Der Bulle von der Schlei - Bengt Thomas Jörnsson - E-Book

Der Bulle von der Schlei E-Book

Bengt Thomas Jörnsson

4,4

Beschreibung

Dramatische Dreharbeiten: In Kappeln hängt ein Schauspieler tot an der Rahe eines Segelschiffs. Eine harte Nuss für die Flensburger Kommissare Paul Beck und Nick Harder, die sich nicht nur mit den skurrilen Marotten der Filmschaffenden herumschlagen müssen, sondern auch mit der 'Ermittlungshilfe' des TV‑'Bullen' Arndt Pfeiffer. Da kommen die romantischen Gefühle, die Beck und Harder für ihre attraktiven dänischen Kolleginnen Lotta Lundkvist und Theresa Vestergaard entwickeln, nicht besonders gelegen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 454

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,4 (19 Bewertungen)
12
2
5
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bengt Thomas Jörnsson, geboren 1969 in Bremerhaven, ist Pädagoge, Germanist und promovierter Psychologe. Bevor er sich ganz dem Schreiben gewidmet hat, war er einige Jahre in der Wissenschaft tätig. Jörnsson ist verheiratet und lebt und arbeitet in Kiel.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: fotolia.com/hanseat Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Carlos Westerkamp eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-107-9 Förde Krimi Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons: Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

Für alle, mit denen ich im Sommer 2003 auf der »Pippilotta« die dänische Südsee durchsegeln durfte

1

Mit der linken Hand fixierte er die Flasche. In der rechten balancierte er die Zange, mit der er das filigrane Gebilde durch den engen Hals schob. Vorsichtig, denn die geringste Erschütterung konnte die Arbeit von Wochen zunichtemachen.

Paul Beck hielt die Luft an, während er das Objekt in den Bauch der Flasche manövrierte und es langsam senkte. Für ein paar Sekunden schien es zu schweben.

Beck bewegte seine Finger wie in Zeitlupe. Er konzentrierte sich darauf, die Backen der Zange nicht zu fest zusammenzupressen, um das Gebilde nicht zu zermalmen, es zugleich aber fest genug zu halten, um einen Absturz zu verhindern. Dann endlich setzte der schwarzglänzende Rumpf auf dem blaugefärbten Kitt auf, den er mit einer dünnen Schicht Klebstoff bestrichen hatte, und Beck atmete erleichtert auf.

Er zog die Zange zurück und griff nach den Fäden, die aus dem Flaschenhals ragten. Einen nach dem anderen richtete er die eingeklappten Masten auf, zuerst den Gaffelmast am Heck, dann die drei Rahmasten. Die aus hauchdünnem Papier gefertigten Segel glitten in ihre Positionen und entfalteten sich.

Beck stupste sie mit der Pinzette an, damit sie sich aufwölbten. Er zupfte die Stagen vom Fockmast zum Bugspriet zurecht –das sogenannte »stehende Gut«, jene Taue, die den Masten ihre Stabilität gaben– und rüttelte sacht an den daran befestigten papiernen Dreiecken, bis es aussah, als blähten sich die Vorsegel im Wind. Schließlich griff er nach dem Klebstoff, um die beinahe unsichtbaren Fäden am Flaschenhals zu befestigen.

Im selben Moment erschütterte ein dumpfer Knall den Raum.

Das Schiff in der Flasche bebte und kippte langsam zur Seite. Die Masten klappten zurück in ihre waagerechte Position. Die dünnen Fäden glitten Beck aus den Fingern und verschwanden in der Rumflasche.

»Ach, verdammt!«

Beck schaute auf seine leeren Hände. Dann musterte er den Kater, der neben dem verunglückten Buddelschiff auf dem Schreibtisch gelandet war.

»Toll, Watson«, sagte er. »Der Untergang der ›Pamir‹ in weniger als drei Sekunden.«

Der Kater drehte sich einmal um die eigene Achse. Er hatte kurzes rotbraunes Fell, das im grellen Licht der Arbeitslampe fast orange wirkte. Außerdem hatte er ein ausgefranstes linkes Ohr, Folge eines Kampfes mit einem ebenfalls vierbeinigen Widersacher– und deutliches Übergewicht. Natürlich antwortete er nicht. Aber seine grünen Augen funkelten boshaft.

Beck nahm die Zange und zog das zusammengefallene Schiff aus der Flasche. Er platzierte es auf den beiden Böcken, auf denen er das Modell gebaut hatte, und richtete die Masten wieder auf. Schließlich begutachtete er die Schäden, die das Seebeben hinterlassen hatte.

Einige der zarten Rahen an den Masten der »Pamir« waren gebrochen, ein paar der Papiersegel hatten Risse bekommen. Kleinigkeiten, verglichen mit dem Schicksal des Vorbilds, das im Sturm gesunken war. Aber trotzdem ärgerlich. Er würde die Masten noch einmal auseinandernehmen und neue Segel anfertigen müssen.

Watson setzte sich auf sein Hinterteil und grinste.

Beck schob das Modell beiseite und griff nach seiner Pfeife. Während er sie stopfte, betrachtete er den Kater.

»Was stört dich an dem Schiff?«, erkundigte er sich. »Segelboote sind doch herrlich. Entspannt über das Wasser gleiten. Kein Lärm. Keine Abgase. Kein Stress. Segeln ist einfach Erholung pur.«

Der Kater blickte ihn aus seinen smaragdgrünen Augen an und zog verächtlich die Oberlippe hoch. Vielleicht, weil er nicht begriff, warum dieser Mensch da vor ihm Stunden darauf verwandte, etwas herzustellen, das man nicht essen konnte. Vielleicht aber auch, weil er schon immer besser in die Zukunft hatte sehen können als sein Besitzer.

2

Das Traditionsschiff »Pippilotta«, ein Dreimastgaffelschoner mit grünem Rumpf und weißem Namensschriftzug am Bug, glitt langsam durch die Schleimündung. Es hatte sämtliche Segel gesetzt, die drei Hauptsegel, die Gaffeltoppsegel und die vier Vorsegel. Zusätzlich besaß das Schiff noch eine Rahe am Schonermast, an der sich die Breitfock wölbte, ein Segel, das nicht wie die Gaffelsegel entlang der Kiellinie, sondern quer zum Schiffsrumpf angeschlagen war. Es war nützlich, wenn der Wind von hinten kam.

Der Schoner hielt auf die Kappelner Hafenmole zu, und an Deck entwickelte sich Betriebsamkeit. Die Crew begann, die Segel einzuholen. Wie bei Gaffelsegeln üblich, wurde dazu die Gaffel, die mit einem offenen, beweglichen Ring –der sogenannten Klau– am Mast befestigt war, heruntergelassen. Am Baum faltete die Mannschaft das Segeltuch zusammen und verzurrte es mit Zeisern, kurzen Seilen, die um Gaffel, Segeltuch und Baum geschlungen und verknotet wurden.

Schließlich flatterte nur noch die Breitfock im Wind, ein großes, rechteckiges Tuch, das fast die gesamte untere Hälfte des Fockmasts verdeckte.

Zwei Matrosen, die ein Outfit trugen, wie man es eher in einem Hans-Albers-Film erwartet hätte– blaue Hosen mit Schlag und blau-weiß gestreifte T-Shirts–, machten sich bereit, die Breitfock zu bergen. Der eine der beiden legte ein Klettergeschirr an und verband es mit der Leine, die vom Schonermast herunterhing. Der zweite hielt das andere Ende, um seinen Kollegen zu sichern.

Der erste Matrose griff nach den Wanten, die den Mast aufrecht hielten. Die Webleinen, die in die Wanten eingeknotet waren, bildeten eine Leiter aus Seilen.

Der Matrose begann seinen Aufstieg, doch schon nach den ersten fünf Sprossen hielt er wieder inne. Seine Augen weiteten sich, und ein entsetzter Schrei entrang sich seiner Kehle.

Die übrigen Mitglieder der Crew blickten alarmiert nach oben.

Zuerst konnten sie nichts erkennen, weil das weiße Tuch die Sicht versperrte. Dann blähte der Wind das Segel, und plötzlich entdeckten sie es: An der Rahe der Breitfock hing ein Mensch.

Sein Kopf war nach vorn geneigt, als wäre er eingeschlafen. Seine Beine hingen reglos herunter.

3

Der Streifenwagen hielt mit quietschenden Bremsen auf der Mole.

Cornelius Christensen löste seinen Blick von der reglosen Gestalt an der Rahe und blickte zu dem uniformierten Beamten, der aus dem Wagen sprang. Im Laufen stülpte er sich seine Dienstmütze über die vollen, gewellten Haare, die einen seltsamen Farbton hatten, ein unnatürlich gelb wirkendes Blond. Er war nicht mehr der Jüngste und schien ein wenig außer Form. Die Uniformjacke spannte über seinem Bauch, und die Haut im Gesicht und am Hals war gerötet. Schon nach den ersten Schritten begann er zu keuchen. Christensen verzog unwillkürlich den Mund.

Der Polizist hielt kurz inne, als müsse er sich versichern, dass er das richtige Schiff gefunden hatte. Dann eilte er über die Gangway an Bord der »Pippilotta«, die Augen suchend auf den Schonermast gerichtet. Deshalb sah er auch nicht das nachlässig aufgerollte Kabel, das direkt vor ihm auf dem Schiffsdeck lag.

Er stolperte und geriet ins Straucheln. Um nicht zu fallen, klammerte er sich an die Kameraassistentin, die ein Puschelmikrofon an einer Stange über seinem Kopf hielt.

»Aus!«, brüllte Dominik Voigt und funkelte die junge Frau an. »Kannst du nicht aufpassen, wo das verdammte Kabel herumliegt? Jetzt können wir die ganze Einstellung noch mal neu machen.«

Cornelius Christensen, der einen der beiden Matrosen spielte, biss sich auf die Lippen, um nicht zu lachen. Sein Partner Tegtmeier, der zweite Matrose, hatte sich nicht so gut im Griff. Er kicherte albern, was ihm einen wütenden Blick von Regisseur Voigt eintrug. Tegtmeier riss sich zusammen.

Der uniformierte Beamte richtete sich wieder auf. Voigt winkte seinem Kameramann.

»Wir machen die Einstellung noch mal«, erklärte er barsch und signalisierte seinen Darstellern, sich bereitzuhalten.

Christensen und Tegtmeier, deren Aufgabe darin bestand, mit entsetzter Miene zur Mastspitze aufzusehen, tauschten einen genervten Blick. Szenen zu drehen, in denen die eigene Rolle nur dekorativen Charakter hatte, während die Hauptakteure eine Klappe nach der anderen vermasselten, war der Teil seines Jobs, den Christensen am meisten hasste. Womit er vermutlich nicht allein war. Wer ließ sich schon gern zum Statisten degradieren?

»Hey, Olli«, rief er nach oben. »Kannst du noch?«

Von dem Mann, der an der Rahe baumelte, kam keine Antwort.

»Wahrscheinlich ist er eingeschlafen«, mutmaßte Gerhard Tegtmeier und strich sein blau-weiß gestreiftes Matrosenhemd glatt.

Christensen seufzte, weil ihm wieder einfiel, dass er in dieser Karikatur eines Seefahreroutfits beinahe noch alberner aussah als sein Kollege.

»Ja«, sagte er bitter. »Das ist das Beste, was er tun kann. So, wie ich den Laden hier kenne, dauert das noch den halben Tag.«

***

Lars Unger schob seine Kamera näher an die Gangway heran. Der uniformierte Beamte lief von der Mole aufs Schiff. Dieses Mal erreichte er die beiden entsetzten Matrosen unfallfrei.

Cornelius Christensen, der gar nicht damit gerechnet hatte, dass die Szene gleich beim zweiten Versuch klappen würde, legte –seiner Rolle gemäß– eilig sein Klettergeschirr ab und reichte es Arndt Pfeiffer, der den Polizisten spielte.

»Und: Cut«, rief Regisseur Voigt. Christensen wusste, warum. Die Übergabe der Sicherungsausrüstung sollte auf den Film, die Umständlichkeit, mit der Arndt Pfeiffer hineinstieg, dagegen nicht. Das sah zwar lustig aus, aber Pfeiffer spielte eine Identifikationsfigur. Und die durfte man nicht zu sehr beschädigen.

Christensen übernahm die Sicherungsleine, und Pfeiffer zurrte den Gurt fest. Die Schnalle spannte über seinem dicken Bauch. Der Filmpolizist grunzte unwillig.

»Gibt’s die Dinger nicht auch eine Nummer größer?«, erkundigte er sich.

Dominik Voigt, ein dünner Mann mit gewollt zerzausten dunklen Haaren, kniff die Augen zusammen. Seinem Image als visionärem Regisseur entsprechend trug er Hose und Rollkragenpullover in Schwarz, dazu eine schwarz umrandete Hornbrille.

»Das ist die größte Größe, Arndt«, versetzte er. »Du solltest mehr auf deine Figur achten.«

»Papperlapapp.« Arndt Pfeiffer winkte ab. Er hakte den Karabiner der Sicherungsleine in das Klettergeschirr ein und begann, den Fockmast hinaufzuklettern. Nach drei Metern hielt er inne und schaute nach unten.

»Scheiße, ist das hoch«, fluchte er.

»Halt die Klappe!«, rief der Regisseur und machte Kameramann Unger ein Zeichen. »Wir fangen an zu drehen. Ich will deine Kommentare nicht auf dem Film haben.«

»Ja, ja.« Pfeiffer enterte die Wanten und erreichte die Füße des Mannes, der oben an der Rahe hing. Er klopfte ihm leicht gegen das Bein.

»Kompliment«, sagte er. »Du hast echt Durchhaltevermögen.«

Der Darsteller der Leiche blieb konsequent und rührte sich nicht.

»Und: Action!«, brüllte Dominik Voigt von unten.

Der Filmpolizist kletterte weiter, bis er sich mit dem angeblichen Toten auf Augenhöhe befand. Im nächsten Moment ließ er die Wanten los und rauschte an der Sicherungsleine in die Tiefe.

Cornelius Christensen schrie unwillkürlich auf. Das raue Seil, das plötzlich rasend schnell zwischen seinen Händen hindurchglitt, ließ seine Handflächen wie Feuer brennen. Eilig verstärkte er seinen Griff, nur um in der nächsten Sekunde das Gefühl zu haben, als würde ihm Pfeiffers Gewicht die Arme abreißen. Hätte Gerhard Tegtmeier nicht geistesgegenwärtig zugegriffen, Pfeiffer wäre vermutlich bäuchlings auf den Schiffsplanken gelandet. So wurde er im letzten Moment gestoppt und kam federnd mit den Füßen auf.

»Das war knapp«, bemerkte Tegtmeier, und Christensen atmete tief durch. Er wartete auf einen Dank von Pfeiffer, doch der hatte keine Augen für ihn. Er nestelte an seinem Klettergeschirr, während sein Blick an dem Mann an der Rahe klebte.

Christensen schaute auf seine aufgeschürften Handflächen und fluchte. Tegtmeier klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken. So war das eben. Als Nebenfigur fasste einen niemand mit Samthandschuhen an. Und Allüren durfte man sich höchstens als Star erlauben. Oder auch nicht, wenn der Regisseur Dominik Voigt hieß.

Der trat genervt auf Pfeiffer zu.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«, erkundigte er sich.

Der Schauspieler deutete nach oben. Er atmete hektisch, und sein Kopf hatte eine bedenklich rote Farbe angenommen.

»Der Olli…«, stieß er hervor. »Der tut nicht nur so. Der ist wirklich tot.«

Dominik Voigt tippte sich an die Stirn.

»Quatsch«, sagte er und musterte seinen Hauptdarsteller. »Hast du schon wieder zu tief ins Glas geschaut?«

Arndt Pfeiffer fuchtelte vor Voigts Augen herum.

»Ich hab nix getrunken. Der Olli ist wirklich hinüber. Sein Gesicht ist leichenblass. Und die Zunge hängt ihm aus dem Mund.«

Der Regisseur schob Pfeiffers Hand beiseite.

»Das war die Neue von der Maske«, entgegnete er gelassen. »Die ist top. Und bei ihm hat sie sich natürlich besondere Mühe gegeben. Sie ist immerhin seine Freundin.« Er schaute zur Breitfock hinauf.

»Hey, Olli«, rief er. »Gib mal ein Lebenszeichen von dir. Der Arndt meint, du hättest den Löffel abgegeben.«

Von oben kam keine Reaktion. Auf Dominik Voigts Stirn erschien eine steile Falte.

»Olli, lass den Scheiß! Das ist nicht komisch!«

Noch immer war aus dem Mast keine Regung zu vernehmen. Nur die Füße des Leichendarstellers baumelten im Wind.

Das Gesicht des Regisseurs wurde blass.

»Verdammte Scheiße!«, fluchte er und wandte sich an Christensen. »Cornelius. Schau nach, was da los ist. Schnell.«

Cornelius Christensen nahm dem Polizistendarsteller das Klettergeschirr wieder ab und schlüpfte selbst hinein. Er war ein asketischer Mann Mitte vierzig, der sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen ließ. Sein Kollege Tegtmeier, der die Figur des zweiten Matrosen spielte, hielt die Sicherungsleine, und Christensen erklomm, so rasch er konnte, die Wanten.

Er schluckte, als er die dicke Henkerschlinge und den nach vorn gesackten Kopf von Oliver Kaufmann erblickte. Von Kaufmanns Augen und Nase liefen eingetrocknete weißliche Spuren über die Lippen zum Kinn.

Das sah so verdammt echt aus. Konnte das wirklich nur Schminke sein?

Christensen tippte dem Darsteller der Leiche auf die Schulter.

»Olli? Komm, hör auf. Du hast uns einen Mordsschrecken eingejagt. Aber so langsam ist es nicht mehr witzig.«

Er starrte in die hellblauen Augen von Oliver Kaufmann, über denen ein milchiger Schleier lag. Kein Muskel im Gesicht des Kollegen zuckte. Nur sein Körper pendelte sacht im Wind.

Christensen spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Er legte dem Leichendarsteller die Finger unterhalb des Seils an die Halsschlagader, um nach seinem Puls zu tasten, und zog sie sofort wieder zurück. Kaufmanns Haut fühlte sich schlaff und kühl an.

Cornelius Christensen würgte. Ein kalter Schauer rieselte ihm über den Rücken. Er atmete tief durch und streckte noch einmal die Hand nach dem Hals seines Kollegen aus. Doch da war nichts.

Christensen hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Fast hätte er die Wanten losgelassen und wäre in die Sicherungsleine gefallen. Aber dann fanden seine Finger doch noch Halt.

»Cornelius?«, brüllte Dominik Voigt von unten. »Was ist denn nun?«

Christensen musste sich räuspern, ehe ihm seine Stimme wieder gehorchte.

»Holt ihn da runter!«, rief er, während er zitternd zurück aufs Schiffsdeck kletterte. »Wir brauchen einen Notarzt! Den Olli… den hat tatsächlich einer aufgehängt.«

***

Gerhard Tegtmeier reagierte am schnellsten. Er löste die zweite Sicherungsleine, die an einer Klampe am Schonermast befestigt war und Oliver Kaufmann, den Darsteller der Leiche, in seiner Position hielt. Tegtmeier spürte, wie ihm die Kehle eng wurde, als er das Seil in der Hand hatte. Es war viel zu leicht. Eilig rollte er es ab.

Das gegenseitige Stück der Sicherungsleine kam in Sicht und flatterte im Wind. Die versammelte Crew an Deck der »Pippilotta« hielt die Luft an. Alle starrten auf das lose Ende, an dem sich das Klettergeschirr hätte befinden müssen, in dem Oliver Kaufmann steckte. Doch der hing ganz offenbar nicht an der Leine, sondern in der Henkerschlinge, die nur als Requisit für die Aufnahmen gedacht war.

Tillmann Röder schob seine Kollegen beiseite. Er griff nach den Wanten und enterte sie, so schnell er konnte.

Dominik Voigt schnappte nach Luft.

»Tillmann!«, brüllte er. »Du willst doch nicht ohne Sicherung da rauf? Das sind über zehn Meter.«

Röder warf ihm nur einen knappen Blick zu, ohne sein Tempo zu drosseln.

»Sollen wir noch mehr Zeit verlieren?«, fauchte er.

Voigt, dem wieder einfiel, dass Tillmann Röder, der Stargast der Serie, mit Oliver Kaufmanns Schwester verheiratet war, klappte den Mund zu.

Röder war ein Mann, der tat, was er für richtig hielt. Und wenn er hoffte, seinen Schwager noch retten zu können, würde ihn niemand aufhalten. Auch wenn er damit sein eigenes Leben in Gefahr brachte.

Der Kameramann schob sein Arbeitsgerät in Position und fokussierte die beiden Männer oben im Mast. Voigt warf ihm einen kurzen Blick zu.

»Sehr gut!«, sagte er. »Das wird ein toller Trailer. Da werden die Einschaltquoten durch die Decke schießen.«

Lars Unger, ein schmaler, unscheinbarer Mann mit hellen braunen Haaren, hob abwehrend die Hände.

»Ich filme das nicht«, erklärte er. »Ich will nur sehen, was los ist.«

Der Regisseur sprang auf ihn zu.

»Mach das Ding an, verdammt«, brüllte er. »Wir lassen uns doch diese Publicity nicht entgehen.«

Unger trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nein.«

Voigt sah aus, als wollte er auf ihn losgehen, doch ehe er dazu kam, trat Sandy Lange dazwischen.

»Ich mache das«, sagte die Kameraassistentin, eine männlich wirkende Frau mit raspelkurzen dunklen Haaren.

Unger presste missbilligend die Lippen zusammen. Voigt blickte wieder zur Breitfock hinauf, wo Tillmann Röder um das Leben seines Schwagers kämpfte. In der Ferne waren Sirenen zu hören.

Da er ihn nicht einfach abschneiden konnte –zum einen, weil er kein Messer zur Hand hatte, zum anderen, weil Oliver Kaufmann dann mehr als zehn Meter in die Tiefe gestürzt wäre–, umklammerte Röder die Beine seines Schwagers mit einem Arm und stemmte ihn hoch, um den Hals vom Druck der Schlinge zu entlasten. Der schlaffe Körper bog sich und kippte zur Seite, aber irgendwie gelang es Röder, ihn auf seine Schulter zu bugsieren. Röders Füße auf den Webleinen zwischen den Wanten begannen zu zittern, als plötzlich das doppelte Gewicht auf ihnen lastete. Lange würde er diese Position nicht halten können. Dann würde er abstürzen, und Oliver Kaufmann würde wieder mit dem Hals in der Schlinge hängen.

Das Heulen der Sirenen kam näher.

Röder ließ die Beine los und versuchte, den leblosen Körper auf seiner Schulter zu balancieren. Mit einer Hand klammerte er sich an den Wanten fest. Mit der anderen angelte er nach Kaufmanns Sicherungsleine, die neben seinem Kopf pendelte. Der Wind blähte die Breitfock, und das schwere Segeltuch schlug Röder ins Gesicht. Er schwankte, und für einen Moment dachte er, dass alles vorbei war.

Doch dann konnte er plötzlich wieder etwas sehen. Er erwischte das lose Ende, das an seiner Schulter vorbeischwang. Blind tastete er nach Olivers Klettergeschirr. Mit einer Hand schob er das Seil durch die Ringe und versuchte, ein paar Knoten zu produzieren, die sich nicht sofort wieder öffnen würden. Dann griff er nach der Henkerschlinge und zerrte daran. Doch seine Finger waren zu steif, um den Knoten zu lösen, weil ihm das Gewicht auf seinem Rücken die Nerven abklemmte. Röder spürte, wie ihn seine Kräfte verließen.

»Ein Messer!«, brüllte er. »Ich brauche ein Messer! Schnell!«

Sandy Lange zog ein Taschenmesser aus einer der zahlreichen Taschen ihrer Cargohose und hielt es hoch.

»Hier!«, rief sie, schien aber nicht zu wissen, was sie als Nächstes tun sollte.

Cornelius Christensen, der immer noch das Klettergeschirr trug, nahm ihr das Messer aus der Hand und steckte es in seine eigene Hose. Er hakte den Karabiner der Sicherungsleine ein und griff nach den Wanten.

»Halt mich fest«, sagte er zu Gerhard Tegtmeier, der schnell das Seil ergriff.

Auf der Hafenmole hielt ein Rettungswagen mit flackerndem Blaulicht. Die Sirene hatte der Fahrer auf den letzten Metern abgestellt. Die Besatzung des Wagens sprang heraus, drei Männer in roten Uniformen, einer von ihnen mit der Schrift »Notarzt« auf dem Rücken. Sie liefen über die Gangway aufs Schiff und blieben bei den Schauspielern vor dem Schonermast stehen.

Christensen kletterte nach oben und reichte Röder das Messer. Der säbelte an dem Henkerseil herum, das locker von der Rahe herunterhing. Zu locker. Röder bekam es nicht zu fassen. Er kletterte ein Stück nach unten, damit sich das Seil straffte. Die Schlinge um Kaufmanns Hals zog sich wieder zu, aber Röder hatte keine andere Wahl.

Das Messer war nicht besonders scharf, und das Henkerseil war stabil, doch schließlich spürte Röder, wie die letzten Fasern rissen.

»Er ist frei!«, rief er und hörte von unten ein Raunen der Erleichterung.

Er ließ Kaufmanns Körper von seinem Rücken gleiten. Cornelius Christensen, der direkt unter ihm stand, nahm ihn in Empfang. Er prüfte die Knoten, die Röder an Kaufmanns Klettergeschirr geknüpft hatte. Dann ließ er den Leichendarsteller weiter nach unten.

»Holt ihn runter!«, rief er, und fünf Paar Hände griffen gleichzeitig nach der Sicherungsleine, um Kaufmann herunterzulassen.

Sie reckten die Arme, als er endlich über ihren Köpfen schwebte, nahmen seinen schlaffen Körper in Empfang und legten ihn vorsichtig auf dem Schiffsdeck ab.

Der Notarzt kniete sich neben ihn. Er tastete Oliver Kaufmann nur kurz über den Hals und leuchtete ihm in die Augen. Dann hob er den Blick.

4

Dr.Ewald Jürgensen schob sein Mobiltelefon zurück in die Jackentasche und musterte das Filmteam, das schockiert und ratlos um den Toten herumstand. Er hatte schon genügend Verstorbene in Augenschein genommen. Aber eine so skurrile Situation wie diese hier auf der »Pippilotta« hatte er noch nie erlebt.

Eine Leiche, die man aus dem Mast geborgen hatte, mit einer Henkerschlinge um den Hals, die, wenn er es richtig verstanden hatte, eigentlich als Requisit gedacht gewesen war. Und eine Gruppe seltsam kostümierter Zeugen, die vom plötzlichen Einbruch der Realität in ihre Scheinwelt vollkommen überfordert schienen.

Einer der Männer neigte sich zu einer Frau mit dunklen Haaren, die für Jürgensens Geschmack viel zu kurz geschnitten waren.

»Wo ist eigentlich Beatrice?«, fragte er, und die Frau machte ein erschrockenes Gesicht und schlug die Hände vor den Mund.

»Ach du liebe Güte«, rief sie und sah sich nach allen Seiten um. »Sie weiß es ja noch gar nicht.« Ihr Blick suchte den eines großen, ganz in Schwarz gekleideten Mannes. »Du musst es ihr sagen, Dominik.«

Der Angesprochene hob die Augenbrauen.

»Meinst du nicht, es wäre besser, wenn du es tust? So von Frau zu Frau?«, konterte er mit einem seltsamen Unterton in der Stimme, von dem Jürgensen nicht hätte sagen können, ob er eher spöttisch oder betroffen war.

Die Dunkelhaarige wollte etwas erwidern, kam aber nicht mehr dazu, weil im selben Moment vom Achterdeck her ein Schrei ertönte.

Eine große, dürre Frau mit einer wilden orangeroten Mähne stürzte auf die Gruppe zu. Sie warf sich neben dem Toten auf die Knie, und ihr Gesicht wurde beinahe so bleich wie seines. Sie schluchzte und streckte ihre Hände nach ihm aus.

Jürgensen griff eilig nach ihren Armen und zog sie wieder auf die Füße.

»Bitte. Sie dürfen ihn nicht berühren«, sagte er.

Die Frau, vermutlich die gesuchte Beatrice, sah ihn mit brennenden Augen an. Dann drehte sie sich zu der kleinen Gruppe um.

»Wer?«, fauchte sie. »Wer von euch hat das getan?« Sie ignorierte die empörten Blicke der anderen und wandte sich wieder Jürgensen zu.

»Das war Mord«, keuchte sie und krallte ihre Finger um die Aufschläge seiner Notarztjacke. »Irgendjemand hat ihn umgebracht.«

Jürgensen hatte das dringende Bedürfnis, etwas mehr Distanz zwischen sich und die erregte Frau zu bringen. Er löste sanft ihre Hände von seiner Jacke und trat einen Schritt zurück.

»Die Polizei wird gleich hier sein«, sagte er.

»Polizei?« Tillmann Röder machte einen Schritt auf Ewald Jürgensen zu. Der erwiderte den aufgebrachten Blick des Schauspielers, so ruhig er konnte. Was nicht ganz leicht war, denn Röder war ein eindrucksvoller Mann. Groß und breitschultrig, mit langen braunen Locken und sprühenden Augen. Er strahlte eine körperliche Kraft und Präsenz aus, die es ratsam erscheinen ließ, auf Distanz zu gehen. Aber der Notarzt rührte sich nicht von der Stelle.

»So sind die Vorschriften«, erläuterte er. »Bei jedem nicht natürlichen Todesfall muss die Polizei informiert werden.«

Röder ballte die Fäuste.

»Und was bedeutet das? Dass Sie ihn mitnehmen und aufschneiden? Ihm auch noch das letzte bisschen Würde rauben?« Der Schauspieler funkelte ihn so wütend an, als wollte er sich im nächsten Moment auf ihn stürzen.

Jürgensen schluckte und wäre beinahe zurückgewichen, doch seine Professionalität erforderte, dass er Haltung zeigte. Auch wenn er innerlich zitterte, weil er sich vor nichts so sehr fürchtete wie davor, dass seine filigranen Hände Schaden nehmen könnten. Seine Fingerfertigkeit war schließlich sein Kapital als Chirurg.

Der dunkelhaarige Mann, der, wie er mitbekommen hatte, der Regisseur bei diesem Zirkus war, legte dem Schauspieler eine Hand auf die Schulter.

»Reiß dich zusammen, Tillmann«, verlangte er. »Es ist keine gute Werbung für unsere Produktion, wenn du auf einen Arzt losgehst.«

Röder wirbelte zu seinem Regisseur herum.

»Ist das alles, was dich interessiert?«, fauchte er. »Die Produktion?« Er deutete auf den Leichnam zu seinen Füßen. »Oliver ist tot, verdammt. Kannst du mir sagen, wie ich das Konstanze beibringen soll?«

Auf dem Gesicht des Regisseurs vollzog sich eine bemerkenswerte Wandlung. Aus dem Ärger wurde Betroffenheit, aus der Betroffenheit Mitgefühl. Der Regisseur legte Röder einen Arm um die Schultern, den dieser gereizt abschüttelte. Offenbar, dachte Jürgensen, waren die beiden Männer nicht die besten Freunde.

5

Nick Harder flog über die Wellen. Er zog sich an der Steuerstange seines Kitesegels ein Stück nach oben und ließ das Brett unter seinen Füßen rotieren. Dann landete er mit einem satten Klatschen wieder auf der Wasseroberfläche und sauste weiter.

Der Fahrtwind zerzauste ihm die Haare, und Harder lachte. Über ihm spannte sich ein strahlend blauer Himmel, unter ihm leuchtete die Ostsee in einem satten Blau. Auf dem offenen Meer glitzerte die Sonne auf dem Wasser. Es war ein Bilderbuchtag, ungewöhnlich mild für Ende September. Eine Reminiszenz an den zurückliegenden Sommer. Viele solcher Tage würde es in diesem Jahr nicht mehr geben. Nick Harder war entschlossen, jeden einzelnen davon zu nutzen.

Er hob wieder ab, ließ das Brett durch die Luft gleiten und landete in perfekter Haltung.

Am Strand tauchte eine Gestalt mit einem leuchtend orangefarbenen T-Shirt auf und winkte. In der anderen Hand hielt sie mehrere Stangen. Signalflaggen, wie Harder erkannte, als die Person die erste hob.

Der Wind drehte, und Harder war für einen Moment abgelenkt. Er korrigierte die Position seines Kites und änderte mit dem Brett die Fahrtrichtung. Dann sah er wieder zum Ufer und versuchte, die Botschaft zu entziffern.

Das Erste war eine Flagge mit vier Quadraten, zwei davon weiß, zwei rot. Das Signal für»U« wie »Uniform«. Darauf folgten ein»L«, »Lima« –zwei gelbe und zwei schwarze Quadrate–, ein»A«, »Alfa« –halb weiß, halb blau mit spitzen Enden– und ein»N«, »November«, blau-weiß kariert.

Ulan?

Aber es ging ja noch weiter. Harder erkannte ein»R«, wieder ein»U«, danach ein»F« und ein»K«.

Ulanrufk.

Es folgte noch eine Flagge, doch Harder konnte nicht richtig hinsehen, weil er wenden musste. Der Wind pfiff so heftig, dass er ihn andernfalls direkt in die Fahrrinne getrieben hätte. Und dort hatten Kitesurfer nichts zu suchen.

Die Person am Ufer hatte eine Pause eingelegt. Jetzt begann sie wieder von vorn, und Harder erkannte, dass er beim ersten Mal den Anfang verpasst hatte. Er bestand aus dem blau eingerahmten weißen Quadrat –»Papa«– und dem weiß-blau gezipfelten »Alfa«. »P« und»A«. Danach folgten die bereits bekannten Signale. Also hieß es »Paulanrufk«.

Nein, die letzte Flagge, die er gesehen hatte –ein breiter blauer über einem breiten roten Streifen–, war nicht das»K«. Das»K« waren ein gelber und ein blauer Streifen nebeneinander. Das hier war ein»E«. Und danach folgte noch einmal das blau-weiß karierte»N«.

Die Botschaft lautete: »Paul anrufen.«

»Scheiße.«

6

Über dem Kappelner Hafen kreisten die Möwen und stießen laute Schreie aus. Immer wieder schoss einer der Vögel zur »Pippilotta« hinunter und drehte erst im letzten Moment ab. Der reglose Körper auf dem Schiffsdeck hatte ganz offensichtlich Interesse geweckt.

Dr.Ewald Jürgensen verscheuchte ein besonders vorwitziges Tier mit einer ungeduldigen Handbewegung. Die Möwe ließ sich auf der Rahe nieder und schlug beleidigt mit den Flügeln. Dann schwang sie sich wieder in die Lüfte und segelte davon. Die anderen folgten kreischend. Aber sie würden zurückkommen.

Auf der Mole fuhr ein schwarzer Mercedes vor, der deutlich vor der Jahrtausendwende gebaut worden sein musste. Offenbar ein Liebhaberstück, denn der Lack sah aus wie frisch gewachst, die Felgen glänzten, und in den sauberen Scheiben spiegelte sich das Sonnenlicht.

Die Tür öffnete sich, und ein Mann stieg aus, der kaum älter sein konnte als sein Fahrzeug. Er war groß und schlank und hatte, soweit man das erkennen konnte, blonde Haare. Er trug einen schwarzen Lodenmantel mit hochgeschlagenem Kragen und einen Bowlerhut auf dem Kopf.

Die Schauspieler, die sich mittlerweile von dem Toten abgewandt hatten, schauten von der Reling aus auf ihn hinunter.

»Was ist denn das für ein Kasper?«, fragte Gerhard Tegtmeier. »Drehen wir jetzt nebenbei auch noch eine von diesen ›Reloaded‹-Reihen? Sherlock Holmes im schönen Kappeln an der Schlei?«

Cornelius Christensen, der neben Tegtmeier stand, rieb sich über die Wange. Er hatte das Gefühl, dass sie noch immer von kaltem Schweiß klebte.

»Poirot«, korrigierte er matt. »Der mit dem schwarzen Mantel und dem Bowler ist Hercule Poirot. Holmes hat so eine alte englische Schirmmütze.«

Tegtmeier verdrehte die Augen.

»Ist doch egal. Jedenfalls hätte ihm jemand sagen sollen, dass er sich den Weg sparen kann. Ich glaube nicht, dass hier so bald wieder gedreht wird.«

Cornelius Christensen spürte, wie sich sein Magen hob. Er beugte sich über die Reling, presste eine Faust vor den Mund und atmete ein paarmal tief durch. Dann richtete er sich wieder auf.

»Lass es raus«, riet ihm Tegtmeier.

Christensen verzog den Mund. Tegtmeier hatte gut reden, nachdem er am Morgen nur einen schwarzen Kaffee getrunken hatte, weil sein Kostüm über dem Bauch spannte. Mit dem opulenten Frühstück, das er üblicherweise zu sich nahm, hätte er wahrscheinlich schon längst die Fische gefüttert. Ein solcher Vormittag ging nicht spurlos an einem vorbei.

Christensen wandte ihm den Kopf zu.

»Würde ich gern«, erklärte er. »Aber meine Kehle ist wie zugeschnürt.«

Was ja auch kein Wunder war. Schließlich waren die Leichen, mit denen sie gewöhnlich zu tun hatten, nicht tot. Und sie sahen auch nicht so grässlich aus.

Christensen schüttelte sich. Der Anblick von Oliver Kaufmanns leichenblassem Gesicht mit der heraushängenden Zunge hatte sich direkt in sein Gehirn gefräst.

Tegtmeier klopfte ihm mitfühlend auf die Schulter. Dann sah er wieder zu dem komischen Vogel mit Lodenmantel und Bowler, der jetzt über die Gangway aufs Schiff wollte. Allerdings kam er nicht weit, weil sich ihm ein schwergewichtiges Hindernis in den Weg stellte.

***

Paul Beck blieb stehen, als ein uniformierter Polizist vor ihm auf der Schiffsplanke auftauchte.

»Moin«, sagte er und musterte den Beamten. »Ich habe Sie hier noch nie gesehen.«

Der Polizist warf sich in die Brust.

»Polizeioberwachtmeister Jens Radtke«, trötete er. »Und Sie sind?«

Beck runzelte die Stirn. Er warf einen schnellen Blick auf die Uniform des Polizisten. Auf dem Ärmel sah er das schleswig-holsteinische Landeswappen, auf den Schulterklappen befanden sich die drei Sterne eines Polizeiobermeisters. Wahrscheinlich war der Beamte erst vor Kurzem aus Bayern –dem einzigen Bundesland, in dem es diese altertümliche Amtsbezeichnung überhaupt noch gab– hierherversetzt worden und hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass mit dem Ende der Ausbildung aus dem »Wachtmeister« ein »Meister« geworden war. Allerdings war der Mann für einen frischgebackenen Polizeibeamten eigentlich viel zu alt. Beck schätzte ihn auf über fünfzig. Außerdem hatte er deutliches Übergewicht. Herrschte bei der bayrischen Polizei ein derartiger Nachwuchsmangel, dass man nun schon auf nur bedingt geeignete Quereinsteiger zurückgreifen musste? Beck hatte keine Ahnung. Aber die Frage war im Augenblick auch von nachgeordneter Bedeutung.

Er zog seinen Dienstausweis aus der Tasche seines Lodenmantels.

»Kriminaloberkommissar Paul Beck,K1 der BKI Flensburg«, stellte er sich vor.

Der dicke Polizist vor ihm legte sein Gesicht in Falten und starrte auf den Ausweis. Er machte nicht den Eindruck, als könne er mit diesen Abkürzungen etwas anfangen.

»Bezirkskriminalinspektion Flensburg«, erläuterte Beck. »Mordkommission.«

Der Uniformierte straffte sich.

»Natürlich«, sagte er und deutete zum Fockmast. »Der Tote liegt da vorn. Er heißt Oliver Kaufmann. Er hing in einer Henkerschlinge vom Mast.«

Beck verstaute seinen Ausweis wieder in der Tasche.

»Schicken Sie die Leute von Bord«, wies er den Beamten an. »Notieren Sie die Personalien. Sorgen Sie dafür, dass sich alle für eine Befragung zur Verfügung halten. Sperren Sie den Zugang zum Schiff. Und informieren Sie alle zuständigen Stellen.«

Der Polizist knallte die Hacken zusammen und legte eine Hand an den Mützenschirm.

»Zu Befehl!«, rief er.

Beck schnaubte leise. Selbst wenn der Kollege neu war, brauchte er sich doch nicht zu benehmen wie ein übermotivierter Kleindarsteller beim Fernsehen.

Der Beamte machte einen Schritt zur Seite, und Beck betrat das Schiff. Er ging zu den drei rot uniformierten Männern, die neben dem Toten standen.

»Moin«, sagte er. »KOK Beck, K1 BKI Flensburg.«

Der älteste der drei reichte Beck die Hand.

»Dr.Jürgensen«, entgegnete er. »Ich bin der Notarzt. Ich habe den Leichnam in Augenschein genommen und Ihre Dienststelle informiert.«

Beck betrachtete den Toten, um dessen Hals eine Henkerschlinge lag. Anfang vierzig, schlank, mit dünnen blonden Haaren, schmalen Lippen und einer Nase, die zu groß für das hagere Gesicht schien.

»Sie sagten, Sie seien sicher, dass es kein Selbstmord war?«

Der Notarzt erwiderte nichts. Stattdessen ging er in die Hocke und drehte den Toten herum. Beck sah, dass die Hände des Mannes mit Kabelbindern auf dem Rücken fixiert waren.

»Er hing da oben«, erläuterte der Arzt und deutete mit den Augen zur Mastspitze.

Beck folgte seinem Blick.

»Sie meinen, an der Rahe von der Breitfock?«

»Keine Ahnung.« Der Arzt richtete sich wieder auf. »Segeln gehört nicht zu meinen Hobbys.« Er lächelte schwach. »Aber falls das diese Querstrebe da am Mast ist: ja.«

Paul Beck sah zu den Leuten, die von Polizeiobermeister Radtke vom Schiff geführt wurden und sich auf der Mole aufreihten, den Blick unverwandt auf die »Pippilotta« gerichtet.

»Wer hat den Toten entdeckt?«, erkundigte er sich.

Der Notarzt deutete auf den Polizisten. »Dieser Komiker da unten.«

»Polizeiobermeister Radtke?« Beck runzelte die Stirn. »Wie das?«

Der Notarzt schnaubte. »Sagen Sie nicht, Sie haben ihn nicht erkannt.«

»Erkannt?«

»Das ist Arndt Pfeiffer. ›Dr.Helge Heim‹.« Der Notarzt legte fragend den Kopf schief. »›Der Arzt, dem die Patienten vertrauen‹?«

Beck hatte das Gefühl, im falschen Quiz gelandet zu sein.

»Tut mir leid. Das sagt mir nichts.«

Der Notarzt seufzte. »Nur eine dumme Vorabendserie. Sie müssen entschuldigen. Aber mich hat das damals immer furchtbar aufgeregt. Sie kennen das vielleicht. Wenn im Fernsehen der eigene Berufsstand porträtiert wird und dabei die haarsträubendsten Fehler gemacht werden. Und die Zuschauer nehmen das alles für bare Münze. So wie dieses ewige ›Tut uns leid, aber Sie müssen den Toten identifizieren‹.«

Beck wusste, was der Notarzt meinte. Bei den Fernsehzuschauern hielt sich hartnäckig der Glaube, dass es nötig war, die Identität eines gewaltsam zu Tode gekommenen Angehörigen in der Rechtsmedizin zu bestätigen, weil das in jedem zweiten Krimi so dargestellt wurde. Dabei war es schlichtweg Unsinn. Weder wollte man das jemandem zumuten, noch war es ein besonders zuverlässiges Verfahren. Und dank fortschrittlicher rechtsmedizinischer Methoden auch vollkommen unnötig.

Beck schaute wieder zu dem dicken Polizisten.

»Sie meinen, das ist ein Schauspieler?« Erst jetzt bemerkte er die Kamera, die neben dem Großmast stand. »Die drehen hier einen Film?«

Der Notarzt machte eine Handbewegung, die zeigte, wie überflüssig er die Frage fand.

»Er hier«, er deutete auf den Toten, »war die Leiche. Deshalb hat sich auch niemand darüber gewundert, dass er da oben hing. Die haben drehbuchgemäß die Polizei gerufen, und dieser angebliche Dorfbulle«, er machte eine abfällige Handbewegung in Pfeiffers Richtung, »ist da hochgeklettert, um sich das Mordopfer anzusehen. Muss ein ziemlicher Schock gewesen sein, als er gemerkt hat, dass die Leiche tatsächlich tot ist.«

Paul Beck kniff die Augen zusammen. Langsam begannen sich die Puzzleteile in seinem Kopf zu einem Bild zusammenzufügen.

»Wie ist er dann heruntergekommen?«

Der Notarzt hob eine Augenbraue. »Pfeiffer? Oder der Tote?« Er blinzelte. »Pfeiffer hat den Halt verloren und ist an seiner Sicherungsleine nach unten gesegelt. Einer der Schauspieler ist dann hoch und hat den Toten heruntergeholt.«

Beck, der die Erheiterung des Mediziners nicht teilen konnte, nickte knapp. Der Arzt riss sich zusammen.

»Verzeihen Sie. Galgenhumor. Passiert mir immer, wenn mir etwas an die Nieren geht.«

Beck winkte ab. »Schon gut. Welcher von ihnen war es?«

Der Notarzt deutete auf einen großen, breitschultrigen Mann mit langen braunen Locken, der mit seinen Kollegen am Kai stand. Er trug ein weites weißes Hemd, dazu Lederjeans und Cowboystiefel.

»Tillmann Röder. Der ist ein richtiger Star. Keine Ahnung, was der hier macht. Ist eigentlich ein paar Nummern zu groß für so eine Provinzproduktion.« Dr.Jürgensen verzog den Mund, anscheinend ärgerlich über sich selbst, weil er schon wieder ins Plaudern geriet. Dann fiel ihm etwas ein, und er sah zwischen dem Schauspieler und dem Leichnam hin und her. »Der Tote hier war wohl sein Schwager«, ergänzte er.

Paul Beck ließ den Blick über die kleine Versammlung auf der Mole schweifen. Acht Männer und fünf Frauen, wenn er richtig gezählt hatte. Und darunter ein Mörder. Oder eine Mörderin.

Der uniformierte Beamte überquerte mit wiegenden Schritten die Gangway. Er marschierte über das Deck auf Beck zu und nahm Haltung an.

»Die Besatzung ist von Bord. Die Personalien sind aufgenommen.«

Beck lächelte ihn milde an.

»Danke, Kollege«, sagte er. »Dann stellen Sie sich doch bitte dazu und warten, bis jemand kommt und Ihre Aussage aufnimmt. Immerhin haben Sie ja den Toten entdeckt, nicht wahr?«

Der Uniformierte setzte eine gewichtige Miene auf.

»Ja. Das war ich. Und ich denke, wir werden diesen Fall schnell klären. Schließlich waren zum Zeitpunkt der Tat nur die Leute da unten auf der ›Pippilotta‹.« Er deutete auf das Filmteam am Kai.

Beck wechselte einen raschen Blick mit dem Notarzt. Dann schaute er Arndt Pfeiffer wieder an.

»Und wo waren Sie?«

»Ich war auch an Bord. Wir sind mit dem Schiff aus Dänemark rübergekommen. Da haben wir gestern und vorgestern gedreht.«

»M-hm.« Beck zog seine Pfeife aus der Tasche, schob sie in den Mundwinkel und musterte den Schauspieler eindringlich. Der lief rot an.

»Nun machen Sie aber mal einen Punkt!«, ereiferte er sich. »Sie denken doch nicht, dass ich etwas mit der Sache zu tun habe? Immerhin sind wir Kollegen!«

Beck kaute auf seiner kalten Pfeife.

»Ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen«, erklärte er. »Ich habe überhaupt kein schauspielerisches Talent.«

Der Notarzt kicherte. »Das macht doch nichts«, bemerkte er. »Das braucht man heutzutage beim Fernsehen nicht mehr.«

Pfeiffer zog ein empörtes Gesicht. Dann drehte er sich abrupt um und stiefelte von Bord. Dr.Jürgensen sah ihm grinsend hinterher.

»Was hat er denn?«, fragte er scheinheilig.

Beck steckte seine Pfeife zurück in die Manteltasche und beugte sich über den Toten.

7

Paul Beck ging zu der Gruppe, die sich auf der Mole versammelt hatte.

»Moin«, sagte er. »Wer ist denn hier der Chef?«

Die Anwesenden tauschten teils verwirrte, teils spöttische Blicke. Schließlich trat einer von ihnen vor, ein hagerer, schwarz gekleideter Mann mit zerzausten Haaren und Hornbrille.

»Einen Chef gibt es hier nicht«, erläuterte er. »Aber ich bin der Regisseur.« Er streckte die Hand aus. »Dominik Voigt.«

»Kriminaloberkommissar Paul Beck«, stellte Beck sich vor und nahm die angebotene Hand. »Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.«

Der Regisseur musterte Beck.

»Das ist ja wohl das Mindeste«, moserte er. »Wir haben einen Kollegen verloren. Und ich darf doch wohl davon ausgehen, dass Sie alles daransetzen werden, seinen Mörder zu finden?«

Beck hob die Augenbrauen.

»Selbstverständlich«, erwiderte er. »Ich wollte mein Anliegen nur höflich formulieren.«

»Für Etikette haben wir keine Zeit«, winkte Voigt ab. »Wir müssen so schnell wie möglich weiterarbeiten. Und ich nehme an, das können wir erst, wenn Sie mit der Untersuchung des Tatorts fertig sind?«

»Das ist korrekt«, entgegnete Beck steif. Es war schlimm genug, dass mittlerweile jeder Fernsehzuschauer glaubte, durch den regelmäßigen Konsum von TV-Krimis fundierte Kenntnisse über die Arbeit der Polizei zu besitzen. Die Vorstellung, sich jetzt nicht nur mit den Konsumenten, sondern mit einer ganzen Riege jener selbst ernannten Experten herumschlagen zu müssen, die diese Pseudorealität produzierten, behagte ihm überhaupt nicht. Aber ihn fragte ja niemand.

»Erklären Sie mir doch bitte, was passiert ist«, sagte er.

Voigt gestikulierte wild in Richtung des Gaffelschoners.

»Wir hatten für heute den ›Inciting Incident‹ geplant. Den Auslöser für alles, was im weiteren Verlauf der Geschichte folgt. Den Moment, in dem aus dem Spiel Ernst wird.« Er machte eine Handbewegung, die die gesamte Schleimündung umfasste. »Das Schiff läuft in den Hafen ein. Die Mannschaft holt die Segel runter. Dabei entdeckt man den Toten am Mast. Die Kripo wird informiert und erscheint in Gestalt von Polizeioberwachtmeister Radtke.«

»Polizeiobermeister«, korrigierte Beck. »Und er ist nicht bei der Kripo, sondern bei der Schutzpolizei. Die Kripo trägt keine Uniform.«

Voigt blinzelte ihn irritiert an.

»Dann ist er eben nicht bei der Kripo. Das ist doch völlig egal. Jedenfalls ist er der Dorfbulle. Er kommt und untersucht den Fall.«

Beck rückte seinen Bowler zurecht. »Das darf er gar nicht.«

»Mann Gottes!« Der Regisseur schnaubte. »Ich will mit Ihnen nicht über unser Setting diskutieren. Wir haben Sie schließlich nicht als Berater hergeholt. Sie sollen herausfinden, wer unserem Kollegen das angetan hat.«

»Das werde ich«, erwiderte Beck.

Dominik Voigt atmete tief ein.

»Also«, fuhr er fort. »Polizeioberwacht… Polizeiobermeister Radtke kommt an Bord. Er klettert über die Strickleiter in den Mast.«

»Die Wanten«, sagte Paul Beck leise.

»Bitte?« Voigt funkelte ihn an.

»Die Strickleiter. Das sind Webleinen, die man in die Wanten knotet. Wie die Sprossen einer Leiter.«

»Das sage ich doch!«, rief der Regisseur entnervt. »Also. Radtke– das heißt, Arndt Pfeiffer, der den Polizei…ober…meister Radtke spielt–, schließlich wollen wir ja genau sein, nicht wahr?«

»Das wollen wir.«

»Pfeiffer klettert nach oben und entdeckt, dass es Oliver Kaufmann ist, der da oben an dieser Strebe hängt. Das heißt: Polizeiobermeister Radtke sieht, dass der Dorfapotheker Wolfram Winkler, gespielt von Oliver Kaufmann, von der Stange baumelt.«

»Rahe«, sagte Beck. »Diese Strebe da heißt Rahe. Sie dient dazu, die Breitfock zu befestigen.«

»Fein.« Voigt sah aus, als würde er jeden Moment aus der Haut fahren. »Er bemerkt also, dass Kaufmann an der Rahe mit der Breitfock hängt. Und dass er eine Henkerschlinge um den Hals hat.«

Der Regisseur schluckte, und seine ganze Empörung verpuffte plötzlich.

»So weit alles nach Drehbuch. Nur dass die Henkerschlinge natürlich ein Requisit ist. Tatsächlich sollte Kaufmann mit seinem Klettergeschirr an einer Sicherungsleine hängen. Aber die Leine ist gerissen. Oder«, er wandte sich um und ließ seinen Blick über die kleine Gruppe auf der Mole schweifen, »irgendjemand hat sie durchgeschnitten. Und Kaufmann ist von der Henkerschlinge erwürgt worden.«

Paul Beck öffnete den Mund, um »erdrosselt« zu sagen und räusperte sich stattdessen. Entgegen den Darstellungen in diversen Fernsehkrimis gehörte es nicht zum guten Ton einer Vernehmung, den Zeugen zu provozieren.

»Mein Beileid«, sagte er. »Das war sicher ein Schock für Sie.«

»Danke.« Der Regisseur presste die Lippen aufeinander.

»Trotzdem müssen wir so schnell wie möglich die Aussagen von Ihnen und Ihren Kollegen aufnehmen. Sobald wir einen geeigneten Raum haben«, fuhr Beck fort. »Vielleicht hat jemand etwas beobachtet. Oder womöglich eine Idee, weshalb Kaufmann das angetan wurde.«

Voigt kniff die Augen zusammen. »Pluralis Majestatis?«

»Nein«, erwiderte Beck. »Ich warte auf ein paar Kollegen. Und natürlich kommen auch noch die Rechtsmedizin und die Spurensicherung.« Er legte den Kopf schief, und dann konnte er es sich doch nicht verkneifen, hinzuzufügen: »Genau wie im Fernsehen.«

***

Cornelius Christensen betrachtete Gerhard Tegtmeier, der missgelaunt zu Voigt und dem Clown mit dem Lodenmantel und dem schwarzen Bowler hinübersah.

»Warum spricht der ausgerechnet mit Voigt?«, beschwerte sich Tegtmeier. »Der hat doch die ganze Zeit nur daneben gestanden und geglotzt.« Er strich sich durch die spärlichen blonden Haare. »Du bist in den Mast geklettert und hast ihn dir angesehen. Und Tillmann hat ihn runtergeholt.«

Christensen winkte ab.

»Ich drängel mich nicht vor. Und Tillmann…«, er neigte seinen Kopf in Richtung von Röder, der mit versteinerter Miene am Kai stand, »…hat genug damit zu tun, sich zu überlegen, wie er seiner Frau beibringt, dass jemand ihren Bruder aufgehängt hat.«

»Ein Herz und eine Seele waren die beiden ja nicht«, warf Tegtmeier ein.

Christensen strich sich über die Wange, die sich stoppelig anfühlte. Tatsächlich hatte es vom ersten Tag der Dreharbeiten an ständig Streit gegeben. Was vor allem an Kaufmann gelegen hatte, der seinen Schwager bei jeder Gelegenheit aggressiv angegangen war. Sein Neid auf den erfolgreichen Kollegen war kaum zu übersehen gewesen. Röder hatte sich um höfliche Geduld bemüht, aber er war nicht der Typ, der stillhielt, wenn man ihm auf die Füße trat.

»Tillmann und Olli? Nee. Sicher nicht«, gab er zu. Röder war ein paarmal fuchsteufelswild geworden. »Aber Tillmann vergöttert seine Frau«, ergänzte er. »Und die liebt ihren Bruder.« Kaufmanns Tod würde sie tief treffen. Und Röder würde sicher versuchen, seine eigenen Gefühle zurückzustellen, um seine Frau aufzufangen.

Tegtmeier brummte zustimmend. Dann wandte er sich um und sah zu der Fahrzeugkolonne, die von Norden her auf den Liegeplatz der »Pippilotta« zukam. Es waren ein Streifenwagen, ein fabrikneuer Ford Mondeo und ein Leichenwagen, die auf der Kreuzung vor der Klappbrücke nach rechts abbogen und auf der Mole anhielten.

Ein Beamter und eine Beamtin in Uniform, zwei Bestatter in schwarzen Anzügen und ein Mann und eine Frau in Zivil stiegen aus und versammelten sich vor dem Gaffelschoner. Der Kommissar mit dem Bowlerhut ließ Voigt stehen und wandte sich ihnen zu.

Gerhard Tegtmeier linste neugierig zu der Gruppe hinüber.

»Offenbar ist das in Wirklichkeit nicht so simpel wie bei uns«, bemerkte er scherzhaft. »Da kommt nicht nur der ›Bulle‹ und löst den Fall. Da braucht es mehr Leute, als unser Produzent bezahlen könnte. Wenn wir schon nebenbei die Matrosen spielen müssen, weil das Budget nicht für ein paar Darsteller aus der dritten Liga reicht.«

Cornelius Christensen lachte. Dann wurde er schnell wieder ernst.

Egal, wie sehr er versuchte, es zu verdrängen und mit spöttischen Kommentaren ins Lächerliche zu ziehen. Dies hier war kein Spiel. Es war bittere Realität.

***

Paul Beck begrüßte die Neuankömmlinge. Polizeihauptmeister Michael Krüger und Polizeiobermeisterin Franziska Schmidt von der Polizei-Zentralstation Kappeln. Die beiden Männer des Kappelner Bestattungsinstituts. Und Kriminalhauptkommissar Klaus Dreyer und seine Kollegin, Kriminalkommissarin Heike Neumann, vom SG1 der Kriminalpolizeistation Schleswig.

Klaus Dreyer, ein drahtiger kleiner Mann mit ebenso drahtigen grauen Haaren, drückte Beck die Hand. Auch der Anzug, den er trug, war grau.

»Wieso ist die Mordkommission schon da, bevor wir vom Sachgebiet eins uns die Sache angesehen haben?«, erkundigte er sich.

»Weil der Notarzt direkt in Flensburg angerufen hat«, erwiderte Beck, der wusste, dass Dreyer es nicht leiden konnte, übergangen zu werden. »Und ich hatte den kürzesten Weg.« Er deutete über die Klappbrücke zur gegenüberliegenden Seite der Schlei, wo hinter den Wiesen am Ufer ein paar vereinzelte Häuser zu sehen waren. »Ich wohne gleich da drüben.«

»M-hm«, knurrte Dreyer und fasste die uniformierten Kollegen ins Visier. »Und weshalb kommt die Schutzpolizei erst jetzt?«

»Wir hatten einen Verkehrsunfall«, erklärte die Beamtin, eine große Frau mit langen blonden Haaren, die sie im Nacken zu einem Knoten zusammengefasst hatte.

»So?« Dreyer, der zu ihr aufsehen musste, kniff die Augen zusammen. »Sind Sie gegen einen Baum gefahren?«

Die Polizeiobermeisterin schnaubte belustigt.

»Nicht wir hatten den Unfall«, erläuterte sie. »Das war eine dänische Familie, die einem Reh ausgewichen und im Graben gelandet ist. Wir haben den Schaden nur aufgenommen.«

»Aha.« Dreyer schaute auf das Namensschild der Beamtin. »Sehr interessant, Polizeiobermeisterin Schmidt.« Er legte den Kopf schief. »Dann schlage ich vor, Sie sichern jetzt den Tatort und halten die Personalien der Zeugen fest.«

»Der Bereich hier ist schon abgesperrt«, mischte sich der uniformierte Kollege ein und deutete auf das rot-weiße Flatterband, das in einem Abstand von vielleicht zehn Metern um die »Pippilotta« herum aufgespannt worden war. »Das haben die Leute vom Film erledigt.«

»Und die Personalien hat Polizeiobermeister Radtke aufgenommen«, ergänzte Paul Beck.

Die beiden Schutzpolizisten sahen ihn verwirrt an. »Wer?«

Beck deutete auf den Schauspieler, der zusammen mit seinen Kollegen auf der Mole stand.

Kriminalkommissarin Heike Neumann, die Frau in Zivil, die neben Hauptkommissar Dreyer stand, blickte zu der Gruppe hinüber. Beck kannte sie bereits von früheren Fällen und hatte sie als aufgeschlossene und umgängliche Kollegin in Erinnerung. Sie trug ein Kostüm, das sicher nicht ganz billig gewesen war. Die Farbe –ein leuchtendes Babyblau– traf hingegen nicht Becks Geschmack.

»Das ist doch ein Schauspieler«, sagte sie und strich über ihre halblangen braunen Haare, die sie mit einer Spange am Hinterkopf festgesteckt hatte. Was angesichts des stürmischen Winds eine gute Idee war, ihr rundliches Gesicht allerdings unvorteilhaft betonte. »Den kenne ich. Der heißt… Warte mal…«

»Arndt Pfeiffer«, half Beck.

Heike Neumann schnippte mit den Fingern. »Genau!«

Hauptkommissar Dreyer runzelte die Stirn.

»So geht das ja nicht. Wir lassen doch keine Zivilisten unsere Arbeit machen.« Er schaute zu Pfeiffer. »Auch dann nicht, wenn sie eine Uniform tragen.«

»Natürlich nicht«, bestätigte Beck.

»Also.« Klaus Dreyer musterte erst Franziska Schmidt, dann ihren Kollegen. Er war schon älter, hatte eine birnenförmige Figur und eine auffallend große Nase. »Polizeiobermeisterin Schmidt und Polizeihauptmeister…«

»Krüger«, sagte der Beamte. »Michael Krüger.«

Dreyers Lippen kräuselten sich, aber bevor er etwas sagen konnte, hob Krüger abwehrend die Hände.

»Bitte. Den Witz mit Mike Krüger habe ich schon oft genug gehört.«

»Schade.« Dreyer legte den Kopf schief. »Die Ähnlichkeit ist wirklich frappierend.«

»Wie man’s nimmt.« Krüger nahm die Dienstmütze ab und strich seine halblangen Haare zurecht. Früher waren sie vermutlich blond gewesen. Inzwischen waren sie überwiegend grau und bildeten einen Kranz um die kahle Stelle oben auf Krügers Kopf. »Ich glaube, mein prominenter Namensvetter hat mehr Haare. Und weniger Bauch.« Er setzte die Mütze wieder auf.

Dreyer wedelte ungeduldig mit der Hand.

»Ist ja auch egal. Sie stellen die Personalien fest. Und Heike und ich«, er deutete auf seine Kollegin, »nehmen die Aussagen auf.« Er schaute zu Beck, der seinerseits Heike Neumann beobachtete. Sie wirkte, als sei ihr das großspurige Auftreten ihres Kollegen unangenehm.

»Natürlich nur, wenn das in deinem Sinne ist«, fügte Dreyer an Beck gewandt hinzu.

»Absolut«, sagte Beck und meinte es auch so. In einer Situation wie dieser mit einem spektakulären Mord, einer größeren Gruppe von Zeugen und einem Tatort, der untersucht werden musste, war es notwendig und sinnvoll, die Arbeit aufzuteilen.

»Gut«, sagte Dreyer. »Dann machen wir das so.«

Krüger und Schmidt nahmen das als Auftrag und gingen zu der kleinen Gruppe, um die Personalien zu erfassen. Dreyer und Neumann folgten ihnen, um die erste Befragung durchzuführen. Beck wandte sich an die Männer vom Bestattungsunternehmen.

»Das dauert leider noch eine Weile«, erklärte er. »Wir müssen auf den Rechtsmediziner aus Kiel warten. Bevor er sich den Toten nicht angesehen hat, können Sie ihn nicht abtransportieren.«

»Kein Problem«, sagte der ältere der beiden Männer und deutete auf die Häuserzeile am Ufer jenseits der Klappbrücke, hinter der sich das Stadtzentrum befand. »Wir holen uns solange bei Föh einen Räucherfisch.« Er zog eine Karte aus der Jackentasche und reichte sie Beck. »Da steht meine Handynummer drauf. Rufen Sie einfach an, wenn Sie so weit sind.«

Beck nickte und steckte das Kärtchen ein. Die beiden Bestatter marschierten über den Parkplatz, überquerten an der Ampel die Straße und gingen an »Outdoor Ole« vorbei in Richtung Innenstadt. Beck sah ihnen nach und überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Schnellstmöglich die Angehörigen des Toten informieren? Oder lieber die Ergebnisse der ersten Befragungen abwarten?

Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, weil sich eine neue Fahrzeugkolonne der »Pippilotta« näherte. Es waren drei weiße ungekennzeichnete VW-Busse. Beck erkannte Jan Böttcher, den stellvertretenden Leiter des Kommissariats für Kriminaltechnik, Erkennungsdienst und IT-Beweissicherung, hinter einer der Scheiben. Obwohl er fast vierzig war, wirkte Böttcher mit seinem schmalen, fast bartlosen Gesicht jungenhaft. Das volle blonde Haar, das ihm in einer schwer zu bändigenden Tolle in die Stirn fiel, verstärkte diesen Eindruck noch. Auf seiner ebenfalls schmalen Nase saß eine Brille mit einem leuchtend roten Gestell.

Böttcher hüpfte aus dem Bus, kaum dass der Fahrer den Wagen zum Stehen gebracht hatte, und kam auf Beck zu. Sein Team von der Spurensicherung vom K6 der Bezirkskriminalinspektion Flensburg folgte ihm.

»Moin, Paul«, sagte Böttcher und schaute zu den Kollegen, die sich mit den Schauspielern beschäftigten. »Mein Beileid.«

»Wozu?«

»Dass sie dir den Schleswiger Wadenbeißer geschickt haben.«

Beck wandte den Kopf in Richtung des Beamten vom SG1 der Kriminalpolizeistation Schleswig.

»Du meinst Dreyer? Der ist schon in Ordnung.«

»Klar.« Böttcher grinste. »Aber scharf.«

Einer seiner Kollegen reichte ihm einen der weißen Tyvek-Anzüge, und Böttcher stieg hinein. Auch die anderen Beamten von der Spurensicherung schlüpften in ihre Schutzkleidung. Dann machten sie sich bereit, das Schiff zu entern.

***

Paul Beck sah unschlüssig zwischen den weiß gekleideten Gestalten, die ihre Ausrüstung aus den Bussen luden, und der Gruppe der Schauspieler und Polizisten auf der Mole hin und her. Er hasste diese ersten Momente einer Mordermittlung, in denen er im Grunde überflüssig war. Solange ihm die Kollegen der zuständigen Kriminalpolizeistation den Fall nicht offiziell übergeben und Spurensicherung und Rechtsmedizin ihre Arbeit nicht abgeschlossen hatten, konnte er nicht viel tun. Er brauchte Informationen, um sich ein Bild von einem Fall zu machen. Bis dahin blieb ihm nur, die Angehörigen zu informieren und ihnen sein Beileid auszusprechen. Und das verabscheute er noch mehr als das Herumstehen, während die Spürhunde nach Fährten suchten.

Er hob den Blick und schaute den Möwen zu, die wieder die Masten der »Pippilotta« umkreisten. Wie Geier, die darauf warteten, ein Stück vom Kuchen zu bekommen. Oder, richtiger gesagt: vom Kadaver. Etwas Weißes klatschte plötzlich vor ihm auf den Boden, und Beck machte eilig einen Schritt zurück. Fast hätte ihm einer der Vögel auf den Kopf geschissen. Beck suchte den Himmel mit den Augen nach dem flüchtigen Übeltäter ab, doch die Möwe hatte sich bereits wieder unter ihre Artgenossen gemischt.

Beck zog sein Mobiltelefon hervor und wählte die Nummer, die ihm der Regisseur gegeben hatte. Von Konstanze Kaufmann-Röder. Der Schwester des Toten.

Er ließ es lange klingeln, aber der Ruf ging ins Leere. Nicht einmal der Anrufbeantworter sprang an.

Beck drückte die Verbindung weg und tippte stattdessen die Handynummer ein. Das war keine gute Lösung, wenn die Frau gerade im Supermarkt an der Käsetheke stand oder womöglich an der Ampel einer viel befahrenen Straße und dort vom Tod ihres Bruders erfuhr. Aber er konnte es nicht ändern.