Der Doctor und die Lady - Kate Hardy - E-Book
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Der Doctor und die Lady E-Book

Kate Hardy

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Beschreibung

Dr. Jake Lewis hat sich rettungslos verliebt! Ausgerechnet der ehrgeizigen und zudem noch adligen Kollegin Victoria Radley gilt seine ganze Sehnsucht. Doch als es ihm tatsächlich gelingt, sie zu erobern, erkrankt Victoria schwer. Kann Jake sie retten?

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IMPRESSUM

Der Doctor und die Lady erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2006 by Pamela Brooks Originaltitel: „His Honourable Surgeon“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBENBand 7 - 2007 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Susanne Albrecht

Umschlagsmotive: GettyImages_Vasyl Dolmatov, Chinnapong

Veröffentlicht im ePub Format in 10/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733727840

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

Alles über Roman-Neuheiten, Spar-Aktionen, Lesetipps und Gutscheine erhalten Sie in unserem CORA-Shop www.cora.de

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PROLOG

„Ist sie nicht das süßeste Baby der Welt?“

Liebevoll drückte Vicky ihre kleine Nichte an sich, während sie ein Schmunzeln unterdrückte. Wenn jemand ihr vor einem Jahr erzählt hätte, dass ihr mittlerer Bruder ausgerechnet in ein Baby völlig vernarrt sein würde, hätte sie denjenigen ausgelacht. Seb war der Playboy schlechthin gewesen und vor Kindern meilenweit davongelaufen. Doch jetzt war er verheiratet und hatte ein Töchterchen. Und es sah ganz so aus, als würde Chloë Victoria Radley ihren Vater mit Leichtigkeit um den winzigen Finger wickeln. „Ja, Seb. Sie ist entzückend.“

„Alyssa und ich wollten dich um einen Gefallen bitten“, meinte er.

Vicky schaute auf. „Ja?“

„Würdest du ihre Patin werden?“

Patin. Das käme einem eigenen Kind noch am nächsten. Ihre älteren Brüder mochten glücklich verheiratet sein, aber für sie war das nicht bestimmt. Sie hatte keine Zeit für ein Dasein als Ehefrau und Mutter. Schließlich wollte sie Professorin für Neurologie werden, und für eine Frau war das heutzutage immer noch schwierig. Um sich zu beweisen, musste Vicky doppelt so hart arbeiten wie die Männer in ihrem Fachbereich. Dafür musste sie Opfer bringen. An eine Beziehung oder ein Kind war gar nicht zu denken.

Doch während sie Chloë in ihren Armen hielt und den zarten Babyduft einatmete, fragte Vicky sich flüchtig, ob dieser Preis nicht zu hoch war.

Rasch verbannte sie den Gedanken wieder. Natürlich war es das wert. Schon als Mädchen hatte sie davon geträumt, Fachärztin zu werden und sich einen Namen zu machen. Sie wusste, dass sie nicht alles haben konnte. Welchen Sinn hatte es also, sich zu fragen: „Was wäre, wenn …?“

„Vicky?“ Besorgt sah Seb sie an. „Alles okay mit dir?“

„Natürlich, mir geht’s gut.“

„Das stimmt nicht. Du arbeitest zu viel. Ich weiß, dass du Professorin werden willst, und ich bin fest davon überzeugt, dass du es schaffen wirst. Aber du darfst dich dabei nicht kaputtmachen.“

„Mir geht’s gut“, wiederholte Vicky. „Hör auf, mich zu nerven.“

„Ich könnte Alyssa und Sophie bitten, ein ernstes Wort mit dir zu reden.“

Sie lächelte. „Das funktioniert nicht, Seb.“ Ihre beiden Schwägerinnen waren ebenfalls Ärztinnen. Alyssa arbeitete in der Notfallmedizin, und Sophie war Chirurgin. „Sie wissen genau, wie es läuft.“

Er seufzte resigniert. „Na gut, ich halte meinen Mund. Also, machst du’s?“

„Was?“

„Patin werden.“ Seb verdrehte die Augen. „Du bist ein hoffnungsloser Fall. Wenn man dir eine Frage über Neurochirurgie stellt, kannst du stundenlang reden. Aber wenn es um familiäre Dinge geht …“

„So schlimm bin ich ja nun auch wieder nicht. Und danke, ich würde mich sehr geehrt fühlen, Patin zu werden.“ Vicky lächelte. „Vor allem, da ihr die Kleine nach mir benannt habt.“

„Wenn sie auch nur die Hälfte deiner Eigenschaften hat, werde ich stolz auf sie sein“, erklärte Seb.

Vicky war verblüfft. Hatte ihr Bruder, der sie normalerweise nur neckte, ihr gerade ein unglaubliches Kompliment gemacht? „Die Ehe macht dich ja richtig weich.“

„Nein. Mir ist einfach klar geworden, was wichtig ist und dass es mehr im Leben gibt als die Arbeit.“

Misstrauisch schaute sie ihn an. „Wage ja nicht, mich zu verkuppeln. Ich bin glücklich, so wie ich lebe. Und bei dir und Charlie habe ich mich auch rausgehalten.“

„Von wegen. Du hast eine Tombola mit mir als Hauptpreis veranstaltet, um die Paparazzi von Charlie abzulenken, damit er sich mit Sophie aussprechen konnte. Und du hast Alyssa gesagt, dass sie mich heiraten soll.“

„Hör nicht auf deinen Daddy“, meinte Vicky zu ihrer kleinen Nichte. „Ich habe mich überhaupt nicht eingemischt. Ich habe die beiden nur auf einige Dinge aufmerksam gemacht und ihnen dabei geholfen, das Richtige zu tun.“

„Und darüber bin ich sehr froh“, erklärte Alyssa, die gerade ins Wohnzimmer kam. „Hallo. Hat Seb dich schon gefragt?“

„Ja. Und ich nehme gerne an.“

„Gut.“ Alyssa lächelte erfreut. „Aber Seb hat recht. Du arbeitest wirklich zu viel, Vicky.“

„Und mir gefällt es so. Ende der Diskussion“, entgegnete Vicky bestimmt, um das Thema zu wechseln. „Sind Chloës offizielle Babyfotos eigentlich schon da?“

Sofort gingen Alyssa und Seb darauf ein, und wenig später wurden die Babyfotos begeistert betrachtet. Vickys Privatleben blieb dort, wo sie es am liebsten hatte – nämlich unbeachtet.

1. KAPITEL

Am Mittwochvormittag kam Jake unauffällig in die Neurologie – einen Tag vor seinem offiziellen Arbeitsbeginn. Auf diese Weise konnte er am besten feststellen, wie es in seiner neuen Abteilung wirklich zuging. Niemand würde sich von seiner Schokoladenseite zeigen, da man ihn nicht erwartete.

Es schien alles in Ordnung zu sein. Es war viel los, aber dennoch ging alles ruhig und leise seinen Gang. Offenbar war das Mitarbeiterteam wirklich gut eingespielt. Die Station wirkte sauber, und an jedem Bett stand ein Spender mit Sterillium. Das war ein gutes Zeichen. Jake hatte in einigen grauenhaften Krankenhäusern gearbeitet, wo die Verwaltung das Geld mit vollen Händen aus dem Fenster warf und wesentliche Dinge wie Hygiene dagegen völlig vernachlässigt wurden.

Eine Tafel zeigte an, wo Ärzte und die Stationsschwester sich aufhielten und wer welchen Patienten betreute. Also funktionierte die interne Kommunikation ebenfalls gut. Ohne Zweifel war diese Abteilung hervorragend organisiert.

Plötzlich trat vor ihm eine Frau aus einem der Zimmer. Dem offenen weißen Kittel und dem Namensschild nach zu schließen handelte es sich um eine Ärztin. Jake stockte der Atem – sie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Sie war groß, über einsfünfundsiebzig, besaß unglaublich lange Beine, und das dunkle Kostüm verbarg keineswegs ihre fantastische Figur. Dunkle, wellige Haare, die zu einem Nackenknoten geschlungen waren. Graublaue Augen. Und ein Mund, der zum Küssen einlud.

Jake war wie elektrisiert. Einen Moment lang vergaß er, wo er war. Er verspürte ein unwiderstehliches Verlangen, auf sie zuzugehen, sie in die Arme zu ziehen, ihre Haare zu lösen, ihren Kopf nach hinten zu biegen und sie zu küssen. Genau wie im Film.

„Kann ich Ihnen weiterhelfen? Suchen Sie jemanden?“

Der aristokratische Akzent ließ seinen Traum augenblicklich zerplatzen und brachte ihn unsanft auf den Boden der Tatsachen zurück. Sex-Göttinnen wurden normalerweise nicht mit einem Silberlöffel im Mund geboren. Und diese Frau hier war entschieden eine Aristokratin … und reich, denn bei näherer Betrachtung sah das Kostüm wie ein Designermodell aus. Jakes Erfahrung nach warteten Ärzte aus dieser Gesellschaftsschicht, die nicht in einer Privatklinik arbeiteten, irgendwo in einer bequemen Nische, bis sich ihnen etwas Besseres bot.

Hinzu kam, dass sie demnächst seine Kollegin sein würde, und damit war sie für ihn tabu. Jake traf sich grundsätzlich nie mit Mitarbeiterinnen aus seiner eigenen Abteilung. Wenn eine solche Beziehung endete, wirkte sich dies negativ auf das Arbeitsklima aus.

„Nein, danke. Ich komme schon zurecht“, erwiderte er kühl. Dennoch konnte er nicht so tun, als sei er gerade zufällig von draußen hereingekommen. Immerhin musste er ab morgen mit Dr. Victoria Radley – so stand es auf ihrem Namensschild – zusammenarbeiten. „Ich bin Jake Lewis.“ Er streckte die Hand aus.

„Sie sind einen Tag zu früh dran.“

Verärgert bemerkte er, dass ihm eine leichte Röte in die Wangen stieg. Warum benehme ich mich wie ein ungezogener Schuljunge, der vor seiner Klassenlehrerin steht? Schließlich bin ich ihr Vorgesetzter, dachte er. „Ich war zufällig hier in der Gegend und dachte, ich schau mal rein.“

Reinschauen? Er wollte uns wohl eher mal testen, bevor er anfängt, grübelte Vicky.

Genau das hätte sie an seiner Stelle auch getan.

Sie gab ihm die Hand. Fester Händedruck, trockene Handfläche – gut. Aber da war noch etwas. Obwohl er sie nicht mehr berührte, konnte sie immer noch seine Haut spüren. Und auch wenn es ein förmlicher Händedruck gewesen war, hatte er sich seltsam intim angefühlt, beinahe zärtlich.

Rasch verscheuchte Vicky diesen Gedanken. Wie albern. Sie hatte niemals solche Fantasien – und schon gar nicht in Bezug auf Kollegen.

Im Vergleich zu anderen Fachärzten war Jake Lewis anders. Legerer Anzug, bequeme Schuhe. Die meisten Oberärzte, die Vicky kannte, legten großen Wert darauf, ihre maßgeschneiderte Kleidung und die handgefertigten italienischen Schuhe zu präsentieren. Vielleicht interessierte Jake Lewis sich nicht für Mode, sondern tatsächlich mehr für die Medizin.

Doch das war ihr im Moment gleichgültig. Er war ein Kollege, kein potenzieller Liebhaber.

Vicky riss sich zusammen. „Die Visite haben Sie gerade verpasst. Aber wenn Sie wollen, kann ich den Kollegen Bescheid geben, die hier sind.“

„Nein, damit warte ich lieber bis morgen.“

Ziemlich schroff. Hmm, dachte sie. Hoffentlich geht er mit den Patienten etwas freundlicher um. Schade. Wenn er mal lächeln würde, sähe er sogar richtig gut aus. Er war groß genug, um ihr in die Augen zu schauen. Dunkle, seelenvolle Augen. Dunkles Haar, das ihm in die Stirn fiel und im Nacken ein klein wenig zu lang war. Und ein Mund, den sie nur zu gerne berühren würde …

Nein, natürlich nicht. Abgesehen davon, dass er ab morgen ihr Vorgesetzter war, hatte Vicky für so etwas nichts übrig. Die Arbeit hatte oberste Priorität in ihrem Leben, da war für Beziehungen kein Platz. So war es schon immer gewesen und würde es auch immer sein. Zumindest so lange, bis sie Professorin für Neurologie geworden war. Danach wäre sie eventuell bereit, die Situation noch einmal zu überdenken. Aber bis dahin auf gar keinen Fall.

„Möchten Sie sonst noch irgendwas sehen?“, erkundigte sie sich. „Es spart morgen vielleicht Zeit, wenn ich Ihnen zeige, wo das Stationszimmer, die Schließfächer und die Küche sind.“

Jake rief sich energisch zur Räson. Er hoffte, dass er keinen allzu dämlichen Ausdruck im Gesicht hatte. Victoria Radley war es sicherlich gewohnt, dass ihr die Männer zu Füßen lagen. „Nein, das ist nicht nötig. Ich bin bloß spontan vorbeigekommen.“

Ihre Miene verriet, dass sie ihm kein Wort glaubte.

„Und ich bin sicher, dass Sie genug zu tun haben“, fügte er hinzu.

Als sich ihre Miene bei seinen Worten verdüsterte, wurde ihm bewusst, was er da gerade gesagt hatte. Er hatte es so gemeint, dass er ihre Zeit nicht in Anspruch nehmen wollte, doch Dr. Radley hatte es zweifellos als Kritik an ihrer Arbeitseinstellung verstanden.

Kühl erwiderte sie: „Ganz recht. Dann sehen wir uns morgen, Dr. Lewis.“ Damit drehte sie sich um und ging davon.

Jake fluchte im Stillen. Falls er dieses Missverständnis nicht aufklärte, würde sie morgen ihm gegenüber eisig sein. Und vermutlich erzählte sie ihren Kollegen, dass der Neue sich wer weiß wie aufspielte. Aber wenn er hinter ihr herlief, um die Sache richtigzustellen, würde er wie ein Idiot dastehen. Da war eisige Professionalität noch das kleinere Übel. Deshalb beschloss er, erst am nächsten Tag mit Victoria Radley zu sprechen.

„Ob Jake Lewis wohl Single ist?“, fragte die Stationsschwester.

Vicky zuckte mit den Achseln. „Mich interessiert eher, ob er gut in seinem Job ist.“

Gemma warf ihr einen prüfenden Blick zu, den Vicky geflissentlich ignorierte. Wann würden die Kollegen denn endlich begreifen, dass sie nicht an einer Beziehung interessiert war, bevor sie ihre beruflichen Ziele erreicht hatte? Und für Jake Lewis, den neuen Oberarzt, hatte sie nun wirklich nichts übrig. Sie war ihm noch immer böse wegen gestern. Sie hatte sich bemüht, ihn willkommen zu heißen, und er hatte ihr zu verstehen gegeben, dass sie ihre Pflichten vernachlässigte.

Seinen Irrtum würde er jedoch bald genug erkennen. Victoria Charlotte Radley war kein Faulpelz, ganz im Gegenteil.

„Er scheint nett zu sein. Und du musst zugeben, dass er gut aussieht“, fuhr Gemma fort. „Groß, dunkel und sehr attraktiv. Und diese Augen … wie geschmolzene Schokolade.“

Vicky seufzte tief. Entweder hatte Gemma die Botschaft nicht verstanden, oder sie wollte sie einfach nicht verstehen. Doch ehe Vicky ihren Standpunkt deutlich machen konnte, piepte ihr Pager. Sie schaute auf das Display. „Ich werde in der Notaufnahme gebraucht. Ich mache die Visite später weiter, und ich rufe durch, sobald ich weiß, in welchem OP ich bin.“

„Okay. Ich trage dich auf der Tafel ein.“

„Danke.“ Vicky lächelte ihr zu, bevor sie in die Notaufnahme eilte.

„Ich bin Dr. Radley. Sie haben mich gerufen?“, erkundigte sie sich bei der jungen Frau dort am Empfang.

„Ja. Es geht um einen von Dr. Francis’ Patienten. Ich sage dem Doktor Bescheid, dass Sie hier sind.“ Sie ging in einen Nebenraum und kam wenig später mit einem jungen Arzt zurück.

„Hugh Francis, Assistenzarzt. Danke, dass Sie gekommen sind, Dr. Radley“, meinte er. „Ich habe einen Zehnjährigen mit Verdacht auf ein subdurales Hämatom.“

„Ist er gestürzt?“, fragte Vicky.

„Er ist gestolpert und hat sich den Kopf an einer Skateboard-Rampe aufgeschlagen.“

„Hat er denn keinen Helm getragen?“

„Ich konnte leider nicht viel aus ihm rauskriegen“, gestand Hugh. „Er war ziemlich eingeschüchtert. Aber einer Schwester hat er erzählt, dass er in der Schule terrorisiert wird. Eine Gruppe von Jungs hat ihm heute Morgen auf dem Schulweg aufgelauert und ihn die ganze Zeit verspottet, dass er dies und jenes auf der Rampe nicht könne. Sie haben ihm so lange zugesetzt, bis er es doch probiert hat, obwohl er keinen Helm dabeihatte. Sie verspotteten ihn als Feigling, wenn er sich nicht ohne trauen würde.“

„Und er dachte, sie würden ihn in Ruhe lassen, wenn er tut, was sie verlangen.“

„So ungefähr.“

Kinder können grausam sein, erinnerte sich Vicky. Sie dachten sich Schikanen aus, um Schwächere zu quälen. Und wahrscheinlich waren Mädchen noch schlimmer als Jungen, weil sie sich auf psychische Sticheleien spezialisierten. Als hochintelligentes und noch dazu adeliges Mädchen war Vicky selbst eine bevorzugte Zielscheibe gewesen. Ihrer Mutter hatte sie davon nichts berichtet. Aber eines Tages hatte ihr Bruder Charlie sie nach der Schule weinen sehen und darauf bestanden, dass sie ihm erzählte, was los war. Daraufhin hatten er und Seb ihr einige Judotricks beigebracht, damit sie sich verteidigen konnte. Sobald sie diese beherrschte, hatte sie dafür gesorgt, dass ihre Quälgeister auf dem Schulhof am Boden lagen und heulten. Danach musste sie zwar wochenlang nachsitzen, aber das war es ihr wert gewesen. Und die anderen Mädchen hatten aufgehört, sie zu ärgern.

„Armer Junge“, meinte sie mitfühlend. „Wissen Sie, ob er bewusstlos war?“

„Er sagt Nein. Aber er kam zu spät zur Schule, und die Lehrerin merkte, dass er ein bisschen abwesend und durcheinander wirkte. Sie glaubte, dass er Klebstoff geschnüffelt habe, und hat ihn ins Krankenzimmer geschickt. Dort gab er an, dass er Kopfschmerzen hätte, wollte aber nichts weiter sagen.“

Natürlich nicht. Dann hätten sie ihn heimlich tyrannisiert. Vor den Lehrern zeigten sie sich als die reinsten Engel, aber alleine war man ihnen hilflos ausgeliefert.

„Zum Glück hat die Schulschwester ihn gleich zu uns geschickt“, unterbrach Vicky ihre Gedanken.

„Da sie keinerlei Substanzen riechen konnte, hat sie seinen Eltern Bescheid gesagt, dass sie ihn sofort hierherbringen sollten.“

„Gut. Was haben Sie bisher gemacht?“

„Die Standarduntersuchung. Pupillen und Ohren sind in Ordnung, aber Blutdruck, Puls und Atmung gefallen mir nicht“, erwiderte Hugh besorgt. „Ich glaube, der Schädelinnendruck steigt, aber ich wollte lieber eine Expertenmeinung einholen.“

„Okay, ich schau ihn mir mal an. Und wir sollten eine Computertomografie machen lassen.“

„Ich habe den Kollegen schon Bescheid gesagt.“

Vicky lächelte. „Ausgezeichnet.“ Sie folgte ihm zu einer der Kabinen, wo ein blasser, schlaksiger Junge auf dem Bett lag. Neben ihm saß eine ängstlich wirkende Frau.

„Mrs. Foster, dies ist Dr. Radley, eine Neurologin“, stellte Hugh sie vor. „Dr. Radley, das ist Declan.“

„Hallo Declan … Mrs. Foster.“ Vicky setzte sich aufs Bett und nahm die Hand des Jungen. „Ich heiße Vicky und werde mich jetzt ein bisschen um dich kümmern. Zuerst gucke ich mal in deine Augen, und danach wird ein CT gemacht, um festzustellen, warum du dich so schlapp fühlst.“

„Tut mir leid“, murmelte er. „Ich will Ihnen keine Umstände bereiten.“

„Hey, dazu bin ich doch da.“ Sie drückte ihm die Hand. „Wir kriegen das schon wieder hin.“ Nach der Augenuntersuchung fragte sie: „Weißt du, was ein CT ist, Declan?“

„Nein.“

„Das ist eine besondere Form des Röntgens, mit der dein Kopf von vielen verschiedenen Seiten fotografiert werden kann. Ich zeige dir die Bilder später am Computer. Und wenn du willst, drucke ich dir welche aus, damit du sie deinen Freunden zeigen kannst.“

„Ich habe keine Freunde.“ Er sagte es scheinbar gleichgültig, doch Vicky war sicher, dass er litt. Sie erinnerte sich nur zu gut an das Gefühl, Außenseiter zu sein.

„Ich möchte dir einen kleinen Rat geben“, sagte sie sanft. „Rede doch einfach mal mit den Mädchen. Manche von ihnen mögen vielleicht dieselben Sachen wie du.“

„Mädchen mögen keine Gameboys und die Römer auch nicht“, erklärte Declan.

„Als ich in deinem Alter war, habe ich gerne am Computer gespielt“, entgegnete Vicky. „Versuch’s einfach mal. Was hast du schon zu verlieren?“ Sie lächelte ihm zu. „Jetzt wird Hugh dich zum Röntgen bringen, und ich unterhalte mich solange mit deiner Mum.“

„Aber sagen Sie nichts in der Schule“, bat Declan. Er schluckte. „Sagen Sie denen nicht, was ich Ihnen erzählt habe. Bitte.“

„Schon gut“, besänftigte sie ihn. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, das verspreche ich dir.“

Als Hugh Declan mit einem Rollstuhl hinausfuhr, traten Mrs. Foster Tränen in die Augen. „Entschuldigen Sie.“ Sie wischte sie fort. „Ich fühle mich so unfähig. Ich hatte ja keine Ahnung, dass er terrorisiert wird. Was bin ich bloß für eine Mutter?“

„Eine ganz normale“, versicherte Vicky. „Glauben Sie mir, es ist oft schwer festzustellen, ob ein Kind tyrannisiert wird. Manchmal wird es stiller als vorher, manchmal genau das Gegenteil. Aber es wird Ihnen nichts erzählen, bis es selbst dazu bereit ist.“ Ihr war es genauso ergangen. Sie hatte alles für sich behalten, weil sie glaubte, es sei ihre Schuld, und wenn irgendjemand davon erfuhr, würde er sie auch wie Dreck behandeln.

„Es ist schrecklich. Ich weiß nicht, was diese kleinen Biester ihm angetan haben. Und wie lange das schon so geht. Er will nicht darüber reden.“

„Wenn man terrorisiert wird, versucht man das zu verbergen. Man will vermeiden, dass irgendjemand davon erfährt, weil die Betreffenden dadurch Schwierigkeiten bekommen. Und man hat Angst, dass es dann noch schlimmer wird. Oder man ist davon überzeugt, dass man selbst daran schuld ist, weil man irgendwie anders ist. Durch die Art, wie man spricht, seine Haarfarbe oder Sommersprossen … was immer einen von den anderen unterscheidet. Aber jetzt wissen Sie ja Bescheid und können ihm helfen. Stärken Sie sein Selbstwertgefühl, indem Sie ihn loben. Und achten Sie darauf, dass Sie ihn für ganz konkrete Dinge loben, damit er merkt, dass Sie es ernst meinen und nicht nur nett zu ihm sind. Vielleicht können Sie ihn ja auch in einer Kampfsportschule anmelden, damit er sich gegen körperliche Übergriffe wehren kann“, schlug Vicky vor. „Mrs. Foster, jetzt muss ich noch ein paar Dinge über Declan wissen, ehe ich ihn behandeln kann. Darf ich Ihnen einige Fragen stellen?“

Mrs. Foster nickte. „Natürlich.“

„Hat er schon einmal eine Kopfverletzung gehabt?“

„Nicht dass ich wüsste.“

„Gut. Hat er irgendwelche Allergien … gegen Penicillin oder Ähnliches?“

„Nein. Er war eigentlich immer gesund.“

„Nimmt er Medikamente?“

„Nein. Was hat er denn?“

„Ich muss erst das CT abwarten, aber ich vermute, er hat ein subdurales Hämatom, ein Blutgerinnsel zwischen Gehirn und Schädeldecke.“

Mrs. Foster erschrak. „Heißt das, dass er operiert werden muss?“

„Das weiß ich erst, wenn ich die Aufnahmen gesehen habe“, antwortete Vicky aufrichtig. „Manchmal ist keine Operation notwendig, weil die kleineren Hämatome sich oft von selbst zurückbilden. Aber manchmal müssen wir operieren, bevor zu viel Druck auf das Gehirn entsteht.“

„Mein armer Junge“, flüsterte Mrs. Foster.

„Sollen wir irgendjemanden für Sie anrufen?“

„M…mein Mann ist schon unterwegs.“

„Gut. Falls Sie noch Fragen haben, lassen Sie es mich wissen. Dafür bin ich da.“

Als Declan sein CT hinter sich hatte, war auch Mr. Foster eingetroffen. Gemeinsam mit Hugh betrachtete Vicky die Bilder eingehend und deutete auf einen bestimmten Bereich. „Das hier gefällt mir ganz und gar nicht. Er muss in den OP.“ Sie kehrte zu Declan und seinen Eltern zurück.

„War das CT in Ordnung?“, fragte Mr. Foster.

„Ich fürchte, nein“, antwortete sie behutsam. „Das Blutgerinnsel verursacht eine Schwellung, sodass das Gehirn nicht genug Sauerstoff bekommt. Deshalb hat Declan Probleme mit dem Sehen und wirkt ein bisschen verwirrt. Aber ich kann ihn operieren. Er bekommt eine Vollnarkose, und ich werde eine winzige Öffnung in seinen Schädel schneiden, um das Blutgerinnsel zu entfernen. Danach muss er noch etwa eine Woche zur Beobachtung hierbleiben.“

„Er wird doch nicht sterben, oder?“, fragte Mrs. Foster mit gesenkter Stimme und wandte den Kopf ab, damit Declan es nicht mitbekam.

„Es gibt gewisse Risiken, ja“, erwiderte Vicky leise. „Aber es ist wesentlich sicherer zu operieren, als es so zu lassen. Er wird danach Kopfschmerzen haben, aber keine schlimmeren Beschwerden.“