Teatime im Jane-Austen-Club - Natalie Jenner - E-Book
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Teatime im Jane-Austen-Club E-Book

Natalie Jenner

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Beschreibung

Jane Austen und die Suche nach dem Glück.

1945: Der Krieg ist zu Ende, doch in dem kleinen Dorf Chawton im Süden Englands hat er Spuren hinterlassen. Hier lebte einst Jane Austen und schrieb ihre großen Romane, und die Erinnerung an sie prägt den Ort und seine Bewohner noch immer. Eine Gruppe ungleicher Menschen setzt sich dafür ein, Jane Austens Vermächtnis für die Welt zu erhalten. Sie alle haben mit dem Verlust und dem Trauma des Krieges zu kämpfen und finden Zuflucht in der Literatur. Gemeinsam gründen sie die Jane Austen Society. Werden sie über die Liebe zum Lesen ihre Trauer überwinden und zurück ins Leben finden? 

»Als wäre der Roman eine Geschichte von Jane Austen selbst, voller bezaubernder Momente, liebenswerter Charaktere und nuancierter Figurenkonstellationen.« Booklist.

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Seitenzahl: 405

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Über das Buch

In Chawton verbrachte Jane Austen die letzten Jahre ihres Lebens. Zugleich ist Chawton das Zuhause von Benjamin, einem verwitweten Arzt, und von Adeline, einer jungen Lehrerin, die aneckt, weil sie Autorinnen zur Schullektüre erklärt. Der Ort ist auch das Zuhause von Evie, einem Dienstmädchen aus ärmlichen Verhältnissen, das etwas aus sich machen will, und von Adam, dem Sohn einer Bauernfamilie, der sich allein um den Hof kümmert. Und dann ist da noch Frances, eine schweigsame ältere Dame, die nur selten ihr Haus verlässt. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein, aber eines verbindet sie: Sie alle haben geliebte Menschen verloren und finden Trost in den Romanen von Jane Austen. Als deren Anwesen verkauft werden soll, müssen sie sich zusammenschließen und dafür kämpfen, das Vermächtnis von Jane Austen zu bewahren.

Über Natalie Jenner

Natalie Jenner wurde in England geboren und wanderte als Kind mit ihrer Familie nach Kanada aus.  Sie arbeitete u.a. als Unternehmensanwältin und Karrierecoach und hat eine kleine Buchhandlung in Oakville, Ontario, eröffnet, wo sie mit ihrer Familie und zwei Hunden lebt.

Marie Rahn studierte an der Universität Düsseldorf Literaturübersetzen. Sie übersetzt aus dem Französischen, Italienischen und Englischen, u.a. Lee Child, Aldo Busi, Kristin Hannah, Silvia Day und Sara Gruen.

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Natalie Jenner

Teatime im Jane-Austen-Club

Roman

Aus dem Amerikanischen von Marie Rahn

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Motto

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Kapitel Fünfundzwanzig

Kapitel Sechsundzwanzig

Kapitel Siebenundzwanzig

Kapitel Achtundzwanzig

Kapitel Neunundzwanzig

Kapitel Dreißig

Epilog

Anmerkungen der Autorin zum historischen Hintergrund

Dank

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Für meinen Mann

Wer soll England erben?

Die Geschäftsleute, die es führen, oder die Menschen, die es verstehen?

E. M. Forster

Kapitel Eins

Chawton, Hampshire

Juni 1932

Er lag auf der moosbewachsenen Mauer, hatte die Beine angezogen und drückte seinen Rücken gegen den Stein. Das Zwitschern der Vögel drang durch die stille Morgenluft und verursachte ihm Kopfschmerzen. Ganz reglos lag er da und spürte, wie ihn auf dem kleinen Kirchhof der Tod umgab. Fast sah er selbst aus wie eine Skulptur auf einem Schrein, so als läge er in ewiger Ruhe auf einem stillen Grab. Zwar hatte er sein kleines Dorf nie verlassen, um die großartigen Kathedralen des Landes zu sehen, doch wusste er aus Büchern von alten Herrschern, die genauso wie er auf ihren Grabmalen lagen, damit ihre Bewunderer noch Jahrhunderte später ehrfürchtig zu ihnen aufschauen konnten.

Es war die Zeit der Heuernte, und er hatte seinen Wagen am Ende der alten Gosport Road stehen lassen, direkt vor dem Schwinggatter, das auf die Felder führte. Auf der Ladefläche seines Wagens stapelten sich bereits riesige Heubündel, die darauf warteten, zu den Gestüten und Milchfarmen zwischen Alton und East Tisted gebracht zu werden. Wie er so da lag, spürte er, dass sein Hemd feucht vom Schweiß war, obwohl die Sonne kaum schien. Es war erst neun Uhr morgens, doch er hatte schon mehrere Stunden auf den Feldern gearbeitet.

Mit einem Mal verstummten die Finken, Meisen und Rotkehlchen wie auf Befehl, und er schloss die Augen. Sein Hund Rider hatte bis jetzt Wache gehalten und die Schafe auf den Wiesen beobachtet, aber als der Atem seines erschöpften Herrchens immer tiefer und gleichmäßiger wurde, machte auch der Hund es sich auf der kühlen Erde des Friedhofs bequem.

»Verzeihung?«

Er schrak hoch, als er die Stimme hörte. Die Stimme einer Lady. Einer Amerikanerin.

Abrupt setzte er sich auf und musterte ihr Gesicht. Dann wandte er den Blick rasch ab.

Sie war noch jung, höchstens Anfang zwanzig. Das indigoblaue Band ihres Strohhuts mit der breiten Krempe passte genau zu ihrem dunkelblauen maßgeschneiderten Kleid. Sie wirkte recht groß, fast so groß wie er, doch dann bemerkte er, dass sie Schuhe mit den höchsten Absätzen trug, die er je gesehen hatte. In der einen Hand hielt sie ein Büchlein, in der anderen eine schwarze Handtasche. Um den Hals trug sie eine kurze Silberkette mit einem winzigen Kreuz.

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie störe, aber Sie sind der erste Mensch, den ich heute Morgen treffe. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden könnte.«

Das überraschte den Mann nicht. Chawton zählte nur 377 Einwohner, und er war einer der wenigen, der schon früh auf den Beinen war – neben dem Milchmann, dem Briefträger, der morgens die Post abholte, und dem Arzt, der einen dringenden Hausbesuch machte.

»Ich bin aus London gekommen, müssen Sie wissen«, sagte sie, um die Stille zu durchbrechen, »nur für einen Tag, mit dem Zug von Winchester. Ich wollte das Haus der Schriftstellerin Jane Austen besichtigen, kann es aber nicht finden. Und als ich diesen kleinen Kirchhof von der Straße aus sah, dachte ich, ich schaue mich hier mal um – vielleicht finde ich Spuren von ihr.«

Der Mann blickte über seine Schulter zu der kleinen Kirche, die er schon sein Leben lang kannte: Sie war umgeben von Buchen und Ulmen und vor ein paar Generationen aus dem hiesigen Flint- und Sandstein wieder aufgebaut worden – daher gab es im Innern nichts mehr, was von Jane Austen oder ihrer engeren Familie zeugte.

Er drehte sich um und blickte über seine linke Schulter zu dem kleinen Zauntritt am Ende des Kirchhofs, durch den man gerade so zwei Eiben sehen konnte, die kegelförmig zugeschnitten waren. Schon als Junge hatten sie ihn an riesige Salz- und Pfefferstreuer erinnert. Die Eiben säumten den abfallenden Terrassengarten eines imposanten elisabethanischen Backsteingebäudes mit Giebeldach und dreistöckigem Tudorvorbau, der mit wildem Wein bewachsen war.

»Das Große Haus ist da drüben«, sagte er unvermittelt, »direkt hinter der Kirche. Dort wohnt die Familie Knight. Die Gräber der Austens sind da vorne – sehen Sie, Miss, an der Mauer der Kirche?«

»Du meine Güte, das wusste ich gar nicht …«

Tränen traten ihr in die blauen Augen und fingen sich in ihren schwarzen Wimpern, die noch dunkler waren als ihre Haare. Sie war die schönste Frau, die ihm je begegnet war, wie ein Fotomodell aus einer Werbeanzeige in der Zeitung.

Er wandte den Blick ab und ging vorsichtig um sie herum, während sein Hund zwischen seinen Beinen umherlief. Vor zwei großen, aufgerichteten Grabsteinen blieb er stehen. Sie folgte ihm etwas mühsam, da die Absätze ihrer schwarzen Pumps sich in die Erde gruben. Er sah, wie sich ihre Lippen bewegten, während sie die Inschrift der Grabsteine las.

Er trat ein Stück zurück und zog seine Kappe aus der Jackentasche. Nachdem er die hellblonde Stirnlocke zurückgestrichen hatte, die ihm bei der Arbeit immer ins Gesicht fiel, setzte er die Kappe auf und zog sie sich bis über die Augen. Er wollte Distanz schaffen, zu ihr und den seltsamen Gefühlen, die in ihm aufstiegen, als er sie so am Grab der vor über hundert Jahren verstorbenen Frauen stehen sah.

Er schlenderte mit Rider zum überdachten Friedhofstor und wartete. Nach ein paar Minuten tauchte sie schließlich hinter der Kirche auf und blieb vor jedem Grab stehen, an dem sie vorbeikam, als hoffte sie, noch mehr bekannte Namen zu lesen. Hin und wieder schwankte sie ein bisschen, wenn sie sich mit dem Absatz irgendwo verfing, und verzog wegen ihrer Ungeschicklichkeit kaum merklich das Gesicht. Doch wandte sie nicht einmal den Blick von den Grabsteinen ab.

Am Friedhofstor angekommen, lächelte sie und seufzte zufrieden.

»Mein Benehmen tut mir sehr leid. Ich bin den ganzen weiten Weg hergekommen, um das Cottage zu finden, wo sie die Bücher geschrieben hat – den kleinen Tisch, die quietschende Tür«, fügte sie hinzu. Darauf reagierte er nicht. »In London konnte ich nicht viel darüber in Erfahrung bringen … Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe.«

Er hielt ihr das Tor auf, dann schlenderten sie gemeinsam Richtung Hauptstraße.

»Wenn Sie möchten, kann ich Sie auch zu ihrem Haus bringen – es ist nicht mal eine Meile entfernt. Ich habe Zeit. Ich habe das Heu schon eingefahren, bevor es zu heiß wird.«

Sie lächelte; es war ein breites, strahlendes Lächeln, das er nur mit Amerikanern in Verbindung bringen konnte. »Das ist ausgesprochen nett von Ihnen, vielen Dank. Vermutlich kommen ständig Leute hierher, genau wie ich – oder?«

Er zuckte die Achseln. »Ja, ziemlich oft. Obwohl es da nicht viel zu sehen gibt. Im Cottage wohnen jetzt Arbeiter – die Zimmer sind vermietet.«

Als er sich ihr zuwandte, sah er, wie sie enttäuscht das Gesicht verzog. Bevor ihm bewusst wurde, was er da tat, fragte er sie nach den Büchern, nur um sie aufzuheitern.

»Ich weiß nicht, ob ich das erklären kann«, antwortete sie zögerlich. »Wenn ich etwas von Jane Austen lese, und das immer wieder, denn ich habe sie öfter gelesen als jeden anderen Autor, dann habe ich das Gefühl, sie wäre in meinem Kopf. Wie Musik. Mein Vater hat mir ihre Bücher vorgelesen, als ich noch sehr jung war – er starb, als ich zwölf wurde –, und nun höre ich auch seine Stimme, wenn ich sie lese. Ich habe ihn nie so herzlich lachen hören wie bei ihren Büchern.«

Er schüttelte ungläubig den Kopf.

»Ja, haben Sie denn nichts von ihr gelesen?«, fragte sie, ebenso ungläubig.

»Ich hab mich an Haggard und seinesgleichen gehalten. Sie wissen schon, Abenteuergeschichten. Austen hat mich eigentlich nicht interessiert. Jetzt werden Sie mich wohl dafür verurteilen.«

»Ich würde niemanden wegen seiner Lektüre verurteilen«, gab sie zurück.

»Ich hab nie begriffen, wieso ein paar Bücher über Mädchen, die einen Ehemann suchen, mit Werken der wirklich großen Schriftsteller wie Tolstoi vergleichbar sein sollten.«

Mit neu erwachtem Interesse sah sie ihn an. »Sie haben Tolstoi gelesen?«

»Früher – ich sollte eigentlich studieren, aber dann wurden meine beiden Brüder eingezogen. Also blieb ich zu Hause, um zu helfen.«

»Arbeiten Sie jetzt alle gemeinsam auf der Farm?«

Er wandte den Blick ab. »Nein, Miss. Meine Brüder sind beide gestorben. Im Krieg.«

Dies war seine übliche Erklärung, die wie ein sauberer Schnitt sein sollte, scharf, tief und abschließend. So wollte er jedes weitere Gespräch darüber unterbinden. Aber er ahnte, dass er bei ihr damit nur weitere Fragen provozieren würde, also fuhr er rasch fort: »Übrigens, sehen Sie die Stelle da vorne, wo sich die beiden Straßen treffen – Sie sind doch von links aus Winchester gekommen, oder? Also, wenn Sie sich an die rechte halten – die führt nach London –, dann kommen Sie direkt in den Ort. Und da ist auch das Cottage.«

»Oh, das ist überaus freundlich von Ihnen. Vielen Dank. Aber Sie müssen ihre Bücher lesen. Wirklich, Sie müssen einfach. Schließlich leben Sie hier – wie können Sie sich dem entziehen?«

Solche Überredungskünste war er nicht gewohnt – er wollte nur noch zurück zu seinem Heuwagen.

»Bitte, versprechen Sie es mir, Mr. …?«

»Adam. Mein Name ist Adam.«

»Mary Anne«, erwiderte sie und streckte die Hand aus, um sich zu verabschieden. »Natürlich müssen Sie mit Stolz und Vorurteil anfangen. Und dann mit Emma weitermachen, das ist mein Lieblingsbuch. Sie ist so kühn und doch so herrlich selbstvergessen. Bitte, ja?«

Wieder zuckte er die Achseln, dann tippte er sich an die Kappe und machte sich auf den Rückweg. Nur einmal warf er einen Blick zurück, zum Teich, wo die beiden Straßen sich trafen. Dort stand sie, groß und schlank in Dunkelblau, und betrachtete das rote Backsteincottage mit den Sprossenfenstern und der weißen Haustür.

Nachdem Adam Berwick sein Tagwerk erledigt hatte, ließ er den nun leeren Wagen am Schwinggatter zurück und trottete an der Hauptstraße entlang, bis er das winzige Reihenhaus erreichte, in dem er seit ein paar Jahren wohnte.

Früher war seine Familie viel größer gewesen, bestand aus seinen Eltern und den drei Jungen, von denen er mit Abstand der jüngste war. Sie hatten eine kleine Farm besessen, die schon seit vier Generationen im Besitz der Familie seines Vaters gewesen war. Von klein auf mussten alle Jungen schwere körperliche Arbeit verrichten. Aber er hatte das geliebt: den unveränderlichen Kreislauf der Jahreszeiten, die sich ständig wiederholenden Tätigkeiten, nach denen man erschöpft ins Bett fiel, ohne Zeit für Gespräche.

Allerdings war Adam auch ein aufmerksamer und fleißiger Schüler gewesen und hatte sich mit gerade mal fünf Jahren mithilfe der Bücher, die sein Vater im Haus herumliegen ließ, selbst das Lesen beigebracht. Danach hatte er jedes einzelne Buch gelesen, das er in die Finger bekam. Wann immer er die Gelegenheit hatte, begleitete er seine Mutter in den nächstgelegenen größeren Ort Alton. Noch lieber als die Bonbons, die seine Mutter hin und wieder im Laden für ihn kaufte, war ihm der Besuch in der Bücherei gewesen, wo er sich ein neues Kinderbuch ausleihen konnte. Denn – und er begriff nicht, wieso andere Menschen wie seine Brüder das nicht sahen – zwischen den Seiten jedes einzelnen Buches verbarg sich eine andere Welt, in die er sich flüchten konnte, wann immer es nötig war. Sicher kannte jeder den Druck, der aus den Erwartungen anderer resultierte, doch ihm setzte er unerklärlich stark zu. In Büchern konnte er von anderen Menschen lernen und den Schlüssel zu einem glücklichen Leben entdecken. Denn er hatte das Gefühl, dass es außerhalb seiner schlichten Bauernfamilie Menschen gab, die auf eine ganz andere Art und Weise lebten, und er konnte ihre Gefühle und Sehnsüchte zwischen den Zeilen spüren. Manchmal schien sein eigenes Leben viel weniger interessant.

Das einzig Aufregende an seiner Jugend war das Stipendium fürs College gewesen, doch als seine Brüder in den Krieg geschickt wurden, hatte er sich von der Vorstellung zu studieren verabschieden müssen. Er selbst war zu jung gewesen, um Soldat zu werden, nach Ansicht seiner Mutter jedoch viel zu alt für ein nutzloses Studium, wie sie es nannte. Der Krieg veränderte alles, und das nicht nur für seine Familie – obwohl der ganze Ort sich einig war, dass es die Berwicks härter getroffen hatte als die meisten, da die beiden älteren Söhne 1918 bei einer Schlacht im ägäischen Meer umkamen und der Vater nicht mal ein Jahr später an der Spanischen Grippe starb. Er und seine Mutter hatten seitdem aufeinander aufgepasst und sich so vor der tiefsten Verzweiflung bewahrt. Weder er noch seine Mutter, so unterschiedlich sie auch waren, schienen die Kraft zu haben, sich gegen ihr Schicksal zu wehren. Sie beugten sich dem, was das Leben ihnen auferlegte. Daher hatten sie die Farm aufgrund der hohen Schulden nur wenige Jahre nach dem Krieg wieder an die Knights verkauft – für eine wesentlich niedrigere Summe. Über mehrere Generationen hinweg hatten Berwicks auf dem Anwesen oder im Haushalt der Knights gearbeitet, auch Adams Mutter und Großmutter, und nun fuhr Adam jeden Sommer das Heu für sie ein, bestellte die Felder und baute Weizen, Hopfen und Gerste an.

Schließlich jedoch kamen auch die Knights wie so viele Familien im Ort in finanzielle Schwierigkeiten. Die gesamte Gemeinde bemühte sich durchzuhalten und zu überleben.

Und auch Adam überlebte am Rande eines schwindelerregenden Abgrunds – zumindest tat er so als ob. Doch in seinem Innern wütete ein bitterer Schmerz, und nur Bücher schienen ihn trösten zu können. Auch seine Mutter litt unter ihrer Trauer, sie schien nur noch auf den Tod zu warten. Morgens machte sie ihm Toast und Tee, am Ende des Tages hielt sie ihm das Abendessen warm. Dann saßen sie zu zweit am Küchentisch, er erzählte ihr von seiner Arbeit, und sie berichtete, wen sie im Ort getroffen hatte. Sie redeten über alles, nur nicht über die Vergangenheit.

Heute jedoch verlor er kein Wort über die junge Frau aus Amerika. Er war sich nicht sicher, was er sagen sollte. Einerseits setzte seine Mutter ihm ständig zu, sich eine Frau zu suchen, und die Fremde war so überaus schön gewesen, dass sie ihm fast unwirklich erschienen war. Andererseits gehörte seine Mutter zu den Bewohnern im Ort, die Jane Austen nichts abgewinnen konnten. Ihre bissigsten Bemerkungen sparte sie sich für die Besucher auf, die so oft in Chawton auftauchten und Informationen, Sehenswürdigkeiten, ein Leben genau wie in den Büchern verlangten. Als würden die Dorfbewohner gar nicht existieren, und als hätte sich das Einzige, was zählte, schon vor über hundert Jahren ereignet.

Langsam machte er sich Sorgen um Mr. Darcy.

Adam hatte den Eindruck, wenn ein Mann unentwegt von den Augen einer Frau schwärmt, versucht, ihre Gespräche zu belauschen, und alles tut, um in ihrer Gunst zu steigen, dann begibt er sich auf gefährliches Terrain, ob er sich das eingesteht oder nicht. Adam wusste nicht viel über Frauen, doch er fragte sich, ob es im echten Leben oder in der Literatur je einen Mann gegeben hatte, der so schnell wie Mr. Darcy einer so offensichtlichen Begierde verfallen war und nichts dagegen unternommen hatte, außer dies unbewusst und ziemlich erfolgreich von sich wegzuschieben.

Mehr als je zuvor wusste es Adam zu schätzen, dass er in dem kleinen zweistöckigen Reihenhaus in einer Seitenstraße der Winchester Road ein eigenes Zimmer hatte, in dem er in Ruhe lesen konnte. In dem kargen Raum mit der Dachschräge stand nur das schlichte, schmale Bett, in dem er seit seiner Jugend schlief. Dazu kamen ein Eichenschrank und eine antike Kommode an der gegenüberliegenden Wand. Außerdem hatte er das Bücherregal, das einst seinem Vater gehört hatte: mit Abenteuerromanen für Kinder, aber auch für Erwachsene, von Conan Doyle, Alexandre Dumas und H. G. Wells. Doch nun lag neben seinem Bett ein recht dickes gebundenes Buch mit Schutzfolie aus der Bücherei. Auf dem Einband sah man zwei Frauen mit Häubchen, die miteinander flüsterten, während im Hintergrund ein Mann gebieterisch neben einer Steinurne stand.

Zwei Tage zuvor hatte er es unauffällig über den Schalter der Leihbücherei geschoben.

Doch sosehr ihn das Buch auch amüsierte, so sehr verwirrte es ihn. Da war zum Beispiel die Figur des Vaters: Seiner Ansicht nach warf es kein gutes Licht auf Mr. Bennet, wenn er sich während seiner gesamten freien Zeit in seinem Arbeitszimmer verschanzte oder seinen Sarkasmus an anderen ausließ. Mrs. Bennet war wesentlich leichter zu verstehen, aber irgendwas am Haushalt der Bennets stimmte nicht, und es war etwas, das er noch nie in der Literatur angetroffen hatte. Zumindest nicht bei einer großen Familie. Er hatte Bücher über Waisenkinder gelesen, über Verrat unter Freunden und über Väter, die in den Schuldturm geworfen wurden, doch bei den größten Geschichten drehte es sich immer um Rache, Gier oder ein verschwundenes Testament.

Die Bennets aber schienen sich im Grunde einfach nicht zu mögen. Das hätte er von einer Schriftstellerin, bei der es immer ein Happy End gab, nicht erwartet. Traurigerweise fühlte es sich für ihn echter an als alles, was er je gelesen hatte.

Als Adam das Kapitel beendet hatte, in dem Darcy der Frau sein Anwesen zeigt, die einst so schroff seinen Heiratsantrag abgewiesen hatte, merkte er, wie ihn die Müdigkeit übermannte. Er erinnerte sich an die jüngste Besucherin seines Heimatorts, an das winzige Kreuz an ihrer Halskette, an ihr strahlendes Lächeln: Beweise für einen Glauben und eine Hoffnung, die ihm seit Langem fehlten. Er begriff einfach nicht, wie man für etwas so Nichtiges eine so weite Reise unternehmen konnte – und doch hatte die Besucherin Glück ausgestrahlt, echtes Glück, das er immer in seinen Büchern suchte.

Durch die Lektüre von Jane Austen konnte er sich mit Darcy identifizieren und die Macht körperlicher Anziehung nachempfinden, die einen trifft wie der Blitz und jegliche Vorurteile beiseitefegt. Er verstand auf einmal, dass sogar jemand ohne Mittel und Ansehen Respekt verlangen kann und dass man sich zum Narren machen kann, ohne darauf hingewiesen zu werden.

Ganz sicher würde er die Amerikanerin niemals wiedersehen. Aber die Lektüre von Jane Austen würde ihm vielleicht ein wenig von ihrer Freude schenken.

Vielleicht würde er bei Jane Austen den Schlüssel zum Glück finden.

Kapitel Zwei

Chawton, Hampshire

Oktober 1943

Dr. Gray saß allein am Schreibtisch in seinem Büro, das vom größeren Untersuchungsraum im vorderen Teil des Hauses abging. Unglücklich betrachtete er das Röntgenbild vor ihm. Beide Beine von Charles Stone waren so verheerend zertrümmert, dass der Doktor sich nicht vorstellen konnte, wie sie jemals wieder funktionieren sollten.

Er hielt das Röntgenbild vor das Fenster, durch das das goldene Oktoberlicht drang, und starrte ein letztes Mal mit leicht zusammengekniffenen Augen darauf, obwohl er doch wusste, dass es darauf nichts zu sehen gab, was die vor ihm liegende Aufgabe auch nur ein bisschen leichter gemacht hätte.

Dr. Gray war in Chawton aufgewachsen, hatte während des Ersten Weltkriegs in London seine Ausbildung als Arzt absolviert und war 1930 ins Dorf zurückgekehrt, um die Praxis des alten Dr. Simpson zu übernehmen. In den vergangenen dreizehn Jahren hatte er seine Patienten immer besser kennengelernt, er kannte ihre Geschichten und wusste auch um die Vorerkrankungen ihrer Familien: zum Beispiel Geisteskrankheiten, die Generationen übersprangen, und Asthma, das in jeder Generation auftauchte. Er wusste, welchen Patienten er schonungslos die Wahrheit sagen konnte und welche lieber im Ungewissen blieben. Charlie Stone sollte, zumindest vorläufig, nicht erfahren, wie schlecht es um ihn stand. So würde er nicht verzweifeln, bis er mit der Zeit und wachsender Armut seinen Stolz überwinden konnte.

Dr. Gray drückte die Finger gegen seine Schläfen. Auf der Schreibunterlage vor ihm stand eine Reihe Arzneifläschchen. Abwesend betrachtete er eines, dann stemmte er sich entschlossen auf den Armlehnen seines Drehstuhls nach oben. Es war später Nachmittag, und normalerweise würde ihm die Arzthelferin, die ihm auch im Haushalt half, Tee bringen. Doch er brauchte frische Luft, um einen klaren Kopf zu bekommen und sich von den vielen Aufgaben und Sorgen zu erholen, die sich täglich vor ihm auftürmten. Er war der Arzt, aber auch die Vaterfigur, der Mann des Vertrauens und ansässige Geist des Ortes, und er wusste mehr über die Vergangenheit Chawtons als jeder andere.

Er verließ sein rosenumranktes, mit Reet gedecktes Cottage durch die grüne Tür, die für Patienten immer offen stand. Wie alle ehemaligen Arbeiterhäuschen stand es so dicht an der Straße, dass man vom Haus aus praktisch direkt darauftrat. Seine Arzthelferin Harriet Peckham versuchte während der Krankenbesuche die Gardinen des Erkerfensters immer sorgfältig geschlossen zu halten, doch die neugierigen Blicke der Dorfbewohner waren erwiesenermaßen auch schon durch die Maschen des Stoffs und den schmalen Spalt gedrungen, an dem die Fensterflügel sich trafen.

Langsam ging er die Straße hinunter und beobachtete, wie das Taxi aus Alton vor der Gabelung der Winchester Road hielt, wo der alte Teich kürzlich trockengelegt worden war. Hin und wieder sah man noch drei einsame Enten auf der Suche nach ihrem verlorenen Paradies durch die Straßen trotten. Aber im Moment sah Dr. Gray nur drei Frauen mittleren Alters, die aus dem Taxi ausstiegen und die eleganten Hüte zurechtrückten, und zwar direkt vor dem alten Cottage von Jane Austen.

Trotz des Krieges, der sich mittlerweile über den ganzen Atlantik erstreckte, reisten Frauen jeden Alters weiterhin nach Chawton, um zu erkunden, wo Austen gelebt hatte. Dr. Gray hatte immer über die Einstellung dieser Frauen gestaunt, die der großen Schriftstellerin ihre Ehrerbietung erweisen wollten. Er fragte sich, ob das Kino recht hatte und die Zukunft tatsächlich den Frauen gehörte – munter plaudernden, reisenden Frauen, die sich voller Eifer und Energie zusammentaten und ihren großen und kleinen Zielen nachstrebten. Genau wie Bette Davis in Die boshafte Lady oder Greer Garson in seinem Lieblingsfilm Gefundene Jahre.

Einmal pro Woche gönnte sich Dr. Gray einen freien Abend, um der Leidenschaft zu frönen, die er mit seiner verstorbenen Frau geteilt hatte: Er fuhr mit dem Bus in die Nachbarstadt Alton, um sich den neuesten Film anzusehen. Seine restliche Freizeit verbrachte er mit dem Versuch, sich von den Gedanken an Jennie abzulenken. Aber wenn im Filmpalast die Lichter ausgingen und die Pärchen sich noch enger aneinanderschmiegten, dann erlaubte er sich, an ihre gemeinsamen Kinobesuche zu denken. Sie hatte immer die Schnulzen sehen wollen, Filme mit weiblichen Hauptfiguren, die von Stars wie Katharine Hepburn oder Barbara Stanwyck verkörpert wurden. Hin und wieder hatte er sich quergestellt und auf einen Western oder einen Gangsterfilm bestanden, doch am Ende genoss er die von ihr ausgesuchten Filme immer genauso sehr wie sie. Manchmal liefen sie nach der Vorstellung die halbe Stunde im Mondlicht nach Hause, um über den Film zu sprechen. Er war immer sehr gespannt gewesen, ihre Ansicht darüber zu hören.

Ihren Verstand hatte er am meisten geliebt. Sie war eine der wenigen Frauen an seinem College gewesen und hatte viel Zeit sowohl in der Bibliothek als auch im Labor verbracht. Sie war schon immer wesentlich klüger gewesen als er. Ihr tiefes mathematisches Verständnis wäre im Krieg sehr von Nutzen gewesen.

Doch vor vier Jahren war sie von der Treppe gestürzt, die zu ihrem Schlafzimmer führte. Sie hatte sich den Kopf unglücklich an einem losen Brett an der untersten Stufe gestoßen, das er längst hatte reparieren wollen. Die inneren Blutungen waren nicht zu stoppen gewesen, und er hatte sie nicht retten können.

Ein Arzt, der nicht mal seine eigene Frau retten kann, muss nicht nur mit Trauer und Selbstvorwürfen kämpfen, sondern auch mit einem zweifelhaften Ruf. Niemand ging schärfer mit ihm ins Gericht als er selbst, doch sein beruflicher Stolz ließ ihn sich oft fragen, ob die Dorfbewohner ihm nicht ebenfalls die Schuld an ihrem Tod gaben.

Er tippte sich an seinen Hut, als er an dem Trio vorbeikam, das aufgeregt schwatzend vor dem kleinen weißen Zauntor von Austens Cottage stand. Er gehörte nicht zu den Ansässigen, die solche Besucher für ein Ärgernis hielten, das unterbunden werden sollte. Jeder, der ihr Dorf als Pilgerstätte betrachtete, hielt das Vermächtnis und die Botschaft Austens lebendig. Und da er persönlich ebenfalls zeit seines Lebens ein Fan von ihr war, wusste er zu schätzen, dass die Dorfbewohner unfreiwillige Kuratoren eines Erbes waren, das viel größer war, als sie jemals erahnen konnten.

Er wandte sich gerade zur alten Gosport Road, die zum Großen Haus und dem Anwesen der Knights führte, als er sah, dass ihm ein Kollege vom Vorstand der hiesigen Schule aus dieser Richtung entgegenkam.

Sie tippten sich grüßend an die Hüte, dann erklärte sein Gegenüber: »Gut, dass ich dich treffe, Benjamin. Es gibt schon wieder ein Problem in der Schule.«

Dr. Gray seufzte. »Die neue Lehrerin?«

Der andere nickte. »Ja, die junge Miss Lewis. Sie besteht darauf, dass die Jungs ausschließlich weibliche Autoren des 18. Jahrhunderts lesen. Ich kann sie einfach nicht zur Vernunft bringen.« Er zögerte. »Ich dachte, auf dich hört sie vielleicht.«

»Wieso denn?«

»Nun, zum einen, weil du ihr vom Alter her näher stehst als ich.«

»Aber nicht viel.«

»Außerdem scheinst du ziemlich viel Verständnis für ihre … Lehrmethoden zu haben.«

Dr. Gray kniff kaum merklich die Augen zusammen. »Ich bin seit vielen Jahren hier der Arzt und möchte doch meinen, dass ich ziemlich viel Verständnis für alle hier im Ort habe. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich besonderen Einfluss auf sie hätte.«

»Versuch’s einfach mal, ja? Ich bitte dich.«

Dr. Gray bezweifelte, Adeline Lewis von irgendwas überzeugen zu können. Allerdings wusste er, dass seine Kollegen vom Schulvorstand – alle männlich und alle weit in den Fünfzigern – eingeschüchtert waren von der jungen Frau, die gerade erst ihre erste Stelle als Lehrerin angetreten hatte. Adeline war von ihrem Lehrplan fest überzeugt und sperrte sich gegen jeden Versuch, sie davon abzubringen. Auch bezüglich der Körpergröße war sie den meisten Männern gewachsen, was nicht schwierig war, denn nur Dr. Gray erreichte einen Meter achtzig. Doch das vielleicht Irritierendste von allem war ihre Attraktivität, die sie alle so aus der Fassung brachte, dass sie sich irgendwann fragten, was sie überhaupt hatten sagen wollen. Adeline blickte den Vorstandsmitgliedern immer direkt in die Augen, war stets bereit, ihre Meinung zu sagen und auch dafür zu kämpfen, so dass die Herren unausweichlich irgendwann nachgaben. Dr. Gray schüttelte nur den Kopf, wann immer einer von ihnen die monatliche Vorstandssitzung mit der Geschichte einer weiteren Kapitulation eröffnete.

»Nun«, setzte er an und schaute sich um, als hoffte er, einen Verletzten auf der Straße liegen zu sehen, der unverzüglich seine Hilfe brauchte, »ich könnte ja mal kurz bei ihr vorbeischauen.«

»Ich danke dir, mein Freund«, erwiderte sein Gegenüber, tippte sich erneut an den Hut und setzte sich in Bewegung.

Dr. Gray zögerte, sah seinem Kollegen nach und ging dann weiter, bis er das alte viktorianische Schulgebäude erreichte. Es war etwa halb vier, also würde der Unterricht wohl schon beendet sein. Tatsächlich stand Adeline Lewis, als er den großen Klassenraum betrat, allein an der Tafel und sprach, mit einem Stück Kreide in der Hand, mit einem jungen Mädchen, das am Lehrerpult saß, als gehöre es dorthin. Dr. Gray bemerkte ein Buch von Virginia Woolf in den Händen der Schülerin.

Ehe als Gesellschaftsvertrag gegen Armut stand in großen, weißen Buchstaben an der Tafel.

Erneut stieß Dr. Gray einen Seufzer aus, den Adeline wohl hörte, denn sie wirbelte herum.

»Sie sind geschickt worden, um mir einen Tadel zu erteilen«, bemerkte sie lächelnd – es war ein wissendes Lächeln, und er spürte, wie er unwillkürlich die Zähne zusammenbiss.

»Ich möchte Sie nicht tadeln, sondern verstehen. Ist das Ihr Ernst, Adeline? Nur weibliche Schriftsteller für eine Klasse halbwüchsiger Jungen?«

Adeline blickte vielsagend zu dem Mädchen, das ihr Buch zugeschlagen hatte und die beiden Erwachsenen interessiert beobachtete.

»Kennen Sie Miss Stone, Dr. Gray?«

Er nickte. »Schön, dich zu sehen, Evie. Wie geht es dir? Und deinem Vater?«

Evies Vater war der Mann, über dessen Röntgenbild Dr. Gray eben noch gegrübelt hatte. Charlie Stone war ein paar Monate zuvor bei einem Traktorunfall schwer verletzt worden, und Dr. Gray wusste, welche Katastrophe das für die Familie darstellte. Der Vater würde nie wieder in der Lage sein, körperliche Arbeit zu verrichten, doch er hatte es noch nicht übers Herz gebracht, ihm dies unmissverständlich klarzumachen. Es bereitete ihm größte Sorgen, wie die Familie mit fünf Kindern ohne das Einkommen des einzigen Versorgers durchkommen wollte. Er hatte gehört, wie die Eltern davon gesprochen hatten, Evie, die Älteste, von der Schule zu nehmen und als Hausmädchen arbeiten zu lassen. Dies war nur eines der vielen Geheimnisse, die er für sich behalten musste.

»Er liest viel«, sagte Evie. »Miss Lewis hat ihm eine Liste mit Büchern gegeben, die ihn aufheitern sollen, und jetzt besorgt er sich eins nach dem anderen in der Bücherei.«

Dr. Gray blickte mit hochgezogenen Augenbrauen zu Miss Lewis, als wäre ihm soeben ein weiteres Argument in den Schoß gefallen, um seinen Standpunkt zu verdeutlichen. »Diese Liste würde ich gerne mal sehen, wenn es möglich ist.«

»Wohl kaum«, entgegnete Adeline mit leicht frostiger Stimme. »Ich bin hier schon oft genug für meine Entscheidungen verurteilt worden.«

Evie wandte den Blick nicht von den Erwachsenen ab. Sie spürte, wie sich die Stimmung veränderte. Es schien ihr fast so, als hätten die beiden vergessen, dass sie auch noch hier saß. Normalerweise verhielt sich Dr. Gray Damen gegenüber äußerst zuvorkommend. Nicht nur sein Beruf und sein Äußeres – die graumelierten Haare, die tiefbraunen Augen und die breiten Schultern –, sondern vor allem sein Benehmen machten ihn zum Objekt wie auch immer gearteter Begierde. Das vermutete Evie zumindest, die sich in solchen Dingen nicht so gut auskannte. Adeline gegenüber wirkte er jedoch immer etwas verwirrt und abweisend. Adeline hingegen erwies ihm nicht die Bewunderung, die er sonst von den Damen gewohnt war, und das schien ihn zu verunsichern.

»Nun, dann fragen wir doch Miss Evie, einverstanden?«, sagte Adeline und riss die Schülerin aus ihren Gedanken. Beide Erwachsenen wandten sich erwartungsvoll zu ihr.

Doch Evie war nicht darauf erpicht, zwischen die Fronten zu geraten, zumal sie auf Miss Lewis’ Seite stand, was ihre Lehrmethoden betraf. Also schnappte sie sich ihre Tasche und huschte mit einem kurzen Abschiedsgruß schnell aus dem Klassenraum.

»Ach, noch mal vierzehn sein und auf Benimm pfeifen«, bemerkte Dr. Gray lachend, als Evie schon außer Hörweite war.

»Oh, Evie Stone weiß sich zu benehmen. Sie will es sich nur nicht mit Leuten wie Ihnen verscherzen.«

Adeline lehnte sich mit verschränkten Armen, die Kreide noch in der Hand, gegen ihr Pult. Sie trug einen braunen Rock, der ihr bis zum Knie reichte, und eine cremefarbene Bluse, die ihrem dunklen Teint schmeichelte. Dazu hatte sie sich für braune Oxfordschuhe mit Blockabsatz entschieden, die Dr. Gray neuerdings an allen jungen berufstätigen Frauen sah.

»Hören Sie, Dr. Gray. Wir unterziehen die Texte einer kritischen Themenanalyse. Halten Sie es wirklich für wichtiger, die Schüler auf Schatzsuche oder Schlachten mit Piraten zu schicken? Gesellschaftliche Sitten und Gebräuche durch das Brennglas der Literatur zu erkennen ist für junge Männer wie auch für junge Frauen wesentlich. Oder sehen Sie das anders?«

Dr. Gray nahm seinen Hut ab. Schweigend und mit schräg gelegtem Kopf beobachtete sie, wie er sich durchs Haar fuhr und sich dann auf einen der Stühle vor ihrem Pult setzte.

»Was ist?«, fragte er, als er ihren Blick bemerkte.

»Sie wirken so klein auf diesem Stuhl. Dabei erscheinen Sie sonst immer so groß.«

»Ich bin nicht viel größer als Sie, glaube ich.«

»Nein … aber es fühlt sich so an.«

»Können Sie sie nicht wenigstens ein bisschen was von Trollope lesen lassen, so was wie Doktor Thorne?«

»Sie und Ihr Trollope.« Sie kreuzte die Beine, als hätte sie alle Zeit der Welt, um mit ihm zu debattieren. Gleichzeitig sah sie ihn forschend an. »Wir wissen doch beide, dass Sie Austen genauso lieben wie ich. Ich bespreche hier auch Themen wie die Napoleonischen Kriege und die Abschaffung der Sklaverei.«

»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte er schmunzelnd. »Ihre Unterrichtsplanung ist sicher mehr als gründlich. Aber die anderen Vorstandsmitglieder …«

»Und Sie …«

»Nein, ich bin nur teilweise ihrer Meinung. Doch ich möchte verhindern, dass Sie Ihre Stelle verlieren. Als wir Sie einstellten, freute ich mich, dass Sie im Ort bleiben und Ihrer Mutter helfen konnten. Außerdem gefiel mir, dass jemand aus Chawton dazu beitragen würde, den Geist unseres Nachwuchses zu formen.«

»Dr. Gray, warum so umständlich? Sagen Sie mir einfach, was ich tun soll. Sie wissen doch, dass ich dem immer Folge leiste. Letzten Endes«, fügte sie mit verschmitztem Lächeln hinzu.

Er sah sie an. Ihm dämmerte, dass sie sich irgendwie über ihn lustig machte.

»Hey, Addy«, dröhnte die Stimme eines jungen Mannes durch den Schulflur.

Als Dr. Gray sich auf seinem kleinen Stuhl umwandte, sah er, dass Samuel Grover, der ebenfalls aus Chawton stammte, in Uniform auf sie zukam und sie anstrahlte.

»Hey, Dr. Gray, wie geht’s?« Der junge Mann trat zu Adeline, legte den Arm um ihre Taille und drückte ihr einen innigen Kuss auf die Wange.

Als Arzt des Dorfes hatte Dr. Benjamin Gray Samuel und Adeline aufwachsen sehen: Sie waren unzertrennlich gewesen. Mit ihren braunen Haaren, den braunen Augen und der ansteckenden Fröhlichkeit hatten sie einander sogar geähnelt. Sie hatten ihren Eltern alle Ehre gemacht, da Samuel Anwalt werden und in die Fußstapfen seines Vaters treten wollte, während Adeline ihr Diplom als Lehrerin bekam. Aber er hatte keine Ahnung gehabt, dass sie nun auch offiziell ein Paar waren.

Ziemlich abrupt stand er auf und griff nach seinem Hut. »Nun, ich muss los. Miss Lewis, Samuel – Officer Grover, meine ich.«

Als er zum Haupteingang eilte, lief Adeline ihm nach.

»Warten Sie, wir sind doch noch nicht fertig«, rief sie und hielt ihn am Ärmel fest.

Er blickte auf ihre Hand und bemerkte zum ersten Mal den Verlobungsring mit einem kleinen einzelnen Granat.

»Ich wusste nichts davon«, sagte er schnell, »ich hätte Ihnen beiden gratulieren sollen. Bitte richten Sie Samuel meine besten Wünsche aus.«

»Ist alles in Ordnung, Dr. Gray? Ich werde mir zu Herzen nehmen, was Sie gesagt haben – wahrscheinlich habe ich es in letzter Zeit etwas übertrieben. Mir ist wohl die Macht zu Kopf gestiegen, wie es so schön heißt.« Als sie ihn anlächelte, bemerkte er zum ersten Mal, wie glücklich auch sie war.

»Wann ist es so weit?«, fragte er und drehte den Hut in seinen Händen.

»Wir haben’s nicht eilig.«

»Ja, Sie sind ja schließlich noch jung.«

»Allerdings ist Samuel nicht zu jung, um für König und Vaterland zu kämpfen.« Sie zögerte. »Ist schon gut – dann haben wir zumindest etwas, worauf wir uns freuen können«, fügte sie dann grinsend hinzu.

Dr. Gray nickte. »Tja, ich gehe jetzt besser.« Er setzte sich den Hut auf und machte sich auf den Rückweg.

Wie vorhergesagt, hatte die Begegnung mit Adeline Lewis ihm nicht geholfen, den Kopf freizubekommen.

Kapitel Drei

London, England

September 1945

Der Hauptverkaufssaal bei Sotheby’s war so voll, dass man die Bambusstühle mit den raffiniert bestickten Sitzkissen um weitere aus anderen Räumen ergänzt hatte. Dennoch mussten etliche Besucher an den Wänden lehnen. Dies steigerte nur noch die Aufregung, die den Saal erfüllte, als der Direktor des Auktionshauses das Podium betrat.

»Heute sehen wir das Inventar von Godmersham Park, dem Sitz der Familie Knight im Herzen von Kent. Zu berühmten Angehörigen und Gästen der Familie zählen mehrere Generationen des Hauses Sachsen-Coburg sowie die Schriftstellerin Jane Austen, deren älterer Bruder im Jahre 1794 den Besitz erbte.«

Die Zuschauer am Eingang murmelten aufgeregt, als eine auffällig schöne Dame in den Dreißigern durch die verspiegelte Haupttür trat und sich nach einem Platz umsah. Sie fand einen in der dritten Reihe zwischen zwei Gentlemen, die sofort aufsprangen, als sie sie erkannten.

Yardley Sinclair, der stellvertretende Leiter der Abteilung für Haushaltsauflösungen, beglückwünschte sich im Stillen, für das späte Eintreffen der Dame gesorgt zu haben. Sie hatte im Laufe der Jahre mehrere Male das Auktionshaus besucht, um sich verschiedene Memorabilia von Austen anzusehen, und kürzlich sogar zum Rekordpreis eine seltene Erstausgabe von Emma erstanden. Yardley hatte darauf geachtet, dass sie als eine der Ersten vom Verkauf des Godmersham’schen Besitzes erfuhr. Er wusste, dass die Filmstudios in Hollywood sie schon für Monate im Voraus gebucht hatten, wollte aber unbedingt, dass sie an der Auktion teilnahm.

Jetzt sah er, wie sie sich vorneigte und zu einem Mann in der Nähe des Mittelganges blickte. Die beiden tauschten eine stille Botschaft aus, und Yardleys Herz schlug schneller, als er die ernsten Mienen des Paares sah. Besonders der Gentleman wirkte fest entschlossen, heute etwas Großes zu ergattern.

Yardley selbst war, was die heutige Auktion betraf, hin- und hergerissen. Godmersham war eines der historischen Anwesen, die den Ersten Weltkrieg überlebt hatten, nur um dann in den Wirren des Zweiten Weltkriegs unterzugehen. Schon seit mehreren Jahrzehnten hatte Sotheby’s ein Auge auf alles aus diesem Haus geworfen, was mit Jane Austen zu tun hatte, da der Ruhm der Autorin Jahr für Jahr stieg, und das vor allem im Ausland. Reiche Amerikaner trieben aggressiv die Preise für verschiedene Buchausgaben und Briefe in die Höhe, und Yardley ahnte, dass ein durchschnittlicher Sammler sich schon bald nichts mehr davon leisten konnte. Noch gab es diverse Sammlerobjekte zu bezahlbaren Preisen, darunter Fragmente mit Austens Handschrift. Yardley selbst hatte eine Erstausgabe der gesammelten Werke von 1833, die er von einem Antiquar in Charing Cross erstanden hatte, als er noch aufs College ging.

»Posten Nummer zehn«, verkündete der Direktor von Sotheby’s, »ist diese exquisite Kette mit Topasanhänger in Form eines Kreuzes. Erworben von Charles Austen, dem Bruder von Jane Austen, mit dem Geld, das er bekam, als er bei der Royal Navy ein feindliches Schiff kaperte. Dazu eine ähnliche, aber nicht identische Kette, ebenfalls mit Topasanhänger. Beide Ketten sind aus massivem Gold und waren, durch mehrere Briefe belegt, im Besitz von Jane Austen und ihrer Schwester Cassandra. Die beglaubigten Briefe sehen Sie in Ihrem Katalog.«

Yardley wusste, dass sich sein Ehrengast vor allem für drei Posten aus dem Katalog interessierte: einen schlichten Goldring mit Türkis, der nachweislich Jane Austen gehört hatte, die beiden Topasketten und einen kleinen tragbaren Mahagonischreibtisch, der über Generationen hinweg vererbt worden war. Zwar konnte Sotheby’s nicht beweisen, dass Jane Austen zu Hause oder auf Reisen an diesem Tisch geschrieben hatte, doch dies war einer der beiden Schreibtische, der nachweislich ihrer engeren Familie gehört hatte. Der andere war bei einem privaten Sammler verschwunden.

»Posten Nummer zehn«, wiederholte der Direktor. »Mindestgebot hundert Pfund, nach vorheriger Schätzung auf eintausend Pfund. Einhundert Pfund – höre ich einhundert?«

Die Schauspielerin nickte kaum merklich.

»Wir haben hundert Pfund. Höre ich einhundertfünfzig? Einhundert und fünfzig Pfund?«

Wieder nickte jemand, diesmal ein paar Reihen hinter der Schauspielerin. Diese schaute über ihre linke Schulter und warf einen kurzen Blick zu dem Gentleman auf der anderen Seite des Ganges.

So ging es ein paar Minuten. Als die Gebote schließlich von tausend Pfund auf eintausendfünfhundert stiegen, hielt der Direktor inne und warf einen Blick zu einem seiner Kollegen an der Wand rechts vom Podium. Sie nickten einander zu. »Zweitausend Pfund«, rief der Direktor daraufhin aus. »Höre ich zweitausend?«

Yardley hatte den Blickwechsel zwischen der Schauspielerin und dem Gentleman beobachtet. Er sah ebenso gut aus wie ein Filmstar und war so groß, dass sein Kopf die seiner Sitznachbarn überragte. Er trug einen maßgeschneiderten, dunkelgrauen Anzug und dunkelbraune Budapester und blickte sich nicht um, schaute weder in den Katalog noch in die Gesichter der anderen Besucher. Keinerlei Aufregung oder Unruhe waren ihm anzusehen. Als die Gebote immer mehr in die Höhe schnellten und der Preis nun die vorherige Schätzung bei Weitem überstieg, lehnten sich die meisten Auktionsgäste auf ihren Stühlen vor und tuschelten aufgeregt mit ihren Nachbarn. Aber der Mann blieb völlig ungerührt und hob nur beiläufig seinen rechten Zeigefinger, immer und immer wieder, als würde der ganze Vorgang ihn langweilen.

»Fünftausend Pfund!«, rief der Direktor aus, und das Gemurmel im Saal schwoll an.

»Zum Ersten … zum Zweiten … verkauft! Zwei Goldketten mit Topasanhänger von Jane Austen und ihrer Schwester: für fünftausend Pfund an den Gentleman in Reihe drei.«

Die Schauspielerin sprang auf und eilte zu dem Mann, um ihn stürmisch zu umarmen.

Der Ring wurde als Posten vierzehn verkauft, wieder an die Schauspielerin und ihren Begleiter, und zwar für die Rekordsumme von siebentausend Pfund. Der Schreibtisch wurde für fast doppelt so viel versteigert, und zwar an einen unbekannten amerikanischen Sammler, der das British Museum überbot. Yardley hatte sich innerlich gewunden, denn er war der Ansicht, all diese Objekte sollten in England bleiben oder zumindest weitgehend zusammengehalten werden.

Nach dieser überaus erfolgreichen Auktion luden der Direktor von Sotheby’s und Yardley die Schauspielerin und ihren Begleiter auf ein Glas Champagner ein. Als sie ihre Kristallgläser zu einem Toast auf den heutigen Abschluss erhoben, fragte Yardley die Schauspielerin, welche Pläne sie mit dem Schmuck habe.

»Pläne?«, erwiderte sie, »ich weiß nicht, ich werde ihn wohl tragen.«

Allein die Vorstellung, etwas so Wertvolles könnte vergessen auf einer Kommode liegen oder, schlimmer noch, auf dem Rücksitz eines Taxis verloren gehen, bescherte Yardley Migräne.

»Aber sein Wert …«, setzte er an.

»Über seinen Wert hat ausschließlich Miss Harrison zu entscheiden«, unterbrach ihn der Gentleman. »Deshalb habe ich den Schmuck für sie gekauft.«

Als er das sagte, bemerkte Yardley zum ersten Mal eine Veränderung auf der entzückten Miene der Schauspielerin. Yardley fragte sich, wie sie zueinander standen – und ob dieser Kauf Teil einer größeren Transaktion war. Zwar kannte er die üblichen Gerüchte über Schauspielerinnen, doch von Miss Harrison war er äußerst angetan, so dass er zu ihren Gunsten entscheiden wollte.

»Das habe ich doch nur so dahingesagt«, bemerkte sie entschuldigend. »Das scheint mir in letzter Zeit immer öfter zu passieren. Vermutlich habe ich mich von der Aufregung des Tages hinreißen lassen. Selbstverständlich werde ich dafür sorgen, dass diese wertvollen Besitztümer den Schutz bekommen, den sie verdienen.«

Sie sah Yardley beschwichtigend an. Sehr amerikanisch, fand er: Wenn sie einen Fauxpas machte, bügelte sie den – so charmant wie möglich – aus, als koste sie das gar nichts.

»Waren Sie mit der Auktion zufrieden?«, erkundigte sie sich bei ihm.

Yardley nippte an seiner Champagnerflöte und stellte sie behutsam ab. »Über den Erfolg habe ich mich gefreut, das muss ich zugeben. Ich versuche seit Jahren das Godmersham-Anwesen zu erwerben. Und wie Sie wissen, ist es äußerst selten, eine solch umfangreiche Sammlung der mit Austen verbundenen Besitztümer zu ergattern. Jetzt bleibt nur noch das Anwesen der Knights in Hampshire, doch nach dem, was ich höre, gestaltet sich die Zusammenarbeit mit dem derzeitigen Familienoberhaupt äußerst schwierig. Und seine Alleinerbin, Miss Frances Knight, soll eine alte Jungfer mit Agoraphobie sein.«

»Agoraphobie?«, fragte der Begleiter der Schauspielerin und schaute endlich von seinen Papieren auf.

Yardley bemerkte, dass die Frau ihm einen neugierigen Blick zuwarf, und erklärte: »Ja, sie hat Angst vor Menschenmengen, verlässt nie das Haus.«

»Wie schade!«, sagte die Schauspielerin. »Wie in einem englischen Schauerroman.«

Yardley lächelte. Ihm wurde bewusst, dass sie, genau wie er selbst, mit einem Fuß in der Vergangenheit lebte.

»Ich hoffe nur, dass ihr Austen etwas bedeutet«, fuhr er fort. »Sie wissen ja bereits, wie sehr ich es zu schätzen wüsste, wenn möglichst viele ihrer Besitztümer in England bleiben würden.«

Daraufhin schenkte sie ihm ein unwiderstehliches Lächeln, warf einen kurzen Blick zu ihrem Begleiter und sagte: »Nun, Yardley, dann habe ich großartige Neuigkeiten für Sie: Das werden sie. Zumindest meine. Ich werde nämlich nach England ziehen.«

»Ach«, rief Yardley aus, »das sind tatsächlich gute Neuigkeiten. Und wo werden Sie wohnen?«

»Wir«, wieder warf sie einen Blick zu dem Gentleman, »werden nach Hampshire ziehen. Ausgerechnet! Wie finden Sie das?«

»Unter den gegebenen Umständen einfach perfekt.« Yardley schaute kurz auf den schlichten Verlobungsring an ihrer linken Hand. »Daher der Ring?«, fragte er lächelnd.

»Ja«, erwiderte sie.

Die Papiere über die Tranksaktion wurden unterzeichnet, und die Kaufsumme sollte über eine New Yorker Bank zur Zahlung angewiesen werden. Yardley und der Direktor verständigten sich mit einem stillen Nicken, den Inhalt von Posten vierzehn zu holen. Ein paar Minuten später kehrte der Direktor zurück und flüsterte ihm zu, dass die Anwälte des Käufers nach ein paar Nachfragen bei der Bank in Manhattan die Genehmigung erteilt hatten, die Summe von einem seiner europäischen Konten einzuziehen. Dies beschleunigte das Verfahren, und soeben war die Überweisung von einem Zürcher Konto bestätigt worden. Yardley nickte und ging zu dem Gentleman, um ihm eine kleine Schatulle mit einer Nummer zu überreichen.

»Ich glaube, das gehört Ihnen«, sagte er zu dem Mann, der, wie er jetzt wusste, Jack Leonard hieß und ein erfolgreicher Geschäftsmann und frischgebackener Produzent in Hollywood war.

Als die Frau aufstand, blieb einer ihrer Absätze am Rand des antiken indischen Teppichs hängen, der den Boden bedeckte.

»Ach du meine Güte«, rief sie, fing sich jedoch wieder und streckte ihre zitternde Hand nach der Schatulle aus.

Jack stand ebenfalls auf, schnappte sich das Kästchen aus Yardleys Hand und hielt es scherzhaft in die Höhe, so dass sie nicht darankam.

»Belohnt wird, wer warten kann«, bemerkte Jack, als die Frau schließlich aufgab und in gespielter Kapitulation die Arme sinken ließ.

Yardley war sich nicht sicher, ob man dem Mogul mit dem Aussehen eines Hollywoodidols wirklich trauen konnte. Und als die Amerikaner sich verabschiedeten und von einem Sicherheitsbeauftragten hinaus in den dämmrigen Herbstabend begleitet wurden, fragte er sich, wer von ihnen die Kunst des Schauspiels besser beherrschte.

Mimi Harrison hatte Jack Leonard ein halbes Jahr zuvor kennengelernt, und zwar am Pool des Produzenten ihres letzten Films. Ruhm und Vaterland war die Geschichte einer Witwe, deren Söhne von der britischen Marine strategisch in zwei verschiedenen Kriegsschlachten eingesetzt wurden, um die möglichen Verluste für die Familie gering zu halten. Doch da die Jungen unbedingt gemeinsam kämpfen wollten, führte dies zu unvermeidlich tragischen Konsequenzen. Mimi hatte Jahre zuvor von einer ähnlichen Geschichte gehört, die in England tatsächlich so geschehen war, und nahm die Rolle an, ohne auch nur das Drehbuch zu lesen.

Es war ein Melodrama, einer der schnulzigen Frauenfilme, durch die Mimi Harrison ein Hollywoodstar geworden war. Eigentlich hatte sie nach ihrem Abschluss in Geschichte und Drama am Smith-College Bühnenschauspielerin werden wollen und Mitte der 1930er Jahre auch tatsächlich ein paar bedeutende Nebenrollen am Broadway übernommen. In der Zeit hatte sie, wenn auch widerstrebend, ihren etwas tristen Vornamen Mary Anne durch den glamouröseren Namen »Mimi« ersetzt. Aber eines Abends fielen einem Castingagenten in der ersten Reihe ihre dunklen, exotischen Züge auf, und nachdem sie in New York rasch Probeaufnahmen absolvierte, bei denen sie ungeschminkt vor die Kamera treten musste, wurde sie sofort in einen Zug nach Los Angeles gesetzt. Dort gab es weitere Probeaufnahmen – diesmal geschminkt –, nach denen sie sich die Sommersprossen bleichen und eine kleine operative Korrektur vornehmen lassen musste, für die ihre Mutter sich zu Tode geschämt hätte.

»Nur ein einziger Eingriff ist hier Rekord, Schätzchen«, hatte die stellvertretende Kostümbildnerin bemerkt, als Mimi ihr die Narbe zeigte. Mimi war eine Wahrheitsfanatikerin und fand, wenn ihr Körper schon nicht mehr hundertprozentig echt war, konnte sie zumindest offen damit umgehen.