Mal konzentrierte Scheffler sich auf Ergun.

Er läuft wie ein Mädchen, dachte er, als Ergun gestartet war. Erst im letzten Drittel gab Ergun auf Zurufen des Sportlehrers etwas mehr Gas, richtete seinen Oberkörper in den letzten fünf Schritten vor dem Absprung auf und setzte das Sprungbein gar nicht schlecht ein, wie Scheffler fand.

Was dann folgte, sah aus, als hätte jemand am Sehvermögen des Sportlehrers die »Vorspulen«-Taste gedrückt. Der kleine Junge schoss mit rudernden Armen und vorgestreckten Beinen fast über den Sandkasten hinaus!

»Das kann doch nicht sein«, murmelte Scheffler und rieb sich die Augen. Sein Puls raste auf einmal. Obwohl sich ansonsten niemand zu wundern schien. Die nasse Klasse kümmerte sich eh nicht um den Jungen, der sich mit angeekelter Grimasse vom klebrigen Sand zu befreien versuchte.

»Neun Meter siebzehn«, meldete Henri und stapfte mit dem Maßband aus dem matschigen Sand der Sprunggrube.

Das kann nicht sein! Das geht überhaupt nicht! Aber ich habe es doch eben selbst gesehen, dachte der Lehrer verwirrt und schniefte. Seine Aufregung stieg. Mein lieber Schwan, hier passiert gerade etwas richtig Großes. Genau in diesem Moment!

Ergun hatte den aktuellen Weltrekord erwachsener männlicher Hochleistungssportler gebrochen. Um mehr als zwanzig Zentimeter!

»Äh … Ergun? Mach das noch mal! Bitte«, rief Scheffler dem Jungen zu. »Und ihr anderen geht schon in die Umkleide, duschen und umziehen.«

Das musste er der Klasse nicht zweimal sagen. Nur der blonde Henri stand unschlüssig mit dem gelben Maßband in der Hand herum, bis Scheffler ihm zuwinkte: »Henri, du auch. Ich messe selbst. Zisch ab!«

Dann wandte er sich wieder dem triefenden Schüler zu, der durch den an ihm klebenden Sand immer mehr einem panierten Schnitzel glich.

»Ergun, von dir möchte ich jetzt noch so einen Sprung sehen. Meinst du, du könntest das schaffen?«, fragte der Lehrer mit der sanftesten Pädagogenstimme, die er draufhatte.

»Kann’s versuchen«, antwortete Ergun.

»Dann los und mach mich stolz, mein Junge!«, sagte Scheffler. Ihm traten Tränen der Vorfreude in die Augen. Weltrekord! Der Herren! Wahnsinn!

Ergun zuckte die Achseln und trottete wieder zum Startpunkt, während Scheffler in seiner Sporttasche fieberhaft nach dem Handy suchte. Blut rauschte durch seine Ohren, die Begeisterung ließ seine Hände zittern, als er nach der Filmfunktion suchte, um den Weitsprung des Jahrhunderts, ach was!, des Jahrtausends zu dokumentieren.

»Jetzt!«, rief Scheffler.

Und Ergun lief los.

3.

Ergun flog. Es war einer dieser tollen Träume, in denen man nur die Arme ausbreiten muss und wie ein Vogel durch die Luft gleiten kann. Ein merkwürdiger Mischtraum, denn Ergun startete beim Weitsprung auf dem Sportplatz, doch nun war plötzlich Sommer und die Sonne schien, was ihn aber nur kurz wunderte. Denn schon flog er ganz im Süden der Türkei über das stahlblaue Wasser an der Lykischen Küste entlang. Unter ihm tuckerten Touristenboote aus der Bucht. Schöne Holzboote mit weißen Segeln. Familie Dervis hatte erst vor zwei Jahren während der Sommerferien die Großeltern des Doc in ihrem Heimatdorf Kas besucht.

Es wurde »Kasch« ausgesprochen, hatte Ergun später mit grünem Kugelschreiber in eins seiner Hefte notiert.

In diesem Traum kam es Ergun vor, als würde er von hoch oben das gütige Gesicht der Großmutter mit den Falten und dem verschmitzten Lächeln in den Wellen erkennen können, die sich unter ihm kräuselten. Die Sonne wärmte ihm den Rücken. Nach einer langen Kurve über der zerklüfteten Küste drehte er sich um. Die wärmenden Sonnenstrahlen sollten auch seinen Bauch aufheizen, denn von irgendwoher wehte es kalt. Das irritierte ihn. Etwas Hartes, Raues über ihm rieb an Nase und Stirn. Auch das kam ihm merkwürdig vor. Da er im Traum die Augen vor dem hellen Sonnenlicht geschlossen hatte, blinzelte er. Vorsichtig, um nicht geblendet zu werden, öffnete Ergun die Augen. Doch keine helle Sonne blendete ihn. Da war nichts! Nur die Struktur von etwas, das er kannte, war in der Dunkelheit zu erahnen. Wie eine extreme Nahaufnahme.

Das ist doch … dachte er. Und kam aber nicht drauf, weil es in den Traum von Sonne, Küste und blauem Wasser einfach nicht passte … Raufasertapete! Aber, das kann doch nicht sein! Aus der Traum. Mit weit aufgerissenen Augen und einem schrillen Schrei erwachte Ergun direkt an der Zimmerdecke. Unter ihm schreckte Cem aus dem Schlaf. Als er sich Sekunden später mit halb geschlossenen Augen schmatzend im dunklen Zimmer umsah, war der Spuk schon wieder vorbei.

Ergun hatte nicht nur geträumt, dass er flog!

Ergun war geflogen!

Das Problem an der Sache war, dass er es nicht im Griff hatte. Von wegen »Arme ausbreiten und fliegen wie ein Vogel«. Pustekuchen!

Ergun schoss wie ein Luftballon, den man nach dem Aufblasen losgelassen hatte, durch den Raum. Er stieß gegen die Hängelampe an der Decke, beschrieb eine atemberaubend schnelle Kreisbahn durch den Raum und knallte mit einem erschrockenen »Aaahhh!« auf die ausgeklappte Schreibtischplatte, die mit einem empörten Ächzen zu Bruch ging. Liniertes Papier aus den Schulheften mit Worten von »abartig« bis »Zyklop« flog ihm um die Ohren. Zusammen mit Stiften verschiedener Farben für die unterschiedlichen Sprachen.

»Alter, spinnst du jetzt völlig?«, murmelte Cem verschlafen. Er tastete nach seiner Lampe am Bett, fand den Schalter aber nicht sofort.

Ergun saß inmitten des Chaos, sah sich verwirrt um und rieb sich den Kopf. Draußen hatte der Regen aufgehört. Reste von Mondlicht krochen durch das Zimmer über den mit Papier übersäten Boden.

Für diese Sache gibt es kein Wort, dachte Ergun. Er war hellwach. Seine Gedanken rasten. Für das, was heute auf dem Sportplatz und gerade passiert ist, habe ich keine Erklärung! Verzweiflung erfasste ihn.

Cem sprang aus dem Bett und zerrte seinen

kleinen Bruder auf die Füße. »Was machst du denn?« Cem war ehrlich erschrocken.

»Neun Meter siebzehn«, stammelte Ergun mit weit aufgerissenen Augen.

»Hä?«, fragte Cem, der es nun mit der Angst zu tun bekam. Vielleicht hatte sein kleiner Bruder einen epileptischen Anfall. Oder wurde er verrückt?

»Neun Meter siebzehn«, sagte Ergun erneut. Er schien wie in Trance. »Aber … aber ich konnte es nicht wiederholen. Neun Meter siebzehn. Nur einmal. Einmal im Leben. Das ist riesengroße Scheiße, hat Scheffler gesagt. Er hat mich angeschrien.«

»Dieser bekloppte Sportlehrer, der sich seinen Pullover immer so bescheuert um den Hals bindet?«, fragte Cem und hielt Ergun im Arm. Der nickte wie verrückt.

»Bist du okay Kleiner? Oder soll ich den Doc holen?«, fragte Cem.

»Ich war bei Oma«, sagte Ergun leise.

Bevor Cem weitere Fragen stellen konnte, wurde die Tür aufgerissen und das Licht eingeschaltet. Erst jetzt bemerkte Ergun, dass der Lampenschirm auf dem Boden lag und die nackte Glühbirne von der Zimmerdecke baumelte.

»Was ist hier los?«, wollte eine schneidende Stimme wissen, die weder Lügen noch den Versuch dulden würde, sich irgendwie herauszureden.

»Ich bin geflogen!«, antwortete Ergun seinem Vater kleinlaut.

Denn das entsprach der Wahrheit. Den Doc log man besser nicht an.

Der Sportlehrer hatte Ergun am Morgen auf dem regennassen Sportplatz nach dem dritten, vierten und fünften Versuch im Weitsprung schließlich angeschrien. Nach dem sechsten Sprung gedroht und nach dem siebten Versuch versprochen, persönlich dafür zu sorgen …

»Dass du kleiner Scheißkerl von der verdammten Schule fliegst, wenn ich jetzt nicht noch so eine Weite zu sehen bekomme! Du hast es doch eben geschafft! Mühelos! Ich hab’s gesehen. Es kann nicht angehen, dass du plötzlich wie ein nasser Sack in den verdammten Sand fällst. Himmelarsch und zugenäht! SPRING!!«

»Aber … Ich kann es nicht steuern!«, stieß Ergun unter Tränen hervor. Und obwohl überhaupt nicht klar war, wen oder was er meinte, nahm Doktor Serdal Dervis seinen Sohn in den Arm und hob ihn hoch.

»Keine Angst«, flüsterte er beruhigend. »Wir sind ja da. Du musst dir keine Sorgen machen. Es war nur ein schlechter Traum. Jetzt bist du wieder wach. Es ist vorbei.«

Selbst der coole Cem ließ sich dazu herab, seinem kleinen Bruder beruhigend durch die dichten schwarzen Haare zu wuscheln, während dieser immer wieder »Ich kann doch nichts dafür« in den Hemdkragen des Vaters schluchzte.

»Du bist nicht allein«, sagte der Doc leise, setzte ihn auf das Bett und streichelte seinen Rücken.

Doch, genau das bin ich, dachte Ergun. Ich bin völlig allein!

Eine dunkle Gewissheit raubte ihm auf einmal den Atem. Dann hörte er auf zu schluchzen, atmete tief durch und beruhigte sich allmählich. Sein Vater hielt es für Zustimmung. Doch es war etwas ganz anderes.

Tief in seinem Herzen verschloss Ergun die Erkenntnis, dass niemand erfahren durfte, was an diesem Tag wirklich passiert war.

Ich bin völlig allein. Niemand darf wissen, dass ich fliegen kann!

4.

Als Ergun am nächsten Morgen mit kleinen Augen gähnend aus der Tür stolperte, bemerkte er die Frau auf der anderen Straßenseite nicht, die an der Kirchentreppe stand.

Nivert trat ihre Zigarettenkippe aus, als sie den schwarzhaarigen Jungen mit dem Tornister aus der Tür kommen sah. Die sechste Kippe an diesem Morgen an dieser Treppe.

»Ey, haste mal ‘ne Mark?«, fragte ein alter Mann mit langen fettigen Haaren in einem schmutzigen grauen Mantel.

»Die Mark ist tot, es lebe der Euro!«, antwortete die schlanke Frau mit der schwarzen runden Brille.

»Gib mir wenigstens ‘ne Kippe, du Schnepfe!«, sagte der Penner böse.

Bei ihren Zigaretten verstand Nivert keinen Spaß. Außerdem hatte sie es eilig, da der Junge aus dem Haus gekommen und nun bereits auf dem Weg zur Schule war.

»Hier«, zischte sie und drückte dem Mann etwas Kleingeld in Hand. Dann gab sie ihren Beobachtungsposten an der Kirchentreppe auf und heftete sich an Erguns Fersen.