Die Fremden - Erich-Günther Sasse - E-Book

Die Fremden E-Book

Erich-Günther Sasse

4,8

Beschreibung

Das Schicksal der vereinsamten, heimatlosen Dichterin Else Lasker-Schüler am Ende ihres Lebens war für den Autor Ausgangspunkt eines tieferen Nachsinnens. Mit Sensibilität, psychologischem Feingespür und wachem Sinn für Realität schuf Erich-Günther Sasse zahlreiche Lebensbilder, die den Gedanken des Fremdseins nuancenreich variieren. Unaufdringlich, fast zögernd, aber doch mit der Intensität und wachsenden Kraft eines ruhig dahinfließenden Stromes ziehen uns die Gestalten des Buches in ihren Bann. Die engherzige Frau Apotheker Breitenbach, die den Tod ihres Mannes mit Gefühllosigkeit und scharfem Kalkül leicht verwindet. Frau Sieberkorn, die meint, die aufbegehrende Sinnenlust eines jungen Paares verhindern zu müssen, oder der Student Hans-Georg, der beim ersten Besuch im Hause seiner Verlobten ahnungslos die Rolle des verschollenen Sohnes annimmt. In allen Geschichten begegnet uns die Sehnsucht des Autors nach einer freundlicheren Welt. INHALT: Im botanischen Garten Der Prophet Sontagmittag Frau Sieberkorn wartet Der Turm Die Fremden Zu den drei Linden Helle Tapeten Vorabend der Anruf Brand Die Feier Lautsprecher Frau Apotheker Breitenbach Der jüngste Sohn meiner Großmutter Backberg Leidenschaft Ein Versuch

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Impressum

Erich-Günther Sasse

Die Fremden

Erzählungen

ISBN 978-3-86394-006-5 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1984 im VEB Hinstorff Verlag Rostock.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

IM BOTANISCHEN GARTEN

Einmal in der Woche fuhren wir in die Stadt. Die Mutter zog ihr bestes Kleid an und streifte die feinen Handschuhe über: die aus weichem Leder für das schwarzsamtene, weißseidene zu dem aus dunkelblauer Spitze und für das Sommerkleid braune.

Meine Mutter stammte von kleinen Leuten. Sie hatte sich gut verheiratet und war eine feine Frau geworden. Ich habe sie nie ohne Handschuhe in die Stadt fahren sehen.

Wenn die Großmutter sah, dass die Mutter vor dem Spiegel stand und sich zurechtmachte: der Hut mit Schleier, der helle Mantel, ein paar Tropfen Parfüm auf den Hals, lief sie im Schlafzimmer hin und her und sagte mit knallrotem Gesicht: Was du dich schon wieder so aufmöbelst!

Die Mutter schraubte die Parfümflasche zu und sagte: Einmal ist man doch bloß jung!

Die Mutter und ich lebten im Dorf bei der Großmutter. Ich hatte schon oft gehört, dass mein Vater, der ein sehr anständiger Mann gewesen war, verschollen sei, ganz bestimmt aber wiederkommen werde.

Ich wusste nicht, was das ist: ein Vater! und fühlte mich wohl mit den beiden Frauen. Es war damals nichts Besonderes, keinen Vater zu haben.

Die Großmutter stieß mit dem Fuß einen Schuhkarton unter den Ofen und sagte: Geschminkt und parfümiert, du musst dich ja vor dem Jungen schämen!

Die Mutter zog aus ihrer Handtasche eine kleine Dose, öffnete sie und rieb etwas in ihr Gesicht.

Die Großmutter trat nahe an sie heran und schnüffelte: Wie das stinkt, kann ja kein Mensch aushalten.

Sie versuchte ihrer Tochter den Hut abzunehmen und sagte:

Womöglich ist der Mann in Gefangenschaft und muss hungern. Ich möchte bloß wissen, für wen du das machst!

Die Mutter drehte sich mit einem Ruck um und sagte: Lass mich gefälligst in Ruhe.

War es der Ton in der Stimme der Tochter, der die Großmutter ärgerte, oder kränkte sie das Bewusstsein, keine Macht mehr über meine Mutter zu haben, sie schnaufte beleidigt: Ich kenne keinen Mann auf der Welt, der einer Frau das vergeben hätte!

Die Mutter summte ein Lied, knöpfte mir den Mantel zu und zuckte mit den Schultern: Ich weiß nicht, wovon du redest.

Die Großmutter hielt mich am Arm fest und bettelte: Lass doch wenigstens den Jungen hier, dass er so was nicht mit ansehen muss, ein unschuldiges Kind. Sie stand und stand.

Die Mutter riss mich los und gab der Großmutter einen Schubs, dass die auf ihr Bett fiel. Da saß sie schwer atmend und brüllte: So ein verkommenes Subjekt aber auch. Mit dir will ich nichts mehr zu schaffen haben, du Subjekt ...

Sie zog sich am Bettrand hoch und schlurfte aus dem Schlafzimmer, ohne uns noch eines Blickes zu würdigen.

Die Mutter zupfte an ihrem Schal, knöpfte den Mantel zu und streifte die Handschuhe über. Dann hängte sie ihre Tasche an den Arm, nahm mich bei der Hand und sagte leise: Nun können wir gehen! Ohne über das Vorgefallene noch ein Wort zu reden, liefen wir zur Bahn.

In der Stadt kaufte mir die Mutter eine Brause. Dann besuchten wir den Zahnarzt. Er küsste meiner Mutter den Handschuh, setzte sich in den Sessel uns gegenüber und redete über den Mann, der sein Freund gewesen war, meinen Vater.

Seine Frau brachte Kaffee oder was sie gerade zu trinken hatte. Sie zeigte mir bunte Bilderbücher. Manchmal streichelte sie mein Gesicht. Ich erinnere mich, dass sie trockene und weiche Hände hatte.

Bald sprang die Mutter auf und sagte, dass sie noch eine Menge zu erledigen habe.

Der Zahnarzt küsste ihr wieder den Handschuh. Seine Frau brachte uns zur Tür.

Bis zum Botanischen Garten hatten wir nicht lange zu laufen. In den Gewächshäusern war es still und heiß. Die Luft schien zu stehen. Wir guckten den Krokodilen zu, die unbeweglich halb im Wasser lagen, und spazierten unter Palmen und Bananen herum.

Meine Mutter wischte mit dem weißen Spitzentüchlein den Schweiß aus ihrem Gesicht, und sie erzählte mir, dass es dort, wo diese Bäume wüchsen, ganz warm sei.

Ich spürte, dass sie mit ihren Gedanken woanders war, und fragte: Noch wärmer als hier?

Viel wärmer, sagte meine Mutter. Dann lief sie in die Ecke, wo das Lianengewirr dicht war und kaum jemand hinkam. Sie hockte auf einer Bank. Manchmal konnte ich sehen, wie ihre Schultern zuckten. Ich beobachtete lieber die Wellensittiche, die sich schnäbelten, und Kolibris, die zwischen den Gewächsen südlicher Regionen herumschwirrten.

Niemals habe ich bemerkt, dass die Mutter in dem stickigen Gewächshaus ihre Handschuhe ausgezogen hätte.

Es war jedes Mal das gleiche: Nach einer Weile guckte sie auf die Uhr, wischte ihr Gesicht trocken und rief: Wir müssen gehen! Sie versuchte zu lächeln. Auf dem Bahnhof kaufte sie mir noch eine Brause.

Die Großmutter stand breit in der Tür. Na, sagte sie gedehnt, da seid ihr ja wieder, ist ja man gut! Sie beugte sich zu mir herunter und fragte: Ist wohl doch zu schön bei mir?

Ich nickte. Die Großmutter nahm mich mit in die Küche, wo sie alles genau wissen wollte. Ich erzählte. Nur dass die Mutter geweint hatte, verschwieg ich.

Die Mutter zog unterdessen ihr gutes Kleid aus und hängte es in den Schrank. Wenn sie in die Küche kam, drehte die Großmutter ihr den Rücken zu und schnaufte beleidigt.

Einmal, als wir in die Stadt fahren wollten, sagte die Großmutter: Ich habe euch auf dem Hals. Solange ihr hier bei mir wohnt, habt ihr zu gehorchen!

Ja, sagte die Mutter und ließ sich nicht stören.

Die Großmutter riss ihr die Tasche aus der Hand und schmiss sie auf den Fußboden.

Als die Mutter sich bückte, um sie aufzuheben, schrie die Großmutter: So ein blödes Gör ist eine Strafe Gottes. Sie hob die Rechte wie zum Schwur: Du Hure! Dann trat sie einen Schritt zurück, zitterte und brachte keinen Ton mehr heraus.

Die Mutter wischte ihre Tasche ab und nahm meine Hand, die sie fester als sonst hielt.

Einmal hörte ich, wie die Großmutter in der Küche zur Nachbarin klagte: Die Tochter ist mir so leicht, sie wird uns doch keine Schande machen. Ich verkroch mich unter dem Küchentisch und sah die dicken, gestopften Wollstrümpfe an den Beinen der Großmutter und hörte, wie die Nachbarin zu trösten versuchte: Kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder, große Sorgen ...

Die Großmutter hatte eine winzige Landwirtschaft. Ihren Acker bebaute ein Mann in mittleren Jahren, der kein Wort sprach. Das Vieh versorgte sie selbst: zwei Kühe und drei Schweine. Wenn meine Mutter zufassen wollte, hielt die Großmutter sie davon ab und sagte: Ich dulde nicht, dass du hier schuftest. Du hast einen feinen Mann geheiratet. Er wird zurückkommen, und du sollst in Schuss sein.

Dann schüttelte sie ihren Kopf und jammerte: Jede Woche, pfui Deibel, da muss ein anständiger Mensch sich ja schämen!

Soll ich denn wie im Kloster leben? Die Mutter war rot geworden.

Alle zwei Wochen würde auch reichen! Die Großmutter spuckte dreimal aus und ging auf den Hof, um zu arbeiten.

Sie war sicher, dass meine Mutter in die   Stadt fuhr, um schlimme Dinge zu tun. Ich glaube, dass sie wirklich Angst hatte, ihre Tochter könne verkommen sein.

Ja, meine Mutter war eine feine Frau. Ich habe sie nie ohne Handschuhe in die Stadt fahren sehen. Und niemals habe ich bemerkt, dass sie ihre Handschuhe auch nur einen Moment ausgezogen hätte.

Nun liegen sie im Schubfach des alten Schrankes, der in der Bodenkammer steht.

Zum Fasching dürfen die Kinder die Kleider meiner Mutter hervorholen, das schwarzsamtene, das aus dunkelblauer Spitze und das grüne Sommerkleid.

Sie ziehen die Handschuhe an und spielen feine Dame.

Wenn ich von unseren Fahrten in die Stadt rede, hören sie aufmerksam zu. Es dauert nicht lange, bis sie unruhig werden. Nicht, Papa, sagt die Älteste, die Sachen gehören uns, ihr habt sie gekauft, damit wir was zum Verkleiden haben?

Und was du da eben erzählt hast, ist überhaupt nicht wahr, stimmt’s? Dann nicke ich und sage: Du hast recht, ich habe es mir ausgedacht. Leiser füge ich hinzu und kann sie dabei nicht ansehen: Ich habe es mir für euch ausgedacht!

DER PROPHET

Das ist das Dorf - eine feldsteinerne Kirche mit runden Fenstern, die Lehrer Schramm als romanisch bezeichnet, und zwei Dutzend Höfe, von denen die Hälfte ihre Besitzer schon besser ernährt hat, davon will der Lehrer nichts wissen, er wählt deutschnational.

Das Dorf hat seine Geschichten. Kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg fand sogar ein Mord statt. Die Leute reden davon, als wäre er gestern erst geschehen.

Die Geschichten haben die Leute überlebt. Geschichte wurde anderswo gemacht. So war es schon immer, sagt Lehrer Schramm. Er erzählt den Kindern auch, dass General Ludendorff der größte Denker aller Zeiten ist, gleich nach Friedrich dem Großen kommt und lange vor Goethe.

Das ist das Dorf - man lebt dort, um zu leben, wie es sich gehört, und nach angemessener Zeit zu sterben, das gehört sich auch so. Die Kinder warten auf das Haus und die Wirtschaft, sie sehen nicht ein, dass sie den alten Faulenzern noch viel in den Rachen schmeißen sollen. Manche sterben auch hoch in den Jahren, ohne gelebt zu haben.

Jetzt ist Ruhe auf dem Hof. Kühe und Schweine sind noch satt vom Morgen, und die Pferde haben zu Mittag ihre Portion Hafer gekriegt.

Jetzt liest Else ihrem Ernst aus der Zeitung vor. Diese Stunde brauchen sie, um zu wissen, was in der Woche passierte, und zum Erzählen, dass es in Argentinien so trocken ist und in Mexiko ein Vulkan ausgebrochen, und um festzustellen, wie gut es ihnen doch geht ohne Trockenheit und Vulkane, die gefährlich werden könnten.

Ernst sitzt im Sessel. Er raucht eine Zigarre und blinzelt Else mit seinen kurzsichtigen Augen an. Er trägt eine dicke Brille, ohne sie ist er hilflos. Weil er nicht gucken kann, brauchte er nicht Soldat zu werden.

Ja, wo die Liebe so hinfällt, sagt Else manchmal, wenn sie Ernst ärgern will. Dabei ist die gar nicht so weit weggefallen. Sie sind Geschwisterkinder, von ihren Eltern zusammengekuppelt. Trotzdem ist es immer gut mit ihnen gegangen. Else hat oft Angst, dass ihr Ernst sie noch nie gesehen hat, denn auch mit Brille kann er von allen Dingen nur die Umrisse erkennen.

Noch nie hat er gesehen, dass ich keine unrechte Frau bin, seufzt sie dann und guckt in den Spiegel.

Aber jetzt liest sie: Der Hochverehrte Herr Reichspräsident hat ein Denkmal aus Holz, da kann jeder einen Nagel reinhauen. Ruhm und Ehre des Reiches!

Na denn, sagt Ernst.

Kostet fünf Mark, sagt Else.

Die sehen schon zu, wo sie bleiben, Ernst pafft an seiner Zigarre.

Ein neuer Reichskanzler ist auch schon wieder da, sagt Else.

Junge, Junge, Ernst pustet Rauch aus, da kannst du dich gar nicht so schnell umdrehen, wie die wechseln.

Na, sagt Else, so langsam drehste dich ja doch nicht um, tu bloß nicht immer so.

Das hört Ernst gern. Er macht seine Arbeit wie einer, der richtig sehen kann. Da hast du recht, er nickt zufrieden.

Else blättert weiter. Die Antrittsrede des Reichskanzlers interessiert sie nicht, die wird auch nicht viel anders sein als die des vorigen, aber gelesen hat sie die auch nicht. Man weiß doch sowieso, was drinsteht.

Hier schreiben sie was über Osthilfe, sagt sie.

Als Ernst nichts erwidert, erklärt sie: Die soll doch den Bauern helfen, weißte doch!

Ernst versteht nicht, was Else meint, aber er nickt. Meinetwegen, brummt er und dreht die Zigarre zwischen den Fingern.

Wollen wir nicht vielleicht doch, fragt Elise ängstlich, ich meine, wo wir doch in letzter Zeit ...

Ach was, unterbricht Ernst sie, den Bauern helfen. Er schüttelt den Kopf: Schulden gibt’s nicht, und schon gar nicht in diesen Zeiten. Ist doch schon so schlimm genug! Ernst steckt die Zigarre in den Mund und zieht, wenn du heute einen Tausender in der Kasse hast, ist es nächste Woche bloß noch ein Hunderter.

Ich meine man, vielleicht könnten wir doch drüber reden!

Ernst schiebt die Zigarre von einem Mundwinkel in den anderen und sagt: Nein, das will ich nicht, nicht in diesen Zeiten!

Dabei ist es im Dorf lange nicht so schlimm wie in der Stadt.

Else und Ernst schlachten jedes Jahr drei Schweine, einen fetten Hammel noch dazu: für Grüne-Bohnen-Suppe mit Hammellappen, das isst Ernst am liebsten. Und sonntags haben sie ihr Huhn im Topf.

Ist doch nicht meine Schuld, dass die in der Stadt nichts zu fressen haben, Ernst legt die rechte Hand auf seinen Bauch und streicht darüber, aber Schulden gibt’s nicht, Schulden, das habe ich von meinem Vater, Schulden sind immer der Anfang vom Ende!

Wir müssen auch an Erna denken, Else faltet die Zeitung zusammen und nimmt eine andere.

Erna ist die Tochter. Sie sitzt oben in ihrer Stube und stickt Monogramme in die Aussteuerbettwäsche. Erna ist neunzehn und nicht unrecht. Else guckt sich schon nach einem Mann für sie um.

Lehrer Schramm würde ja ganz gut passen, murmelt sie, seitdem er Witwer ist. Sie fügt hinzu: Kinderloser Witwer!

Na, ich weiß nicht, Ernst wiegt den Kopf: Der ist mir viel zu politisch!

So große Auswahl werden wir nicht haben, Else seufzt, bei dem Jungen! Der sitzt auf dem Hof in seinem Gitterchen, spielt mit Bauklötzen und brabbelt vor sich hin, dabei ist er fast zehn.

Ach ja, Else streicht über die Zeitung und seufzt wieder.

Was haste denn? Ernst kneift die Augen zusammen.

Ach, Else wischt über ihr Gesicht, es ist wegen dem Jungen!

Brauchste doch nicht immerzu dran denken, sagt Ernst, kannste sowieso nichts ändern!

Obwohl Else genau weiß, dass Ernst recht hat, am gesunden Menschenverstand fehlt es ihm nicht, sagt sie: Ja du, du bist ja auch bloß der Vater!

Leider Gottes, denkt Ernst und kratzt sich den Kopf.

Was weißt du denn schon, sagt Else und denkt: Wenn nicht bald was passiert, könnt ihr mich mit ihm zusammen in die Klapsmühle bringen, dann seid ihr uns wenigstens los!

Keiner weiß, was der Junge hat; wie ihm zu helfen ist, will keiner wissen. Alle reden sich raus und kassieren dafür noch viel Geld. Ein Professor in Berlin, eine große Kapazität soll das sein, hat ihr erst neulich gesagt: Gute Frau, warten Sie ab!

Worauf sie warten soll, konnte er nicht sagen.

Dabei waren sie froh, als der Junge kam, nach zehn Jahren Ehe endlich der Sohn, ein schönes Kind mit blauen, tiefen Augen. Else war stolz auf dieses Kind, dass sie manchmal einfach die Dorfstraße mit ihm auf und ab lief.

Als er vier war, wurde er krank. Wochenlang lag er mit Fieber und ohne Verstand. Sprechen kann er nun nicht mehr, Else muss ihn füttern und überall hinschleppen.

Irgend so ein hergelaufener Professor hat ihr geraten: Geben Sie ihn in ein Heim, mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen, gute Frau!

Ich bin nicht Ihre gute Frau. Else war starr vor so viel Frechheit und ärgerte sich, dass sie heulen musste: Herr Dokter, er ist doch mein Kind!

Als der Professor gleichgültig mit den Achseln zuckte, wusste Else, was das zu bedeuten hatte. Sie nahm ihren Sohn auf den Arm und trug ihn aus dem Sprechzimmer.

Sie war sogar bei der Brandtschen, von der jeder weiß, dass sie die Bücher Mosis besitzt.

Wenn du nach die Kirche gehst, riet die Brandtsche ihr, sammle allen harten Hundedreck, den du unterwegs findest. Hart muss er sein, daran denke! Wickele ihn in ein sauberes Taschentuch und verneige dich dreimal vor dem Altar. Zu Hause zerstoß das Zeug zu Pulver, das mischste dann in die Suppe.

Wie die Brandtsche es sagte, hat Else es gemacht.

Was ist denn heute mit deiner Suppe los? Ernst hatte noch nicht den ersten Happen hinter.

Else bückte sich, dass er ihre Verlegenheit nicht sehen konnte, und versuchte leichthin zu sagen: Was soll los sein?

Na, ich weiß nicht, maulte Erna.

Du sei man ruhig, fuhr Else sie an und tat wer weiß wie unschuldig und flößte dem Jungen viele Löffel ein, was ihr nur habt!

Als Ernst die Wahrheit erfahren hatte, hat er ein paar Wochen nicht mit Else geredet. Aber nun ist alles wieder in Ordnung. In Berlin sind so und so viele Kinder unterernährt, liest sie. Und Ernst sagt: Die hätten ja den Kaiser nicht nach Holland schicken brauchen. Das haben sie nun davon!

Lehrer Schramm meint auch, sagt Else.

Der ist mir zu politisch, unterbricht Ernst sie und leckt seine Lippen, als er sagt: Der Kaiser ist kein schlechter Mensch!

Das meint Lehrer Schramm ja nicht, Else streicht wieder über die Zeitung.

Ernst zieht an seinem rechten Ohrläppchen, das macht er immer, wenn er sich wohlfühlt. Ja, sagt er, wenn der Kaiser nicht gewesen wäre.

Wir werden noch mal froh sein, sagt Else, dass er sie nimmt ... Plötzlich presst sie die Hand vor den Mund und reißt die Augen auf wie irr. Wenn das nun doch, flüstert sie und zieht an den Knöpfen ihrer hellbraunen Rüschenbluse, mein Gott ...

Was haste denn?

Als Else nicht antwortet, sagt Ernst: Spinnst du!

Else streicht ihr Haar aus der Stirn und holt tief Luft. Dann gib sie sich einen Ruck und liest: Der Mann, der sich Prophet Gottes nennt, wandert über die Dörfer in unserer Gegend. Er predigt und findet viel Zulauf. Man spricht davon, Else stockt einen Moment, bevor sie weiterliest, dass es durch die Kraft dieses Mannes bereits zu Wunderheilungen gekommen ist.

Mein Gott, denkt Else und guckt aus dem Fenster. Dann liest sie weiter: Die evangelischen Pastoren empfehlen ihren Gemeindemitgliedern, den Betrüger zu meiden. Sie haben Klage angestrengt wegen: Blas-phe-mie.

Was soll denn das bedeuten? fragt Ernst.

Weiß doch auch nicht, Else zuckt mit den Schultern und liest; Ungeachtet dessen wandert der fromme Mann weiter über die Dörfer, und das Volk hört ihm begierig zu.

Else faltet die Zeitung zusammen und rutscht auf dem Stuhl hin und her.

Das kann ich mir denken, Ernst pafft, diese Pfaffen!

Wenn das wirklich so wäre, denkt Else und reißt an ihren Knöpfen.

Ernst dreht sich um und brummt: Wird wieder so’n Humbug sein!

Else schickt schnell ein Dankgebet an den lieben Gott und bittet ihn im Voraus um Verzeihung.

Es ist doch nicht für mich, denkt sie und guckt nach oben, die Stubendecke ist weiß getüncht und in der Ecke über dem Sofa gerissen.

Sie schiebt die Zeitungen zur Seite und denkt: Also ist es auch keine Sünde. Sie zieht sich an der Tischkante hoch und sagt zu Ernst: Will man Kaffee kochen!

Das tut not, sagt Ernst.

Erna, komm mal runter, sollst mir Kuchen schneiden helfen! ruft Else im Flur. Wenn der Junge wieder gesund wird, denkt sie, kannst du noch zehn solche wie Lehrer Schramm kriegen. Vielleicht ist er wirklich zu politisch. Dauernd erzählt er, dass man in diesen Zeiten nur deutschnational wählen darf und General Ludendorff gleich nach Friedrich dem Großen kommt und lange vor Goethe, was das soll ...

Am Mittwochabend gehen Else und Ernst auf den Saal zu Krögers. Erna haben sie mitgenommen, damit sie ein bisschen Abwechslung hat. Else hofft, dass Lehrer Schramm auch da ist.

Die Krögersche schleppt Stühle, weil doch mehr gekommen sind, als sie gerechnet haben. Sie tut sich wer weiß wie wichtig und krächzt: Wer will, kann Kaffee haben, und für die Männer gibt’s Bier!

Bier ist am allerbesten, Ernst leckt sich die Lippen, und Else sagt spitz: Die denkt bloß immer an ihr Geschäft!

Das muss sie auch, sagt Ernst, so was muss der Mensch doch nutzen! Er drückt Ernas Arm und sagt: Pass gut auf, Mädchen, einen Propheten siehst du nicht alle Tage.

Na ihr, ruft der Kirchenälteste, Bauer Schröder, ihr seid ja auch hier!

Wir dürfen das, ruft Else, sie ist so aufgeregt, dass es ihr schwerfällt zu spotten, schließlich sind wir nicht so nah am lieben Gott wie du!

Und das stimmt, Schröders tun wer weiß wie fromm, und sonntags nach der Kirche isst der Pastor oft Mittag bei ihnen.

Als ein paar Leute laut lachen und Schröder beleidigt abwinkt, sagt Else leise zu ihm: Lass man deinen Paster nicht sehen!

Bevor Schröder sich neben seine Frau setzt, die ihre Arme vor der Brust verschränkt hat und nicht nach rechts und links guckt, sagt er: Ach, der kommt heute nicht, der fährt doch nicht abends sieben Kilometer über Land, bloß um zu gucken, wer den Propheten reden hören will. Propheten, sagt er.

Das Dorf hat zwar eine Kirche, aber der Pastor wohnt im Nachbarort. Für einen eigenen reicht es bei uns nicht, haben die Bauern gesagt. Das hat sein Gutes: Es ist keiner da, der darauf achtet, dass alle Gebote eingehalten werden, und das hat sein Schlechtes: Das Dorf ist unter den anderen Dörfern der Gegend als geizig verschrien. Einer der Bauern muss immer erst anspannen, um den Pastor zu holen und wieder zurückzubringen.

Else hat längst mitgekriegt, dass fast alle im Saal versammelt sind, sie kann sogar die Brandtsche sehen. Lehrer Schramm sitzt rechts neben der Theke und nippt an seinem Weinglas.

Hoffentlich glucken wir uns bald hin, denkt Erna. Ernst tritt von einem Bein auf das andere.

Else hält nach einem guten Platz Ausschau und sagt: Gleich, gleich! Sie schleppt ihre Einkaufstasche. Obendrauf hat sie Zeitungspapier gepackt, damit nicht jeder gleich sehen kann, dass Bratwürste darin liegen, mager und mit einem kleinen bisschen Knoblauch, und drei Dutzend Eier.

Endlich hat sie vorn neben der Bühne drei freie Plätze entdeckt. Sie setzen sich. Die Krögersche bringt gleich Bier für Ernst und Kaffee für Else und Erna.

Bier ist gut, Ernst wischt den Schaum vom Mund und trinkt sofort noch einen großen Schluck: Sogar sehr gut!

Else nippt am Kaffee und flüstert Erna zu: Meiner ist besser! Als der rote Samtvorhang sich bewegt, sagt sie: Achtung! setzt sich steif hin und stellt die Tasse auf ihren Schoß. Sie fasst nach Ernas Hand, bis der fromme Mann auf die Bühne kommt.

Er trägt eine himmelblaue Samtkutte und um den Bauch einen Kälberstrick.

Als ob so einer nicht genug Geld hätte, sich richtig anzuziehen. Erna kichert. Sie hört auf zu kichern, als Else sie anfährt: Du sei man ruhig!

Else starrt den Mann an und lässt ihn nicht aus den Augen. Obwohl es auf der Bühne schummrig ist, kann sie erkennen, dass er ein schmales, blasses Gesicht hat und gar nicht mehr so jung ist, wie sie gehofft hatte. Seine Haare sind rot und hängen bis auf die Schultern.

Ein paar Frauen kichern. Sie putzen ihre Nasen und sind still, als der Prophet sie scharf anguckt.

Dann hebt er seine Hände. So ähnlich wie der Pastor, wenn er segnet. Else fällt auf, dass er die Innenflächen nach oben hält. Auf der Bühne wird es heller. Kneiper Kröger, der für die Beleuchtung verantwortlich ist, hat aufzupassen, dass er die Lampen nicht verwechselt.

Else stellt fest, dass der Mann feine und saubere Hände hat. Man merkt, dass er nicht Tag für Tag arbeiten muss wie unsereiner, denkt sie, wirft einen Blick auf ihre großen, rauen Hände, deren Nägel nicht ganz sauber sind, und denkt, das sieht man aber wirklich.

Mein Göttlicher Herr hat mich geschickt, verkündet der Mann und zieht den Kälberstrick fester um seinen Bauch.

Ernst will wissen, was denn jetzt passiert.

Nachher, sagt Else, wenn wir wieder zu Hause sind, erzähle ich dir alles.

Ernst ist zufrieden und trinkt Bier. Er zuckt zusammen, als der Mann auf der Bühne losdonnert: Alle Regierungen verdienen es, abgeschafft zu werden!

Erna rutscht fast die Kaffeetasse aus der Hand.

Und besonders diese, sagt der Mann leiser.

Da hat er ja recht, Ernst nickt.

Natürlich leben sollt ihr, hat mein Herr mich beauftragt, euch zu sagen, der Mann schreitet über die Bühne, weniger Fleisch und Fett.

Viel Speck hat er wirklich nicht auf den Rippen, denkt Else, und Ernst murmelt: Du rede man, wir machen doch, was wir wollen!

Ein paar Frauen sind so gerührt von den Worten des Mannes, dass sie ihre Taschentücher vor die Gesichter drücken.

Else kann die Augen nicht von ihm lassen. Wie er über die Bühne schreitet, was er sagt, lässt sie vor Aufregung zittern.

Verdammt trocken hier, sagt Ernst: Ich will noch ein Bier!

Warte doch, flüstert Else und denkt: Einer, der so aussieht und so redet, kann bestimmt auch andere Sachen. Bestimmt, sie macht sich Mut.

Unterdessen segnet der Prophet alle, die gekommen sind. Die den Weg zu mir nicht gefunden haben, sagt er, gehen des Segens des Herrn verlustig.

Damit ist der fromme Teil der Veranstaltung beendet.

Es gibt noch eine Extravorstellung: Die Russmannsche lässt sich hypnotisieren.

Das hat man sich so gedacht, immer vorschieben muss sich das Weib, als wäre wunder was mit ihr los. Sie hopst wie ein Hase über die Bühne und blökt wie ein Schaf. Als sie wieder zu sich kommt, streicht sie über ihre Augen und fragt: Was ist denn nun passiert?

Da lachen erst recht alle. Erna kann gar nicht aufhören.

Else sitzt, ohne sich zu rühren.

Ernst knufft sie dauernd am Arm, er will wissen, was passiert.

Ruhe, zischt sie, nachher. Da ist er still.

So, sagt der Prophet, nachdem er wieder gesegnet hat, für eine kleine Spende wäre mein Herr nicht undankbar.

Da vorn, er zeigt zur Tür. Alle, die sich umdrehen, sehen, dass dort ein kleiner Weidenkorb steht.