Der Brunnen – Roman einer Kindheit - Erich-Günther Sasse - E-Book

Der Brunnen – Roman einer Kindheit E-Book

Erich-Günther Sasse

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Beschreibung

Als Jean, der Franzose, zurück nach Nizza gegangen ist, am Ende des großen Krieges, sind keine Männer mehr auf dem Hof, dort in Wallkau, jenem Dorf auf dem platten Lande zwischen großem Fluss und eiszeitlichem Hügelland. Die Erde ist fruchtbar, und nicht zählbare Generationen haben sich das Brot von ihr geholt. Nun müssen drei Frauen alles allein machen. Der Bauer ist tot, und auch von zwei Söhnen sind nur die Namen geblieben für den Enkel: Karl-Ludwig. Lange wird es dauern, bis die alte Grafe versteht, dass eine Zeit, gemessen nach Jahrhunderten, unwiderruflich zu Ende ist. Erst sträubt sie sich und kämpft, und ihr Stolz will nicht brechen und ihre Hoffnung nicht vergehen auf die Beständigkeit des Vergangenen: Karl-Ludwig soll der Erbe sein und alles so werden, wie es vielleicht nie war. Selten nur kann die alte Grafe den Rücken gerade machen und über die weiten Felder sehen bis zum Horizont. Und Erna, die Tochter, wird das Land ihrer Sehnsucht nicht erreichen. Und Frieda, Schwester und Magd, wird das Glück der eigenen Familie auch auf ihre alten Tage nicht mehr verspüren. Dreimal wird gefeiert: Karl-Ludwigs Taufe, da ist sogar sein Vater noch am Leben, die Hochzeit Franzens, der ein Versager ist, und später, schon nicht mehr ein dörfliches Fest, die bescheidene Hochzeit Karl-Ludwigs. Der kann nicht der Erbe sein und ist es doch. Das weiß die alte Grafe, als sie stirbt. Erich-Günther Sasse schlägt mit diesem Buch, angefüllt mit Lebensläufen und Schicksalen, Träumen und Tatsachen, Komischem und Ernstem, unbekannte Seiten einer Chronik auf, in der Weltveränderndes vermerkt ist. Nicht aber bekannte geschichtliche Tatsachen sind sein Thema, sondern vielmehr die schlichte und wahrhaftige Schilderung von deren Wirkung auf Veränderte und Betroffene, von denen er wohl selbst einer ist. Der erstmals 1980 im Hinstorff Verlag erschienene Roman wurde von der Stasi stark kritisiert. ... in seinem wesentlichen Inhalt nach offenkundig von einer feindlichen Position aus verfaßt und geeignet, antikommunistische Haltungen auszulösen bzw. zu verstärken. Seine Förderung und Herausgabe ist objektiv unverantwortlich im Sinne sozialistischer Kulturpolitik und ihrer Prinzipien.“ Joachim Nowotny empfahl es seinen Studenten am Leipziger Literaturinstitut als Lektüre. Das kritische Buch erlebte in der DDR drei Auflagen. Dem E-Book wurde der Auszug aus der Stasiakte und die Rezension von Joachim Nowotny angefügt. Möge der Leser entscheiden!

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Impressum

Erich-Günther Sasse

Der Brunnen – Roman einer Kindheit

ISBN 978-3-86394-793-4 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1980 im VEB Hinstorff Verlag Rostock.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Die Figuren in diesem Buch sind Produkte der Fantasie. Jede Übereinstimmung mit lebenden oder toten Personen, tatsächlichen Orten und Geschehnissen kann nur zufällig sein.

Vorspann

Man kann die Stadt wechseln, aber nicht den Brunnen. (Chinesisches Sprichwort)

Es ist Zeit, drängt mich der Teil meines Ichs, der vielleicht mein Gewissen ist, das manchmal die Züge der alten Grafe trägt: Es ist an der Zeit, aufzuschreiben, was war, bevor die Letzten sterben.

Zeit ist es, zu reden über Wallkau, das mein Zuhause ist. Ganz gleich, wo ich gerade bin, ganz gleich, was ich tue, ganz gleich, wo ich sein werde.

Immer wird die alte Grafe, meine Großmutter, am Fenster ihrer Stube stehen und mich ansehen mit ihren vertrauten Augen. Mit ihren vertrauten Händen wird sie winken.

Immer werde ich mich an den Geruch in ihrer Küche erinnern. Nach Kamille, die unter dem Fensterbrett zum Trocknen hing. Nach Reseda. An die ins Fenster fallende Sonne. An die schlurfenden, humpelnden Schritte der alten Grafe.

Den Gesang dieses Hauses, der mir die Erinnerung leicht werden lässt.

Eine Erinnerung voller Hoffnung, ohne die ich nicht leben könnte.

Wallkau war ein Dorf von zweihundert Seelen, das im platten Land lag, ungefähr dort, wo die Saale in die Elbe fließt, dreißig Kilometer von der großen Stadt entfernt und gut zweihundert von Berlin.

Eine Teerchaussee führte in die kleine Stadt, und mehrere Feldwege verliefen sich zwischen den Äckern. Generationen von Bauern hatten die dichten Wälder abgeholzt und Gräben gezogen, die das Wasser von den Feldern leiteten.

Von alters her gab es in Wallkau einige große Höfe, ein paar mittlere und viele Leute, die nichts besaßen. Es gab Neid und Streit, aber alle waren davon überzeugt, dass Wallkau der wichtigste Ort der Welt sei und schon immer gewesen war. Viel wichtiger als Leiwitz und die kleine Stadt und als die Kreisstadt sowieso.

Grafes Hof war nicht der größte, aber auch lange nicht der kleinste. Ställe, Scheunen und das Wohnhaus, dessen sechsfenstrige Vorderfront zur Straße sah, bildeten ein Viereck.

Genau in der Mitte des Vierecks befand sich der Brunnen. Ein tiefer Brunnen mit gutem, gesundem Wasser, der auch bei der größten Trockenheit nicht versiegte.

1. Teil

1. Kapitel

An einem Apriltag des Jahres vierundvierzig, der große Krieg dauerte fast fünf Jahre, saßen die alte Grafe und Frieda in Grafes Waschküche. Jede der Frauen hielt auf ihren Knien eine fast fertig gerupfte fette Gans.

Um diese Zeit werden keine Gänse geschlachtet. Aber Grafes hatten eine Gans, die sich jedes Frühjahr auf ihre Eier setzte und Gössel aufzog, wie andere, normale Gänse das tun. Im Herbst fing diese wunderliche Gans noch mal an, mit ihrem Ganter schönzutun. Letzten Oktober hatte sie sieben Gössel ausgebracht, mit denen nun geschehen war, was das Schicksal der Gänse ist.

Frieda strahlte die Schwester an: Nun sind die Russen bald kaputt! sagte sie und wischte mit dem Handrücken ihre rote Nase ab.

Wie kommst du denn darauf?

Ach, nur so.

Die alte Grafe wusste, dass Frieda manchmal die absonderlichsten Gedanken hatte: Du bist doch bescheuert!

Hätte sie vielleicht sagen sollen, dass Erna, ihre Tochter, manchmal Radio London einstellte, nicht ohne vor alle Schlüssellöcher Topflappen zu hängen? Vielleicht, dass sie selbst, die alte Grafe, vor Angst, ihre beiden Söhne könnten auch noch fallen wie ihr zweitjüngster, jede Nacht wach lag und betete: Lass sie leben, lieber Gott, bitte, bitte!

Was du bloß immer redest. Frieda war gekränkt und biss auf ihren Lippen herum.

Erna kam in die Waschküche. Sie war schmal und blass und hatte tiefe Ringe unter den Augen.

Ist Post gekommen? fragte die alte Grafe und sah auf.

Erna schüttelte den Kopf und schluckte.

Wieder nichts, murmelte die alte Grafe, wieder nichts, ich versteh das nicht!

Erna stellte sich neben ihre Mutter und schwieg. Sie sah auf die roten, knochigen Finger, die Federn aus der fetten Gänsebrust rupften und in eine Schüssel fallen ließen.

Ich weiß nicht, sagte die alte Grafe. Ihre Stirn wurde faltig, das Gesicht verzog sich zu einem verlegenen Lächeln: Wenn wir nur heil davonkommen!

Hör mal, Frieda wippte aufgeregt mit dem Fuß, an dem ein Holzlatschen hing, damals in Hamburg ...

Hättest ja dableiben können, fuhr die alte Grafe sie an.

Ohne mich, sagte Frieda, wärt ihr hier nie fertig geworden, aber das wird ja nicht gesehen.

Die alte Grafe lachte, und Frieda starrte die weiß gekalkte Wand an. Mit ihrer rechten Hand strich sie über den Verlobungsring an der Linken, der war ganz schmal geworden im Laufe der Zeit. Hamburg, dachte sie, ach, Hamburg! Hier wischte sie Fußböden und wusch die große Wäsche, ach, Hamburg! Sie sah, dass Erna einen dicken weißen Brief mit amtlichem Stempel auf den Dämpferrand legte und die Finger auf ihren Mund drückte.

Erna ahnte, was in dem Brief stand, deshalb hatte sie nicht den Mut gehabt, ihn zu öffnen, und sie wagte nicht, die alte Grafe anzusehen. Sie lief aus der Waschküche. Auf dem Hof blieb sie stehen. Sie hörte ihre Mutter fragen: Was war denn mit Erna? Sie hörte Frieda sagen: Ich hatte da ganz andere Aussichten, jawohl, das kannst du dir endlich merken! Und die alte Grafe: Ja, einem Verheirateten bist du auf den Leim gegangen, das haben wir gesehen.

Dann war es still. Vielleicht eine Minute, vielleicht zwei. Als die alte Grafe zu schreien anfing, hielt Erna sich die Ohren zu und lief ins Haus.

2. Kapitel

Frieda huschte in der Küche umher und verscheuchte eine Fliege, die auf der Butter saß.

Tonne hat Alexandern mit der Kette geschlagen!

Du lieber Gott! Die alte Grafe nahm die Wassereimer und schlurfte über den Hof zum Brunnen. Sie klappte den Holzdeckel auf, ließ den Eimer nach unten und drehte die Kurbel so lange, bis sie ihn wieder oben hatte.

Eine Pumpe wollten wir auch schon ewig bauen, seufzte sie und blickte zum Himmel: Herr, nimm mir nicht übel, was ich tue, du weißt, dass es sein muss!

Sie zog aus ihrer Schürzentasche ein Fläschchen, das sie mit Wasser füllte. Eine Heidin bin ich deswegen noch lange nicht, murmelte sie, als sie es wieder in die Tasche steckte. Sie hob die Wassereimer auf und schlurfte in ihre Küche zurück. Dort stellte sie die Töpfe auf dem Herd zurecht und legte eine Kohle auf.

Bis aufs Blut geschlagen, sagte Frieda.

Du lieber Gott, sagte die alte Grafe, die überhaupt nicht hingehört hatte. Wenn wenigstens Erna ihrer hier wäre, dachte sie, als sie ins Schlafzimmer humpelte.

Das Sonnenlicht prallte auf die verschlossenen Fensterscheiben, es sickerte durch die dicken Gardinen und verfing sich in den Fransen des braunen Läufers.

Die alte Grafe beugte sich zu Erna hinunter und sagte: Nun los, Kind, nun mach man hin! Ihre Sprache war mit plattdeutschen Worten durchsetzt, wie sie hier noch gesprochen wurden.

Erna lächelte krampfhaft, und mit aller Kraft, die sie noch hatte, das war nicht mehr viel, stöhnte sie auf.

Sei tapfer, Mädchen, sagte Doktor Kannebein, denk an deinen Mann im Felde!

Der Doktor war nie Soldat gewesen. So ein Doktor kommt viel herum. Er hat zu tun mit Geburt und Tod. Zu ihm sagen die Leute mehr, als es sonst ihre Art ist.

Ich kann doch aber nicht mehr! Erna versuchte, ihrer Mutter in die Augen zu sehen.

Die alte Grafe guckte Doktor Kannebein an. Ja, ja, dachte sie, an wen sollte sie denn sonst denken?

Der Doktor warf der Hebamme, Frau Niebuhr, die wie immer einen tadellos weißen Kittel trug und sich Schwester Erika nennen ließ, einen Blick zu. Schwester Erika nickte.

Wir müssen uns beraten, sagte sie und folgte dem Doktor ins Wohnzimmer. Beratet man, dachte die alte Grafe und sah aus dem Fenster. Frieda schlappte über den Hof. Die Sonne versteckte sich hinter einer weißlichen Wolke. Der Wetterhahn auf dem Scheunendach drehte sich wie verrückt.

Die alte Grafe bückte sich und versuchte, Erna das Kopfkissen zurechtzuziehen. Wenn es nicht gleich kommt, seufzte sie, muss er bestimmt noch mit der Zange ran! Erschrocken nahm sie die Hand vor den Mund. Ach du lieber Gott, was hatte sie denn nun gesagt?

Jetzt, schrie Erna, jetzt geht’s los!

Die alte Grafe riss die Tür zum Wohnzimmer auf. Da saßen Doktor und Hebamme. Schwester Erika hatte die Beine übereinandergeschlagen und rauchte seelenruhig eine Zigarette. Ja, so machen wir’s! Der Doktor räusperte sich und tat, als hätten sie wirklich übers Kinderkriegen gesprochen.

Was hier los ist, sehe ich, dachte die alte Grafe.

Erna wimmerte.

Wenn Sie jetzt nicht sofort kommen, fuhr die alte Grafe den Doktor an, machen wir alles alleine, und ich bezahle überhaupt nichts!

Schwester Erika zog sich mit einem Ruck den Kittel über der vollen Brust zurecht. Sie drückte die halb aufgerauchte Zigarette aus und sprang auf, ohne die alte Grafe eines Blickes zu würdigen. Dann wollen wir mal! Der Doktor rieb sich die Hände.

Das will ich euch auch geraten haben, dachte die alte Grafe.

Doktor und Hebamme kamen gerade noch rechtzeitig, um Karlludwig, der sich schon ziemlich weit vorgewagt hatte, endgültig an die stickige Luft des Schlafzimmers zu befördern. Der Doktor hielt ihn an den Beinen hoch und klatschte ihm ein paar auf den Hintern, bevor er ihn Frau Niebuhr übergab.

Ein ganz kräftiges Kerlchen, stellte er beiläufig fest. Wie soll er denn heißen? fragte er weniger beiläufig.

Karlludwig! Die alte Grafe stellte sich steif hin und dachte an ihre Söhne. Ein Karlludwig, dachte sie, das ist ja allerhand. Und dann dachte sie: Mitten in der düstern Nacht hat der Storch ein Kind gebracht! Dabei war heller Tag, und die Sonne schien.

Der Doktor gab keine Ruhe. Wieso denn das? fragte er verwundert. Er hatte mehr an Adolf gedacht oder auch an Hermann.

Weil mein Ältester Karl hieß und der Zweite Ludwig, murmelte die alte Grafe, und alle beide sind gefallen! Karlludwig, wiederholte sie und lief, um das heiße Wasser zu holen, in die Küche.

Dort war Tante Frieda dabei, sich ein Stückchen fettes Schweinefleisch aus dem Topf zu fischen. Sie schrie leise auf, ließ es in die Suppe zurückfallen und wischte die Finger an der Schürze ab.

Ein Karlludwig ist da, sagte die alte Grafe. Sie goss das Wasser in den Eimer, füllte kaltes dazu und prüfte mit dem Ellbogen ob es gut war. In der Küchentür sagte sie: Bilde dir bloß nicht ein, dass ich nichts gesehen hätte! Sie konnte jetzt nicht wütend sein, durchgehen lassen durfte sie das aber auch nicht.

Frau Niebuhr badete Karlludwig. Die alte Grafe stellte sich daneben. Karlludwig, flüsterte sie, und sie stand und spürte, dass die Trauer, die tagelang wie ein Bleisack auf ihr gelegen hatte, zu schwinden begann.

Ist alles dran, sagte Frau Niebuhr und hob Karlludwig hoch. Jeder wird Ihre Gefühle verstehen! Der Doktor legte der alten Grafe die schmale, leicht blond behaarte Hand auf den Arm. Mit seinen blauen, ein bisschen leeren Augen blickte er Schwester Erika an.

Jawohl, bestätigte die und trocknete Karlludwig mit einem blau geblümten Badetuch ab. Dabei ließ sie den Doktor nicht aus den Augen.

Lass mir ja den Jungen nicht fallen, dachte die alte Grafe und fasste mit zu.

Erna richtete sich hoch und trank einen Schluck vom kalten Pfefferminztee. Ich bin durch, dachte sie, endlich bin ich durch. Als sie sich zurücklegte, lächelte sie, das sah aber keiner.

Die alte Grafe lief in die Küche. Frieda, rief sie, koch Kaffee für den Dokter und bring die Gläser, wir wollen Schnaps trinken!

So ein Getue, sagte Tante Frieda, führte aber folgsam aus, was die alte Grafe bestimmt hatte.

3. Kapitel

Zu Grafes Hof gehörten gut hundert Morgen Land. Die Äcker lagen verstreut in der Feldmark, wie sie im Laufe der Zeit dazugekommen waren, erheiratet oder ererbt, manche vielleicht auch gekauft. Fünfzehn Milchkühe standen im Stall und vier Pferde, von den Schweinen und Hühnern, Enten und Gänsen nicht zu reden.

Nach und nach waren die drei Söhne der alten Grafe eingezogen worden. Vor wenigen Wochen hatte es auch den Knecht getroffen. Nun lag die ganze Arbeit auf den beiden Frauen. Manchmal half der bucklige Paul, ihr Bruder, der sich in den Büchern auskannte.

Die alte Grafe trug eine verwaschene blassblaue Kittelschürze, das schwarze Kopftuch hatte sie in die Stirn geschoben. Einen Moment blieb sie auf der unteren Treppenstufe des Haustritts stehen. Ihr Herz schlug so stark, dass sie die Hand dagegenpressen musste. Gott, dachte sie, Gott hat uns einen Enkel gegeben, einen Sohn hat er uns wiedergeschenkt. Sie blickte zum Himmel, an dem ein paar weiße Wolken hingen: Dafür dank ich dir, o Herr! Dann bückte sie sich und zog ihre Holzpantoffeln über. Sie ging in den Stall, setzte sich unter eine Kuh und fing an zu melken. Durch die offene Scheunentür sah sie in den Garten. In einem uralten Gravensteinerbaum, der noch kahl war, hüpften die Spatzen umher. Hinter den Wiesen floss ein Graben, an dessen Rand Erlen wuchsen, die jedes Jahr ausgelichtet wurden. In der Scheunenecke, unter Haselnussgesträuch, verrosteten Maschinen, verfaulten Wagenräder aus Holz.

Auf der Chaussee raste der Mercedes des Barons Ridesel. Mehrere Planwagen, die von Pferden gezogen wurden, fuhren gemächlich auf die kleine Stadt zu. Die Zigeuner, dachte die alte Grafe, das sind die Zigeuner, es ist jetzt ihre Zeit!

Sie konnte weit über das Land sehen, und sie spürte, wie schön dieses Land war. Ihr Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, als sie dachte: Nun werden wir überleben, nun kann kommen, was will!

Tante Frieda kam angeschlappt, in einer abgelegten Kittelschürze ihrer Schwester. Ihre Haut war blass, die Haare, grau und strähnig, in einem winzigen Knoten zusammengefasst. Sie setzte sich unter eine Kuh und sagte: Tonne hat Alexandern mit der Kette geschlagen, bis das Blut gekommen ist. Mit Nachdruck wiederholte sie: Jawohl, das Blut!

Nun endlich begriff die alte Grafe, wovon Tante Frieda die ganze Zeit geredet hatte. Wie ein Vieh, empörte sie sich.

Tonnes Hof lag neben Grafes. Die Tonnsche war sehr stolz auf ihre hundert Morgen. Wenn sie von ihrem Mann redete, sagte sie: Herr Tonne, der Bauer. Sie hatte einen Bart und war so dick, dass sie sich nicht bücken konnte. Ihr Mund stand nie still. Sie wusste alles, was in Wallkau und Umgebung passierte, und konnte nichts für sich behalten. Tonne hatte eine Glatze und wurde von Jahr zu Jahr krummer und schwerhöriger. Manchmal verdrosch er Frau und Tochter. Die alte Grafe wusste, wie sehr die Frauen unter seinen Wutanfällen zu leiden hatten. Oft genug hatten sie bei ihr Schutz gesucht.

Der Russe soll Käthchen scharf angeguckt haben! Vor Aufregung verschluckte sich Tante Frieda. Ihre rote Nase wurde noch röter, die faltige Haut am Hals zitterte.

Hat der nie, sagte die alte Grafe, wo doch Käthchen ein bisschen trullig ist.

So ein Stinkrusse! Tante Frieda hatte Schmerzen in den krummen Fingern, das kam von der Gicht, und es wurde immer schlimmer.

Mir kann keiner was, dachte die alte Grafe und setzte sich unter der nächsten Kuh zurecht: Gott sei Dank kann mir keiner was!

Sie war nicht schuldig geworden. Nicht an Deutschland und schon gar nicht an sich selbst. Aber weil sie nicht wusste, was sonst kommen würde, hoffte auch sie auf den Endsieg.

Viel später schickte sie Tante Frieda ins Haus zurück und bestimmte, dass sie das Abendbrot zurechtmachen sollte.

Als die alte Grafe schließlich auch in die Küche kam, zeigte die Uhr auf dem Schrank halb acht.

Kannst gleich essen, brummte Tante Frieda und schnitt mit dem Messer Brot ab.

Keine Zeit! Die alte Grafe wusch sich in der weißen Porzellanschüssel neben dem Küchentisch ihre Hände. Sie band das Kopftuch ab, zog die Kittelschürze aus, ordnete ihre Haare und schlich ins Schlafzimmer. Dort trat sie an Karlludwigs Körbchen. Lange betrachtete sie sein rotes, runzliges Gesicht, das ihr nicht fremd war. Endlich zog sie das Fläschchen aus der Tasche, öffnete es und ließ ein paar Tropfen auf ihren rechten Zeigefinger fallen. Vorsichtig strich sie damit über Karlludwigs Stirn. Ein feierliches Gefühl erfüllte die alte Grafe. Sie hatte getan, was eine uralte Überlieferung von ihr verlangte: Dass jedes auf dem Hof geborene Kind außerhalb der evangelischen Taufe mit Wasser aus dem Brunnen getauft werden müsse. Ein Überbleibsel aus der heidnischen Zeit, gegen das die Pastoren vergeblich angekämpft hatten. Ein Geheimnis, dessen Sinn niemand mehr kannte, war damit verbunden. Ihre Kinder waren jedenfalls alle so getauft worden, Karlludwig sollte es auch sein. Behutsam strich sie mit ihrer großen, rauen Hand über das Kissen. Damit, dachte sie und spürte, wie es in ihrer Kehle heiß hochstieg, bist du nun endgültig einer von uns!

Sie sah kurz nach Erna, die sich ausschlief, und schlurfte zurück in die Küche.

4. Kapitel

Nichts passt mehr, dachte Erna ärgerlich, als sie vor dem Spiegel ihr gutes, sonntagsches Kleid anprobierte. Wenn ich ihr damit komme, dass ich neue Sachen brauche, wird sie zu meckern haben, knausrig wie sie ist. Erna strich den Stoff über den Hüften glatt und drehte sich.

Was machst du denn da? Die Stimme der alten Grafe klang gereizt.

Erna fuhr zusammen. Mit einem verlegenen Lächeln sagte sie: Ich wollte bloß mal sehen, welche Kleider ich noch anziehen kann.

Die alte Grafe musterte ihre Tochter misstrauisch. Verwundert stellte sie fest, dass Erna, die immer blass gewesen war und kränklich, auf einmal so gesund aussah, so ganz und gar verändert. Sie dachte daran, dass ihre Tochter als Kind oft gefährliche Halsvereiterungen gehabt hatte und dass es nach einer Lungenentzündung schien, als habe sie die Schwindsucht.

Das Kleid kommt aus, sagte sie streng, die Trauerzeit wird eingehalten, wie es Sitte ist!

5. Kapitel

Die ersten Küken waren aus den Eiern geschlüpft, und die Katzen hatten gejungt, als die alte Grafe erschrocken ahnte, dass mit Erna etwas nicht stimmte. Dass sie manchmal an schlimme Sachen dachte, die sie mit einem Mann zu tun wünschte. Sachen, an denen sie, die alte Grafe, nie viel Gefallen gefunden, die sie über sich hatte ergehen lassen. Es beunruhigte sie sehr, nicht zu wissen, ob der Mann, an den die Tochter dachte, auch wirklich ihr eigener Mann war.

6. Kapitel

Karlludwigs Vater hatte keinen Urlaub erhalten. Täglich schrieb er einen Brief an Erna. Wenn Zeit war, antwortete sie, aber das war meist nur sonntagnachmittags. Wir jagen den Iwan die Hügel hoch und wieder runter, hatte Karlludwigs Vater beim vorletzten Mal geschrieben, und so schnell, wie er laufen will, kann er gar nicht. Dann war eine ganze Woche keine Post gekommen. Endlich hatte die Postbotin, Frau Kuhrt, gleich einen Packen Briefe gebracht. Erna spürte zwischen den Zeilen, aus jedem Wort, die Ratlosigkeit, die Verwunderung über das, was Karlludwigs Vater sah, was doch aber nicht sein durfte.

In diesem Sommer, der noch gar kein richtiger Sommer war, obwohl schon die ersten Kirschen reiften und die roten Johannisbeeren, sagte die alte Grafe: Für die Ernte fehlt uns noch ein Mann! Sie ging zu ihrem Nachbarn, Ortsbauernführer Kreller. Kreller telefonierte mit dem Landrat.

Nach ein paar Tagen kam Jean, der Franzose.

Das war was für die Weiber in Wallkau. Ein französischer Mann aus Frankreich! Sie bestürmten die alte Grafe, über das Wunderwesen zu erzählen. Aber die alte Grafe schwieg und beobachtete Karlludwigs Mutter misstrauisch. Erna wusste, dass sie nie in ihrem Leben Frankreich sehen würde. Immerhin konnte sie sich damit brüsten, zwei Franzosen kennengelernt zu haben. Der erste war der Französischlehrer ihres Bruders am Gymnasium in der Kreisstadt, der ein paar Mal vorbeigekommen war, um sich über den Bruder zu beklagen. Ein schwerer, massiger Mann mit gelbem Gesicht, eingefallener Brust, Atemnot und großen, tragischen Augen. Weiß der Teufel, welches unselige Geschick ihn ausgerechnet in die Kreisstadt verschlagen hatte. Zu seiner deutschen Frau, mit der er nicht gut lebte, zu seinen deutschen Schülern, die über ihn lachten, wenn er sich schwer durch die Bankreihen schob, wenn er um sich sah mit seinem müden, traurigen Blick, wenn er sich schwerfällig auf einen Stuhl fallen ließ und dabei stöhnte: Rien ne va plus! Der Bruder hatte ihn oft nachgeäfft. Und Erna hatte sich halb tot gelacht, wenn er mit vollendeter, weit ausholender Geste, als wollte er die ganze Welt umfassen, sein buntes Taschentuch herausgezogen und sich den Schweiß von der Stirn gewischt hatte.

Was aus dem Französischlehrer geworden war, wusste Erna nicht. Ihr Bruder war gefallen.

Als die Katzen nachts schrien und die Glucken noch mal brüteten, zog Jean in einen Holzverschlag hinter Grafes Futterküche. Er war braunhäutig und kraushaarig, und wenn er lachte, zeigte er seine weißen Zähne.

7. Kapitel

Es dauerte nicht lange, bis die alte Grafe dahinterkam, was Erna jeden Abend in den Pferdestall trieb. Dabei war alles ganz unschuldig. Erna setzte sich auf eine umgedrehte Kiepe und trällerte ein Liedchen. Sie wartete darauf, dass Jean von Nizza erzählte. Die Pferde wühlten im Hafer und schnauften, und draußen piepten die Spatzen. Die Tauben suchten auf dem Hof Strohhalme zusammen, die sie in ihren Schlag trugen.

Dass es in Nizza nicht so kalt sei wie hier und viel schöner, sagte Jean. Endlich knöpfte er seinen Hemdkragen auf. Er trug ein Hemd des alten Grafe, das ihm über den Schultern zu eng war. Erna guckte auf seinen Hals, seine Brust und verstohlen auch auf seine Hose. Jean spürte Ernas Blicke und hatte nicht wenig Lust, ihr zu zeigen, was sie sehen wollte. Aber die alte Grafe passte auf. Sie schlurfte an der Pferdestalltür vorbei und machte sich auf dem Hof zu schaffen.

Das Meer sei blau bei ihnen, erzählte Jean, dabei sah er auf Ernas Bauch.

Das reichte der alten Grafe. Erna! rief sie scharf.

Der Italienerhahn rannte hinter einer Leghornhenne her. In der Scheunenecke erwischte er sie und pickte ihr den Kamm blutig.

Gleich, seufzte Erna und starrte auf Jeans Hand, die dem zufrieden schnaufenden schwarzen Wallach Moritz zwischen den Ohren spielte. Erna, rief die alte Grafe schärfer, sofort scherst du dich ins Haus! Erna raffte sich auf. Langsam ging sie ins Haus zurück und schlich in die Stube. Die alte Grafe war gleich hinterher.

Eine erwachsene Tochter, schlimm, dass man da so aufpassen muss!

Ich bin kein kleines Kind mehr, versuchte Erna sich zu rechtfertigen.

Die alte Grafe war in Fahrt. Eine Tochter, die keine Scham im Leibe hat. Machst du mir Schande, du, dann ... Sie fuchtelte drohend mit ihrer Faust.

Ich weiß selber, was ich zu tun habe, sagte Erna schnippisch.

Mit dem hast du nichts zu reden! Die alte Grafe lief ins Schlafzimmer, um nach Karlludwig zu sehen.

Erna ging in die Waschküche, am nächsten Tag wollten sie waschen, und die Wäsche war noch einzuweichen. Am Boden lag ein Hemd des alten Grafe, das Jean getragen hatte. Erna bückte sich, um es aufzuheben. Sie sah, dass es verschwitzt war und auf dem Rücken ausgebleicht. Mit beiden Armen presste sie das Hemd gegen ihre Brust. So stand sie eine Weile und sah aus dem geöffneten Fenster. Grau senkte sich der Sommerabend über das Dorf. Die letzten Spatzen piepten verschlafen. Die Katzen schrien in den Büschen. Erna stand und stand.

Was ist denn hier los? fragte die alte Grafe hinter ihr.

Erna drehte sich mit einem Ruck um. Es ist so schlecht, log sie und steckte das Hemd unter den Kessel. Das muss weg! Sie bückte sich schnell, damit ihre Mutter nicht sehen konnte, wie rot sie geworden war.

Zum Arbeiten, sagte die alte Grafe, wäre das noch lange gut gewesen.

8. Kapitel

Die Sonne schien schon so hell, dass die Augen schmerzten, wenn man aufsah.

Das Pferd Moritz trottete über den Feldweg. Tante Frieda erzählte Erna, wie gut sie es in Hamburg gehabt hatte. Erna hörte nicht hin und schwieg. Sie sah vor sich auf dem einzigen Hügel in der Gegend das Schloss des Barons von Ridesel thronen. Ein gewaltiges Haus, das ihr immer ein bisschen Angst machte. Paul hatte ihr eine alte Chronik gezeigt, in der stand, dass es ein Kloster gewesen war, in dem fünf Mönche zusammen mit zwanzig Weibsbildern gehaust hatten. Das konnte die Kirche nicht erlauben. Sie verkaufte die heruntergekommene Wirtschaft an die Barone von Einsiedel. Die hatten große Mittel darauf verwandt, das düstere alte Haus in einen Herrensitz mit verschnörkelter Fassade umbauen zu lassen. Die Einsiedels waren vor hundert Jahren ausgestorben. Der letzte hatte sich eine Kugel in den Kopf gejagt. Schloss und Gut waren an nahe Verwandte, die Ridesels, gekommen. Die besaßen es noch jetzt.

Der riesige Schlossturm hatte die Bauern in den entlegenen Dörfern an ihre Pflichten gegenüber dem Kloster erinnert und die auf den Feldern gemahnt, fleißig zu arbeiten für Gott, den Herrn, für den Baron, den Herrn. Das alles hatte Erna von Paul gehört.

Seit kurzer Zeit war der Turm vom Grund bis zur Uhr aufgerissen. Ein Gerüst umgab ihn. Mit viel Aufwand ließen die Ridesels das Symbol ihrer Herrenherrlichkeit wieder instand setzen.

Von Paul wusste Erna auch, dass auf Grafes Acker, der Galgenberg hieß, wirklich ein Galgen gestanden hatte, einer, an dem Menschen aufgehängt wurden. Als sie daran dachte, lief es ihr kalt über den Rücken, und es schüttelte sie.

Jean stellte den Wagen am Wegrand ab und band das Pferd fest. Die Frauen knieten sich hin, um Frühkartoffeln aufzusuchen, die Jean am Vortag ausgepflügt hatte. Er brachte die vollen Körbe zum Wagen und schüttete sie aus. Die Sonne stieg hoch. Es wurde wärmer. Der Wallach knabberte am Unkraut und verscheuchte mit seinem Schwanz die Fliegen. Ein Raubvogel kreiste über dem Feld. Plötzlich ließ er sich zur Erde fallen. Das Gebrumm von Flugzeugen war zu hören.

Tante Frieda hob den Kopf, kniff die Augen zusammen und blinzelte. Die kriegen aber welche drauf von unseren, sagte sie.

Erna gab keine Antwort. Sie sah, dass zwei amerikanische Flugzeuge ein deutsches Flugzeug jagten. Dass sie es in Brand schossen und davonflogen. Alles war ganz schnell gegangen. Das deutsche Flugzeug drehte sich um sich selbst und trudelte auf die Wiesen, wo es explodierte.

Ein paar Rehe sprangen übers Feld. Das Pferd machte einen Satz. Der Strick, mit dem es festgebunden war, löste sich. Erna schrie auf. Jean packte sie an der Schulter. Jean! Erna senkte den Kopf. Jean! Sie hatte das Gefühl, in einer Falle zu sitzen.

Erna, empörte sich Tante Frieda, die nah gut sehen konnte, das ist doch wohl die Höhe!

Erna sah auf die lehmige Erde. Ich will doch nur, stammelte sie. Ihre Zunge war ein unbeweglicher Klumpen.

Die Weiber heutzutage, schimpfte Tante Frieda. Du Luder, dachte sie und bestimmte, dass der Franzose Moritz wieder festbinden solle. Schließlich war sie in Vertretung ihrer Schwester hier, und genau wie diese fühlte sie sich verantwortlich für Hab und Gut.

Der Franzose starrte auf Erna, deren Fuß mit einem verkümmerten Meldebusch spielte, und tat, als hätte er nicht verstanden. Dann gab er sich einen Ruck und rannte mit großen Schritten zum Flugzeug. Tante Frieda zögerte einen Moment, bis sie ihm trippelnd folgte.

Wofür, dachte Erna und strich über ihre Stirn, wofür verzichte ich auf alles, auf Liebe und auf dieses erbärmliche bisschen Glück, nach dem ich mich so sehne? Sie schloss die Augen. Mit geschlossenen Augen starrte sie vor sich hin.

Dann flog ein aufgeschreckter Vogelschwarm vorüber. Über den Wiesen hing eine schwärzliche Rauchwolke. Viele Leute drängten sich um das Flugzeug. Erna sah, dass sie einen Menschen zum Weg trugen. Militärautos kamen auf dem Feldweg gefahren. Ihnen folgte der Mercedes des Barons Ridesel. Der Wallach knabberte nervös am Unkraut. Seine Flanken zitterten noch immer. Erna band ihn fest. Sie streichelte seinen Hals und sagte, sich selbst beruhigend:

Keine Angst, Moritz, du brauchst doch keine Angst zu haben.

Eine Lerche stieg flatternd auf. Zögernd begann sie zu singen. Erna kniete sich auf die Erde, die ihr Schutz zu geben schien. Sie beugte ihren Rücken tief und suchte weiter Frühkartoffeln in den Korb.

9. Kapitel

Die Kirchturmuhr schlug fünfmal. Beim letzten Schlag sprang Paul aus dem Bett. Er zog sich die Hosen an, und sorgfältig wusch er Gesicht und Hände. Mit dem weichen Handtuch rieb er über seinen Buckel.

Paul wohnte in Briefträger Kuhrts Haus. Briefträger Kuhrt hatte ein Holzbein, und manchmal soff er sich die Hucke voll. Frau Kuhrt war viel jünger als ihr Mann und mitleidig. Jedenfalls gab es unter Kuhrts vielen Kindern ein Mädchen, das Paul ähnlich sah. Tante Frieda war neugierig gewesen und hatte ihn danach gefragt. Das geht dich einen Dreck an, hatte Paul gesagt und sie damit tief beleidigt. Wenn sie sich bei Grafes begegneten, drehte sie ihm den Rücken zu und zischte: Hurenbock!

Paul setzte sich auf den Stuhlrand, zog seine Wollstrümpfe an und sah sich um. Im Zimmer stand ein ausgelegenes Sofa, darauf schlief er, auf dem braunen Kleiderschrank, dessen Türen nicht richtig schlossen, und auf Regalen, die er selbst gezimmert hatte, lagen viele Bücher.

Anfangs hatte Paul unter seinem Buckel gelitten, darunter, dass er keine Frau fand und dass er so arm war. In dieser Zeit hatte er alle Menschen gehasst. Das war die Zeit, in der er anfing, die Bücher für sich zu entdecken. Nun wusste er viel mehr über das Leben als die anderen Leute und saß dauernd mit dem Pastor zusammen, seinem Freund.

Der Pastor wohnte im Nachbardorf. Nach Wallkau kam er an jedem Sonntagnachmittag um halb drei. Manchmal kam er auch in der Woche, aber nur wenn was Wichtiges war. Wichtig war für den Pastor in der Woche nur Beerdigung. Die Toten durfte man nicht warten lassen. Die Lebenden schon. Hochzeit oder Taufe war nur sonntags vor und nach dem Gottesdienst.

Paul stieg die steile Bodentreppe hinunter und ging in die Küche. Frau Kuhrt war schon auf. Sie wickelte zwei Stullen in Pergamentpapier und goss heißen Kaffee in die Flasche, die auf dem Tisch stand. Damit du mir nicht umfällst, sagte sie und sah Paul an, der so klein und mager vor ihr stand. Sein Bart war rötlich am Hals und braun auf der Oberlippe. Frau Kuhrt wusste, dass Paul sich nur einmal in der Woche, Sonntagvormittag, rasierte. Sie machte ihm das Wasser dazu warm.

Ach, ich habe keinen Hunger. Paul sah aus dem Fenster auf die noch menschenleere Straße.

Ich sage dir aber, dass du essen musst. Frau Kuhrt knöpfte ihm einen offenen Hemdknopf zu.

Na gut, Paul zuckte die Achseln und nahm die Tasche.

Das meine ich, sagte Frau Kuhrt.

Paul wurde rot. Er ging schnell los, durch Kuhrts Garten, in dem schon die Astern blühten und noch die letzten Gladiolen. Er ahnte, dass Frau Kuhrt hinter ihm hersah. Das machte ihn unsicher. Er stolperte und wäre fast gefallen. Paul wusste, was man in Wallkau über ihn und Frau Kuhrt redete. Die Klatscherei machte ihm nichts aus. Er hatte Wärme gebraucht, hin und wieder.

Dann ging er über die taunassen Wiesen. Auf der morschen Holzbrücke, die über dem Flüsschen lag, blieb er stehen und sah dem Wasser zu, das eilig vorbeifloss. Am Ufer wuchsen Erlen und Pappeln, zersplitterte Äste hingen herunter. Brennnesseln und Disteln waren auf dem schmalen Streifen Landes zu Hause, der nicht mit umgepflügt wurde. Früher hatten die Gutsarbeiter dort Futter gemäht für ihre Ziegen und Schweine. Die Männer waren in Russland und Frankreich, und das Gestrüpp wucherte.

Paul spuckte ins Wasser. Als er weiterging, flatterte ein Fasanenhahn auf. Ein Hase wetzte davon, und am Rand des großen Luzernefeldes ästen Rehe.

Paul hatte das Gefühl, der einzige Mensch auf der Erde zu sein. Ganz nah war er der Welt, die ihn umgab. Dass in der Welt Krieg war, konnte er hier vergessen, wo alles still war und friedlich.

Er setzte sich auf den größten Granitstein des Hünengrabes, aß seine Schmalzstulle, trank den Kaffee dazu und blickte sich um. Er sah, wie die Bauern mit ihren Pferdewagen auf die Felder fuhren.

Dort unten, am Rand von Bolbringers Rübenacker, wohin die Rehe sich verzogen, war ein uralter Friedhof. Manchmal riss der Pflug Tonscherben mit nach oben. Auch Urnen hatte man gefunden. Paul besaß eine, ein dunkelgraues, fast schwarzes Gefäß, gut zweitausend Jahre alt und sein größter Schatz, es lag in einer Kiste unter dem Bett.

Im Dach der Strohhütte, die irgendjemand gebaut hatte und die irgendjemand immer wieder erneuerte, entdeckte Paul ein Loch. Obwohl er nie mit einer Frau hier war, wusste er, wozu die Hütte diente. Er verstopfte das Loch mit trockenem Gras, das er zwischen den Steinen des Hünengrabes fand, und seufzte. Frau Kuhrt war die einzige Frau, die er besessen hatte. Einmal war er dazugekommen, als sie zu ihrer Schwester sagte: Was soll er denn machen, durch die Rippen kann er es sich nicht schwitzen! Von da an hatte er sie nie mehr berührt.

Aus dem alten, krummen Holunderbaum flog eine Taube auf. Paul sah in ihr Nest und nahm die Eier heraus. Er hielt sie gegen das Licht und sah, dass sie angebrütet waren. Na, dachte er und packte die Eier vorsichtig ins Nest zurück, den Braten soll sie haben!

Satt und zufrieden spazierte er über die Teerchaussee, die Birnbäume am Rand trugen viele grüne Früchte. Er ließ die Linden am Dorfeingang hinter sich, die Schule und die Kirche mit ihrem Fachwerkturm. Das Pastorhaus war gelblich angeputzt. Die bemalten Fenster im Erdgeschoss zeigten irgendetwas Biblisches: die Heimkehr des verlorenen Sohnes oder die Leidensgeschichte des Jesus von Nazareth. Im Vorgarten wucherte Flieder, der einen Pflaumenbaum erstickte.

Die Frau Pastor harkte schon die Wege. Sie stützte sich auf die Harke und erwiderte Pauls Gruß nicht. Mürrisch sagte sie: Der Herr Pastor ist nicht da!

Wo ist er denn? fragte Paul, ohne sich einschüchtern zu lassen.

Nicht da, haben Sie doch gehört! Die Frau Pastor harkte weiter. Es passte ihr schon lange nicht, dass der zerlumpte Paul so oft mit ihrem Mann zusammenhockte. Schließlich hatte der Herr Pastor ja studiert, und der Kerl da war nur ein Hergelaufener.

Du kannst doch reden, was du willst, dachte Paul. Er machte einen großen Schritt und stand im frisch gebohnerten Flur. Hinter ihm keifte die Frau Pastor: Schuhe ausziehen, den ganzen Dreck reintrampeln! Ich komme gleich hinterher!

Meinetwegen, sagte Paul.

Und unrasiert, wo gibt’s denn so was!

Erschrocken fuhr sich Paul mit der Hand übers Kinn. Er schämte sich, aber in der Woche hatte er eben keine Zeit zum Rasieren. Außerdem hatte er in den Büchern etwas entdeckt, über das er unbedingt mit dem Pastor reden musste. Er klopfte gegen die Tür.

Immer rein, rief der Pastor. Immer rein, mein Sohn!

Das Zimmer war weiß getüncht. Hinter dem Schreibtisch hing an der Wand ein schmuckloses schwarzes Holzkreuz. Daneben ein sehr buntes Bild, das die Kreuzigung Christi zeigte. Der Pastor war so alt wie Paul, Mitte fünfzig. Sein Gesicht glänzte rosa. Er faltete die gepflegten Hände und fragte: Was gibt es denn, mein Sohn? Seine Stimme war weich, er sprach leise und hielt den Kopf schief.

Ach, sagte Paul, ich bin jetzt da, wo sie Roßmann aufgehängt haben, ich weiß aber noch längst nicht alles!

Die Frau Pastor harkte ächzend im Vorgarten die Wege. Die Köchin klapperte in der Küche mit Töpfen. Ein Hund bellte. Irgendwo brüllte eine Kuh. Über den Schreibtisch kroch eine Fliege, die davonflog, als der Pastor aufstand. Er ging zu dem verschnörkelten Schrank, schloss ihn auf und nahm alte, vergilbte Papiere heraus.

Weber, sagte er nachdenklich, den Weber lassen sie nicht wieder raus!

Aber er lebt noch, sagte Paul, er hat an die Frau geschrieben!

Hoffentlich, murmelte der Pastor, als er die Bücher auf dem Tisch ausbreitete.

10. Kapitel

In Wallkau hatte es keine Roten gegeben, bis Webers zuzogen. Bolbringer, der den größten Hof besaß, hatte sie als Melker eingestellt. Dreißig Kühe waren zu versorgen, dazu das Jungvieh. Webers machten ihre Arbeit anständig, sie sahen auch nicht anders aus als die übrigen Leute.

An einem Ersten Mai marschierten sie mit der roten Fahne durch Wallkau. Einige Tagelöhner vom Gut schlossen sich ihnen an.

Auf die haben wir gerade noch gewartet, sagte Tonne zu seiner Frau und bestimmte, dass sie sich ja nicht sehen lassen sollte.

Das ist ja ganz gefährlich, sagte die alte Grafe zu ihrem Mann, der krank im Lehnstuhl saß.

Weber marschierte voran und schwenkte die Fahne, dazu grinste er unverschämt. Dann sang er auch noch so ein Lied. Andauernd rief er: Rot Front, Rot Front!

Keiner in Wallkau wusste so richtig, was das zu bedeuten hatte, aber dass es gefährlich war, ahnte man. Gott sei Dank hatte es bald angefangen zu regnen. Die marschiert waren, flüchteten in die Kneipe. Dort ließen sie sich voll laufen und führten große Reden, dass dem Krüger angst und bange wurde.

Weber konnte am Nachmittag nicht in den Kuhstall gehen, er war besoffen. Das Vieh versorgten Frau Weber und ihre ältesten Söhne. Bolbringer konnte sich nicht beklagen. Das hat er nun davon, sagte er zu Frau Weber, will die Welt umstoßen und verträgt noch nicht mal so ein bisschen Bier und Schnaps. Soll erst mal saufen lernen, der Mann!

Ja, Herr Bolbringer, sagte Frau Weber und weiter nichts.

Am Ersten Mai des nächsten Jahres marschierten Webers allein durchs Dorf. Der Baron Ridesel hatte gedroht, die Tagelöhner zu entlassen. Was die bloß wollen? sagte die alte Grafe zu Erna, ihr zweiter Mann war unterdessen gestorben. Na, gab Erna ihrer Mutter recht, diese Fremden, bloß Unruhe bringen sie hierher. Und das alles nur, weil sie auf uns neidisch sind, neidisch, dass wir mehr haben als sie, erwiderte die alte Grafe.

Kurze Zeit danach hielt vor Webers Wohnung ein fremdes Auto. Weber wurde verhaftet. Bolbringer entließ Frau Weber nicht. Sie und ihre ältesten Kinder durften weiter bei ihm auf dem Acker arbeiten.

Der Herr Pastor konnte Weber, der nie in die Kirche gekommen war, seine Achtung nicht versagen. Wenn einer ins Gefängnis geht, dachte er, nur weil er marschiert ist, ohne dass er geklaut hat oder einen umgebracht, muss an dem Mann doch was Besonderes sein. Heimlich hatte er Frau Weber die Kollekte zukommen lassen. Am Sonntag darauf war sie in der Kirche erschienen. Während des Gottesdienstes hatte sie gestanden und die neugierigen, höhnischen und mitleidigen Blicke über sich ergehen lassen. Sie brauchen deswegen nicht zu mir kommen, hatte der Herr Pastor zu ihr gesagt, als sie sich bedanken wollte.

Ich weiß nicht, hatte Frau Weber verlegen gemurmelt.

Ach was! Gehen Sie man wieder.

Frau Weber war gegangen und nicht wiedergekommen.

11. Kapitel

Der Pastor setzte sich. Was hätte ich denn machen sollen? fragte er und stützte den Kopf mit den Händen.

Nichts kann man da machen! Paul winkte ab und blätterte in den Büchern.

Der Pastor und Paul, die äußerlich so unterschiedlich waren, ähnelten sich sehr. Beide wollten wissen, was war, um besser zu verstehen, was sein wird. Sie wollten, dass die Menschen leben.

Der Pastor stand wieder auf und hielt sich am Schreibtisch fest: Was habe ich denn versäumt?

Die Harke der Frau Pastor kratzte über den Gartenweg. Die Köchin klapperte lauter mit dem Geschirr.

Es gibt Zeiten, sagte Paul, da ist die Macht stärker als die Menschen.

Als Gott wohl auch, seufzte der Pastor.

Die Sonne stieg höher und höher über dem Dorf, der Kirche, dem Pfarrhaus. Die Männer waren in die Bücher vertieft, als die Frau Pastor den Herrn Pastor zum Mittagessen rief.

Wir brauchen Gott, sagte der Pastor, und seine rechte Hand spielte mit der vergoldeten Uhrkette. Aber Gott braucht uns auch in diesen Zeiten!

Ja, sagte Paul, das können Sie wohl glauben, Herr Paster!

Mann, rief die Frau Pastor, sofort kommst du! Der Pastor seufzte.

Paul zog seine Schmalzstulle aus der Tasche, wickelte sie aus und stellte die Kaffeeflasche auf den Tischrand. Der Pastor schob die Bücher zur Seite. Damit sie nicht fettfleckig werden, sagte er.

Aber Herr Paster, denken Sie, ich bin eine Sau!

Das sage ich nicht, der Pastor lächelte Paul an, dann ging er zum Mittagessen.

Paul hörte die Frau Pastor im Esszimmer schimpfen. Diese Weiber, dachte er und war in dem Moment froh, keine Frau zu haben. Er biss von seiner Stulle ab und zog die Bücher wieder zu sich heran, um weiter darin zu lesen.

12. Kapitel

Es war Herbst geworden, das Franzosenkraut hatte den ersten Frosthieb weg, seine Blätter hingen braunlappig herab; es war Herbst geworden, und es war kalt, als Karlludwigs Vater kam.

Jean saß frierend auf Grafes Kutschwagen und wartete vor dem Bahnhof, in dessen Fenstern leere Blumenkästen standen. Die Frau Vorsteher hatte sonst die Kästen bepflanzt. Nun war ihr Mann weg, und sie hatte keine Lust mehr, Blumen zu pflanzen.

Es regnete in Strömen, als Karlludwigs Vater auf den Bahnsteig sprang. Er zog seinen Mantel über, sah in den schwarzen Himmel, reckte sich und holte tief Luft. Also, dachte er, nun sind wir hier, nun wollen wir auch bleiben! Für zehn Tage hatte er einen Urlaubsschein. Zehn Tage durfte er leben, und das wollte er tun. Er schleppte seinen Holzkoffer zu Grafes Wagen, den er kannte. Er kannte das Pferd, und von dem Franzosen hatte Erna ihm geschrieben. Mit steifen Beinen sprang Jean vom Kutschbock. Wortlos warf er den Koffer unter den Sitz und schwang sich auf das Brett, das hinten quer über dem Kasten lag.

Karlludwigs Vater stieg auf den Bock, nahm die Leine und die Peitsche und trieb das Pferd an. Der Wagen rollte leise über den Feldweg.

Jean starrte Karlludwigs Vater in den Nacken, er sah die kurz geschnittenen blonden Haare, die tiefen Falten am Hals und dachte an Nizza, wo man jetzt noch im Meer baden konnte.

Karlludwigs Vater sah auf das Hinterteil des Pferdes, sah den zuckenden Schwanz, das glatte Fell, unter dem sich dicke Adern verzweigten. Dabei dachte er an ein warmes Bad, an gutes Essen und an Erna, die er ein ganzes Jahr nicht gesehen hatte.

Unterdessen war es dunkel geworden. Von Zeit zu Zeit, wenn der Wagen über einen Stein fuhr, knarrte er, als würde er auseinanderbrechen. Die Sirene tutete dreimal. Karlludwigs Vater erschrak. Er wusste, dass nun Feierabend war in der Zuckerfabrik, einer der modernsten Deutschlands, in der er Prokurist gewesen war.

Jeden Morgen war er mit dem Bewusstsein zur Arbeit gegangen, eines Tages die Leitung der Fabrik zu übernehmen, eine große Zukunft vor sich zu haben. Nun saß ein anderer an seiner Stelle. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der die Arbeit genauso gründlich machte, wie er sie getan hatte. Und er spürte Neid auf seinen Nachfolger, den er nicht kannte. Seit Karlludwigs Vater seine Ordnung verloren hatte, war auch sein Glaube an die Zukunft verschwunden, ergriff ihn immer öfter Angst.

Ein Auto raste an der Kutsche vorbei. Karlludwigs Vater konnte erkennen, dass es der Mercedes des Barons Ridesel war. Es regnete jetzt stärker. Der Mantel war nicht überall dicht, die Uniform wurde feucht. Verfluchter Nieselregen, dachte Karlludwigs Vater und schlug dem Pferd die Peitsche auf den Rücken, dass es klatschte. Am Wegrand standen schwarz und geduckt Heckenrosen, vielleicht auch Schlehen. Karlludwigs Vater hatte es vergessen. Der Wind war stärker geworden. Er trieb den Regen vor sich her, und er trieb die Kutsche über den uralten Feldweg, der sich zwischen den Feldern entlangschlängelte.

Machen wir also einen Besuch, dachte Karlludwigs Vater, und dann dachte er: Mir geht das alles auf den Geist! Als ein Tier aufschrie, zuckte er zusammen. Sie werden mich über den Haufen schießen! Er bekam keine Luft mehr. Ich werde sterben, ohne gelebt zu haben!

Ein ganz neues Gefühl überkam ihn hier, ausgerechnet hier, weitab von Front und Krieg, weitab vom Geschrei der Verwundeten und Sterbenden, weitab vom Verwesungsgeruch, den die Front hinter sich herschleppte wie die Braut ihren Schleier, ausgerechnet hier dachte Karlludwigs Vater: Vielleicht lebe ich gar nicht mehr. Vielleicht habe ich überhaupt nie gelebt! Er spürte, dass eine Hand ihm die Brust zusammenpresste. Seine eigene war es, die sich langsam löste. Ach was, dachte er, alle müssen sterben, ob ein bisschen früher oder später, darauf kommt es nicht an, und wer lebt schon?

Karlludwigs Vater lachte laut auf und schlug das Pferd mit der Peitsche. Es machte einen Satz und begann im Trab zu laufen.

Der Feldweg war für die Wallkauer die einzige Verbindung zum Leiwitzer Bahnhof. Das Dorf Leiwitz war viel größer als Wallkau, und die Bauern dort hatten ein bisschen mehr besessen. Jedenfalls waren die Dörfer verfeindet. Und das schon seit ewigen Zeiten. Selten kamen junge Männer zum Tanz ins Nachbardorf, meist schlichen sie mit blauen Augen wieder davon.

Mitten zwischen den Feldern war die Grenze zwischen Anhalt und Preußen verlaufen. Die Zollstationen hatte man längst abgetragen. Außer einem Steinhaufen, der von Holunder überwuchert war, erinnerte nichts mehr daran. Die Grenze, obwohl lange verschwunden, war geblieben.

Die alte Mutter Schönemann, die aus Leiwitz war, hatte sich ihr ganzes Leben lang in Wallkau als Fremde gefühlt, wie im Ausland. Jeden Morgen war sie in den Garten gegangen und hatte zum Leiwitzer Kirchturm geguckt. Hatte sie ihn nicht sehen können, war sie den ganzen Tag in schlechter Stimmung gewesen.

Uralt war der Weg, auf ihm waren schon die Heiden aus dem Osten und Norden hierhergezogen. Sie hatten die Wälder gerodet und das Land entwässert. Sie waren es, die das wehrhafte Dorf mit seinen steinernen Mauern gebaut hatten.

Die Völker aus dem Westen trugen das Kreuz auf ihren Fahnen und versuchten, die Heiden zu vertreiben. Erst als sie in Frieden kamen, konnten sie ihr Dorf neben dem heidnischen bauen. Die Dörfer waren längst zusammengewachsen. Die Völker hatten sich vermischt. Auch ihre Lieder waren verschmolzen.

Auf Bolbringers Rübenacker konnte Karlludwigs Vater die gewaltigen Granitsteine des Hünengrabes erkennen. Hierher gingen die Liebespaare im Sommer, wenn die Nachtigallen sangen. Die Nachtigallen waren jetzt in Italien und vielleicht sogar in Afrika. Die jungen Männer waren in Russland und manche auch in Frankreich. Da hatten sie es gut. Da konnten sie in den Puff gehen, Bauernburschen aus Wallkau, denen die Feinheiten dieser Art von Liebe nicht aufgingen und die es auch nur taten, weil die Kameraden es so machten und weil sie in diesen Momenten keine Angst davor hatten, Wallkau nicht wiederzusehen.

Es wurde immer dunkler. Karlludwigs Vater fiel die Geschichte ein, die er oft gehört hatte, diese Geschichte, die seit vielen Hundert Jahren von den Eltern an die Kinder weitererzählt wurde: Es war Frühling, die Heckenrosen blühten, und die Kirschbäume strahlten weiß. Niemand sah die Pracht. Tagelang marschierten die Heere auf. Tagelang standen sie sich gegenüber. Keiner der Führer wagte es, den Krieg zu beginnen. Keiner konnte weichen. Da wurde der Fürst der Westvölker erstochen. Bevor er starb, wies er sein Volk an, zu gehen und in Frieden wiederzukehren. Niemand sollte seinen Tod rächen, befahl er. Die Völker setzten dem Fürsten, der den Frieden erhalten hatte, ein Denkmal. Riesige Steine türmten sie auf über seinem Grab. Der Platz sollte für alle Zeiten heilig sein. Niemals sollte ein Pflug die Erde aufreißen. Niemals sollte in der Nähe des Grabes geweint werden. Mit der Zeit wuchsen Eichen und Akazien.

Das platte Land war wie geschaffen für den Aufmarsch der Heere. Es kamen die Schweden, es kamen die Preußen, die blieben, es kamen die Franzosen, die gingen bald wieder, es kamen die Russen. Manchmal wäre das Volk in den Dörfern fast verblutet, aber es blieb am Leben.

Das Dorf war dunkel und still. Bolbringers Hof, das zweistöckige Wohnhaus, davor die vier geköpften Linden. Auch das Haus war dunkel. Der Wagen holperte über das Kopfsteinpflaster der Straße auf Grafes Hof zu, er rollte durch das geöffnete Tor. Karlludwigs Vater hielt das Pferd an, sprang vom Wagen und gab Jean die Leine in die Hand.

Erna umarmte ihn. Dabei blickte sie auf Jean, der das Pferd in den Stall brachte. Jedenfalls, dachte sie und legte Karlludwigs Vater die Hand in den Nacken, wirst du nichts erfahren.

Karlludwigs Vater spürte ihre warme, weiche, frisch gebadete Haut. Er sah auch Jeans Blicke. Ach so, dachte er. Und: Ob oder ob nicht, beweisen kann ich nichts, und deshalb will ich auch gar nichts wissen.

Komm man rein! Erna zog ihn mit sich. Wir haben auch geheizt.

Die alte Grafe blieb auf dem Haustritt stehen. Ein schönes Paar, dachte sie, aber so richtig froh war sie nicht. Dann verschränkte sie die Arme vor der Brust und rief: Badewasser ist schon heiß!

13. Kapitel

In der Kirche war es halbdunkel. An den weiß getünchten Wänden hingen ein paar Grabplatten, die an gefallene Söhne der Gemeinde erinnerten, gefallen in Deutsch-Südwest und in Kiautschou. Was hatten sie dort zu suchen?

Vorn, neben dem Altar, die hölzerne Madonna, die ihren Sohn fest an sich gepresst hielt. Kirchendiener Seidler, der zugleich Gemeindediener war und stotterte, hatte sie mit Goldbronze angepinselt.

Karlludwig lag in seinem Kissen. Der Pastor tropfte ihm geweihtes Wasser auf die Stirn. Dass die Leute um ihn herum murmelnd beteten, schläferte ihn ein. Er riss seinen Mund weit auf und gähnte laut. Das war Erna peinlich. Sie wurde rot, blickte auf das Christusbild und dachte: Herr, verzeih mir, er kann nichts dafür, er ist noch ein unschuldiges Kind. Du weißt, dass wir eine anständige Familie sind!

Es war Sonntagnachmittag um drei, und bei Grafes war Taufe. So, als wäre dies die letzte Feier, hatten sie beinahe alle Verwandten und Bekannten eingeladen. Erna und Karlludwigs Vater wollten feiern. Die alte Grafe hatte sich dagegen gesträubt und gedacht: Diese Jugend heutzutage, kein Herz hat sie mehr im Leibe, keine Rücksicht nimmt sie auf meine Trauer. Am Ende hatte sie aber doch nachgegeben, schließlich wollte sie sich nichts nachreden lassen.

Der Pastor beeilte sich, er konnte nicht mehr stehen. Außerdem hatte er extra zu Mittag nicht so viel gegessen.

Endlich setzte man sich in Grafes guter Stube an den Tisch, auf dem Kuchenteller standen: Buttereremetorte und Schwarzwälderkirsch- und Erdbeertorte, wozu man Sahne nehmen konnte, soviel man lustig war, und diverse Topfkuchen. Tante Frieda brachte Bohnenkaffee und schenkte ein. Die alte Grafe ließ sich nicht lumpen. Karlludwig war schließlich ihr erster Enkel, und ihre Keller und Ställe waren gefüllt, das konnte jeder sehen. Abgesehen davon, dass die jungen Männer weg waren, und abgesehen von den schwarzen Kleidern der Frauen, war in Wallkau vom Krieg nichts zu merken.

Die alte Grafe war fest entschlossen, sich mit ihrer Schwägerin, einer verwitweten Rose, wieder zu vertragen. Deren Mann war Schmied gewesen, nun hatte der Sohn die Schmiede. Nachdem sich ihr Bruder aufgehängt hatte, der erste Mann der alten Grafe und Vater ihrer vier Kinder, wollte die Rose ihr Erbteil ausgezahlt haben. Die alte Grafe hatte die Schwägerin geohrfeigt, aus dem Haus geworfen und sie eine alte Schlampe genannt. Die Rose hatte geklagt, und die alte Grafe war dazu verurteilt worden, sofort zu zahlen. Das war ihr schwer genug gefallen.

Jahrelang hatten die beiden Frauen kein Wort miteinander geredet. Jetzt gingen sie in die kleine Stube neben der Küche. Die Stühle dort waren weich gepolstert. Mit einem Seufzer setzte sich die alte Grafe. So war das damals nicht gemeint, sagte sie, ohne die Schwägerin anzusehen. Das weiß ich ja. Die Rose tat immer noch beleidigt und tupfte sich die Augen aus.

Jean saß im Pferdestall. Die alte Grafe hatte ihm Kaffee und Kuchen rausgebracht. Das durfte aber Tante Frieda, die in der Küche alles machte, nicht wissen.

In der Stube tranken sie verschiedene Sorten Schnaps und erzählten Witze.

Prost, sagte der Herr Pastor zu dem Unteroffizier, Karlludwigs Vater. Prost! Karlludwigs Vater stieß mit dem Herrn Pastor an. Paul saß dabei in einem grau gestreiftenAnzug vom alten Grafe, der ihm viel zu groß war, und passte auf, dass Erna nicht so schnell Schnaps nachschenkte. Langsam, du, flüsterte er ihr zu, sonst sind doch alle gleich voll.

Eva Erdmann, Ernas Freundin, redete auf Erich Bäcker ein, den Freund von Karlludwigs Vater. Eva hatte eine Sportschule besucht, weil sie doch so arisch aussah. Sie sprach von Treue und trank den schärfsten Schnaps am liebsten. Unter dem Tisch, so, dass es keiner sehen konnte, hatte sie eine Hand auf Erichs Knie gelegt.

Karlludwigs Vater sah von einem zum andern und lächelte gequält. Ihr feiert, weil ihr nicht wisst, was es heißt, Angst zu haben. Angst, über die nicht geredet werden darf. Ein deutscher Soldat hat nicht ängstlich zu sein und schon überhaupt nicht darüber zu reden. Angewidert verzog sich sein Mund, als er einen Seufzer unterdrückte.

Erna achtete darauf, dass die Gäste immer Kaffee hatten und Kuchen auf den Tellern. Gute Sitten hatte sie auf der Haushaltsschule in der großen Stadt gelernt. Auf der Sportschule war sie leider nicht angekommen, weil sie dunkles, fast schwarzes Haar hatte und ihr Hinterhauptshöcker nicht genügend groß war. Sie setzte sich zu Karlludwigs Vater. Ganz dicht rückte sie an ihn heran. Bleib doch zu Hause, flüsterte sie.

Lass das jetzt, flüsterte Karlludwigs Vater und legte den Arm um ihre Schultern.

Ach Gott, muss Liebe schön sein! Eva verdrehte die Augen.

Ich werde dich schon verstecken, flüsterte Erna.

Einen Moment schwieg Karlludwigs Vater. Dann ließ er Ernas Schulter los. Bitte, sagte er laut und rückte ein Stückchen von ihr ab.

Nicht so stürmisch, kicherte Eva und kniff Erich ins Knie.

Solche Kühe wie ich hat keiner, behauptete Bauer Tonne, und solche Schweine erst recht nicht!

Aufgehängt haben sie Roßmann, sagte Paul, aufgehängt, weil er den Einsiedel totgeschlagen hat.

Solche alten Geschichten! Die Tonnsche mampfte klein und dick Kuchen, es kostete ja nichts. Außerdem war sie beleidigt, dass die Grafe und die Rose sie nicht mit in die kleine Stube genommen hatten. Nun musste sie hier sitzen mit den jungen Leuten. Dabei hätte sie doch zu gern gewusst, was es nebenan zu reden gab. Ihr Mann schien sich wohlzufühlen. Und den besten Roggen hatte ich letztes Jahr auch, sagte er.

Der Herr Pastor wollte ein neues, aber nicht zu großes Stück von der wunderbaren Schwarzwälderkirsch. Er hielt Erna den Teller hin. Weber, murmelte er, wenn dem Weber bloß nicht noch was passiert!

Solchen geschieht ganz recht! Eva rückte noch dichter an Erich Bäcker.

Du hast doch keine Ahnung, Mädchen! Paul richtete sich hoch, sein Anzug war auf einmal nicht mehr ganz so weit.

Trottel! Eva tat beleidigt. Trottel, auch wenn Sie einen Buckel haben!

Vor Gott sind alle Menschen gleich. Der Pastor klopfte Paul auf die Schulter.

Aber nicht solche! Eva tippte mit dem Zeigefinger gegen ihre Schläfe.

Prost! sagte Erich Bäcker zu Karlludwigs Vater, dass du gesund wiederkommst!

Eva ließ sein Knie los und sagte: Darauf trinke ich nicht, so was ist Feindpropaganda! Sie zerrte wütend am Kragen ihres Kleides.

Da scheiß ich drauf! Erich Bäcker kippte einen Schnaps hinter, und auf dich auch!

Eva sprang auf und heulte beleidigt: Dann kann ich ja gehen!

Wer wird sich denn streiten, beschwichtigte Erna und lachte unsicher.

Und den besten Weizen hatte ich auch, behauptete Tonne.

Deinetwegen will ich bleiben, sagte Eva zu Erna und setzte sich zögernd wieder hin. Sie guckte an Erich Bäcker vorbei.

Der Herr Pastor war rot im Gesicht und stimmte ein Lied an: Geh aus mein Herz und suche Freud.

Jetzt wird’s langweilig, sagte Eva, nun möchten wir doch tanzen. Sie ging zum Radio und suchte Musik.

Ich waiiß, ees wirrrd ainmal ain Wunderrr geschehn.

Die Glucke führt die Küchlein aus, sang der Herr Pastor.

An Wunder glaube ich nicht mehr, flüsterte Karlludwigs Vater Erna ins Ohr.

Wunder macht nur der Herr, sagte der Herr Pastor, mein lieber junger Freund!

Erich und Eva tanzten flott. Unter der Laterne, vor dem großen Tor ..., eins rechts, eins links, hopphopp. Erich packte Eva fest um die Taille. Steht sie noch daneben, und sie steht davor.

Narcissus und die Tulipan, sang der Herr Pastor dazwischen, die ziehen sich viel schöner an, als Salohomonihis Seiheide, als Salohomonihis Seide.

Erich und Eva gingen nach draußen, um sich ein bisschen abzukühlen.

Vergiss doch jetzt deinen Krieg, flüsterte Erna Karlludwigs Vater ins Ohr. Das ist es doch nicht, erwiderte Karlludwigs Vater, es ist auch die Sorge um euch. Da brauchst du nicht so viel zu grübeln, sagte Eva. Wir kommen nicht unter die Räder, kicherte sie. Bitte! sagte Karlludwigs Vater, sein Gesicht war auf einmal so streng, so abweisend, dass Erna erschrocken abrückte. Sie war nicht sicher, ob sie wirklich wollte, dass der Mann blieb. Sie wusste nicht, ob sie ihn liebte. Vor zehn Jahren hatten sie sich auf einer Hochzeit bei Verwandten kennengelernt. Lange Zeit waren sie über die ersten, schüchternen Zärtlichkeiten nicht hinausgekommen. Später gingen sie dann zum Hünengrab. Als der Krieg begann, war Karlludwigs Vater sofort Soldat geworden. Drei Jahre waren sie nun verheiratet. In diesen Jahren hatte er dreimal zehn Tage Urlaub gekriegt. Das war die ganze Ehe.

Tonne sah dem Zigarrenrauch hinterher und sagte: Zigarrenrauchen ist eine Kunst, das kann keiner so gut wie ich! Rede du nicht soviel, sagte die Tonnsche, morgen hast du wieder Husten. Meine Sache, erwiderte Tonne.

Plötzlich hob der Pastor die Hände. Er blickte Tonne wütend an, als er sagte: Ein Geschöpf Gottes geschlagen, wo gibt es denn so was! Das hatte ihm lange genug auf der Seele gelegen. Nun war es heraus. Nun fühlte sich der Pastor viel leichter.

Ja, Tonne gab das zu, er war schließlich im Recht, außerdem hatte sein Vater das Kirchendach neu decken lassen: Ja, Herr Paster, der hätte unsere Käthe in Ruh lassen sollen! Tonne stützte die Hände auf die Knie und beugte seinen Kopf vor, als er sagte: Wir haben da recht. Oder was? fragte er und sah sich um.

Aber mit einer Kette, regte der Pastor sich auf, das geht doch wohl zu weit! Er schüttelte seinen Kopf: Recht, Recht macht der Herr!

Der Streit wurde unterbrochen, als Erich und Eva wieder in die Stube kamen. Sie waren ein bisschen rot und verschwitzt, und als sie sich setzten, taten sie, als wäre nichts geschehen.

Nur den Glauben darf man nicht verlieren, mein lieber junger Freund. Der Pastor legte Karlludwigs Vater die Hand auf die Schulter.

Ja, sagte die Tonnsche scharf: Unser Käthchen hat der belästigt! Du sollst nicht immer Käthchen sagen, fuhr Tonne sie an.

Paul glaubte, von dem gefährlichen Thema ablenken zu müssen, deshalb sagte er: Als die Franzosen hier waren, gab es in ganz Wallkau keine Kühe mehr.

Aber, was hätte ich denn tun sollen? fragte der Pastor Karlludwigs Vater, der nicht verstand, worum es ging.

Nichts, antwortete Paul, und an der Pest sind so viele gestorben, dass es bloß noch fünf bewohnte Häuser gab!

Pest, Pest! Die Tonnsche schüttelte den Kopf, dass die frisch ondulierten Locken durcheinanderrutschten.

Eva hatte die Hand auf Erichs Schenkel zu liegen, sie rutschte immer ein bisschen höher. Du kannst mir noch ein Stückchen Torte geben! Sie hielt Erna den Teller hin, ohne Erich loszulassen.

Viel zu viele Menschen müssen sterben! Paul fühlte sich so eingezwängt in den Grafeschen Anzug, dass er die Knöpfe öffnete. Und wofür?

Gerede! Eva steckte Erich einen Löffel voll Erdbeertorte in den Mund.

Um Karlludwig kümmerte sich keiner. Er lag in seinem weiß lackierten Kinderbett und nuckelte satt und zufrieden am Daumen.

Erna nahm Tante Frieda eine neue Kanne Kaffee ab und schenkte nach.

Karlludwigs Vater knöpfte die Uniformjacke auf. Er fühlte sich erschöpft. Aber unters Heu oder in den Kleiderschrank wollte er nicht. Was sollten denn die Kameraden sagen? Feiger Hund und Verräter! Beides wollte Karlludwigs Vater nicht sein. Desertieren war ein Wort, das er nicht mal denken mochte.

Wenn der Topp aber nu en Loch hat, sang der Pastor und schlug auf den Tisch, dass die Teller hopsten.

Nicht so doll! Evas Hand war jetzt da, wo sie hinwollte.

Der Topp hatte kein Loch, aber der Herr Pastor hatte zwei Söhne, die Soldaten in Russland waren, wie Karlludwigs Vater, von dem er nun gern erfahren würde, was wirklich los war, da in Russland, die Frau Pastor hatte es ihm dringend aufgetragen. Der Herr Pastor wusste nur noch nicht genau, wie er es anstellen sollte, und die Frau Pastor würde bald kommen, um ihn abzuholen. Dann kriegte sie ein großes Päckchen mit vom guten Grafeschen Kuchen. Sie würde sich ein bisschen zieren. Ist doch aber nicht nötig, Frau Grafe, würde sie sagen. Da hätte sie das Päckchen aber schon fest unter dem Arm und wäre auf dem Sprung. Ja, die Frau Pastor weiß, wie sie es machen muss, dachte der Herr Pastor und seufzte, als er auf die Uhr sah. Er stand schwer auf vom Tisch und schwankte ein wenig: Nun lasst uns gehn und treten, mit Singen und mit Beten!

Erst wird doch Abendbrot gegessen, sagte Erna.

Ach, sagte der Herr Pastor, Frau Pastor ist zu Fuß unterwegs, und da habe ich keine Ruhe.

Was soll schon passieren? Eva guckte ihn so an, dass er es sich nicht verkneifen konnte, sie zu einem Tänzchen zu bitten. Sieht die Frau Pastor ja nicht, dachte er und sang: Wenn der Topp aber nu en Loch hat, liebe Suse, liebe Suse, was dann? Die Tonnsche klatschte den Takt dazu. Der Topp hatte kein Loch, aber Frau Pastor stand in der Tür. Sie sagte freundlich guten Abend und lächelte, innerlich kochte sie über. Dir werde ich aber was erzählen, dachte sie, warte man, nachher! Der Herr Pastor hörte sofort auf zu singen und brachte Eva zum Platz, wo er ihr den Stuhl zurechtrückte. Pastors wollten gehen. Die alte Grafe bestimmte, dass Jean sie bringen sollte. Er spannte schon das Pferd vor die Kutsche. Die Frau Pastor kriegte erst noch Karlludwig gezeigt. Ist doch ein zu süßes Kindchen, stellte sie fest. Der Herr Pastor trank schnell noch ein Schnäpschen, dabei kicherte er. Nun komm aber, rief die Frau Pastor, die schon auf der Straße stand.

Erna und die alte Grafe brachten Pastors zum Wagen. Jean half ihnen beim Einsteigen.

Du mein Gott, was ist denn schon gewesen, blamiert hast du mich wieder, das weißt du doch nicht, ich weiß alles, ich kenne dich doch, du wirst immer kindischer, du altes Saufschwein! Das verletzte den Herrn Pastor tief. Er zog den Kopf ein und seufzte leise. Als die Frau Pastor keine Ruhe gab, zeigte er auf Jeans Rücken und sagte: Der hört uns was zu !

Der, meinte Frau Pastor, der versteht doch nichts! Sie hatte solchen Kuchenhunger, dass ihr Magen knurrte. Das ist doch bloß ein Französischer!

Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, murmelte der Herr Pastor, froh, etwas sagen zu können, über das seine Frau nicht schimpfen durfte. Endlich waren sie vor dem Pfarrhaus angekommen. Sie stiegen ab, und der Herr Pastor sagte zu Jean: Jesus Christus schütze deinen Rückweg, mein Sohn! Das brauchst du nicht zu sagen, sagte die Frau Pastor, der ist doch katholisch, alle Franzosen sind das, und da haben sie es mehr mit Maria und Joseph als mit Jesus.

Bist du der Pfarrer oder ich? dachte der Herr Pastor, als er Jean zusah, der den Wagen wendete und davonfuhr. Los, Mann! rief die Frau Pastor und schloss schon die Haustür auf.

Pastors gingen in ihr warmes Esszimmer, ältere Herrschaften, die durchgefroren waren und sich nun aufwärmen mussten.

In Grafes Stube war es rauchig und sehr gemütlich. Karlludwigs Vater gähnte. Er war doch nur wenige Nächte hier, deshalb wollte er schnell mit Erna ins Bett kommen.

Die anderen saßen und saßen. Der Tonnschen hing der Kopf auf der vollen Brust, sie schnarchte pfeifend, und die Locken waren nicht mehr zu retten.

Tonne rauchte eine neue Zigarre und behauptete: Meine Hühner legen mehr als alle anderen Hühner im Dorf! Freu dich doch, erwiderte Paul. Mach ich auch! Tonne war gereizt.

Karlludwigs Vater gähnte lauter. Die mit ihm in Grafes Stube saßen, die mit ihm aßen, mit ihm tranken, mit ihm redeten, wussten sehr wenig von ihm.

Auch Erna wusste nicht viel. Sie kannte kaum seinen Körper. Seine Umarmungen hatte sie in drei Jahren dreimal zehn Nächte lang gespürt.

Wenn er mit ihr im Bett lag, löschte er das Licht. Damit sie nicht sehen konnte, wie er sich bewegte. Dass er die Augen zusammenpresste. Dass er sich auf die Zähne biss. Was er in den Momenten der Lust murmelte, konnte Erna nicht verstehen, sosehr sie auch aufpasste.

Ja, ja, klagte die alte Grafe der verwitweten Rose, in der Nacht, als Ludwig gefallen ist, hat das Käuzchen in der Kastanie dreimal geschrien. Davon bin ich aufgewacht. Ich habe ihn deutlich rufen hören: Mutter, Mutter, Mutter! Da ist es passiert. Sie schnaubte in ihr Taschentuch. Vor lauter Angst habe ich Erna geweckt, die war aber nicht wachzukriegen. Sie hat mich angeschnauzt, ich soll sie gefälligst in Ruhe lassen.

Das sind die Zeiten, tröstete die Rose sie.

Grade der Junge, grade der, der den Hof haben sollte! Die alte Grafe trank schnell einen Schluck vom guten Kaffee. Kaffee mit viel Milch und Zucker darin.

Die Rose putzte sich mit dem gelblichen Spitzentaschentuch die Nase und sagte: Was es doch nicht alles gibt in der Welt!

Die alte Grafe wusste nicht genau, was sie meinte, Ernas schlimmen Charakter oder das Käuzchen auf dem Dach. Da hast du recht, sagte sie deshalb vorsichtshalber.

14. Kapitel

Tante Frieda wusch ab. Manchmal starrte sie mit zusammengekniffenen Augen auf die Schlafzimmertür. Die Küchenuhr auf dem Schrank zeigte halb elf. Die alte Grafe stellte das abgetrocknete Geschirr auf den Tisch vor dem Fenster. An der Wand neben der Pumpe hingen Handtücher, stand das Waschbecken auf dem Eisenständer. Die untere Hälfte der Küche war mit hellgrüner Ölfarbe gestrichen, auf der oberen rankten sich grellbunte Blumen ineinander.

So was ist Sünde, sagte Tante Frieda, und ihre dunklen Röcke raschelten.