Der Buchladen von Bloomsbury - Natalie Jenner - E-Book
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Der Buchladen von Bloomsbury E-Book

Natalie Jenner

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Beschreibung

Eine Buchhandlung, 51 Regeln und drei Frauen, die ihr Schicksal in die Hand nehmen.

Der Buchladen von Bloomsbury blickt auf eine jahrhundertealte Tradition zurück. In der Aufbruchsstimmung der fünfziger Jahre wagen es drei ehrgeizige Frauen, die unantastbaren Regeln der alteingesessenen Buchhandlung infrage zu stellen. Gemeinsam gelingt es ihnen gegen anfänglichen Widerstand, den Laden mit frischen Ideen in die Zukunft zu führen. Als sie in den Beständen ein verschollen geglaubtes Buch entdecken, verändert das die Buchhandlung für immer und ermöglicht den drei Frauen, ihren Idealen und Träumen zu folgen ... 

Ein Roman über die Magie von Büchern und die heilsame Wirkung der Literatur.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 490

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Über das Buch

Regel Nr. 5: Rebellisches oder aufrührerisches Verhalten der Angestellten, allein oder in Gemeinschaft, wird nicht toleriert.

Bloomsbury Books ist eine traditionsreiche Buchhandlung, deren Fortbestehen auf 51 unverrückbaren Regeln beruht. Doch während Grace, Vivien und Evie 1950 gemeinsam in dem Buchladen in London arbeiten, stellen die drei Frauen schon bald fest, dass sie die Regeln brechen müssen, wenn sie Veränderungen anstoßen wollen. Evie, die als eine der ersten Frauen in Cambridge studieren durfte, kämpft dafür, auch die Literatur von Autorinnen ins Sortiment aufzunehmen. Als sie in den alten Beständen der Buchhandlung eine Erstausgabe eines Buches findet, das als verschollen gilt, fügt sie mit diesem Fund nicht nur der Literaturgeschichte ein neues Kapitel hinzu – die Entdeckung bietet den drei Frauen endlich die Chance, für ihre eigenen Ideale und Wünsche einzustehen …

Über Natalie Jenner

Natalie Jenner wurde in England geboren und wanderte als Kind mit ihrer Familie nach Kanada aus. Sie arbeitete u.a. als Unternehmensanwältin und Karrierecoach und ist Inhaberin einer unabhängigen Buchhandlung in Oakville, Ontario, wo sie mit ihrer Familie und zwei Hunden lebt.Im Aufbau Taschenbuch ist ebenfalls ihr Roman »Teatime im Jane-Austen-Club« lieferbar.

Annette Hahn studierte Englische Literaturwissenschaft und Literarische Übersetzung in München und lebt heute in Münster. Sie übertrug u. a. Graeme Simsion, Zoe Fishman, Elise Hooper und Natasha Lester ins Deutsche.

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Natalie Jenner

Der Buchladen von Bloomsbury

Roman

Aus dem Amerikanischen von Annette Hahn

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Zitat

Innerhalb der Buchhandlung

Außerhalb der Buchhandlung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Epilog — Die Regeln von Sunwise Turn, Ltd. eröffnet am 14. April 1950

Danksagung

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Für meine Tochter,

die echte Evie,

und

in Erinnerung an

Malkit Leighl,

den besten aller Männer

Ein jedes Leben, das zu leben lohnt, ist schwer … Es stellt sich ein, wenn wir im Leben mutig sind. Nie gestaltet es sich so, wie wir es erwarten, nie kommt es zur erhofften Zeit und schon gar nicht, wie wir es geplant haben.

– Katherine Anne Porter

Dieses Gefühl, dass jeder für dieselben Leute arbeitete oder mit ihnen zusammen oder um sie herum, war in London besonders stark zu spüren.

– Adam Gopnik

Das Schwierigste an einer Buchhandlung ist, dass sie alles sein muss – sonst ist sie nichts.

– Nancy Mitford

Innerhalb der Buchhandlung

Evelyn Stone

Ehemaliges Dienstmädchen und Cambridge-Absolventin

Grace Perkins

Sekretärin des Geschäftsführers

Herbert Dutton

Geschäftsführer

Vivien Lowry

Desillusionierte Mitarbeiterin

Alec McDonough

Leiter der Abteilung Romane/Erzählungen

Ashwin Ramaswamy

Leiter der Abteilung Wissenschaft/Sachbuch

Frank Allen

Leiter der Abteilung Antiquarische / Seltene Bücher

Master Mariner Simon Scott

Leiter der Abteilung Geschichte

Außerhalb der Buchhandlung

Fredrik Christenson

Vice-Master des Jesus College, Cambridge

Lord Baskin

Inhaber von Bloomsbury Books

Ellen Doubleday

Witwe des amerikanischen Verlegers Nelson Doubleday, Sr.

Lady Browning

Englische Aristokratin und Schriftstellerin

Sonia Brownell Blair

George Orwells Witwe

Mimi Harrison

Filmstar

Samuel Beckett

Irischer Dramatiker

Peggy Guggenheim

Amerikanische Erbin und Sammlerin

Stuart Wesley

Wissenschaftlicher Mitarbeiter von Vice-Master Christenson

Yardley Sinclair

Direktor der Abteilung für Museumsdienstleistungen bei Sotheby’s

Elsie Maud Wakefield

Stellvertretende Leiterin des Herbariums in Kew Gardens

Dr. Septimus Feasby

Leiter der Bibliotheksabteilung des British Museum

Robert Kinross

Junior Fellow am Jesus College, Cambridge

Prolog

Cambridge, England 19. Dezember 1949

Mit dickem Wollmantel bekleidet saß Evie Stone in ihrem winzigen Einzimmerapartment. Sie wohnte am nördlichen Ende der Castle Street, von wo aus das College gerade noch fußläufig zu erreichen war. Allerdings war Evie keine Studentin mehr – ihre Tage an der Universität waren gezählt, und in den nächsten vierzig Minuten würde sich entscheiden, wie viele ihr noch blieben.

Durch das einzige Fenster des Apartments drang kalte Dezemberluft, die gleich vibrieren würde, wenn in drei Meilen Entfernung die Kirchturmuhr von Great St. Mary’s zwei Uhr schlug. Evies Vorstellungsgespräch mit Senior Fellow Christenson war für zwanzig nach drei angesetzt – exakt diese zwanzig Minuten würde sie brauchen, um zu Fuß zum Jesus College zu gelangen.

Auch ohne die Glocken von St. Mary’s als Anhaltspunkt konnte Evie die Zeitdauer einer Handlung in der Regel auf die Sekunde genau bestimmen – eine Fähigkeit, die sie als Dienstmädchen im Chawton Great House ausgebildet hatte. Zwei Jahre lang hatte sie dort heimlich die Familienbibliothek katalogisiert. Ohne irgendwo eine Uhrzeit ablesen zu können, hatte sie jede Nacht mehrere Stunden damit verbracht, die insgesamt 2375 Bücher akribisch durchzusehen. Sie konnte sofort abschätzen, wie lange sie brauchen würde, um eine Seite zu überfliegen oder ein ganzes Werk zusammenzufassen, egal ob es sich dabei um einen Wälzer aus der Gutenberg-Ära oder ein getipptes Manuskript handelte. Dass sie diese Fähigkeit besaß, behielt sie jedoch für sich – sie hatte schon vor geraumer Zeit erkannt, dass unterschätzt zu werden von Vorteil war.

Die männlichen Angehörigen der Fakultät kannten Evelyn Stone als ruhige, bescheidene, wenngleich überraschend forsche Studentin. Sie gehörte zum ersten Jahrgang jener Frauen, denen die Möglichkeit eines akademischen Abschlusses in Cambridge gewährt wurde. Nach drei anstrengenden Jahren im speziell für Frauen eingerichteten Girton College und mit einer umfangreichen Hausarbeit über Jane Austens Zeitgenossin Madame de Staël hatte Evie ihr Studium mit Auszeichnung beendet. Damit war sie eine der ersten weiblichen Absolventinnen in der achthundertjährigen Geschichte der Universität.

Christenson war nun die nächste Hürde, die sie zu nehmen hatte.

Für das anstehende Frühjahrstrimester benötigte der Vice-Master eine wissenschaftliche Hilfskraft, und Evie hatte sich noch vor allen anderen um die Stelle beworben. Sie brauchte den Job dringend. Im Anschluss an das Studium hatte sie Junior Fellow Kinross bei seiner Arbeit an einem wissenschaftlichen Kommentar zu William Makepeace Thackerays Roman Jahrmarkt der Eitelkeiten unterstützt. Diese Tätigkeit war jetzt abgeschlossen, und mit dem letzten Tag des Jahres 1949 lief auch ihr Stipendium aus. Als Mitarbeiterin von Christenson bliebe Evie viel Zeit für eigene Interessen. Sie könnte nach Herzenslust die über einhundert Bibliotheken der Universität durchstöbern, eine Aussicht, die ihr zum jetzigen Zeitpunkt aufregender erschien als alles andere.

Sobald das Glockenläuten einsetzte, stand Evie auf, schnappte sich ihre Aktentasche und ging zur Tür. Zwanzig schnelle Schritte hinunter auf die Straße, fünfeinhalb Minuten bis zum Castle Inn, und nach weiteren zehn erreichte sie die Biegung des Cam. Es war die Stelle, an der die Seufzerbrücke, die kaum etwas mit ihrer venezianischen Schwester gemein hatte, über den Fluss führte – imposant und zugleich neogotisch verspielt, mit steinernem Flechtwerk in den offenen Fenstern, das Studenten am Hineinklettern hindern sollte. Derartige studentische Albernheiten würde Evie niemals mitmachen – und auch nie dazu eingeladen werden.

Evies Ziel, das Jesus College, war ein geschichtsträchtiges Bauwerk, das 1496 aus einem ehemaligen Nonnenkloster hervorgegangen war. Der Rasen unter Evies Schuhen war also schon jahrhundertelang gepflegt worden, und das Gras hatte verschiedensten Tieren als Nahrung gedient – ebenso lang, wie die Universität ihren Studierenden geistige Nahrung geboten hatte. Im Zweiten Weltkrieg waren unter den Gärten zum Schutz vor deutschen Luftangriffen Betonbunker errichtet worden. Die mittelalterliche Universität trug somit Narben der modernen Zeit, aber auch deren Früchte: Wenige Jahre nach Kriegsende wurden die Frauen in Cambridge endlich als vollwertige Universitätsmitglieder zugelassen. Sie durften akademische Grade erlangen, Universitätsposten bekleiden und über die Organisation des College mitbestimmen.

Über all das dachte Evie nicht nach, während sie forschen Schrittes das Gelände überquerte. Sie nahm das rhythmische Knirschen ihrer Stiefelsohlen auf dem frostbedeckten Rasen wahr. Bei jedem Tritt schwang die abgetragene Aktentasche gegen ihre Hüfte, in der sich die rund einhundert Seiten ihrer Arbeit über Individualität und Widerstand in den Werken der Madame de Staël befanden. Der Hausarbeit lag ein Empfehlungsschreiben von Junior Fellow Kinross bei.

Ihre weitsichtige Freundin Mimi Harrison hatte sie schon vor einiger Zeit genötigt, ein Empfehlungsschreiben ihres Mannes anzunehmen. Der hatte zu diesem Zeitpunkt eine dreijährige Professur am Jesus College beendet und stand kurz davor, zusammen mit seiner Frau nach Harvard zurückzukehren.

»Aber ich habe ihn doch nur ein Mal getroffen«, protestierte Evie.

»Ach, Unsinn«, erwiderte Mimi ungeduldig. »Als ich vor zwanzig Jahren in Hollywood ankam, hatte ich den Brief des früheren Anwaltskollegen meines Vaters in der Tasche, und den hatte ich höchstens zweimal getroffen. Außerdem will Geoffrey dir unbedingt helfen.«

»Aber warum? Er tut … ich meine, er kennt mich doch überhaupt nicht.« Wenn sie mit Mimi sprach, verfiel Evie gelegentlich in den Dialekt ihres Heimatortes Chawton zurück, weil sie sich dort kennengelernt hatten.

Mimi lachte, denn sie war immer darauf bedacht, etwas mehr Leichtigkeit in das Leben der ernsten jungen Frau zu bringen. »Aber er kennt mich und weiß, dass ich gute und fähige Menschen auf Anhieb erkenne.«

Trotzdem hatte Evie abgelehnt – und trotzdem hatte Mimi ihr das Schreiben geschickt. Genauso wie sie ihr im Lauf der Jahre Theaterkarten, Zugtickets und vieles mehr hatte zukommen lassen. Die Großzügigkeit der berühmten Film- und Theaterschauspielerin Mimi Harrison kannte keine Grenzen.

Evies Stolz ebenso wenig. Deshalb hatte sie heute nur das Empfehlungsschreiben von Professor Kinross dabei, worin er ihr Leistungsfähigkeit und Effizienz bescheinigte. Sie war überglücklich gewesen, als er ihr dieses Zeugnis angeboten hatte. Was sie nicht wusste, war, dass er solche Schreiben nach jedem Trimester zuhauf an seine Studenten verteilte und sie alle den gleichen Inhalt hatten.

Als Evie um 14:22 Uhr im breiten Drehstuhl vor Christensons Schreibtisch saß und ihrer Zukunft entgegenblickte, kam sie sich erschreckend klein und unbedeutend vor. Der Professor legte Kinross’ Empfehlung beiseite, tippte auf das Deckblatt ihrer einhundert Seiten über Staël und seufzte.

»Ihre Forschung hier … zu all diesen obskuren schriftstellernden Frauen … eine Madame de Staël ist keine George Eliot.«

Da Christenson ein anerkannter Experte für Eliot war, fand Evie seinen Kommentar merkwürdig.

»Schließlich ist es am Ende immer die Sahne, die nach oben steigt, oder? Die Crème de la crème …« Er lehnte sich zurück. »Und diese Gemeinschaftsarbeit über … Mr Thackeray …«

Evie nahm eine aufrechte Sitzposition ein. Auf ihre Recherchearbeit für Junior Fellow Kinross, die sie gemeinsam mit ihrem Studien- und Examenskollegen Stuart Wesley geleistet hatte, war sie besonders stolz. Kinross hatte Evie für die umfangreichen Notizen und beeindruckenden Indexe gelobt, die sie für ihn zusammengetragen hatte. Er hatte sie ermuntert, sich so ausgiebig wie möglich mit den Originalquellen zu befassen, und betont, wie wichtig gründliche Forschungsarbeit für sein Projekt sei.

»Ihr Kollege Mr Wesley hat ja auch einen großen Teil beigetragen, sehe ich das richtig?«

Evie richtete sich noch weiter auf. »Wir haben beide dazu beigetragen.«

Christenson schwieg und kniff skeptisch die Augen zusammen – zum einen wegen ihres offensichtlichen Mangels an Unterwürfigkeit, zum anderen wegen des ihm allzu geläufigen und damit nichtssagenden Empfehlungsschreibens vor ihm auf dem Tisch. Mit diesen lapidaren Beurteilungen tat Kinross seinen Studenten keinen Gefallen.

»Nun, ich habe wohl verstanden, dass Sie die Recherchearbeit geleistet haben, aber die schriftliche Ausarbeitung …« Christenson lächelte, was er normalerweise nicht tat und Evie deshalb zutiefst beunruhigte. »Wie Sie wissen, brauche ich eine gewisse Fertigkeit im Umgang mit Text, mit … Spraaache.« Er zog das Wort fast parodistisch in die Länge, und Evie wurde ihr ländlicher Akzent bewusst, der die Wörter eher verkürzte.

»Vielleicht wissen Sie noch nicht, dass ich im neuen Jahr Professor Bolts Position als Vice-Master übernehmen werde. Damit bleibt mir bedauerlicherweise weniger Zeit für eigene Schreibarbeit.« Christenson nahm den Papierstapel mit Evies Hausarbeit in die Hände, stieß die Unterkante ein paarmal entschlossen auf seinem überfüllten Schreibtisch auf und hielt ihr die Frucht ihres gesamten letzten Studienjahres entgegen.

»Danke für Ihre Zeit, Miss Stone.« Er nickte kurz in Richtung der geschlossenen Bürotür, was Evie wohl als Zeichen deuten sollte, dass sie entlassen war. Nach einem kurzen Nicken ihrerseits zog sie sich hastig zurück.

Auf ihrem Nachhauseweg begann es zu schneien. Die Fenster der Pubs und Geschäfte leuchteten golden gegen die früh einsetzende winterliche Dämmerung an. Evie hatte das Gefühl, es sei bereits dunkelste, bitterste Nacht. Weder spürte sie die feinen Schneeflocken, die ihr auf den unbedeckten Kopf und die Schultern fielen, noch nahm sie die Menschen um sich herum wahr, die mit Körben voll rationierter Waren nach Hause eilten. Manche trugen braun eingeschlagene Päckchen unter dem Arm, die auf das nahende Weihnachtsfest hindeuteten. Evie zog den Mantel fester und fragte sich, was gerade passiert war. Immer wieder ging sie die Szene im Kopf durch – sie wusste, irgendetwas war ihr entgangen, nicht nur bei Christenson, sondern auch schon bei Kinross und Wesley. Die ganze Zeit. Ein Gefühl des Misstrauens machte sich in ihr breit, und dass es so überraschend – und mit solcher Verzögerung – auftrat, beunruhigte sie.

Evie hatte in den letzten drei Jahren härter gearbeitet als alle anderen Studenten, ihre Noten zeigten das deutlich. Eine bessere wissenschaftliche Hilfskraft würde Christenson nicht finden. Und trotzdem hatte er sie abgelehnt.

Vor dem Fenster des Castle Inn blieb sie stehen. Drinnen saßen an mehreren Tischen Studenten, lachten und tranken, feierten den letzten Tag des Trimesters und genossen die vorweihnachtliche Stimmung. Evie beobachtete das muntere Treiben eine ganze Weile, überzeugt, dass vor dem Hintergrund der schneeglitzernden Nacht niemand ihre kleine schattenhafte Gestalt erkennen würde.

Als sie ihr Apartment betrat, lag unweit der Tür auf dem abgetretenen Teppich der wöchentliche Brief ihrer Mutter. Evie hängte ihre Ledertasche an den Garderobenständer, wo ansonsten nur ihr großer schwarzer Regenschirm baumelte. Dann blieb sie reglos in der Zimmermitte stehen und sah sich um. Bald würde sie packen müssen – ohne eine Ahnung, wohin sie gehen sollte.

Ihre Brüder wohnten weit entfernt von zu Hause, bis auf Jimmy, den jüngsten, der erst zehn war. Ihr Vater war nun schon zwei Jahre tot, er hatte dem Arzt die Infektion in seinem verkrüppelten rechten Bein zu spät gezeigt. Danach war der Hof verkauft worden, und ihre Mutter war mit Jimmy in ein kleines Reihenhaus an der Hauptstraße ihres Dorfes gezogen. Evie hatte nicht dafür so hart gearbeitet, dass sie dorthin zurückkehrte.

Sie ging zur Kommode, die sie größtenteils in eine provisorische Aktenablage umfunktioniert hatte. Kleidungsstücke besaß sie ohnehin nur wenige. Sie zog die oberste Schublade auf, begann bei A und blätterte zügig durch all die Briefe, Durchschläge, Notizblätter, Visitenkarten und Handzettel, die sie bislang gesammelt hatte. Evie warf niemals etwas weg.

Unter AL stieß sie auf die Geschäftskarte eines »Mr Frank Allen, Antiquarische Abteilung, Bloomsbury Books & Maps, 40 Lamb’s Conduit, Bloomsbury, London«. Sie hatte Mr Allen über Yardley Sinclair kennengelernt, der im Herbst 1946 für das Auktionshaus Sotheby’s den Verkauf der Bibliothek des Chawton Great House beaufsichtigt hatte. Zusammen mit Mimi Harrison hatten Yardley Sinclair und Evie die Jane Austen Society gegründet, die im Zuge ihrer Bemühungen, Chawton House als einstiges Heim der berühmten Schriftstellerin zu retten, die Bibliothek erstanden hatte. Bei der Auktion hatte Mr Allen für eine Handvoll Bücher aus dem 19. Jahrhundert geboten, um sie für die Londoner Buchhandlung zu erwerben, für die er arbeitete. Mr Sinclair, der damals stellvertretender Leiter für Haushaltsauflösungen bei Sotheby’s war, hatte Evie nicht ohne einen gewissem Stolz den verschiedenen Händlern und Agenten vorgestellt, die an der Bibliotheksversteigerung teilgenommen hatten. Sie erinnerte sich noch, wie Mr Allen sie für ihren gewissenhaft mit der Hand geschriebenen Katalog gelobt und dass Mr Sinclair ihn ständig allen möglichen Interessenten präsentiert hatte.

Evie starrte auf die Visitenkarte – weiß mit silberfarbenem Prägedruck – und fuhr mit ihren tintenbefleckten Fingern über den erhabenen Schriftzug. Die Turmuhr von Great St. Mary’s schlug halb vier. Obwohl sie noch ihren Wollmantel trug, spürte sie die Kälte durch das nach wie vor offene Fenster hereinziehen. Ihre Aktentasche am Garderobenständer schwang einsam hin und her; der Brief ihrer Mutter lag ungeöffnet auf dem Boden; das Wort »Spraaache« hallte ihr noch immer im Kopf. Sie besann sich auf ihr Selbstvertrauen und atmete tief durch.

Nein, sie würde niemals zurückgehen – sie würde sich noch nicht einmal umblicken.

Kapitel 1

Regel Nr. 17

Viermal am Tag wird pünktlich Tee serviert.

»Der Despot hat seinen Durst kundgetan.«

Grace blickte auf. Von ihrem kleinen Schreibtisch im hinteren Teil der Buchhandlung aus organisierte sie alles, was bei den Angestellten unter die Rubrik »Gefälligkeiten« fiel: Stapel von Briefe, Anfragen, Reklame, Einladungen, Zeitschriften, Zeitungen und jedweder andere Papierkram, durch den Bloomsbury Books in Verbindung mit der Außenwelt trat.

Ihre Kollegin Vivien stand in der Tür und schlenkerte den Wasserkessel hin und her. Es war Montagmorgen, und wie immer am Wochenbeginn war Vivien für die zweite Teezeremonie des Tages zuständig.

»Die Sicherung ist schon wieder rausgeflogen.« Sie schnitt eine Grimasse. »Und wie du weißt, funktionieren die Herren nicht ohne ihren Tee. Der Despot hat heute wieder mal ganz besondere Laune.«

Der Despot hatte natürlich einen Namen, aber Vivien weigerte sich, ihn auszusprechen, wenn sie unter sich waren. Grace nahm wahr, dass sie es ihr oft gleichtat – was wohl darauf hindeutete, dass Viviens Arbeitshaltung auf sie abfärbte. Grace stand auf. »Wenn er dich je dabei erwischt, dass du ihn so nennst …«

»Das wird er nicht. Er hört doch sowieso nichts anderes als seine eigene Stimme.«

Grace schüttelte über ihre junge Kollegin den Kopf und musste ein Schmunzeln unterdrücken. Seit Kriegsende arbeiteten sie zusammen in dieser Buchhandlung, und die Freundschaft mit Vivien war für sie ein guter Grund, zu bleiben. Nun ja, das und natürlich die Bezahlung. Und dass ihr arbeitsloser Ehemann ihr schlecht verbieten konnte, Geld zu verdienen. Und dass sie Zeit ohne ihre anstrengenden Jungs verbrachte. Und dass sie Angst vor einschneidenden Veränderungen hatte. Am Ende waren es wohl eine Menge Gründe, aus denen sie blieb, dachte Grace. Was Viviens Gründe anbelangte, war sie sich nicht sicher.

»Ist Dutton schon da?«, fragte Vivien und blickte an Grace vorbei in das Büro hinter ihr.

Herbert Dutton, seit Langem Geschäftsführer der Buchhandlung, hatte nie einen Spitznamen von Vivien erhalten, geschweige denn einen Kosenamen. Er gehörte nicht zu den Männern, die man kategorisieren konnte, weil er eine ganz eigene Kategorie darstellte.

»Der ist beim Arzt.«

»Schon wieder?«

Vivien zog die Augenbrauen hoch, und Grace zuckte nur die Achseln. Als einzige Frauen bei Bloomsbury Books beherrschten die beiden die Kunst der stummen Kommunikation, in Form einer Bewegung der Augenbrauen, eines Zwickens am Ohrläppchen oder anderer kleiner Gesten.

Vivien stellte den Kessel ab und machte sich mit Grace zusammen auf den Weg in den Keller. Wenn sie gemeinsam durch die Buchhandlung liefen, strahlten sie etwas Unbezwingbares aus, vor dem die männlichen Mitarbeiter instinktiv zurückschreckten. Beide Frauen waren ungewöhnlich groß, wenn auch von unterschiedlichem Körperbau. Grace hatte breite Schultern, für die sie keine der gerade so modernen Polster brauchte, ein freundliches, ungeschminktes Gesicht mit pfirsichfarbenem frischem Teint – das einzige Erbe ihrer Familie, die seit Generationen in den Hügeln von Yorkshire Landwirtschaft betrieb. Sie kleidete sich eher schlicht, was ihrer Größe schmeichelte: gerade geschnittene Jacken im Militärstil, schmale Röcke und Schuhe mit niedrigen Absätzen, auf denen sie gut laufen konnte. Was an ihr besonders auffiel, waren die grauen Augen, ihr ruhiger Blick und das hellbraune Haar mit einem Stich ins Rote, das sie stets zu einem straffen Knoten frisierte.

Im Gegensatz dazu war Vivien schmal und kantig wie eine Gazelle und ebenso schnell darin, aufzuspringen, wenn sie ungeduldig oder ungehalten war. Sie kleidete sich am liebsten schwarz und figurbetont; oft trug sie eng anliegende Wollröcke und Pullover, die sie mit einer auffallenden viktorianischen Amethystbrosche schmückte – das einzige Erbe ihrer geliebten Großmutter. Viviens Gesicht war stets auf dramatische, ja, fast bedrohliche Weise geschminkt, was durchaus beabsichtigt war: damit hielt sie sich andere Menschen erfolgreich vom Leib.

Auf ihrem Weg in den Keller kamen die zwei Frauen zunächst am Büro von Mr Dutton vorbei, das durch eine Glasscheibe hindurch einsehbar war. Er war der Geschäftsführer der Buchhandlung und auch deren langjährigster Mitarbeiter. Um zum hinteren Treppenhaus zu gelangen, das Vivien »Via Inferno« – den Weg zur Hölle – getauft hatte, mussten sie sich an den aufgestapelten Paketen mit Büchern vorbeidrängen, die täglich von verschiedenen Verlagen und Auktionshäusern sowie aus Geschäfts- und Haushaltsauflösungen angeliefert wurden. Im Durchschnitt verkauften sie pro Woche über fünfhundert Bücher, so dass die Lagerbestände regelmäßig aufgefüllt werden mussten.

Die aufmüpfige Sicherung befand sich im Technikraum neben der selten besuchten Abteilung für Wissenschaft und Technik. Das gesamte Untergeschoss war unverhältnismäßig warm und feucht, da der vorkriegszeitliche Boiler nicht ordentlich funktionierte. Vom Technikraum aus konnten Grace und Vivien durch die offene Tür einen Blick auf den Leiter und einzigen Mitarbeiter der Abteilung werfen, Mr Ashwin Ramaswamy. Er saß ruhig und entspannt an seinem Schreibtisch, hinter Stapeln von Büchern, die er durch seine kleine Nickelbrille begutachtete.

»Hat der heute schon einen Piep gesagt?« Vivien flüsterte fast, und Grace schüttelte den Kopf. Mr Ramaswamy war berüchtigt dafür, dass er gern für sich blieb, was aufgrund der seltenen Nachfrage nach Büchern aus seiner Abteilung auch nicht schwer war. Die Sammlung an Fach- und Sachbüchern der Biologie, Chemie und anderer Wissenschaften hier im Keller bestand bestimmt schon seit Darwins Zeiten, bildete jedoch den am wenigsten frequentierten und damit auch am wenigsten profitablen Teil der Buchhandlung.

Als gelernter Natur- und Insektenforscher verbrachte Ash Ramaswamy seine Tage entweder mit dem Sortieren seiner Bücher – und das auf eine Weise, die jedem anderen Abteilungsleiter die Schamesröte ins Gesicht treiben musste – oder damit, unter einem Mikroskop Insektenpräparate zu studieren, die er in einem flachen Holzkästchen auf seinem Schreibtisch aufbewahrte. Es handelte sich dabei um Tiere aus seiner Heimat, dem Staat Madras im Südosten Indiens. Ashs verstorbener Vater, ein tamilischer Brahmane, war ein hochrangiger Beamter der britischen Kolonialregierung gewesen, der seinen Sohn stets ermutigt hatte, die Chance auf ein Leben in Großbritannien mit seinen vielfältigen Möglichkeiten zu ergreifen. Nach dem Krieg war Ash also nach England ausgewandert in der Hoffnung, eine Anstellung im Londoner Naturkundemuseum zu ergattern. Als Angehöriger der privilegiertesten Kaste seines Heimatlandes hatte er nicht mit den offenkundigen Vorurteilen seiner Person gegenüber gerechnet. In keinem einzigen der Londoner Museen hatte man ihm ein Vorstellungsgespräch angeboten, und so war er stattdessen bei Bloomsbury Books gelandet.

»Du hast von Stimmung gesprochen«, sagte Grace, die ihren Kopf zur Begutachtung der Lage in den Sicherungskasten gesteckt hatte.

»Hm?«

»Stimmung … Der Despot … Was ist denn los?«

»Margaret Runnymede, die ist los.«

Grace’ Kopf kam abrupt wieder zum Vorschein. »Ist ihr neues Buch schon erschienen?«

»So wichtigtuerisch, wie sie hier reinstolziert, müsste jeden Tag ein neues Buch von ihr erscheinen. Nur damit er ihr diesen lächerlichen Strauß Veilchen zu ihrer lächerlichen Blümchenprosa überreicht und bauchpinselnd um sie herumscharwenzelt! Da kann einem doch wirklich schlecht werden! Er will, dass heute alles im Laden perfekt für sie ist.«

Grace hob die Augenbrauen. »Und mehr will er nicht?«

Vivien gab ein kurzes Würgegeräusch von sich. »Er hält sich ja für unwiderstehlich. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich jemals auf ihn einlässt …«

»Nun, es scheint genug Frauen zu geben, die das tun. Also, die Interesse an ihm haben, meine ich.« Grace klappte den Sicherungskasten zu und rieb sich die Hände. »Alles erledigt.«

»Und das weiß er auch.«

»Nun, daraus kann man ihm nicht unbedingt einen Vorwurf machen.« Zwar mochte Grace den Leiter der Romanabteilung nicht besonders, aber in ihrer aller Interesse zog sie es vor, ihr Missfallen nicht so zur Schau zu stellen wie Vivien.

Hintereinander erklommen sie die Stufen zurück ins Erdgeschoss, wo Vivien noch rasch mit in Grace’ Büro ging, um den Wasserkessel zu holten. Durch die gläserne Abtrennung erblickten sie nun Mr Dutton, der reglos hinter seinem Schreibtisch saß, als wartete er darauf, dass man ihm eine Aufgabe erteilte. Hinter ihm an der Wand hingen etwas schief die eingerahmten einundfünfzig Regeln der Buchhandlung, die er gleich nach seiner Beförderung zum Geschäftsführer vor fast zwanzig Jahren aufgestellt hatte.

»Einen Keks oder zwei?«, fragte Vivien laut und geschäftsmäßig, während Grace sich wieder auf ihren Bürostuhl setzte und den Stoff ihres Rocks unter sich glatt zog.

Grace zögerte. Sie wurde bald vierzig und hatte vor Kurzem festgestellt, dass ihre Hüften ein wenig runder geworden waren. Auch ihrem Mann Gordon war es aufgefallen. Und er war nicht der Typ, der kommentarlos über so etwas hinwegsah.

Seufzend hob sie also nur einen Finger. Vivien schnaubte leise und kehrte in die Küche zurück, wobei sie den Kessel so ausladend hin und her schwang, also wollte sie bewusst irgendwo anecken.

Grace betrachtete die Papierberge um sich herum, die noch zu bearbeiten waren. Es wäre sinnlos, so kurz vor der vollen Stunde noch etwas anzufangen. Also wartete sie.

Nach wenigen Minuten, pünktlich um elf Uhr, hörte sie Mr Dutton nach ihr rufen.

»Miss Perkins.« Wie immer setzte er die Anrede »Miss«, für unverheiratete Frauen, vor ihren Ehenamen. Damit unterstrich er, wie ungewöhnlich es war, dass sie als Ehefrau und Mutter arbeiten ging. Viel lieber würde Grace sich wie ein Filmstar fühlen – Miss Crawford, Miss Hepburn –, doch sie wusste, so war es nicht gemeint.

Sie nahm Stift und Schreibblock, stand auf und betrat das Büro ihres Chefs durch die geöffnete Verbindungstür.

»Guten Morgen, Mr Dutton. Ich hoffe, alles ist gut verlaufen.« Sie sagte es freundlich, aber nicht als Frage formuliert, weil sie wusste, dass er ohnehin nicht darauf antworten würde.

»Ein wunderbarer Morgen«, erwiderte er mit einem so schmalen Lächeln, dass es in seinem runden, fleischigen Gesicht kaum zu erkennen war. »Sie sind hoffentlich gut ins neue Jahr gekommen.«

»Danke, ja. Sie auch?«

Er nickte. »Dürfte ich wohl eine Sekunde Ihrer Zeit beanspruchen?«

Sie nickte ebenfalls und hob demonstrativ Stift und Block an. Tausendmal schon hatten sie diese Routine absolviert. Er ging mit ihr den Terminplan durch – seinen Terminplan, denn alle anderen im Laden kümmerten sich einzig und allein um die Kundschaft –, und als sie bei 14:30 Uhr angelangten, sah er Grace irritiert an.

»Eine Miss Evelyn Stone?«, fragte er nach.

»Ja, wissen Sie noch? Dieser seltsame Anruf vor Weihnachten. Mr Allen hat bestätigt, dass er sie vor ein paar Jahren über Yardley Sinclair kennenlernte, und Sie haben einem Vorstellungsgespräch zugestimmt.«

Mr Dutton starrte Grace nur an. Sie wusste, dass sein Gedächtnis in letzter Zeit etwas nachgelassen hatte, also half sie ihm erneut auf die Sprünge.

»Sie haben der Form halber zugestimmt – aus Respekt gegenüber Mr Sinclair … als einem hochgeschätzten Freund unserer Buchhandlung.«

Mr Dutton schrieb den Namen in sein Terminbuch und nickte. Das war für Grace das Zeichen, dass sie sich setzen und sein Diktat für die Geschäftskorrespondenz aufnehmen konnte.

Den siebten Brief beendete er mit den Worten: »Auch wenn wir es sehr schätzen, dass die Broadstreet Signs Company unseren letzten Verkaufserfolg so nachdrücklich beworben hat, müssen wir Ihr freundliches Angebot für die vergleichsweise kostenintensive Plakatierung diesmal leider ablehnen. Mit freundlichen Grüßen …«

Er hielt inne und strich sich mit der rechten Hand über den deutlich kahler werdenden Schädel. Wahrscheinlich hatte Grace »einen ihrer Blicke aufgesetzt«, wie Gordon es gern ausdrückte.

»Ja, Miss Perkins?«

»Es ist nur so, dass … nun ja, ich glaube, unser Schaufenster sieht in letzter Zeit recht unspektakulär aus, und Viv und ich waren letzte Woche einmal bei Foyles, um deren Auslage anzusehen, und ich muss sagen, dass sie das recht gut gemacht haben.«

Mr Dutton bedachte sie mit einem seiner speziellen Blicke, einer kuriosen Mischung aus Entsetzen und Nachsicht. Den setzte er immer auf, wenn sie etwas Neues vorschlug. Mehr noch, als hinter ihrem größten Konkurrenten Foyles zurückzubleiben, fürchtete Mr Dutton vermutlich, von seiner Sekretärin auf eine Nachlässigkeit hingewiesen zu werden, dachte Grace.

»Und … also … ich dachte, mit richtig schönen Plakaten, so wie denen von der Broadstreet Company, die wir dann im Schaufenster von oben herunterhängen lassen, damit sie nicht die Sicht versperren … und mit anderen Regalen, ohne Rückwände, damit mehr Licht durchkommt … Also, ich dachte, damit könnten wir gut die nächste Sonderangebotsaktion zum neuen Jahr bewerben.«

Mr Dutton starrte sie nur an. Seit fast fünf Jahren arbeitete Grace nun schon für Bloomsbury Books, und soweit sie wusste, war noch nie ein Sonderangebotsplakat ins Schaufenster gehängt worden – oder sonst irgendwo in den Verkaufsraum. Stattdessen wurden die Verkäufer angehalten, diskret und elegant auf ihre Angebote hinzuweisen, als wäre allein schon der Gedanke verwerflich, Bücher könnten etwas mit Geld zu tun haben.

»Außerdem steht bald das hundertjährige Jubiläum der Buchhandlung an«, fuhr Grace fort, nachdem Mr Dutton immer noch schwieg. »Das können wir gar nicht früh genug bekannt geben, um Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Vivien und ich dachten an ein weiteres Plakat: Hundert Jahre Bücher von Bloomsbury – mit einer Auswahl der beliebtesten Titel aus jedem Jahrzehnt.«

Mr Dutton war ein Gewohnheitstier, dem es angesichts einer beunruhigend ungewissen Zukunft widerstrebte, zu früh Zeit oder Geld in etwas zu investieren. Dies war einer der vielen Unterschiede zwischen ihm und seiner hochgeschätzten Sekretärin, wenn es ums Geschäftliche ging.

»Danke, Miss Perkins«, sagte er schließlich. Sein Gesichtsausdruck wirkte leicht gequält. »Das wäre dann alles für heute.«

Ja, es war tatsächlich alles für heute. Es wäre auch alles für morgen und für übermorgen. Jeden einzelnen Tag würde sie seine unnötig langen Briefe tippen, seine Unmengen an Unterlagen in alphabetische Ordnung bringen und ihm den Tee anreichen. Dann würde sie nach Hause gehen und Variationen desselben für ihre Familie erledigen.

Grace sah den Korridor hinunter zu Vivien, die sich an der Kassentheke abstützte. Mit sanft hin und her schwingenden Hüften schrieb sie immer wieder etwas in ein grünes Spiralnotizbuch und kaute zwischendurch an ihrem Stift. Vivien war hinter dieser Theke mehr oder weniger eingesperrt, da sie nur gelegentlich zur Kundenberatung in den Verkaufsraum gehen durfte. Wie Grace war auch sie in der Zeit zu Bloomsbury Books gekommen, als die Welt aus den Trümmern des Krieges wiederauferstand. Damals hatte das Leben nach neuen Möglichkeiten und Freiheiten geschmeckt, vor allem für Frauen, die im Krieg mit allen Alltagsdingen betraut gewesen waren, während die Männer an der Front gekämpft hatten. Es hatte sich wie ein Gesellschaftsvertrag angefühlt, der in einer Zeit großer Not und großer Opfer Kraft spenden sollte: dass denjenigen, denen viel abverlangt wurde, später viel gegeben würde.

Doch irgendwie war die Vergangenheit selbst durch die feinsten Risse der zerbrochenen Welt versickert. Frauen wie Vivien und Grace hatten auf einen Neustart für alle gehofft; fünf Jahre später aber waren die Möglichkeiten für Frauen immer noch genauso rationiert wie das Essen. Die Mächtigen blieben weiterhin darauf bedacht, an ihrer Macht festzuhalten, selbst bis zum bitteren Ende.

Kapitel 2

Regel Nr. 12

Im Notfall ist unbedingt Erste Hilfe zu leisten.

Der »Despot« war Alec McDonough, ein Junggeselle Anfang dreißig, der im Erdgeschoss von Bloomsbury Books die Abteilung für Romane, Neuerscheinungen und Kunst leitete. Er hatte in Bristol Literatur und Kunstwissenschaft studiert und sich, bevor der Krieg dazwischenkam, eine große Karriere ausgerechnet – Vivien frotzelte oft, er wolle am liebsten eine eigene kleine Kolonie regieren. Nach seiner ehrenhaften Entlassung aus der Armee im Jahr 1945 hatte Alec seine Arbeit in der Buchhandlung am selben Tag aufgenommen wie Vivien. »Aber eine Stunde früher. Wie ein älterer Zwilling«, kommentierte sie trocken, wenn Alec irgendetwas als Erster bekam.

Von Anfang an waren die beiden Rivalen gewesen, wobei es nicht nur um die Leitung der Romanabteilung ging. Jeder Verleger, der den Laden betrat, jeder Gastredner mit Kontakten zur Literaturszene bot die Chance auf Macht und Einfluss in der Buchbranche. Sowohl Alec als auch Vivien waren nach London gekommen, um ihr Glück als Schriftsteller zu versuchen, und aus ebendiesem Grund hatten beide ihre Stellung bei Bloomsbury Books angetreten. Beide waren aber auch klug genug, zu wissen, dass es die Männer waren, die hier die Zügel in der Hand hielten – vom etwas steifen Mr Dutton über den damaligen Leiter der Romanabteilung Graham Kingsley und den emsigen Frank Allen bis hin zum knurrigen Master Mariner Scott. Denen mussten sie zunächst einmal gefallen. Und diesbezüglich war Alec klar im Vorteil. Mit jeder Erzählung über seine Kriegserlebnisse, jeder Erinnerung an gemeinsame Zeiten in zufällig denselben Schulen und jedem Bericht über damals gewonnene Cricketspiele wurde Vivien missmutiger, was ihre eigenen Möglichkeiten der Beförderung betraf.

So war es kein Wunder gewesen, dass Alec schon nach wenigen Wochen sowohl mit dem langjährigen Geschäftsführer Herbert Dutton als auch mit dessen rechter Hand Frank Allen gut befreundet war. Als Graham Kingsley sich 1948 zur Ruhe setzte, wurde sein Posten als Leiter der Romanabteilung Alec übertragen, und noch im selben Jahr erhielt er auch die Leitung über Neuerscheinungen und Kunst – was Vivien immer noch als widerrechtliche Aneignung bezeichnete.

Irgendwann hatte sie angefangen, ihn »Despot« zu nennen; er nannte sie überhaupt nichts. Viviens Probleme mit Alec reichten von den Büchern, mit denen sie die Regale bestückten, bis hin zu seiner Vorliebe, Veranstaltungen nur mit männlichen Autoren durchzuführen, und zwar solchen, die auch im Krieg gewesen waren. Nach ihrem Studium der Literaturwissenschaft in Durham (ihre Wunschuniversität Cambridge hatte es 1941 noch abgelehnt, Frauen einen ordentlichen Abschluss zu gewähren) hatte Vivien feste und gut begründete Vorstellungen davon, welche Titel in einer Literaturabteilung zu stehen hatten. Natürlich teilte Alec diese Vorstellungen in keiner Weise.

»Bücher, die von Frauen geschrieben wurden, liest er noch nicht einmal«, beklagte sich Vivien bei Grace auf ihrer gemeinsamen Busfahrt nach Hause, und Grace nickte mitfühlend, wobei sie sich an ihren Einkaufszettel zu erinnern versuchte. »Weißt du, wie die Regale bei uns aussehen? Da steht kein einziger Roman von Jane Austen, kein einziger von Katherine Mansfield, keiner von Porter. Ich habe diese Geschichte von Salinger im New Yorker gelesen, die unser Despot so toll findet: Da geht es von vorn bis hinten nur um traumatisierte Soldaten und Kinder … Ich habe keine Ahnung, was daran so überaus männlich sein soll.«

Im Gegensatz zu Vivien hatte Grace nicht viel Zeit zum Lesen – womit ihr Mann sie nicht selten aufzog. Aber sie arbeitete auch nicht wegen der Bücher in der Buchhandlung. Sie arbeitete dort, weil die Busfahrt in den Stadtteil Bloomsbury nur zwanzig Minuten dauerte, weil sie die Kinder auf dem Weg dorthin zur Schule bringen konnte und weil sie bei Feierabend die unverkauften Zeitungen mit nach Hause nehmen durfte. Von Grace war der Vorschlag gekommen, sie könnten doch auch importierte Zeitschriften anbieten, insbesondere The New Yorker. Da die Buchhandlung ganz in der Nähe des British Museum und des Theaterviertels lag, kamen recht oft reiche amerikanische Touristen bei ihnen vorbei. Grace war überzeugt, dass solche kleinen Erinnerungen an ihre Heimat die Amerikaner länger im Geschäft halten würden – dazu gern auch Jazzmusik aus dem Radio an der Hauptkasse, doch das gehörte zu den Ideen, gegen die Mr Dutton sich immer noch sträubte.

Vivien und Alec betreuten nun schon mehr als vier Jahre lang das Erdgeschoss zu zweit und umkreisten einander innerhalb des Kassenareals so misstrauisch wie Löwen in einer Kampfarena. Der quadratische, abgeschlossene Kassenbereich befand sich mitten in der Romanabteilung, um eine alte Steckdosenvorrichtung zu verbergen, die genau dort aus dem Boden ragte. Mr Dutton hatte diese unglückliche Vorrichtung nie ohne die schreckliche Vorstellung betrachten können, von einem Kunden verklagt zu werden, der darüber stolperte und sich verletzte. Als er in den 1930ern zum Geschäftsführer avanciert war, hatte er sofort das Kassenareal um diese Steckdose herum errichten lassen.

Eine Maßnahme, die sich für die Angestellten als vorteilhaft erweisen sollte. Nun konnte man von der Kasse aus einen Kunden schon frühzeitig aus jedweder Richtung herankommen sehen und sich seinem Gesichtsausdruck entsprechend – von fragend bis entrüstet – auf eine Reaktion vorbereiten. Es entging einem auch nicht, wenn sich jemand heimlich ein unbezahltes Buch in die Tasche steckte. Andere Buchhandlungen hatten sich dieses Konzept bereits abgeschaut und die eigenen Kassenbereiche entsprechend umgestaltet. Im Grunde genommen war die ganze Nachbarschaft voller Spione, denn Vivien und Grace waren nicht die Einzigen, die die Schaufenster und Ladeneinrichtungen der Konkurrenz beäugten. Nach fünf langen Jahren kriegsbedingter Rationierung und schrittweisem Aufbau war in London allmählich ein Aufschwung zu spüren, und überall entstanden neue Buchhandlungen. Der Stadtteil Bloomsbury war Heimat des British Museum, der Universität und vieler berühmter Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus Vergangenheit und Gegenwart, einschließlich des Literaturkreises rund um Virginia Woolf, Lytton Strachey und E. M. Forster. Damit war das Viertel ein idealer Ort für Buchliebhaber und Literaturschaffende aller Art.

Und nun, am leicht verschneiten 2. Januar 1950, fand auch die junge Evie Stone mit Mr Allens Visitenkarte in der Tasche ihren Weg hierher.

Vivien entdeckte sie als Erste.

Die Glocke an der Eingangstür gab ihr übliches kurzes Pling von sich, als ein Paar abgetretener Mädchenstiefel über die Schwelle der Buchhandlung trat. Ebenso kurz blickte Alec McDonough auf, der ganz in der Nähe zum Sortieren seiner Bücher auf einer Trittleiter stand.

Die schmale, hutlose Gestalt nahm ihn nicht wahr. Bedächtig schritt sie an den vorderen Verkaufstischen mit exponiert ausgestellten Romanen vorbei. Bei jedem Buch, das sie berührte, wiederholte sie dreierlei: Zunächst strich sie mit geradezu verzücktem Blick über den Buchdeckel, dann tippte sie versonnen auf den Titel und nahm abschließend das Buch mit beiden Händen auf, um sowohl das Inhaltsverzeichnis als auch die Rückseite eingehend zu studieren.

Vivien hatte aufgehört, in ihr Notizbuch zu schreiben, und kaute gedankenverloren auf dem Stiftende herum, während sie das junge Mädchen beobachtete. Es trug eine schlecht geschnittene, einfache Topffrisur und fixierte alles, was es betrachtete, mit durchdringendem Blick aus dunklen Augen. Es sah nicht aus wie jemand, der aus der Stadt kam, wirkte aber auch nicht völlig deplatziert.

Methodisch arbeitete die Besucherin sich bis zur Kasse vor, wo Vivien sich nun auf genau die nachlässige Art und Weise gegen die Theke lehnte, die Mr Dutton am meisten gegen den Strich ging. Als das Mädchen den Tresen erreichte, legte Vivien den Stift beiseite.

»Hallo.«

Vivien zog die rechte Augenbraue hoch. »Hallo«, erwiderte sie gedehnt und wartete.

Die Besucherin legte eine ihrer behandschuhten Hände an den Thekenrand und schob Vivien auf fast konspirative Weise eine kleine weiße Karte entgegen.

Vivien legte den Kopf zur Seite und nahm die Karte auf. Überrascht las sie, dass sie Frank Allen aus der Antiquariatsabteilung gehörte.

»Ich bin Evie Stone«, sagte das junge Mädchen, als erkläre das alles.

Fasziniert registrierte Vivien den Kontrast zwischen ihrem schlichten Äußeren und diesem tiefen, intensiven Blick.

»Leider ist Mr Allen heute nicht vor Ort und morgen bei einer Haushaltsauflösung. Ich hoffe, Sie hatten keine allzu lange Anreise.«

Das Mädchen schüttelte vehement den Kopf. »Mein Name ist Evelyn Stone. Und ich möchte Mr Dutton sprechen.«

»Ah«, rief Vivien nun weitaus freundlicher, so dass Alec überrascht den Kopf hob. »Ich verstehe. Sie haben also einen Termin?«

Nun neigte Evie fragend den Kopf, offenbar besorgt, dass ihr Besuch nicht angekündigt worden war.

»Wenn Sie bitte kurz hier warten würden … Ich sage ihm Bescheid.«

Vivien bewegte ihren schlanken Körper durch die schmale Schwingtür an der Rückseite des Kassenbereichs und betrat den Korridor, an dessen Ende sie in einem verglasten Büroabteil verschwand. Wenige Sekunden später spazierte Vivien gemächlich zu Evie zurück, als hätte sie alle Zeit der Welt.

»Bitte entschuldigen Sie, tatsächlich hat Mr Dutton Sie erwartet. Folgen Sie mir.« Vivien machte eine Handbewegung. »Kann ich Ihnen den Mantel abnehmen?«

Ihre Besucherin verneinte und zog den Mantel sogar fester um sich. Sie schien nervös zu sein, was Vivien ein wenig anrührte.

Nachdem sie das Mädchen bei Grace abgeliefert hatte, kehrte Vivien auf ihren Posten an der Kasse zurück, neben der nun auch Alec stand. Er lehnte sich auf die gleiche lässige Weise gegen die Theke, für die sie so häufig gescholten wurde. Wenn ein Mann sich so nonchalant gebärdete, schien Mr Dutton nichts dagegen zu haben. Von Frauen wurde offenbar erwartet, dass sie elegant auftraten, und von Männern, dass sie freundlich und zugänglich wirkten.

»Was?«, fragte sie scharf.

»Was war das denn für ein kurioses kleines Ding?«

Seufzend nahm Vivien ihren Stift wieder auf. Zu Alec musste sie immer aufsehen, was ihr widerstrebte. Niemand sollte derart groß sein.

»Wenn Sie es unbedingt wissen müssen: Das war Miss Evie Stone, mit einem Termin bei Mr Dutton.«

»Und wieso?«

Vivien legte den Stift wieder ab und stöhnte genervt. »Wegen einer Anstellung natürlich. Grace meinte, Yardley Sinclair habe sie empfohlen. Der Leiter der Abteilung für Museumsdienstleistungen drüben bei Sotheby’s. Ist das genug Information für Sie?«

Alec machte ein ähnlich schnippisches Gesicht wie sie. »Für die Kasse wird sie sich ja wohl nicht bewerben. Sie sieht kaum älter aus als sechzehn – wenn überhaupt …«

»Keine Sorge, Alec. Ich bin sicher, für Ihr Revier interessiert sie sich nicht im Mindesten.«

Alec sah aus, als wollte er gerade etwas erwidern, als ein seltsamer Schrei ertönte. Alle Anwesenden hoben den Blick aus irgendwelchen Büchern, und Alec griff instinktiv nach Viviens Arm.

»Du meine Güte!«, rief er. »War das Grace?«

Er lief um das Kassenareal, um Vivien die Schwingtür aufzuhalten, bevor sie gemeinsam den Korridor hinuntereilten. Grace stand wie angewurzelt vor dem Büro des Geschäftsführers, eine Hand vor dem Mund.

Im Büro selbst lag Mr Dutton reglos auf dem Boden. Evie kniete neben ihm.

»Was um alles in der …« Alec ging einen Schritt vorwärts, doch Evie hob die Hand, um ihn aufzuhalten.

In diesem Moment begann Mr Dutton, krampfartig mit Armen und Beinen zu zucken.

»Rufen Sie einen Krankenwagen«, sagte Evie ruhig zu Grace, während sie Mr Duttons Krawatte löste. »Und bleiben Sie zurück.«

Grace blieb stocksteif mit Alec und Vivien im Türrahmen stehen. Alle drei starrten entgeistert auf den sich windenden Mann zu ihren Füßen.

»Jetzt! Sofort!«, rief Evie.

Grace zuckte zusammen und hastete panisch zum Telefonapparat auf Mr Duttons Schreibtisch. Alec rief von der Tür aus: »Wir sollten ihm etwas … etwas in den Mund schieben … ein Buch oder …«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie mit fester Stimme. »Bleiben Sie einfach zurück.« Dann musterte sie den riesigen antiken Schreibtisch. »Räumen Sie den Tisch aus dem Weg. Schnell! Bevor er sich daran stößt.«

Nun trat Alec vor und schob den Tisch mit einem kräftigen Ruck aus dem Weg, gerade als Grace den Hörer auflegte.

»Der arme Mann … Sie sind unterwegs. Wie haben Sie …?«

Das junge Mädchen hob wiederum die Hand, um Grace zum Schweigen zu bringen. Die drei Angestellten konnten nur hilflos mitansehen, wie Evie ihre rechte Hand auf Mr Duttons Brustkorb legte. »Sein Herz schlägt ziemlich langsam.«

»Grace?«, begann Alec. »Hat er vorhin irgendwas gesagt? Irgendetwas, das … Wussten Sie davon?«

Grace schüttelte den Kopf und hob sich erneut eine zitternde Hand vor den Mund. »Ich weiß nur, dass er beim Arzt war. Warten Sie …« Sie zog die oberste Schreibtischschublade auf, kramte darin herum, lief dann zum Garderobenständer in der Ecke und schob die Hände in seine Manteltaschen. »Ja, hier ist etwas …«

Sie hielt den anderen eine kleine Tablettendose entgegen. »Phenytoin«, las sie laut vor.

»Holt Ash!«, rief Vivien. »Und das medizinische Wörterbuch …«

Alec zögerte nur kurz, dann rannte er zur Treppe.

»Er hat aufgehört zu krampfen«, verkündete Evie im selben Moment.

Mr Duttons Lider begannen zu flattern, dann öffnete er die kleinen runden Augen. Seine Gesichtszüge entspannten zusehends.

Alec kam mit Ash Ramaswamy im Schlepptau, der ein dickes medizinisches Wörterbuch in den Händen hielt.

»Um Phenytoin geht es … bei Epilepsie? Ja, Miss?«, fragte er, zu Evie gewandt. »Niedriger Puls?«

Evie starrte Ash so unverhohlen an, dass es den anderen nach kurzer Zeit unangenehm wurde. Vivien fragte sich, ob Evie überhaupt schon einmal einen Menschen aus Indien gesehen hatte, und schämte sich gleich darauf für diesen Gedanken.

»Ja, ziemlich niedrig«, antwortete Evie schließlich, und Ash schien weder ihr Zögern noch ihre geröteten Wangen bemerkt zu haben. Er wirkte ähnlich irritiert über ihre Anwesenheit.

»Dann legen Sie bitte etwas unter seinen Kopf, Miss … um Wirbelsäule und Kiefer in eine gerade Linie zu bringen.«

Schnell zog Evie ihre blaue Strickjacke aus und schob sie Mr Dutton, der immer mehr zu sich kam, vorsichtig unter den Nacken.

»Alles in Ordnung, Sir. Sie hatten nur einen kleinen Anfall.« Evie nahm seine Hand und streichelte sie kurz, als wollte sie ein kleines Tier oder ein Kind trösten, worauf Mr Dutton noch peinlicher berührt wirkte als zuvor.

Mit einer gewissen Erleichterung beobachteten die Angestellten daraufhin, wie Evie dem Geschäftsführer half, sich auf dem Ellbogen abzustützen.

»Ihr Puls geht langsam, Sir. Bitte bleiben Sie noch so liegen«, sagte Evie.

Mr Dutton wandte den Kopf in Richtung der fremden Stimme und musterte die hinter ihm kniende junge Frau. »Es tut mir furchtbar leid, Miss. Das muss ein schrecklicher Anblick für Sie sein. Für Sie alle.«

Nun lächelte Evie zum ersten Mal, seit sie die Buchhandlung betreten hatte. »Machen Sie sich um mich keine Sorgen, Sir.«

»Ja«, sagte Vivien. Sie stand im Türrahmen und beobachtete die Eingangstür des Ladens, durch die gerade die Sanitäter traten. »Miss Stone hat souveräner agiert als wir alle zusammen.«

Sie machte den Sanitätern Platz, die mit einer Trage durch den Korridor eilten. Im Büro angekommen, kümmerten sie sich augenblicklich um Mr Dutton. Alec kehrte zu den Kunden in den Verkaufsraum zurück, Ash machte sich auf den Weg in den Keller, und Vivien, Grace und Evie blieben im Korridor stehen.

Grace konnte sich gut vorstellen, dass die Situation für das junge Mädchen recht unangenehm war, und wollte gerade fragen, ob sie Evie eine Tasse Tee anbieten könne. Im selben Moment ertönte eine dröhnende Stimme von oben, dann waren Schritte zu hören auf der Treppe, die Vivien höhnisch »Via Dolorosa« nannte – den Leidensweg.

»Was zum Teufel ist das für ein Getöse?«

Kapitel 3

Regel Nr. 44

Allein der Geschäftsführer hat über die Einstellung, Beförderung und Entlassung von Angestellten zu bestimmen.

Am Fuß der Treppe stand ein Mann, der die sechzig deutlich überschritten hatte. Er trug ein Jackett, dessen Revers mit einer Reihe Seefahrtsabzeichen bestückt war.

»Mr Dutton hatte einen Anfall«, erklärte Grace und nickte in Richtung seines Büros. Durch den Türrahmen sah man die beiden Sanitäter auf dem Boden knien und dem Geschäftsführer helfen, sich aufzusetzen und gegen eines der Tischbeine zu lehnen.

»Einen Anfall?«, gab der alte Mann fast verächtlich von sich. »Was für einen Anfall?«

»Vermutlich epileptisch«, gab Evie Auskunft.

Mit skeptischem Blick über seine Lesebrille hinweg musterte der Mann nun die Fremde, die zwischen Grace und Vivien stand. Neben den überdurchschnittlich großen Frauen wirkte Evie noch zierlicher, als sie ohnehin schon war.

»Und wer sind Sie?«, dröhnte er erneut.

Grace wagte sich einen Schritt vor. »Das ist Evelyn Stone. Sie ist Mr Dutton zur Anstellung empfohlen worden. Von Mr Sinclair. Yardley Sinclair … von Sotheby’s? Der Direktor der Abteilung für Museumsdienstleistungen?«

Der Mann schnaubte verächtlich. »Nicht für meine Abteilung … auf keinen Fall. Frauen haben im Obergeschoss nichts zu suchen.«

Vivien seufzte vernehmlich. Dieses Platzhirschgehabe der Männer war sie bereits gewohnt. Alec würde die junge Frau nicht im Erdgeschoss haben wollen und Master Mariner Scott nicht im ersten Stock.

»Vielleicht interessiert sie sich ja auch gar nicht für Ihre Sammlung alter staubiger Landkarten«, erwiderte sie provokativ. »Ist sie denn überhaupt schon gefragt worden?«

Vivien war die einzige Angestellte, die trotz seiner häufigen Wutausbrüche keine Angst vor Master Mariner Scott hatte. Sie war ziemlich sicher, dass dieser Mann unter seiner mürrischen Oberfläche die Frauen doch liebte, vor allem hübsche Frauen, und er einfach einen Schutzwall errichtet hatte, um sein Ego zu schützen. Genau so ein Mann kam auch in ihrem Roman vor – dem Roman, von dem niemand etwas wusste und den sie heimlich in ihr grünes Notizbuch mit Spiralbindung schrieb.

Master Mariner Scott sah aus, als wollte er gleichermaßen aggressiv antworten, doch dann schien er es sich anders zu überlegen.

»So jung, wie sie aussieht, kann ich mir ohnehin nicht vorstellen, wo wir sie einsetzen sollen.« Er wandte sich an Grace. »Anfall oder nicht, es ist Zeit für Tee«, fügte er brummig hinzu.

»Ein Keks oder zwei?«, fragte Grace in ihrer ausgesprochen freundlichen Art, an deren Aufrichtigkeit die männlichen Angestellten in letzter Zeit ernsthafte Zweifel hegten.

»Zwei«, bellte er, dann stieg er wieder die Treppe hoch.

»Sie fragen sich wahrscheinlich, wer das war«, sagte Grace entschuldigend zu Evie.

Vivien lachte. »Oh, ich glaube, sein Auftreten war Erklärung genug.«

Grace spähte in Mr Duttons Büro. Erleichtert stellte sie fest, dass die beiden Sanitäter ihre Sachen zusammenpackten und der Geschäftsführer wieder mit Stift in der Hand am Schreibtisch saß und so zu tun versuchte, als seien die letzten Minuten nicht geschehen.

»Das war Master Mariner Scott«, fuhr Grace fort. »Er hat im Großen Krieg bei den Seegefechten im Kanal gekämpft und musste – zu seinem großen Unmut – im letzten Krieg zu Hause bleiben. Jetzt befehligt er das Obergeschoss: Geschichte, Reisen, Landeskunde, Abstammungslehre – hauptsächlich aber maritime und Militärgeschichte.«

»Ich mache mir nicht viel aus Kartografie«, sagte Evie.

Vivien klopfte ihr auf die Schulter. »Was für ein Glück! Wofür interessieren Sie sich denn dann? Also, für welche Bücher, meine ich.«

Evie blickte zur Treppe. »Ältere.«

Die Sanitäter schoben sich nun mit der leeren Trage an den drei Frauen vorbei, die immer noch im Korridor standen. Ein leises Hüsteln ertönte, und Grace erkannte es als das Zeichen, dass sie und Evie zu Mr Dutton zurückkehren sollten.

»Sein Puls ist wieder stabil.« Einer der beiden Männer war stehen geblieben, um Grace zu informieren. Er war jung und groß und lächelte freundlich. »Vermutlich durch das neue Medikament.«

»Dann war es kein epileptischer Anfall?«, erkundigte sich Vivien.

Der junge Mann musterte sie von oben bis unten und nickte anerkennend. »Nein, Miss, es war … das eine hat das andere bedingt. Wussten Sie denn, dass er Epileptiker ist?« Er sah von ihr wieder zu Grace.

Die zwei Angestellten schüttelten den Kopf, und Evie reagierte nicht, weil sie sich nicht in das Gespräch mit einbezogen fühlte.

»Nun, wer auch immer sich um ihn gekümmert hat, hat genau das Richtige getan.«

Grace trat zur Seite und wies mit der Hand auf Evie. Jetzt schien der Mann sie zum ersten Mal wahrzunehmen und beugte sich vor, um auch sie genau zu mustern. »Wenn ich das richtig verstanden habe, hatten Sie sich gerade um eine Anstellung beworben, als es passierte.«

Evie nickte.

»Tja …« Er richtete sich wieder auf und zwinkerte Vivien und Grace zu. »Nach all der Aufregung sollte man Sie hier unbedingt einstellen.«

***

Evie saß erneut auf dem Besucherstuhl vor Mr Duttons Schreibtisch. Er notierte etwas für Grace, die nach wie vor im Türrahmen stand.

Da Mr Dutton sich mit dem Schreiben Zeit ließ, inspizierte Evie das Büro. Sie registrierte den verglasten Bücherschrank mit vielen alten Büchern neben einer Reihe von Aktenschränken – ein Ordnungssystem, von dem sie nur träumen konnte. An den Wänden hingen mehrere Urkunden zu erfolgreichen Buchverkäufen, eine Siegerurkunde für ein Cricketturnier aus der Oberschulzeit, ein Foto, auf dem die Belegschaft der Buchhandlung an einem Strand Picknick hielt, und eines mit einer ernst aussehenden älteren Frau mit ähnlich rundem Gesicht wie Mr Dutton. Am auffälligsten war ein großer Rahmen mit einer langen Liste an Geschäftsregeln, der hinter ihm an der Wand hing.

Evie hatte den Eindruck, als befinde sich Mr Duttons gesamtes Leben innerhalb dieser Wände. Bevor er zusammengebrochen war, hatte er ihr erzählt, er habe als Laufbursche hier angefangen. Sein ganzes Studium über hatte er an den Wochenenden bei Bloomsbury Books gearbeitet, und als er bei der Prüfung zum Beamten durchfiel, bewarb er sich sofort auf eine feste Stelle. Das war kurz nach dem Großen Krieg gewesen, für den er zum Kämpfen noch zu jung gewesen war. Bis irgendwann in den Dreißigern hatte er sich zum Geschäftsführer hochgearbeitet und zunächst Frank Allen eingestellt, der jetzt Abteilungsleiter für antiquarische und seltene Bücher war, damals aber als Einkaufsassistent angefangen hatte. Sie beide waren am längsten von allen für die Buchhandlung tätig.

Danach hatte er ihr die restliche Geschichte des Geschäfts erzählt. Evie wusste nicht genau, warum er das getan hatte. Am meisten interessierte sie das Antiquariat im zweiten Stock – zum Glück in sicherer Entfernung von Master Mariner Scott, wie sie nun wusste.

Mr Dutton faltete seine handgeschriebene Notiz zusammen und hielt sie Grace hin.

»Bitte lassen Sie das Mr Allen zukommen. Er ist heute und morgen Vormittag bei Toppings, aber er sollte Bescheid wissen, falls …« Er brach ab, und Grace nahm das Papier an sich.

»Mr Dutton, bitte … bemühen Sie sich nicht weiter. Ich werde mich um alles kümmern. Und ich bin sicher, Miss Stone hier könnte auch eine kleine Pause vertragen.«

Evie schüttelte den Kopf. »Ist schon gut, Ma’am.«

»Es tut mir wirklich furchtbar leid«, ging Mr Dutton dazwischen. »Ich habe mich noch gar nicht richtig bei Ihnen bedankt. Die Sanitäter haben mir erzählt, was Sie alles getan haben. Woher wussten Sie …?«

Evie zuckte die Schultern und dachte an die vielen Anfälle, die ihr Vater nach seinem ersten Herzinfarkt erlitten hatte. Von den Verletzungen des Traktorunfalls auf ihrem Hof hatte Mr Stone sich nie wieder richtig erholt. Ein Körperteil nach dem anderen hatte ihm danach den Dienst versagt, und für die Familie war es eine harte Lektion gewesen, zu erleben, wie auf einen Schicksalsschlag noch viele weitere folgten.

»Man lernt das, was man lernen muss.«

»Und Sie mussten viel über alte Bücher lernen?«, fragte Mr Dutton.

»In gewisser Weise … ja.«

»Und nachdem sie nun alles darüber gelernt haben, möchten Sie sie jetzt verkaufen?«

»Nein, ganz und gar nicht.«

Irritiert sahen Mr Dutton und Grace einander an.

»Ich möchte sie katalogisieren.«

Mr Dutton lehnte sich zurück, und im bereits fahler werdenden Licht des Winternachmittags konnten die Frauen die feinen Schweißperlen erkennen, die ihm von seinem Anfall noch immer auf der Stirn standen.

»Grace … der Brief.« Er sah sie eindringlich an. Als Grace sich wieder gefasst hatte, verließ sie nach kurzem Nicken das Büro.

»Woher wissen Sie, dass sie katalogisiert werden müssen?«, wandte Mr Dutton sich an Evie.

»Nun, das müssen sie doch eigentlich immer wieder. Weil die Dinge sich mit der Zeit ändern. Herkunft, Seltenheit, Wert. Immer passiert irgendetwas und verändert für ein altes Buch die Zukunft.«

Mr Dutton starrte sie an. Evie wusste, dass sie über Bücher sprach, als wären sie lebendig. So lebendig und wandlungsfähig wie Menschen.

»Ihre akademischen Zeugnisse sind tadellos. Ich wundere mich, dass Sie sich mit der Arbeit in einer Buchhandlung bescheiden wollen.« Mr Dutton lächelte schwach. »Aber darüber könnte ich mich bei mir selbst auch wundern.«

Das ehemalige Dienstmädchen und den beleibten Geschäftsführer verband über eine gewisse Zwanghaftigkeit und ein starkes Pflichtgefühl hinaus also eine weitere seltsame Gemeinsamkeit.

Schon jetzt konnte Evie spüren, wie sich ihr Herz für diesen kränklichen älteren Herrn erwärmte, der blass und müde hinter seinem Schreibtisch saß und tapfer versuchte, seine Arbeit fortzusetzen – genau so, wie sie es täte.

»Sir, vielleicht sollte ich später noch einmal wiederkommen …«

»Ich fürchte, ein Später wird es nicht mehr geben.« Als sie ihn erschrocken ansah, hob er beschwichtigend die Hand. »Entschuldigen Sie bitte, Miss Stone. Ich meinte nur, dass mir geraten wurde, mich für eine Weile auszuruhen. Am besten für einige Wochen. Ich werde der Belegschaft morgen früh Bescheid geben – sie müssen ein paar Veränderungen hinnehmen, und ich fürchte, die werden nicht allen gleichermaßen gefallen.«

Irgendwie spürte Evie, dass er Vivien und Grace meinte.

»Unser Leiter der Antiquariatsabteilung, Mr Allen, ist seit fast zwanzig Jahren meine rechte Hand, und wir entscheiden alles gemeinsam. Aber wie Sie wissen, ist er gerade unterwegs, ziemlich weit im Norden sogar, und ich werde ihn leider frühestens morgen erreichen. Für Mr Allen werden die … äh … Veränderungen am deutlichsten zu spüren sein, und er wird …«, hier machte Mr Dutton eine so lange Pause, dass Evie irgendwann fürchtete, er würde einen neuerlichen Anfall erleiden, »… er wird in seiner Abteilung Unterstützung benötigen. Alle werden eine gewisse Unterstützung benötigen.«

Evie saß schweigend da und erinnerte sich an ihr Gespräch mit Senior Fellow Christenson, bei dem sie nicht rechtzeitig geschaltet und eingegriffen hatte. Nicht gegen die Bevorzugung ihres Kollegen Stuart Wesley protestiert hatte. Nicht das Nötige getan hatte, um die Stelle zu bekommen.

»Ich kann in vielerlei Hinsicht unterstützen«, bot sie nun also an. »Nicht nur bei alten Büchern, sondern … bei allem, was nötig ist.«

Das waren genau die Worte, die Mr Dutton am liebsten hörte. Er wünschte sich von seinen Angestellten vollen Einsatz und vollkommene Hingabe. Die einundfünfzig Regeln, die so sichtbar hinter ihm an der Wand hingen, hatte er aufgestellt, um seiner Stimme – väterlich, autoritär, notfalls auch göttlich – noch mehr Gewicht zu verleihen. Wenn alle sich einfach nur an diese Regeln hielten, konnte in seinen Augen rein gar nichts schiefgehen.

Kapitel 4

Regel Nr. 14

Der Dienstschluss für die Angestellten ist abhängig von den geschäftlichen Erfordernissen des Tages.

Nach diesem ereignisreichen Tag verließen Grace Perkins und Vivien Lowry um exakt 17:30 Uhr die Buchhandlung – so wie sie es an jedem anderen Arbeitstag der letzten vier Jahre getan hatten. Egal, was im Geschäft passierte, ob der Geschäftsführer zusammenbrach oder nicht – die Belegschaft hielt sich stets an die gewohnte Routine.

Die Gentlemen im Geschäft konnten die Uhr danach stellen, wann Grace an den Kassenbereich im Verkaufsraum trat, die schlichte schwarze Handtasche über dem Arm und die Hände elegant übereinandergelegt. Vivien ließ dann augenblicklich alles stehen und liegen und schnappte sich ihre eigene schwarze Handtasche. Seite an Seite marschierten die Frauen aus dem Laden und steuerten die Bushaltestelle am Russell Square an. Froh darüber, nicht länger in Hörweite der Männer zu sein, die über sie bestimmten, verbrachten sie den ersten Teil ihrer Heimfahrt damit, über die Ereignisse des Tages zu sprechen und sich gegen die des kommenden zu wappnen. In Camden Town stieg Vivien in den Zug Richtung Hackney um. Sie hätte von Bloomsbury aus auch direkt nach Hause fahren können, aber die gesparte Zeit war weniger wertvoll als die gemeinsame Zeit mit Grace, in der sie einander ihr Leid klagen konnten.

Heute blieben die beiden im Bus jedoch auffallend schweigsam. Grace starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit, die durch vorbeiflirrende Lichter von Straßenlaternen und beleuchteten Fenstern erhellt wurde. Die Nacht verbarg viel von dem Dreck und Nebel, den die Luftverschmutzung über London verursachte. Eine beständige düstere Wolke, die die Stimmung des ganzen Landes widerzuspiegeln schien.

Der Bus nach Camden Town schob sich langsam nach Norden, zunächst am Russell, dann am Tavistock Square vorbei. Die beiden geometrisch gestalteten Parks waren umgeben von hohen Gebäuden, die dem Allgemeinwohl dienten: Krankenhäuser, Universitäten, das British Museum, auch das ehemalige und durch George Orwell zu zweifelhafter Berühmtheit gelangte Informationsministerium, in dem Grace’ Mann während des Kriegs gearbeitet hatte.

Sie merkte, dass Vivien sie am Arm zupfte, und wandte sich zu ihr.

»Es heißt, dass Orwell im Sterben liegt, genau da, in der Uniklinik. Ich habe zufällig gehört, wie das einer der Verleger von Secker and Warburg im Laden gesagt hat.«