Der die Nacht erhellt - Amanda Dykes - E-Book

Der die Nacht erhellt E-Book

Amanda Dykes

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Beschreibung

Frankreich zur Zeit des Ersten Weltkriegs: Alle Hoffnung ruht auf dem amerikanischen Soldaten Matthew Petticrew und seinen Kameraden. Während der Kampf an der Front ihm alles abverlangt, findet Matthew Trost in einem Lied, gesungen von einer Stimme, die so klar ist, dass sie eigentlich nur Einbildung sein kann. Doch in den Schützengräben verbreitet sich das Gerücht von einer geheimnisvollen Frau, die heilsame Spuren hinterlässt ... In der Wildnis des Argonner Forsts aufgewachsen und noch dort zu Hause, wird Mireilles Welt erschüttert, als der Krieg Einzug hält und ihr alles raubt, was ihr wichtig ist. Als Matthew und Mireille aufeinandertreffen, beginnt eine Reise, die alles verändert ...

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Über die Autorin

Amanda Dykes liebt es, sich bei einer guten Tasse Tee auf die Suche nach den richtigen Worten für ihre Geschichten zu machen, die von der ersten bis zur letzten Zeile Hoffnung atmen. Die ehemalige Englischlehrerin hat bereits mehrere Erzählungen veröffentlicht, die unter anderem von „Publishers Weekly“ hochgelobt wurden. Ihr Debütroman Der Wind und Wellen lenkt wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem renommierten Christy Award als „Buch des Jahres 2020“.

Für meinen geliebten Ben,den Jungen aus dem Stall.Was für ein Geschenk, meinen Weg an deiner Seite gehen zu dürfen!Und für die vier Millionen Männer, die im Ersten Weltkrieg an der Westfront in Frankreich gekämpft haben. Euer Weg war schwerer, als wir uns jemals vorstellen können, euer Leben bedeutungsvoller, als sich in Worte fassen lässt.

Landkarte

Belgium Belgien

Meuse River Maas

Western Front of the Great War Westfront im Ersten Weltkrieg

To Strait of Dover Zur Meerenge von Dover

France Frankreich

Beaulieu-en-Coteau Beaulieu-en-Coteau

Fontaine d’Argonne Fontaine d’Argonne

Argonne Forest Argonner Forst

Verdun Verdun

ÉpermayÉpermay

River MarneMarne

ParisParis

River SeineSeine

Châlons-sur-MarneChâlons-sur-Marne

St. MihielSaint-Mihiel

ProvinsProvins

To Germany Nach Deutschland

To Bordeaux Nach Bordeaux

Chaumont Chaumont

Dir gehört der Tag und auch die Nacht, du hast die Sonne und den Mond geschaffen.Psalm 74,16

Prolog

24. Oktober 1921Châlons-sur-Marne, FrankreichZeremonie zur Wahl des Unbekannten Soldaten

Es gibt Tage, die durchlebt man immer und immer wieder, solange man lebt. Für mich war ein solcher Tag der 24. Oktober 1918, wenige Tage bevor der nicht enden wollende Krieg tatsächlich zu Ende ging. An diesem Tag betrat ich einen Dschungel der Finsternis, ohne die geringste Vorstellung, was mir dieser Ort abverlangen würde. Auf den Tag genau vor drei Jahren.

Und jetzt standen vier Särge vor mir.

Wir waren damals vier ausgemachte Simpel gewesen, bewaffnet mit Bajonetten und Feldflaschen und einer Mission, von der wir nicht wussten, wie wir sie ausführen sollten. Einer Mission, die wichtiger war, als wir zu jener Zeit begriffen, und die uns alle verändern würde.

Jetzt war ich nur Beobachter bei der feierlichen Zeremonie, bei der ein Mann in Uniform nicht zum Bajonett griff, sondern zu einem Bouquet. Eine Handvoll Rosen – weiße Rosen. Strahlend weiße. Ohne jede Spur von dem Scharlachrot, von dem wir alle zu viel gesehen hatten. Langsam schritt er die Reihe von Särgen ab, die die Überreste von so viel Leben enthielten. Niemand wusste, wen die Kisten bargen. Und dabei kannte jeder tausend Kameraden, Brüder, Freunde, die es sein konnten.

Wir waren da keine Ausnahme. Ich stand Schulter an Schulter mit zwei meiner Kameraden aus dieser Zeit. Wir hatten alles Erdenkliche miteinander erlebt, damals. Wir hatten einander in unseren besten und in unseren schlimmsten Momenten gesehen. Wir hatten einander verachtet und einander gebraucht und hatten das vom Kampf verwüstete Land mit einem vom Kampf verwüsteten Herzen verlassen. Einen von uns hatten wir zurückgelassen – damals, in diesem Wald. Und obwohl wir nie erfahren würden, wer in diesen Särgen lag, fragte sich jeder von uns: Ist er es?

Der Mann vor uns ging ein weiteres Mal an den Kisten entlang und wählte dann eine aus. Er legte den Rosenstrauß auf den Sarg, der im Anschluss an die Zeremonie per Schiff in die Hauptstadt unseres Landes zurückgebracht werden würde – ins Vaterland des Unbekannten Soldaten –, um dort beigesetzt zu werden. Und die ganze Zeit über würde er bewacht werden und in Sicherheit sein. Beschützt vor Krieg, vor Verlust, vor all den Grausamkeiten, denen der, der darin lag, einst begegnet war.

Und so … würde der Soldat unserem Volk etwas zurückbringen. Etwas, was auch wir vor einer gefühlten Ewigkeit an jenem Tag aus dem Wald mitgebracht hatten.

Hoffnung.

Dies ist unsere Geschichte.

Möge sie nie vergessen sein.

1

Matthew Petticrew

1900Greenfield, New York

Regeln:

1) Bleib von der Rennbahn weg, du Tollpatsch! Das sagt Mr MacMannus. Er sagt, wenn der Rennstall Maplehurst das Kronjuwel der Vollblutzucht ist, dann ist der Dreck, von dem du glaubst, du kannst einfach drauf rumrennen, in Wahrheit pures Gold.

2) Zwischen vier und fünf die Hühner und die Pferde füttern, und wenn du früher fertig bist, draußen bleiben und spielen. Nicht vor fünf ins Verwalterhäuschen zurückkommen. Und ja nicht über diesen Golddreck rennen!

Ich blätterte mein altes Notizbuch durch, in dem diese beiden Regeln festgehalten waren. Ich war fünf – fast sechs – gewesen, und ich hatte sie mithilfe von Mr Haggerty, dem Gärtner, aufgeschrieben, um sie nicht zu vergessen. Denn wenn ich sie vergaß, würden schlimme Dinge passieren. Er hatte mich ein bisschen verwundert angesehen, als ich ihm sagte, wie die Regeln lauteten, aber dann hatte er die schwierigen Wörter für mich aufgeschrieben, bevor er sich wieder seinen Rosen widmete.

Die Regeln waren eigentlich gar nicht so schlecht. Der Rest der grünen Hügel von Greenfield Springs, New York, stand mir offen und der größte Teil des Rennplatzes auch. Aber heute Abend – heute Abend gab es noch eine weitere Regel.

„Geh zu Mrs Bluet und bleib heute Nacht dort“, hatte Mutter gesagt. „Du kennst doch den Weg?“ Sie hatte gelächelt und war gleichzeitig zusammengezuckt, hatte sich über den gewölbten Leib gestrichen, bevor sie mir mit der Hand durchs Haar fuhr. Ich war bestimmt nicht der Hellste, aber ich merkte, dass etwas anders war. Ihr Atem kam schnell, manchmal aber auch überhaupt nicht, als hätte man sie dabei erwischt, dass sie über die Rennbahn lief.

Ihre Hand fühlte sich härter an als sonst, und ihr Lächeln war gequält. Etwas stimmte nicht. Ihr Lächeln war immer tief und breit, vielleicht das Tiefste und Breiteste, was ich kannte.

Also packte ich ein sauberes Hemd ein, wie sie gesagt hatte, nachdem sie mir einen Kuss auf den Scheitel gedrückt hatte. Aber draußen hockte ich mich unter ihr Fenster, statt zur Köchin im Haus von Mr MacMannus zu gehen. Mir gefiel es dort nicht. Es hieß zwar auch Maplehurst, wie der Rennstall, und das klang süß wie Sirup. Aber trotz all der eleganten Räume und der Menschen in Anzügen und modischen Kleidern, die sich immer dort einfanden, fühlte sich das Haus für mich schrecklich kalt und gar nicht süß an. Aus Versehen hatte ich es einmal Maplehurtsgenannt, als ich in der Küche saß und einen Sirupkeks aß. Mrs Bluet hatte mich mit hochgezogenen Augenbrauen und Mehl im Gesicht angesehen und gesagt: „Also, mein junger Freund, wenn das nicht das Zutreffendste ist, was ich je gehört habe.“

An diesem Abend wollte ich nicht dorthin gehen. Ich wollte nicht in der Nähe von Mr MacMannus und seinen Regeln und seinem großen kalten Haus sein. Ich wollte nicht weg sein von Mutter. Sie brauchte mich. Das konnte ich spüren.

Nur einmal schaute ich durchs Fenster nach drinnen, wo eine Öllampe so schwach flackerte, dass ich kaum etwas sehen konnte. Mutter lag im Bett. Ihr Gesicht war so verzerrt, dass es mir wehtat, sie anzusehen, und ihre Wangen waren nass von Tränen.

Das war der Abend, an dem ich die Flamme zum ersten Mal spürte. Ich nannte es „die Flamme“, denn es brannte in meiner Brust, genau da, wo mein Herz war – wie Mrs Bluet mir erklärt hatte.

Ich habe einmal gesehen, wie sie im Steinbruch hinter den Hügeln Dynamit zündeten. So wie der Funke die Zündschnur entlangläuft bis zu der Stelle, wo es explodiert, so fühlte ich mich. Ein heißer Funke in mir – und zwischen mir und Mutter eine Schnur. Aber ich durfte ja nicht ins Haus, durfte den Funken nicht in das kleine Haus tragen und drinnen explodieren und ihren Schmerz verscheuchen lassen.

Zwei Frauen kamen, aber sie redeten so leise miteinander, dass ich sie nicht verstehen konnte. Mutter sagte immer, Hören sei meine besondere Gabe, denn ich konnte Dinge hören, die andere nicht hörten. Und trotzdem, so sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte nicht verstehen, was sie drinnen – in besorgtem Tonfall – redeten. Eine der Frauen lief immer hin und her, brachte Tücher und heißes Wasser, während die andere bei Mutter saß und mit ihr sprach und ihr die Hand hielt. Schließlich wurden Mutters Schreie zu einem Stöhnen, das sich in dein Innerstes graben und dich aushöhlen konnte. Was war denn da los?

Das Stöhnen wurde lauter und länger, bis die Flamme in mir erloschen war, erstickt unter einer Decke aus Angst, die so schwer war, dass ich nicht wusste, ob ich bleiben oder wegrennen sollte.

Also fing ich an, laut zu beten, so wie wir es sonntags taten. Mutter legte mir dann immer ihre weiße Decke um die Schultern und las mir am Tisch vor dem Fenster, unter dem ich jetzt hockte, aus der Bibel vor. An diesen Tagen backte sie immer etwas Besonderes, zum Beispiel einen Apfelkuchen, der gerade groß genug für mich war und den ich ganz allein essen durfte; oder Essigquiche, die wir uns teilten. Sonntags fühlte ich mich wie ein König, wenn ich so in diese Decke gehüllt dasaß – als wäre es ein roter Umhang, wie Könige ihn tragen, nur dass meiner so alt und so oft gewaschen war, dass er viel weicher war als jeder Königsumhang.

Aber an allen anderen Tagen der Woche war Mutter still und abends meistens voller Sorgen, und ihre Gebete waren stumm wie meine auch.

Jener Abend war ein Dienstag. Zum ersten und einzigen Mal, an das ich mich erinnern kann, betete ich an einem Dienstag laut. Das kürzeste Gebet – es reimte sich nicht und hörte sich auch nicht besonders richtig an, aber es war das wahrhaftigste Gebet, das ich je gesprochen hatte.

„Gott im Himmel, hilf ihr.“ Ich kniff die Augen so fest zusammen, dass es mein Gebet hochgeschleudert und lauter gemacht haben muss. Es musste einfach so sein. Ich wiegte mich im Rhythmus der Worte und sprach sie noch einmal. Und noch einmal und noch einmal und noch einmal, meine Worte vermischten sich mit ihrem Stöhnen, bis ihr Schreien verstummte und ein anderes, schwächeres Schreien zu hören war. Das Schreien eines Babys.

Dann passierte etwas Merkwürdiges. Seit jenem Moment habe ich es nie wieder empfunden und werde es vielleicht auch nie mehr spüren. Aber als ich mich von meinen Knien aufrappelte und mich am Fensterbrett festklammerte, die Fingernägel voller Erde, und in das golden leuchtende Zimmer hineinspähte, sah ich etwas Vollkommenes.

Mutter, glücklich. Ein Baby im Arm, das in die alte Königsumhangdecke gewickelt war. Und ihr Lächeln, das wieder tief und breit war.

Das war das letzte Mal, dass ich sie sah. Ich ging danach hinauf nach Maplehurst, und als ich am nächsten Morgen aufwachte, saß Mrs Bluet an meinem Bett und hielt meine Hand. Sie sah aus, als sei über Nacht die ganze Welt aus den Fugen geraten. Und als sie mit mir sprach, erfuhr ich, dass es auch so war.

Mutter war von uns gegangen. Sie war in der Nacht gestorben, zu Gott und seinen Engeln gegangen. Uns hatte sie einen winzigen Engel hinterlassen – der nun genau wie ich mutterlos und ohne ein Zuhause war.

2

1914

Der Krieg ließ gerade die Welt in Scherben zerbersten, aber das geschah weit weg, am anderen Ufer des Ozeans. In Maplehurst bebte die Erde jeden Tag, genau um zwölf Uhr mittags. Es begann mit einem leisen Grollen. Ein unregelmäßiges, zitterndes Geräusch, das sich durch den Boden grub und durch meine Adern kroch. Und dann wurde es lauter. Das Dröhnen bekam einen Rhythmus, der Rhythmus wurde zur Kraft, die das Ticken der Uhr an der Wand des Stalls übertönte.

Ich blickte den Gang entlang. Seit dem Morgengrauen hatte ich Heu geschaufelt, die Boxen ausgemistet und Pferdehufe beschlagen. In meinen neunzehn Lebensjahren hatte ich bisher wenig anderes zu sehen bekommen, aber es war ein gutes Leben. Meine Arbeit war getan – fast. Und dieses pulsierende Dröhnen rief nach mir, bis ich ihm gehorchte, den Stall hinter mir ließ und durch die großen weißen Türen lief, im Rhythmus meines Pulsschlags, der sich dem Dröhnen anglich. Ich rannte über die Hügel zum Kamm, bis ich die Staubwolke sah, die aufschwebte, als strecke sie sich aus, um mich zu sehen. Und meine Füße trommelten als Antwort auf die Erde: Ich komme.

Jedes einzelne dieser Pferde kannte ich so gut wie mein immer staubbeschmutztes Gesicht. Seit dem Tag, als Mr MacMannus mich und Celia auf dem Dachboden über den Ställen entdeckt hatte, wo wir uns versteckt hielten, während Mrs Bluet und Mr Haggerty uns abwechselnd Essen brachten und bei uns blieben, sooft es ihnen möglich war. Mr MacMannus hatte uns düster und stumm angestarrt und ein paar Worte zu unseren unfreiwilligen Betreuern gesagt – mächtige und unglückliche Worte. Sie hatten ein paar Worte erwidert – ruhig und fest –, die seinen Ärger anscheinend beschwichtigten oder zumindest tiefer in sein Inneres lenkten, jedenfalls weg von uns.

Seit jenem Tag war ich Stallbursche im Rennstall, und Celia war die kleine Näherin für Notfälle, die im Licht unseres einzigen Fensters Decken und Kleider für Pferde wie für Menschen flickte. Sie nähte, und ich arbeitete Seite an Seite mit den besten Vollblutpferden Neuenglands. „Die besten im ganzen Land“,wie Mr MacMannus gegenüber Besuchern gern kundtat.

Es war kein schlechtes Leben. Wir hatten ein Zuhause. Wir hatten zu essen. Wir hatten den derben Humor von Mr Haggerty, der uns hinter der Scheune ein kleines Stück Land zur Verfügung stellte und mich gern „den Jungen, der in der Scheune geboren wurde“ nannte. „Im Stall“, korrigierte ich ihn lachend, obwohl wir beide wussten, dass weder das eine noch das andere stimmte. Ich wohnte nur in einem Stall, und wenn einer in einem Stall geboren worden wäre, dann träfe es auf Celia eher zu als auf mich. Aber dennoch verspürte etwas in mir einen gewissen Stolz, wenn der Gärtner mich so nannte. Manchmal hatte ich das Gefühl, es müsse wohl wahr sein, dieses Gerede, ich sei in einer Scheune geboren. Denn ich war für dieses Leben geboren.

Mr Haggerty fing an, den Humorteil des Herald für mich zu sammeln, damit ich die Folgen von Das furchtlose Regiment lesen konnte. Es war ein Comicstrip, aber nichts daran war lustig. Ich verfolgte die wagemutigen Abenteuer von Theodore Roosevelt, Jasper Truett und dem Rest der Truppe, die man die Rough Riders nannte, und fragte mich, warum ich nicht zwei oder drei Jahrzehnte früher hatte zur Welt kommen können, um als Mitglied dieses Regiments meine Kühnheit zu beweisen.

Immer wenn Mrs Bluet dachte, einer von uns beiden sei traurig, backte sie Blaubeerkuchen und schob ihn Celia und mir zu. Es war ein Trost, aber irgendwie auch ein Omen. Ich bekam immer ein flaues Gefühl im Magen, wenn ich den süßen Duft roch, denn es bedeutete meist, dass etwas Schwieriges bevorstand.

Wir hatten eine gute Arbeit. Zwar war Mr MacMannus ein unangenehmer Aufpasser, der mir ein- oder zweimal den Allerwertesten gerbte, als Fußspuren auf der Rennbahn zu sehen waren. Ich konnte ihm nicht sagen, von wem sie wirklich stammten. Aber meistens ignorierte er uns – solange wir unsere Arbeit taten und keinen Ärger machten.

Celia hatte Mutters breites, tiefes Lächeln geerbt, und ich konnte ihr gar nicht oft genug von früher erzählen. Sie saugte die Geschichten von Essigquiches und sonntäglichem Vorlesen aus der Bibel auf wie jemand, der lange Zeit zu wenig Luft bekommen hat; vor allem in den langen Nächten, wenn wir unser Nachtlager bei einem kranken Pferd oder einem schwächlichen Fohlen aufschlugen. Auch sie hatte die Tiere lieb gewonnen und war zudem eine bessere Krankenpflegerin als ich. Sie blieb die ganze Nacht wach und kümmerte sich um die Pferde. Und dabei wollte sie stundenlang Geschichten hören. Sie hatte ein Händchen dafür, verängstigte Tiere zu beruhigen, ihnen die Angst und den Schmerz zu nehmen und ihre Wunden zu versorgen.

Und Mr MacMannus hielt sich von uns fern. Ich sah ihn immer nur auf der anderen Seite der Rennbahn, wenn ich rechtzeitig ankam, um die Pferde bei den Trainingsrennen zu sehen, jenem täglichen Erdbeben, das mich rief. Jahrelang hatte ich irgendwo aus der Ferne zugesehen, aber im Lauf der Zeit traute ich mich, näher zu kommen. Ich fand einen Platz am Zaun, der etwas verborgen unter einem Baum war, wo ich meine Arme über die Balken legen und den Staub schmecken konnte, wenn die Pferde mit voller Kraft auf die Ziellinie zustrebten.

Wie viel Zielstrebigkeit sie hatten! In ihren Augen sah ich diese nur auf eines gerichtete, im Feuer gestählte Entschlossenheit. Ich konnte sie fast hören; das gleichmäßige Donnern der Hufe hämmerte mir die eine Wahrheit ein, die Maplehurst mich gelehrt hatte: Mach einen Plan. Bei jedem Unglück – mach einen Plan. Für jede Ungewissheit – mach einen Plan. Die Hufschläge und die Worte fraßen sich in mich hinein. Mach einen Plan. Mach einen Plan. Mach einen Plan.

Ich besaß keine zwei Pennys und hatte nicht viel Bildung im Kopf, aber ich konnte zumindest vorbereitet sein. Worauf auch immer.

„Matty!“ Celias Stimme folgte mir den Hügel hinauf. „Matty, warte!“

Meine Füße drängten mich zwar vorwärts, aber in mir bremste etwas ab und katapultierte mich in eine Zwickmühle. „Ja, was ist?“ Ich drehte mich um und sah, wie sie mit einem leichten Hinken näher kam, weil sie den linken Fuß nachzog. Manche Leute fanden, das mache sie zu einem Spektakel, aber ich fand, dass es ihren Bewegungen Musik verlieh und zu ihrem Wesen passte – zu ihrer Art, die Dinge immer aus einem besonderen Blickwinkel zu betrachten und mehr zu sehen als andere.

Und außerdem war sie schnell. Dafür hatten wir gesorgt – für den Fall, dass sie jemals vor dem Mann davonlaufen müsste, der mit seiner Pferdepeitsche mehr als ein paar Narben auf meinem Rücken hinterlassen hatte. Es hatte schon zu viele brenzlige Situationen gegeben. Allerdings hielt Mr MacMannus Abstand zu uns, seit er drei Monate nach dem Tod seiner ersten Frau gleich eine neue ins Haus gebracht hatte.

Die erste Mrs MacMannus hatte uns einfach ignoriert. Die neue Mrs MacMannus gefiel sich darin, die Nase über uns zu rümpfen, als seien wir Ungeziefer in ihrem Schmuckberg, der allem Anschein nach deutlich größer war als die Adirondack Mountains. Wie es aussah, wollte sie nicht daran erinnert werden, dass ihr Mann … nun ja, sagen wir mal so: Nachdem unsere Mutter gestorben war, hatte ich ziemlich schnell begriffen, was der Witwe eines Gutsverwalters passierte, die sich mit Flickarbeiten einen Lebensunterhalt zu verdienen versuchte, um das Heim – das Einzige, was ihr noch blieb – nicht zu verlieren. Der Besitzer kam an den meisten Tagen zwischen vier und fünf vorbei. Das war es, was passierte.

Ein Jahr später wurde ich geboren und noch mal knapp sechs Jahre später Celia. Jeder, der uns ansah, wusste es; ich hatte seine blauen Augen und Celia das Gold seiner Haare. Aber Mr MacMannus würde es niemals zugeben, nicht in tausend Jahren. Und auf dem Gutsgelände erzählte man sich, dass die neue Lady des Hauses bereits ein Kinderzimmer einrichtete, in Erwartung der Kinder, die sie ihm schenken würde. Die Erben von Maplehurst.

Und wir lebten oben über dem Stall weiter vor uns hin. Glücklich über unser kleines bretterverschlagenes, sonnendurchflutetes Königreich. Entschlossen, nicht auf das Gerede zu hören.

Celia holte mich im Handumdrehen ein, ihr Gesicht war schmerzverzerrt.

„Alles okay?“, fragte ich und vergaß für einen Moment die bebende Erde unter uns.

„Nein“, sagte sie, und ihre Miene verzerrte sich noch mehr. Da blieb ich stehen, und sie sah mich bittend an, die grünen Augen weit aufgerissen.

„Oh nein, Celia … dafür sind wir langsam zu alt.“ Ich wurde bald zwanzig, sie war vierzehn. Und wir hatten schon länger die Erwachsenenrolle angenommen, als wir Jahre zählen konnten. Aber ich wusste genau, was sie wollte. Ich hatte sie auf den Schultern getragen, wenn ihr Bein schmerzte, seit sie sechs und ich elf gewesen war. Also sagte ich: „Lass uns einfach nach Hause gehen.“

Doch sie neigte nur den Kopf und blickte mich weiter bittend an.

Schließlich beugte ich mich hinunter und ging in die Hocke, damit sie auf meine Schultern steigen konnte.

„Hab dich!“, rief sie und stürmte an mir vorbei. Während ihre Füße auf den Boden trommelten, breitete sich ein Lächeln über ihr Gesicht. „Wer zuerst da ist!“ Sie war mir ein Rätsel. Manchmal verhielt sie sich wie eine Achtjährige – so wie jetzt –, und manchmal gab sie Worte von sich, die sie weiser erscheinen ließen als eine Achtzigjährige.

„Nein, du kriegst mich nicht!“, sagte ich und rannte los, so schnell ich konnte.

An der Felswand blieben wir stehen, schnappten nach Luft und sahen zu, wie die Wolken am Himmel ihren Lauf nahmen.

„Um was wettest du, dass es Poseidon ist?“

„Wir sollten nicht wetten, Celia.“

„Um wie viel wollen wir wetten, dass das Essen, das in Maplehurst auf den Tisch kommt, mit Wetten verdient wird?“

Ich warf ihr einen mahnenden Blick zu. Sie wusste ebenso gut wie ich, was eine verlorene Wette einem Mann und seiner Familie antun konnte. Wir hatten es so oft erlebt, wie wir die Sonne aufgehen gesehen hatten. Schließlich wuchsen wir in einem Rennstall auf, nur einen Steinwurf entfernt von der Rennbahn in Saratoga Springs, wo MacMannus’ Vollblutpferde oft mit Rosengirlanden bekränzt wurden.

„Jedenfalls“, sagte ich, „ist es nicht Poseidon.“

„Woher willst du das wissen?“

Ich hätte es ebenso wenig erklären können, wie ich meinen eigenen Puls erklären konnte. „Hör hin.“

Und wir lauschten. Auf den trommelnden, wirbelnden Schlag. „Es ist Gulliver. Das ist ein Pferd, das zum Rennen geboren wurde.“

Und ich bin hierfür geboren, dachte ich zum wiederholten Mal. Für den Geruch von Heu, den feuchten Boden der Rennbahn nach einem Regenguss, das Klicken der Startboxen, durch die Ströme an Kraft freigesetzt wurden. Für diesen einen Moment, wenn das Tor beim Pistolenschuss aufflog – und das Leben, das pure Leben auf den Boden trommelte und nur eine einzige Richtung kannte.

Und ich wusste, ginge es nach mir, würde ich genau an diesem Ort bleiben und den Pferden beim Rennen zusehen – für den Rest meines Lebens.

Aber etwas zu wissen, macht es noch lange nicht wahr.

Außer Atem kamen wir an der Trainingsrennbahn von Maplehurst an. Ich hatte recht gehabt – es war Gulliver, der seine Runden lief. Sein Jockey spürte die Kurven der Bahn und legte sich voll hinein. Gullivers Hufe trommelten, während Vogelgesang, das Geräusch einer Säge und Hammerschläge den Hintergrundchor bildeten. Ein paar Männer zimmerten eine neue Tribüne für das bevorstehende private Pferderennen der MacMannus’. „Das gesellschaftliche Ereignis der Saison“, sagte Mrs MacMannus nun schon seit Monaten.

Es waren nur noch fünf Tage bis dahin, und alle waren hektisch mit den Vorbereitungen beschäftigt. Gärtner, Bahnpfleger, Zimmerleute, Gäste, die früher angereist waren, um mit Spazierstock und Sonnenschirm auf dem Gelände herumzustolzieren. Neue Uniformen für alle Angestellten in Haus und Stall waren eine weitere Neuerung, die Mrs MacMannus eingeführt hatte. Ihre Idee, das Personal so auszustatten, ließ dieses aussehen wie die Staffage eines Rennstalls, den sie auf das Niveau des Waldorf Astoria zu bringen versuchte.

Celia und ich hatten unsere neue Kluft noch nicht bekommen, aber von mir würde sie diesbezüglich keine Klagen hören.

Am Abend zuvor hatte sie für ihre Gäste im großen Haus einen Tanzabend veranstaltet. Von Weitem konnte ich durch die großen Fenster des Haupthauses einen Blick riskieren: den Glanz unzähliger Lichter; Mrs MacMannus, die mit ihrem Seidenfächer heftig die Fliegen wegwedelte, und ein Streichquartett.

Bei diesem Anblick spürte ich einen seltsamen Stich in der Brust. Nicht dass ich hätte dabei sein wollen. Für mich galt: je weiter weg, desto besser. Aber als ich die Paare dort tanzen sah, fühlten sich meine Hände plötzlich so … leer an. Ganz unaufgefordert traf mich der Gedanke: Wie es wohl wäre, wenn jemand seine Finger mit meinen verschränken würde?

Lächerlich, dieser Gedanke. Ich hatte ihn sofort wieder abgeschüttelt, stattdessen die Zügel von Gulliver in die Hände genommen und war zu einem Mitternachtsritt über die Weiden aufgebrochen. Das war ein schöner Ausritt gewesen.

Als wir wieder zurück im Stall waren, stieg ich zum ersten Mal seit Tagen wieder gut gelaunt die Treppe hinauf. Celia folgte mir dicht auf den Fersen und plapperte davon, zum Abendessen ein Brot zu backen. In dem Moment, als ich den verbeulten Türknopf drehen und ihr den Vortritt lassen wollte, erstarrte ich. Diesen Geruch kannte ich.

Blaubeerkuchen.

Das war entweder ein Ausgleich für die letzten Tage mit Mrs MacMannus’ Herumgewusel … oder etwas Schlimmes stand uns bevor.

„Was ist los?“ Meinen tonlosen Worten folgend, die ich in kalter Furcht ausstieß, stürmte ich ins Zimmer. „Sind Sie okay?“

Mrs Bluet schien nicht zu wissen, was sie sagen sollte.

Ich spürte, wie die Flamme in mir aufstieg. Ich war bereit, Mrs Bluet zu verteidigen, falls jemand es gewagt haben sollte, sie zu verletzen. Einmal hatte sie mich vor dieser Flamme gewarnt, als ich einer Schar von halbwüchsigen Kindern nachgesetzt hatte, die die Erdbeerbeete in ihrem Garten geplündert hatten. Da war ich zwölf gewesen.

Dieses Brennen nach Gerechtigkeit ist eine Gabe, Matthew Petticrew. Aber sorg bloß dafür, dass du es dir für Situationen aufsparst, in denen es gebraucht wird. Manche Schlachten sind letztlich keine.

Jetzt stand ich da, bereit, diese Schlacht für sie zu schlagen, falls nötig.

„Es ist nicht leicht, dir das zu sagen, Matthew, mein Junge.“ Sie hatte mich immer so genannt. Und seit dem Jahr, in dem ich zwölf geworden war und sie bereits um Längen überragte, brachte es einen Schimmer in ihre Augen. „Du – du musst von hier fort. Ihr beide.“ Sie schluckte.

Mein Kinn zitterte. Zorn stieg in mir auf. Ich rang ihn nieder. Das war nicht Mrs Bluets Schuld. „Wer … wer will, dass wir gehen?“

„Nun, meine Lieben, das ist es ja gerade.“ Sie setzte ein bemühtes Lächeln auf. „Sie sagen, der neue Stallbursche – Hector –, er wird diese Räume brauchen.“

„Er hat seine Räume.“

„Ja. Und Mrs MacMannus holt einen neuen Verwalter, der in seine Räume ziehen wird.“

Hector sollte unser Zuhause bekommen. Ein Verwalter würde kommen, obwohl ich diese Rolle seit Jahren ausfüllte – ohne Entgelt oder Wohnräume, die mir zugestanden hätten. Er würde Mutters früheres Haus übernehmen.

Und wir sollten gehen.

„Wo sollen wir hin?“ Celia sprach jetzt zum ersten Mal, ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie hatte diesen Ort in einen Palast verwandelt, indem sie Vorhänge und Sofadecken aus Reststoffen gefertigt hatte.

„Nun, es gibt auch ein paar gute Nachrichten. Mr MacMannus hat für euch beide gute Stellen gefunden. Für dich, Celia, in einem Krankenhaus“, sagte Mrs Bluet betont munter. „In der Stadt. Eine Pension für junge Frauen ist direkt nebenan. Und für dich, Matthew, als Stallbursche im Stall der Harvard University.“

Celia senkte den Kopf. „Dann werden wir nicht mehr zusammen sein“, sagte sie leise.

„Wir werden zusammen sein“, sagte ich. „Wir finden einen Weg.“

Eine letzte Frage hing schwer im Raum, und es war Celia, die den Mut aufbrachte, sie auszusprechen. „Wann?“

Mrs Bluet stand mit gesenktem Kopf da und wischte sich die Augen. „Heute.“

Und so geschah es. Maplehurst war trotz all seiner Unzulänglichkeiten unser gesamtes Leben, unsere Welt gewesen … und jetzt war es uns verschlossen.

Wir packten das wenige zusammen, was wir hatten, und saßen noch am selben Nachmittag in Zügen, die in entgegengesetzte Richtungen fuhren. Als wir Maplehurst hinter uns ließen, warf ich einen letzten Blick auf das Anwesen. Dort, hinter einem Fenster in der dritten Etage auf dem Absatz der großen Treppe stand Mr MacMannus.

Ich mochte mich täuschen, aber aus der Entfernung sah es so aus, als ließe er den Kopf hängen … wie in einen Umhang aus Bedauern gehüllt. Und dann war er weg. Weg von seinem Giebelfenster, weg von uns.

Es sollte das einzige Geschenk sein, das ich je von meinem Vater bekam. Ich fragte mich oft, wie es wohl wäre, einen Vater zu haben, der für mich eintrat. Nicht einen von der Sorte, die gegen die eigenen Kinder angingen oder sie ignorierten. Ich stellte mir die Rough Riders vor, das furchtlose Regiment, die Männer, von deren Mut und Tollkühnheit ich in meiner Jugend gelesen hatte. Theodore Roosevelt und diesen Jungen, der die ganze Zeit mit ihm ritt – Jasper Truett, der Inbegriff von Mut. Wie wäre es wohl, einen solchen Vater zu haben?

Aber das zu wissen, war mir nicht vergönnt. Was mir in diesem Moment blieb, war die Erkenntnis, dass Mr MacMannus uns vielleicht doch die ganze Zeit im Blick behalten hatte. Er hatte auch erkannt, dass Celia in einem Krankenhaus gut aufgehoben war; mit ihrer fürsorglichen Art war sie für einen solchen Ort wie geschaffen. Und ob er es gewusst hatte oder nicht – dass er für mich dieses Arrangement in Harvard getroffen hatte, sollte mein Leben für immer verändern.

3

Mira

1914Argonner Forst, Frankreich

Die Sonne erwachte und malte ein Kaleidoskop von Farben ins Fenster unserer kleinen Küche. Was ihr das möglich machte, waren zusammengenähte bunte Streifen eines alten Stoffs, die vor dem Glas hingen. An diesem Morgen stellte ich mir vor, dass sie einmal zum Ballkleid einer schönen Dame gehört hatten. Von prachtvollen Bällen hatte ich viele Male in dem Märchenbuch gelesen, das in Grand-pères Regal stand.

Hier bei uns gab es keine Bälle, aber warum sollte sich das nicht ändern? Es wäre nett, die feinen Leute zu treffen oder sie wenigstens zu sehen. Vielleicht würde man einen Ball im Freien veranstalten wollen, unter den Bäumen.

Als ich kleiner war, las ich immer dieselben Seiten mit derselben Geschichte: die Geschichte von einem Mädchen und der Straße. Das Mädchen verließ sein Zuhause, um großen Reichtum zu finden; und was für Abenteuer das Mädchen auf seiner Reise erlebte! Während ich dann meine Hausarbeiten erledigte, stellte ich mir immer vor, ich wäre das Mädchen auf dieser Reise – auf der Suche nach großen Schätzen. Vielleicht würde ich sie ja eines Tages finden.

Grand-père zog mich damals immer auf – so oft steckte meine Nase in diesem Buch mit dem blauen Rücken und den Goldbuchstaben. Band II stand darauf. Einmal fragte ich ihn, ob es noch andere Bände gebe. Ich liebte die Art, wie er lächelte, als er antwortete: „Ja, eine ganze Reihe, aus der Zeit, als ich selbst noch ein Junge war. Und ich habe sie deinem Papa vorgelesen, als der so klein war, dass er noch nicht laufen konnte.“

„Wo sind sie jetzt?“, fragte ich.

Plötzlich wurde er ein bisschen traurig. „Ich konnte sie nicht mitnehmen, als wir hierherkamen, Mireille. Aber ich kann dir die Geschichten erzählen, die darin stehen.“

Und das hatte er dann auch getan. Geschichten von Streichhölzern, Meerjungfrauen, Aschenmädchen und vergifteten Früchten.

Ich war in Gedanken noch immer bei den Bällen und feinen Kleidern, als ich aus der Tür in die Morgenluft trat, um Antoinette zu melken und frische Brombeeren zu pflücken. Ich stellte die Beeren für Papa zur Seite, denn es war Tradition, dass derjenige, der in der Nacht zuvor auf dem Boden geschlafen hatte, die Beeren bekam. Papa und Grand-père stritten jeden Abend ein wenig darüber, wer das einzige Bett unten bekommen und wer in unserer kleinen Hütte auf dem Fußboden schlafen würde. Ich bekam das Bett oben auf dem Dachboden, in der Hinsicht ließen sie sich auf keine Diskussion ein.

Papa bestand immer darauf, dass Grand-père im Bett schlafen sollte. Er sagte: „Welcher Sohn auf Gottes Erdboden würde seinen Vater zwingen, auf dem Fußboden zu schlafen?“Grand-pèrewehrte sich und behauptete, Papa würde alt werden, „älter als der Boden in diesen Wäldern“, und deswegen müsse er das Bett nehmen.Wenn stimmte, was er sagte, dann hieß das, dass er selbst auch älter wurde, aber das ignorierte er. Es war jeden Abend das gleiche Gerangel, ein brummiges Wiegenlied. Und ihre eigene liebevolle Weise, die Sorge füreinander auszudrücken – dieser Schlagabtausch, während Papa vor dem Ofen kniete und die Streichhölzer hervorholte, um unser bescheidenes Heim mit Licht und Wärme auszufüllen.

Ich schlief zu diesem brummigen Wiegenlied ein, mit einem Lächeln auf den Lippen, denn ich wusste, was ich am nächsten Morgen vorfinden würde: dass Papa frühmorgens das Haus verlassen hatte, während Grand-père im Bett schnarchte, bis die Sonne ihn weckte. „Lass ihn schlafen, Mira“,hatte Papa mir einmal gesagt. „Er hat es verdient. Dein Grand-père hat ein bemerkenswertes Leben gelebt.“

Als ich vom Melken zurückkam, saß der Mann mit dem bemerkenswerten Leben hellwach an unserem kleinen Tisch.

Ich erzählte Grand-père von meinen Träumen über den Vorhang am Fenster.

„Das Kleid einer schönen Dame, meinst du?“, sagte er zwischen zwei Löffeln Hafergrütze. Er aß langsam, denn die Grütze musste lange reichen. Es würde noch zwei Wochen dauern, bis er unser bewaldetes Stückchen Land wieder verlassen und sich auf den Weg zum Markt machen würde. Bis dahin mussten wir noch mehr Walnüsse und Schnitzwerke haben, die wir gegen andere Waren eintauschen konnten. Vielleicht würde sein Hafer magisch wirken, wie Jacques’ Zauberbohnen, und meine Vorstellung wahr machen. Ich ließ zwei Beeren in seine Hafergrütze fallen, ein Bestechungsversuch.

Grand-pères Stirn legte sich in Falten, aber seine Augen blitzten. „Das könnte man wohl sagen. Es wäre nicht ganz falsch, mon petit cheval.“So nannte er mich immer. Kleines Pferd. Es war albern, das wusste ich, schließlich war ich inzwischen fünfzehn, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob ich noch in ein Märchenland gehörte oder schon in das Land echter Ballkleider. Doch eines war klar: Mein Leben, so seltsam es war, passte genau dahin, wohin es eben passen musste: in den Argonner Forst. Ganz exakt, wie eines von Papas Holzpuzzleteilen, das mit seinen Rundungen und Aussparungen genau so war, wie es sein musste, und nie an einen anderen Platz passen würde.

Ich schmunzelte und dachte daran, wie ich früher immer versucht hatte, beim Lächeln meine Zähne zu zeigen, um dem Namen petit cheval gerecht zu werden. Und wie Grand-père mir dann den Mund geschlossen, mich an den Zöpfen gezogen und gesagt hatte: „Du hast die ganze Anmut dieses Geschöpfs und auch die ganze Kraft in dir. Aber nicht den schlechten Geruch. Jedenfalls meistens nicht.“

Doch jetzt war es nicht der Name, der mich aufhorchen ließ, sondern die Worte „es wäre nicht ganz falsch“.Noch nie hatte er so etwas zu einer meiner Geschichten über den bunten Vorhang gesagt.

Erneut verließ ich unsere kleine Behausung und drehte meine Runde: Hühner füttern, Wäsche auswringen und aufhängen im gleichmäßigen Rhythmus zu Grand-pères Axthieben, die hinter der Hütte auf Feuerholz fielen. Das war die übliche Routine – Grand-père hackte das Holz, Papa machte Feuer, und ich durfte ihm helfen, die Flamme zu entzünden und anzufachen. Wenn es Zeit war, die Kohlen zusammenzuschieben oder zu schüren, griff er sich den alten Schürhaken und drehte ihn dreimal so in der Glut, dass die Kohlen im Kreis lagen. Wir drei zusammen – das ergab ein gutes Feuer; wir drei zusammen – das ergab ein ganzes Leben.

Grand-pères Worte von vorhin ließen meine Finger flink an die Arbeit gehen, bis es mir vorkam, als klopften sie dabei eine Melodie. Es wäre nicht ganz falsch. War der Stoff tatsächlich das Kleid einer Dame gewesen, in einer anderen Zeit und Welt? Ich dachte an das Dorf, in das wir manchmal fuhren, und an den Tanz auf der Straße, den ich eines Abends dort beobachtet hatte. Jemand hatte eine schöne Melodie gespielt; seine Arme hatten ein Akkordeon auseinandergezogen und zusammengeschoben, die Finger tanzten über schwarze und weiße Tasten und ließen eine magische Melodie durch die Luft schweben.

Wenn ich mich sehr anstrengte, konnte ich sie hören. Jetzt. In meiner Erinnerung reiste ich in das Dorf zurück und brachte das Lied in die Wälder. Es pulsierte in meinen Adern und verließ mich wieder durch meine Füße. Ich dachte an die tanzenden Paare: Männer zogen ihre Mützen und verbeugten sich vor Frauen in ihren schmucksten Kleidern, und die Frauen ergriffen die angebotenen Hände mit ausgestreckten Armen. Ich spreizte die Finger, aber da war keine Hand, die ich ergreifen konnte. Eines Tages vielleicht …

Aber es war auch sehr gut möglich, dass dieser Tag nie kommen würde. Das wusste ich. Und so musste ich mit dieser Musik in den Himmel schweben und mich an das Wissen halten, dass sie trotzdem lebendig und auch mein Tanz real war. Egal, ob mit oder ohne Partner.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um ein sonnengeflecktes Leintuch von der Leine zu nehmen, als von der anderen Seite ein Schatten darauffiel.

„Papa!“

Mit einem stillen Lächeln verbeugte er sich. Ich wurde rot, hatte er mich doch schon wieder dabei ertappt, dass ich summte. Er wusste, dass ich mich wieder meinen Tagträumen hingab. Vielleicht konnte er sogar sehen, was ich mir vorstellte: feine Damen und Herren, die unter den Bäumen dieses rauen Waldes tanzten. Er kannte mich so gut und hatte schon oft erraten, was ich dachte.

„Darf ich um diesen Tanz bitten?“ Wieder verneigte er sich, streckte mir die Hand entgegen. Erneut errötete ich. Bei einer so mädchenhaften Träumerei ertappt zu werden, ließ mir die Hitze in die Wangen steigen, denn ich wusste ja, dass ich an ernsthaftere Dinge denken sollte, an reale Dinge. An Dinge, die sich für eine junge Dame geziemten. Denn das war ich viel eher als ein kleines Mädchen. Aber woran dachte eine junge Dame überhaupt? Ich wusste es nicht.

Ich lachte, und er nahm mich bei der Hand. Sie lag nicht mehr so klein wie früher in der seinen mit den Schwielen, aber es fühlte sich genauso sicher und geborgen an. Ich knickste und unterdrückte ein Kichern, als er mich in seine Arme zog und herumschwenkte. Er roch nach würzigem Baumharz, und seine Hände waren rau, aber stark und freundlich. Seine leere Tasche schlug gegen mein Bein.

Ich räusperte mich. „War es kein guter Tag in den Wäldern?“ Oft war seine Tasche zum Bersten voll mit Walnüssen oder sonst etwas Essbarem, was er gefunden hatte.

Sein Lächeln verschwand nicht, aber es veränderte sich. Jetzt sah es hölzern aus, so wie bei den Figuren, die Grand-père schnitzte.

„Heute habe ich keine Nüsse gefunden“, sagte er. „Aber es ist immer gut, in den Wäldern zu sein.“

„Weil wir hier sicher sind“, sagte ich und versuchte, ebenso ernst zu klingen wie er. Es war eine Wiederholung der Worte, die er mir wieder und wieder gesagt hatte. Papa hatte immer betont, dass es so sei. La maison vous attend toujours. Und es stimmte – mein Zuhause wartete auf mich. Immer.

Er sagte, wir wären hier sicher. Aber es gab Dinge, die keinen Sinn ergaben. Wenn wir hier sicher waren, warum hatte Grand-père dann schon vor langer Zeit rund um unsere Hütte Fallen aufgestellt, lange bevor ich überhaupt geboren war? Warum brach er manchmal mitten im Satz ab, als hätte er etwas gehört, und ließ den Blick zu seinem Gewehr an der Wand wandern?

„Ja“, sagte Papas Mund. Nein, sagten seine Augen, während er den Blick über unser kleines Fleckchen Heimat schweifen ließ, bis zum Rand der grünen Bäume, die es umgaben. Sie schlossen unser Heim in ihre Arme, hüllten es ein, so wie Papa jedes Jahr zu Weihnachten eine kleine Schachtel in Sacktuch einwickelte.

Diesen Blick hatte ich noch nicht an ihm gesehen. So alarmiert.

„Papa?“, sagte ich. In seinen Armen fühlte ich mich vollkommen geborgen, aber die Frage wollte trotzdem nicht herauskommen. Ich versuchte, sie herauszuziehen, wie an jedem Tag seit dem Moment, in dem sie sich tief in mich eingepflanzt hatte. Aber sie war wie das Schwert Excalibur, das in einem Felsen feststeckte.

„Papa …“, setzte ich noch einmal an. Er spürte, dass sie schwer war, diese Frage, denn er zog mich näher an sich heran.

Ich schloss die Augen. Zog heftig an der Frage. Zwang meine Stimme, sie zu formen. Und Excalibur kam frei.

„Wovor sind wir hier sicher?“

Er blieb stehen, blickte mich forschend an und legte mir die Hände auf die Schultern.

„Vor vielen Dingen“, sagte er. Und durch den Kummer in seiner Stimme erkannte ich, dass da wirklich vieles sein musste. Und zugleich wusste ich, dass er es nicht in Worte fassen würde. „Aber …“

Ich hielt den Atem an. Vielleicht würde er es mir ja doch endlich sagen.

Er öffnete den Mund.

„Franz!“, brüllte Grand-père aus der geöffneten Tür, und der gläserne Palast dieser Beinahe-Antwort zerbrach in tausend Stücke. Er rief uns hinein, und zurück blieben Scherben, die sich kurz darauf in Luft auflösten.

An diesem Abend diskutierten sie wieder. Aber nicht darüber, wer im Bett schlafen würde.

An diesem Abend lag Verzweiflung in ihren Stimmen, nicht Zuneigung. Tief empfundene Verzweiflung, die sie zum Verstummen brachte, wenn sie nicht weiterreden konnten. Bis sie glaubten, dass ich schlief. Damit ich das Geflüster nicht hören konnte, das wie Pfeile zwischen ihnen hin- und herflog. Das Reden von unvorstellbaren Dingen, von deutschen Armeen, die in belgische Dörfer einmarschierten und sie verwüsteten, bevor sie nach Frankreich weiterzogen. Von den Menschenherzen und den Menschenleben, die weit mehr verwüstet wurden als die zerborstenen Steinhäuser, die sie zurückließen. Von Dingen, die ich nie vergessen würde, so sehr ich mir das auch wünschte. Von Dingen, die Papa kaum aussprechen konnte, und als er es doch tat, brach seine Stimme wie rissiger Ton.

Grand-père glaubte ihm nicht, dass sie in diesen Dörfern das Leben auslöschten und noch Schlimmeres taten. Dinge, die so schrecklich waren, dass er nur flüsternd davon sprach, sodass ich ihn nicht mehr verstehen konnte.

Aber Vaters nächste Worte hörte ich genau.

„Ich muss gehen.“

Ich rappelte mich auf und spähte die Holztreppe hinunter, machte mich stumm und unsichtbar, obwohl es in meiner Brust trommelte: Nein. Nein. Nein. Zu einem rasenden Herzschlag, einfach so.

Grand-père protestierte. Nannte ihn einen Narren und zischte dann: „Du willst diesen Ort verlassen? Die letzte Zuflucht in der Welt?“

„Warum, glaubst du wohl, muss ich gehen?“, gab Papa zurück, und seine Schultern hoben und senkten sich rasch. Er griff nach dem Schürhaken, um die Kohlen zu schüren, und zog hastig seine drei Kreise, am Ende mit einer Spur Frustration.

„Unsinn.“

„Sie marschieren auf Paris, Vater.“

Ich sah, wie Grand-père auf den Stuhl sank und den Kopf in die Hände stützte. „Schon wieder?“ Er sagte es so scharf, dass die Worte wie ein eiskalter Wind zu mir heraufdrangen und mich zurückweichen ließen. „All das …“, er fuhr mit der Hand in einer ausholenden Geste durch den Raum, „… nur damit sich die Geschichte wiederholt. Wird diese Stadt denn niemals sicher sein?“

Dann breitete sich Schweigen aus.

„Wann?“, fragte Grand-père schließlich; er brachte das Wort kaum heraus.

„Heute.“ Papa setzte sich neben Grand-père. Seine Stimme klang jetzt traurig, aber wieder liebevoll.

Ich weiß nicht, wie und wann es geschah, aber in den Weiten einer wortlosen See, beim Knistern des Feuers und dem Heulen des Windes, der um das Haus toste, wurden sich die beiden einig.

Als das Kaleidoskop des Sonnenlichts am nächsten Morgen erwachte, fiel es auf Papa. Er hatte im Bett auf der anderen Seite des Raumes geschlafen, und ich vermutete, die Schlacht darum musste geführt worden sein, nachdem ich eingeschlafen war, und Grand-père war als Sieger daraus hervorgegangen. Papa saß auf der Bettkante und blinzelte in das bunte Licht.

Leise und vorsichtig trat ich näher. Ich wollte ihn sehen, seine Hand halten, ihn immer bei mir behalten. Ich wollte nicht, dass er verschwand wie Mama.

Aber neben ihm stand seine Tasche, fertig gepackt für die Reise.

Ich schlich auf Zehenspitzen zu ihm hin.

Als er mich bemerkte, drehte er sich um und suchte meinen Blick. Seine Augen waren gerötet. „Mon papillon“,sagte er. So nannte er mich immer, aber noch nie hatte er den Namen in diesem Ton gesagt. Als wolle er mich genau so, wie ich war, für immer in seinen Armen wiegen. „Du sorgst jetzt dafür, dass das Feuer nicht ausgeht, ja?“ Dann legte er mir etwas in die Hand: seine Streichholzschachtel. Die hölzernen Stäbchen klapperten darin wie meine erschütterte Seele.

Und so ging er fort. Ein paar ruhige Worte, die er draußen mit Grand-père wechselte, ein entschlossenes Winken, ein sicherer und fester Schritt, der ihn davontrug.

Als meine Sinne meinen Schmerz eingeholt hatten, lief ich ihm nach und rief: „Papa! Papa!“

Am Rand der Lichtung blieb er stehen.

Ich sah auf die Streichhölzer in meiner Hand und dann zu ihm. „Ich werde …“, rief ich und hielt die Schachtel hoch, „ich werde dir den Weg nach Hause erleuchten!“

Er sah mich an mit einem Blick, als wolle er mich in sein Herz einbrennen. Und ich tat umgekehrt das Gleiche. Dann ein kurzes Nicken und ein paar Schritte, und die Bäume hatten ihn verschluckt. Er war fort.

Jeden Tag hielt ich Ausschau nach ihm. Ich nahm seine Tasche für die Wälder und sammelte Nüsse – so wie er es immer getan hatte. Jede Woche wagte ich mich ein bisschen weiter vor nach Osten, in die Richtung, in die er gegangen war. Ich hoffte, wenigstens einen flüchtigen Blick auf ihn zu erhaschen. Vielleicht würde er mir über ein Tal hinweg zuwinken, als Zeichen, dass es ihm gut ging. Vom Kamm der Argonnen konnte ich das gewundene Blau der Maas sehen, die sich durch die grünen Felder schlängelte. Aber keine Zeichen von Papa. Dort stand ich immer sehr lange für den Fall, dass er über die Hügel heraufkommen und mich finden würde – wie ich auf ihn wartete.

Eines Tages, Monate nachdem er gegangen war, schlief ich beim Warten ein. Es war Frühling, und das Gras war weicher als meine Matratze zu Hause. Die Sonne schien mir warm ins Gesicht. Ein Singvogel trällerte sein Lied, und ein leichter Wind trug den Duft von Flieder mit sich. In diesem Moment und in so einer Umgebung konnte ich mir die Dinge, von denen Papa gesprochen hatte, kaum vorstellen. Diesen „großen Krieg“, wie die Leute auf dem Markt im entlegenen Dorf ihn nannten.

Und so schlief ich ein zu einem Wiegenlied aus lieblichen Düften und heiteren Klängen. Vielleicht waren wir einem Märchen doch näher als dem Horror von Albträumen. Vielleicht …

Doch mit einem Ruck war ich hellwach. Tief in mir keimte Entsetzen auf. Etwas stimmte nicht. Ich blieb so reglos liegen, wie ich konnte, und lauschte. Fühlte. Bemerkte schließlich ein Grollen, als sei der Boden unter mir zum Leben erwacht.

„Papa?“ Ich lauschte. „Papa!“ Ich drehte mich auf den Bauch, sog das Beben in mich auf, den Klang des Heimkommens. Ein Bild aus einer der alten Geschichten kam mir in den Sinn: Der Held, der – siegreich nach gewonnener Schlacht – auf seinem weißen Ross nach Hause galoppiert.

Ich robbte vor bis zur Höhe des Hügels, bereit, aufzuspringen und ihn zu überraschen und mit aller Kraft in meine Arme zu ziehen. Aber das Grollen wurde lauter und kam näher, und mein Lächeln verebbte. Das war nicht der Klang von Pferdehufen. Aber … was war es dann? Der Fluss, der irgendwo einen großen Damm durchbrach? Der gleich alles überfluten würde? Oder ein Pflug, ja vielleicht, wenn ein Maultier ihn sehr schnell zöge. Bauern hatte ich hier in der Gegend noch nicht gesehen, aber vielleicht wagten sie sich ja weiter vor, um fruchtbares Land zu suchen.

Oder – eine Erinnerung an eines der Mädchen auf dem Markt, das mir etwas gezeigt hatte, was sich Automobil nannte. Der begüterte Besitzer eines Weingutes hatte eins, schwarz glänzend stand es auf dem Kopfsteinpflaster. Das Mädchen hatte mir beschrieben, dass es beim Fahren klang, wie wenn der Wind Schotter aufwirbelte.

Es kam mir unglaubwürdiger vor als alle Geschichten in Grand-pères Büchern, dass ein Wagen ohne Pferde fahren sollte. Aber vielleicht brauchte man Automobile in diesem Krieg. Vielleicht hatte Papa auch eines und kam jetzt damit nach Hause. Wäre ich nicht so versteinert gewesen, ich hätte gelacht bei der Vorstellung, dass mein Vater, der Waldmensch, sich mit einem metallenen Ross abmühte, das einen Motor anstelle des Herzens hatte. Nein, das würde ich nie sehen, da war ich mir sicher. Die Argonnen waren kein Ort für Automobile.

Ich krallte die Hände in den Boden, bis die dunkle Erde unter meinen Fingernägeln saß, und genauso fest klammerte ich mich an den letzten Funken Hoffnung, dass es vielleicht doch Papa sein könnte. Und so spähte ich über den Hügelkamm.

Meine Augen weiteten sich, und ich stolperte rückwärts, jeder Gedanke an Tarnung war dem blanken Schrecken gewichen. Mein Puls hämmerte und übermittelte nur eine einzige Botschaft: Flieh. Flieh!

Und das tat ich. Es war kein Automobil. Es war … es war … ich hatte keine Ahnung, was es war. Ein großes metallisches Ungeheuer donnerte den Hügel herauf, als wollte es sich gleich auf mich stürzen. Als hätte jemand ein Automobil genommen und die Räder abmontiert und stattdessen große Ketten angebracht, die sich in den Boden fraßen, die Erde unter sich zermalmten und sie dann wieder von sich schleuderten. Ein kriechender Drache, der Abgründe hinabklettern und Hügelkämme erklimmen konnte, als wären sie nichts. Der mit Sicherheit auch dazu fähig sein würde, ein Mädchen aus den Wäldern zu zermalmen, als wäre es nichts.

Ich bin nichts,dachte ich und wünschte, es wäre wahr. Unsichtbar. Bitte, mach mich unsichtbar,betete ich und rannte, rannte, rannte, ohne mich umzusehen, bis ich den Waldrand erreicht hatte. In einer Baumgruppe versteckte ich mich in der Hoffnung, dort sicher zu sein, und spähte hinaus. Der große stählerne Drache kam dröhnend in meine Richtung, doch dann drehte er ab und rollte am Waldrand entlang nach Süden.

Es dauerte sehr lange, bis mein Atem wieder langsamer wurde und mein Herz an seinen Platz zurückkehrte, nachdem es bei unserer großen Flucht davongerannt war, wohin auch immer. „Unsere Flucht“, denn es war so weit aus mir herausgesprungen, dass es zu einem eigenständigen Wesen geworden war. Aber es kam tatsächlich zu mir zurück – obwohl ich zwischenzeitlich große Zweifel daran hatte.

Als ich heimkam, erzählte ich Grand-père von meinem Erlebnis und machte mich darauf gefasst, dass er mich ermahnen würde, weil ich so weit von zu Hause fortgegangen war. Aber der Tadel blieb aus. Stattdessen trat eine abgrundtiefe Trauer in seinen Blick. „Er ist da“, sagte er. „Der Krieg ist da.“

4

Captain Jasper Truett

1916Ausbildungslager Plattsburgh, New YorkEin Jahr bevor die USA in den Krieg eintreten

Wieder ging die Sonne auf. Ich hätte nicht übel Lust gehabt, die Artillerie auf das Tagesgestirn anzusetzen und es zu zerschießen. Aber diese Grünschnäbel von Jungs brauchten das Licht, um rauszufinden, wo es langging. Also konzentrierte ich mich heute wieder einmal auf die übliche Routine.

Sie kamen in Scharen nach Plattsburgh. Diese Jungs aus Harvard und von wer weiß woher standen – die Augen groß wie Essteller – in Schlangen an, um sich registrieren zu lassen. Etwas in mir hätte ihnen am liebsten die Mützen runtergerissen, um zu sehen, was in diesen Köpfen voll akademischem Wissen sonst noch steckte, was sie wirklich dachten. Vielleicht hatte das ganze Lernen ihnen ja den gesunden Menschenverstand geraubt. Aber ein anderer Teil in mir wollte ihnen auf die Schulter klopfen und „Gut gemacht“ sagen, denn schließlich waren sie hier aufgeschlagen. Und sie meinten es ernst.

Sie machten es besser als ich in ihrem Alter. Sicher, ich hatte mich damals auch gemeldet – kam gerade zurück von Kuba, über die Eisenbahnschienen, die mein Zuhause geworden waren. Dort war ich mit den Rough Riders unterwegs gewesen. Aber ich musste lügen, um durchzukommen. Sagte, ich sei achtzehn, und glaubte, das sei überzeugend. Vielleicht war’s das auch. Vielleicht lässt einen das Leben, das ich lebe, schneller älter werden. Volljährig oder nicht – damals dachte ich, ich hätte einiges begriffen. Aber so, wie’s aussah, hatte ich vieles immer noch nicht verstanden.

Ich ermahnte mich selbst: Pack sie nicht zu hart an. Es war ja schließlich kein Verbrechen, Augen so groß wie Teller zu haben. Und sich freiwillig zu melden, war auch kein Verbrechen – solange niemand wirklich glaubte, dass wir in diesen Krieg eintreten würden. Jetzt waren sie nun mal hier. Niemand hatte sie dazu gezwungen. Und meine Aufgabe war es, sie auf das vorzubereiten, was sie sich nicht im Geringsten vorstellen konnten.

Sie hatten noch einen langen Weg vor sich, so viel war klar. Und ich hatte meine eigene Checkliste im Kopf, was einen guten Offizier auszeichnete, der im Kampf siegreich sein wollte.

Behält immer sein Umfeld im Blick.Kennt das Gelände und die weitere Umgebung genauestens.Bleibt in kritischen Situationen ruhig.Weiß sich Respekt zu verschaffen, ohne seine Untergebenen kleinzumachen.

Die Liste war eigentlich noch länger. Aber selbst wenn ich nur diese vier Punkte bedachte, musste ich mich beim Anblick unserer neuen Rekruten anstrengen, nicht in dem Meer der hoffnungslos naiven Gesichter zu ertrinken. Was wir zu tun hatten, war klar – so viel stand fest.

Einer von den Neuen reckte den Hals immer wieder wie eine Giraffe in Richtung der Ställe. Vielleicht dachte er, da wäre sein Platz. Aus purer Gewohnheit zog ich meinen Kompass aus der Tasche und fuhr mit dem Daumen über die nicht mehr ganz so glatte Oberfläche. Als könnte es dem Jungen helfen, seinen Weg zu finden.

„Zur Kaserne geht’s da lang, Junge“, sagte ich. Er hatte genug gesunden Menschenverstand, um zu nicken und in die angezeigte Richtung zu gehen. Einige von den anderen lachten und machten Sprüche, als wäre das Trainingslager in Plattsburgh ein Kinderspielplatz. Aber dieser eine, der sich auf die Ställe fixiert hatte, schien zumindest den Ernst der Lage zu begreifen. In der Welt tobte ein Krieg. Amerika mochte in weiten Teilen denken, er ginge uns nichts an. Aber das flaue Gefühl in meinem Bauch sagte mir etwas anderes. Ich wusste, es war nur eine Frage der Zeit … und die Uhr tickte.

Er zögerte und warf noch einen Blick zurück auf die Ställe. Die meisten Jungs machten sich auf den Weg zu den weißen Zelten, die ihre Unterkünfte sein würden. Solange sie hier waren, wäre dies der Ort, der einem Zuhause am nächsten käme. Schließlich hatten sie für dieses Privileg bezahlt, aus eigener Tasche.

Bereitschaft, Bereitschaft, Bereitschaft um jeden Preis – selbst wenn dein Land die Ausbildung nicht bezahlte für die Armee, die es brauchte, falls – wenn wir in diesen Krieg eintreten würden.

Nun, da waren wir. Trainieren würden wir so oder so.

Nur er nicht. Er wirkte … irgendwie verloren.

„Hey, Junge“, sagte ich. Er straffte die Schultern, als wolle sein ganzer Körper salutieren. Ich konnte ihm wenigstens den Weg zu den Unterkünften seiner Einheit zeigen.

„Dienstausweis“, forderte ich und streckte ihm die Hand hin.

Sein Kiefer verspannte sich. „Ich …“ Dann glitt sein Blick über meine Uniform; er suchte offenbar nach einem Namen. Aus den Ställen in der Nähe erklang ein kräftiges Wiehern, und sofort wanderte sein Blick in diese Richtung. Dieser Junge würde alle Hilfe brauchen, die wir zu bieten hatten. Ich hätte nüchtern genug sein sollen, um zu wissen, was unsere Aussichten im Trainingslager für Offiziere sein würden. Offiziere, dass ich nicht lache. Aber irgendetwas an diesem Kerl appellierte an mein früheres Ich, an den Jungen ohne Plan für die Zukunft, der in San Juan für eine Chance gekämpft hatte, einen Ritt mitmachen zu dürfen, der Geschichte schreiben würde.

„Junge“, sagte ich. „Captain Truett. Wenn du mir deine Papiere zeigst, kann ich dir sagen, wo du hinmusst.“

Sein Blick – wachsam und lebendig – hielt meinem stand. „T-Truett?“

Ich blickte auf meine Taschenuhr. „Richtig. Und wenn du mir jetzt …“

„Captain Jasper Truett.“ Er wiederholte es und schluckte. Ich starrte ihn an. Er starrte zurück. „Sie – Sie sind Captain Truett.“

„Sieht ganz so aus. Also, Junge, du musst jetzt in deine Unterkunft oder du verpasst die nächsten Befehle deines Kommandanten. Wenn du mir also deine Papiere zeigen könntest …“

Er schüttelte den Kopf, und er tat es schnell, als wolle er sich selbst aus seiner Benommenheit wecken. „Verzeihung, Sir.“ Sein Blick war kämpferisch, wenn er nicht gerade durch irgendetwas verschleiert wurde, was ihn fünf Sekunden zuvor abgelenkt hatte. Dieser Blick – ein Blick, der einen festnageln konnte und keinen Unsinn dulden würde –, dieser Blick würde ihm gute Dienste leisten, wenn er einmal das Kommando über einfache Rekruten hätte. Falls er tatsächlich eines Tages Offizier werden sollte. Es waren schon seltsamere Dinge passiert.

„Ich habe keine Papiere.“

„Du hast welche“, erwiderte ich. „Als du dich für dieses Ausbildungscamp registriert hast, hat man sie dir zugeschickt.“

Er senkte den Kopf, und zum ersten Mal seit unserer Begegnung wich er meinem Blick aus. „Ich bin nicht registriert.“

Fast wie eine Antwort auf diese Enthüllung ertönte plötzlich ein lautes Getöse, das das gesamte Camp aufschreckte. Alle in unserer Nähe erstarrten und lauschten dann nach Westen, von wo aus der ohrenbetäubende Lärm offenbar kam. Nur der Junge, der vor mir stand, sah nach Osten. Und dann rannte er los. Im Bruchteil einer Sekunde war er aus meinem Blick verschwunden.

Schnell heftete ich mich an seine Fersen; meine Füße trommelten auf den Boden, um ihn einzuholen. Entweder war er extrem schwer von Begriff oder extrem clever. Das würde ich schon rauskriegen. Aber erst, wenn die Katastrophe, die im Moment auf uns zukam, hinter uns lag.

Der Lärm war aus der Richtung der Ställe gekommen. Ein Tor war aus den Angeln gerissen, schwang aber immer noch hin und her und schlug nun heftig gegen die Einzäunung der Koppel.

Eines der Pferde raste auf die Unterkünfte zu – das Weiß in seinen Augen zeigte, dass es in Panik war, die jedem Hufschlag eine unvorstellbare Kraft verlieh. Das Tier würde direkt durch die Zelte stürmen, sie niederreißen und jeden niedertrampeln, der sich darin befand, ohne auch nur mit den Augen zu zucken – diesen vor Panik weißen Augen.

Verzweifelt flohen die Männer aus der Schneise der drohenden Verwüstung wie Mose und sein Volk durch die geteilten Fluten des Schilfmeers. Aber dieser andere stürmte direkt in die Bahn des Unheils, bis es nur noch ihn und das Pferd gab. Und gleich wäre nur noch das Pferd da, denn es würde ihn mit den Hufen zermalmen.

„Weg da!“, rief ich. „Sofort!“

Er rührte sich nicht. Er stand da wie angewurzelt und blickte dem panischen Tier direkt in die Augen. Er hob die Hände, als kapituliere er. Langsam, aber entschlossen.

Das Pferd stürmte weiter.

„Hooaaa“, sagte er und bewegte die Hände langsam vor und zurück.

Noch eine Millisekunde und er würde zermalmt werden, wenn er jetzt nicht auswich.

Aus dem Weg!, wollte ich rufen. Aber etwas ließ mich innehalten. Ließ mir die Worte in der Kehle stecken bleiben. Es war etwas an diesem Jungen, etwas daran, wie er dastand: sicher, fest und mit entschlossenem Blick.

Jede Faser in mir sagte, ich solle mich auf ihn stürzen. Ihn aus der Bahn dieses Pferdes stoßen. Aber gerade als sich meine Muskeln zum Eingreifen spannten, wich das Pferd zurück. Hufe schlugen ins Leere. Der massige Körper des Tiers, das sich aufbäumte, schwebte in seiner ungebremsten Kraft über uns, bis es mit einem trompetenden Wiehern wieder auf dem Boden landete und eine riesige Staubwolke aufwirbelte. Es scharrte, schnaubte, beäugte den Jungen, der ein wenig zur Seite trat, die Hände immer noch beschwichtigend erhoben.

Er ließ dem Pferd Spielraum, was für mich überhaupt keinen Sinn ergab. Eingreifen, die Zügel fassen und das wahnsinnige Tier schnell wieder einpferchen, das würde Sinn ergeben. Ich setzte an, genau das zu tun. Aber sobald das Pferd meine Bewegung wahrnahm, scheute es zur Seite.

Der Junge hielt mir eine erhobene Hand entgegen. Die Botschaft war klar. Nicht. Ruhig und bestimmt. Er wusste, was er tat. Nein. Und ich spürte es auch. Es hing in der Luft wie der Geruch von Pferd und Schweiß und Staub. Noch nicht. Er fixierte das Tier mit seinem Blick und wartete.

Das ganze Camp hielt den Atem an und sah zu. Dieser Junge hielt eine ganze Truppe von Offizieren und Rekruten in seinem Bann, und das nur mit seinem Schweigen – mit einer stillen Autorität. Nein, nicht nur mit seinem Schweigen: auch mit seinem unerschrockenen und völlig auf das Tier konzentrierten Blick.

Jetzt machte er einen Schritt vorwärts. Nur einen. Das Pferd hob den Kopf; es war misstrauisch. Er ging noch einen Schritt – versuchte, hinter das Tier zu gelangen –, dann wartete er wieder ab.

Das Pferd drehte den Kopf und richtete den Blick auf den Jungen, als hätte es verstanden, dass sein Leben in diesem Moment dem einzigen Menschen im Camp gehörte, der sich ihm genähert hatte, als alle anderen geflohen waren. Und dass es dort in Sicherheit war.

Der Junge klopfte sich leicht aufs Bein und ging behutsam Stück für Stück näher an das Tier heran, sprach ruhig und leise … bis das zerrissene Seil, das vom Halfter hing, schließlich in seinen Händen lag.

Eine fast greifbare Erleichterung überflutete die Schar zusehender Männer.

Diese Männer würden trainieren und sich diversen Prüfungen unterziehen. Und während des Sommers würden wir die Spreu vom Weizen trennen und herausfinden, was in jedem von ihnen steckte. Wer durchhielt und wer nicht. Wir würden sie testen – zu jeder Tageszeit: beim Exerzieren genauso wie beim Ausruhen. Aber dieses Pferd hatte den Jungen in Sekundenschnelle durch jeden Spießrutenlauf von Tests gebracht, den man sich vorstellen konnte.