Der Dreizehnte - Leni Behrendt - E-Book

Der Dreizehnte E-Book

Leni Behrendt

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Beschreibung

Leni Behrendt nimmt längst den Rang eines Klassikers der Gegenwart ein. Mit großem Einfühlungsvermögen charakterisiert sie Land und Leute. Über allem steht die Liebe. Leni Behrendt entwickelt Frauenschicksale, wie sie eindrucksvoller nicht gestaltet werden können. »Nur nicht so stürmisch, ich komme ja schon«, brummte Jonas, als die Flurglocke schon zum zweitenmal anschlug. Dann stolzierte er mit gravitätischen Schritten nach dem schmalen, engen Korridor, öffnete die Tür und fuhr zurück. »Oh – der Herr…«, stammelte er verwirrt, »ich bitte um Entschuldigung.« »Warum entschuldigst du dich denn?« fragte lachend der vor ihm stehende große blonde Mann. »Weil ich mir so viel Zeit mit dem Öffnen ließ, Herr.« »Ach so…«, lachte der Besucher noch lustiger, trat in den Korridor und packte den Diener bei den Schultern. »Tag, Jonas, altes Haus, wo ist meine Mutter?« »Die Herrin hält ihr Kaffeestündchen.« »Ah, so…«, meinte der Gast. Er durchmaß mit zwei Schritten den Korridor, klopfte an die letzte Tür und stand gleich darauf vor einer Dame, die an einem runden Tischchen saß und mit Behagen den geliebten braunen Trank schlürfte. »Mutti!« rief der große Junge mit verhaltenem Jubel, stand mit einem langen Schritt vor ihr, hob sie wie eine Feder empor und drückte sie an sein Herz. »Unband!« drohte die Mutter, als sie wieder auf ihrem Sessel saß. Helle Freude leuchtete ihr aus den Augen.

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Leni Behrendt Bestseller – 14 –

Der Dreizehnte

Leni Behrendt

»Nur nicht so stürmisch, ich komme ja schon«, brummte Jonas, als die Flurglocke schon zum zweitenmal anschlug. Dann stolzierte er mit gravitätischen Schritten nach dem schmalen, engen Korridor, öffnete die Tür und fuhr zurück.

»Oh – der Herr…«, stammelte er verwirrt, »ich bitte um Entschuldigung.«

»Warum entschuldigst du dich denn?« fragte lachend der vor ihm stehende große blonde Mann.

»Weil ich mir so viel Zeit mit dem Öffnen ließ, Herr.«

»Ach so…«, lachte der Besucher noch lustiger, trat in den Korridor und packte den Diener bei den Schultern. »Tag, Jonas, altes Haus, wo ist meine Mutter?«

»Die Herrin hält ihr Kaffeestündchen.«

»Ah, so…«, meinte der Gast. Er durchmaß mit zwei Schritten den Korridor, klopfte an die letzte Tür und stand gleich darauf vor einer Dame, die an einem runden Tischchen saß und mit Behagen den geliebten braunen Trank schlürfte.

»Mutti!« rief der große Junge mit verhaltenem Jubel, stand mit einem langen Schritt vor ihr, hob sie wie eine Feder empor und drückte sie an sein Herz.

»Unband!« drohte die Mutter, als sie wieder auf ihrem Sessel saß. Helle Freude leuchtete ihr aus den Augen.

»Ach ja – schön ist es hier«, atmete der Sohn tief auf und streckte die langen Glieder, sich in einen Sessel niederlassend.

Jäh war das Strahlende, Leuchtende aus den blauen Augen gewichen. Der junge Mann sprang aus dem Sessel hoch, trat an das Fenster und starrte hinaus. Doch gleich darauf fühlte er eine leichte Hand auf seiner Schulter, fuhr herum und sah in die gütigen Mutteraugen.

»Jobst Oluf, ich weiß zwar nicht, was dir fehlt – du scheinst mir jedoch mutlos zu sein.«

Der düstere Ausdruck war aus seinem Antlitz gewichen, die Augen strahlten fast wie vorher. Mit einer zarten Gebärde umfaßte er der Mutter Schulter, drückte sein Gesicht in ihr duftiges Haar.

»Laß gut sein, Mami«, sagte er. »Ich selbst werde ja wohl bestimmt nicht untergehen. Doch du – der ich am liebsten die Sterne vom Himmel herabholen möchte…«

Die Mutter strich tröstend über den tiefgeneigten Kopf ihres Sohnes. »Jetzt wieder Kopf hoch, Junge«, ermunterte sie ihn. »Mutlosigkeit ist keine rühmliche Eigenschaft. Und außerdem bist du rücksichtslos, indem du mir den geliebten Trank entziehst, der jetzt kalt und schal geworden ist.«

Sie führte den Sohn zu dem Sessel zurück, auf dem er schon vorhin gesessen, nahm dann selber Platz und schenkte frischen Kaffee in die hauchdünnen Schalen.

»Nun erzähle, Jobst Oluf«, bat sie leise.

»Es ist mit wenigen Worten gesagt, Mutter – ich bin wieder einmal stellungslos.«

Die Mutter war gar nicht überrascht, sie hatte etwas Ähnliches zu hören erwartet. Es war ja auch nicht das erste Mal, daß er so vor ihr saß, ihr eine solche Eröffnung machte. »Und was war es diesmal, mein Junge?«

»Was wird es schon gewesen sein – Weibergeschichten«, war die kurze, aber erschöpfende Antwort. Und auch die überraschte die Mutter nicht, sie hatte auch die erwartet.

»Gattin…? Tochter…?« fragte sie ebenso kurz zurück.

»Beide…«, erwiderte er, und das klang nun schon humorvoll.

Auch Frau Hortense konnte sich der Komik dieser kurzen Antwort nicht verschließen und lachte amüsiert auf. Sie konnte es sich nur zu gut denken, daß dieser Mann den Frauen und Mädchen gefiel. Wen er mit seinen blitzenden Augen anstrahlte, den hatte er schon halb gewonnen. Und wen diese Augen anfunkelten – in Spott, Mißbilligung und Überlegenheit, der schlug unwillkürlich den Blick vor ihnen nieder.

So war es auch Herrn Wolle ergangen, auf dessen Gut er noch bis heute als Inspektor geweilt hatte, als er seinem Untergebenen klarmachte, daß er zu arbeiten hätte und nicht nach seiner jungen, hübschen Frau zu schielen. Hätte er es auf die Tochter abgesehen, das könnte er noch zur Not vertragen. Er wäre ja kein Unmensch, und er, Jobst Oluf Rave, ein schneidiger Kerl. Er hätte eben Anspruch auf eine Frau, die »klingende Werte« mit in die Ehe brächte und ihn so aus der mißlichen Lage risse, in der er sich augenblicklich befände.

Ganz in Eifer hatte sich der gutherzige, selbstgefällige Herr Neureich geredet und war in gelinden Zorn geraten, als er Spott und Geringschätzung in Augen und Mienen seines Inspektors las.

»Ach so – meine kleine Lia ist dem Herrn mit den großartigen Allüren nicht gut genug!« hatte er geschrien. »Unter diesen Umständen können wir beide nicht zusammen arbeiten, Herr Inspektor.«

Das hatte dieser auch sofort eingesehen, und zuletzt trennte man sich in aller Güte, und Herr Wolle hatte erklärt, daß es ein Jammer und eine Schande sei, daß die Dinge lägen, wie sie nun einmal lagen.

Alles das erzählte Jobst Oluf seiner Mutter, sprach mit so viel Humor, daß sie bei der launigen Schilderung mehr als einmal hellauf lachte.

Mit keinem Wort fragte die Mutter, wie weit er schuld daran sei, daß die Frauen und Mädchen sich überall in ihn verliebten. Sie war von seiner Ehrenhaftigkeit überzeugt.

*

Langsam und sicher hielt nun die Sorge Einzug in das kleine Heim. Jobst Oluf unterhielt die Mutter, hatte ihr auch die kleine Wohnung in dem Neubau gemietet. Die Räumlichkeiten waren sehr beschränkt, genügten jedoch für Frau Hortense und den Bedienten Jonas. Die Möbel gehörten eigentlich nicht in diese mehr als schlichten Räume und nahmen sich daher recht deplaciert aus. Sie erzählten eindringlich von einer fernen glücklichen Zeit.

Die Wohnung bestand aus Schlaf- und Wohnzimmer und einer schmalen Stube, in der Jonas hauste. Nun mußte er diese seinem Herrn einräumen und sich sein Bett allabendlich in der engen Küche aufschlagen, was er ohne Murren tat.

In den ersten Wochen ging auch alles gut und glatt. Herr Wolle hatte seinem Inspektor ein volles Jahresgehalt ausgezahlt, von dem sie nun leben mußten. Doch die kleine Summe ging mit beängstigender Geschwindigkeit zur Neige, und weiteres Geld war in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Denn so sehr sich Jobst Oluf auch um eine neue Stelle bemühte, er hatte immer negativen Erfolg.

Die Herren konnten es sich ja erlauben, wählerisch zu sein. Die meisten Landwirte waren gezwungen, sich bei der schlechten Konjunktur so viel wie möglich einzuschränken oder mußte ihre Güter selbst bewirtschaften. Und die, die sich noch einen Beamten leisten konnten, wählten bei dem Überfluß an Bewerbern selbstverständlich nur die, die ganz und gar ihren Wünschen entsprachen.

Und Jobst Oluf Rave sagte keinem der Herren zu, denen er seine Dienste anbot. Sie suchten einen Beamten, der Hand in Hand mit ihnen arbeitete und das Gut leitete – aber keinen mit dem Auftreten des vornehmen Weltmannes. Sie trauten ihm ganz einfach keine ernste Pflichterfüllung zu.

Es kam der Tag, an dem auch der letzte Rest des Geldes aufgebraucht war.

So mußte man daran denken, die wenigen Wertstücke zu veräußern, die noch aus besseren Tagen stammten.

Jobst Oluf, der schon länger als ein halbes Jahr ohne Stellung war, mußte nun einen bitter schweren Gang tun. Mußte sich von allerlei trennen, was ihm lieb und wert, von den beiden schweren Ringen, dem altgoldenen Zigarettenetui und der kostbaren Armbanduhr.

Mit zusammengepreßten Zähnen und zitternden Händen reichte er dem Juwelier die Stücke hin. Die kalten, forschenden Augen des Geschäftsmannes glitten über die Gestalt des Mannes hin.

»Die Dinge sind kostbar, mein Herr. Indes – ich bin nicht in der Lage, sie Ihnen abzukaufen. Heutzutage gibt niemand mehr so beträchtliche Summen für Schmucksachen aus, wie diese Stücke sie bringen müßten. Dazu weisen die Schmuckstücke noch ein Wappen auf – sind also durchaus persönlich. Vielleicht versuchen Sie es einmal in einer größeren Stadt, da kann es eher möglich sein, daß sich Liebhaber für derartiges finden.«

Damit war Jobst Oluf abgefertigt und mußte noch tief im Herzen zugeben, daß er froh darüber sein konnte, daß es so und nicht anders gekommen war. Auch die Mutter schien es lange nicht so niederzudrücken wie er angenommen, als er unverrichteter Sache nach Hause zurückkehrte.

Davon wurde ihre Lage allerdings nicht besser, und die Miete konnte nicht bezahlt werden, wofür es höchste Zeit war. Und als sich Jobst Oluf wieder zu einem schweren Gang anschicken wollte, um den Hauswirt zu bitten, ihnen die Miete zu stunden, da legte Jonas wie zufällig eine Quittung auf den Tisch, aus der zu ersehen war, daß diese bereits beglichen sei.

»Jonas – du hast doch nicht etwa von deinem Geld…?« fragte Frau Hortense mit versagender Stimme.

Doch der wehrte mit einer Handbewegung ab, als wäre diese Zumutung recht beleidigend für ihn. Schritt aus dem Zimmer, als lohne es sich gar nicht, weiter über die Sache zu sprechen.

Die Herrin starrte ihm nach und brach dann in fassungsloses Schluchzen aus.

Was Wunder, wenn Jobst Oluf über sich selbst, über die ganze Welt ergrimmte! Sich einen elendiglichen Schwächling schalt, der nicht einmal dazu imstande sei, seinen und der geliebten Mutter Unterhalt zu verdienen.

*

Wieder vergingen Wochen, und die drei Menschen in der kleinen Wohnung des Neubaus führten immer noch ein Leben voll Einschränkung und Not. Die tiefe Demütigung, die Mutter und Sohn empfunden, als ihnen zur Gewißheit wurde, daß sie von dem Geld des Dieners lebten, war einer stillen Resignation gewichen.

Hätten sie geahnt, daß Jonas schon längst die kleine Summe, die er bisher als Notgroschen auf der Bank gehabt, aufgebraucht hatte – und nun anfing, seine überflüssigen Kleidungsstücke an einen Trödler zu veräußern – ihr Entsetzen wäre grenzenlos gewesen!

Eben packte er wieder mit recht sorgenvoller Miene ein Kleiderbündel zusammen, um sich damit verstohlen zum Trödler zu schleichen.

Sehr befriedigt kehrte er eine halbe Stunde später von seinem heimlichen Gang zurück, die alten Kleider hatten mehr gebracht, als er zu hoffen gewagt hatte. Da konnte er einmal leichtsinnig sein und der Herrin einen Kaffee brauen, wie sie ihn so gern trank.

Er war eben im Begriff, in den Laden zu treten, der dem Neubau gegenüberlag, um Kaffee zu kaufen, als ihn eine Männergestalt seltsam fesselte. Dieser Mann hastete die Straße entlang und machte einen nervösen und gehetzten Eindruck. Er hielt einen Lodenmantel fest gegen die Brust gedrückt, der zu einem Bündel zusammengeballt war.

Vor dem Steinkasten blieb er stehen, sah sich hastig nach allen Seiten um, als fühlte er seine Verfolger auf den Fersen und verschwand dann in dem Haus.

Das alles kam Jonas ziemlich verdächtig vor. Ohne in den Laden zu treten, überschritt er schnell den Fahrdamm, eilte in das Haus – und blieb wie erstarrt stehen.

Denn soeben drückte der Fremde Jobst Oluf Rave das Bündel in den Arm, zog die Korridortür hinter sich zu und wollte eiligst davonhasten.

»Halt!« donnerte Jonas ihn an und versperrte ihm den Weg.

»Mein Herr – ich bitte Sie – lassen Sie mich durch!« bettelte der seltsame Fremde beschwörend. »Es hängt wirklich sehr viel für mich von diesem Augenblick ab. Folgen Sie mir, und Sie werden sehen, daß ich nichts Schlechtes im Schilde führe.«

Etwas in seiner Stimme rührte Jonas. Er wollte fragen, was das alles zu bedeuten habe, jedoch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Denn der Fremde hatte sich ganz plötzlich in einen sorglosen Herrn verwandelt, der mit ruhigen Schritten den beiden Menschen entgegenging, die soeben den Flur des Hauses betraten.

Die Dame schien aufgelöst vor Erregung, stürzte sich auf den lächelnden Mann und schrie wie besessen: »Wo hast du Baby?«

Die nachtschwarzen Haare, die dunklen Augen in dem tiefbrünetten Gesicht ließen darauf schließen, daß sie eine Ausländerin sei.

Ihr Begleiter schien ebenfalls kein Deutscher zu sein, doch der Herr, den Jonas nun seit Minuten kannte, war es auf alle Fälle.

»Was suchst du eigentlich hier, Grace?« fragte er mit lächelnder Ironie. »Was willst du eigentlich von mir? Ich an deiner Stelle würde mich hüten, in einem fremden Haus einen derartigen Skandal zu machen.«

Das schien die erregte Dame zur Besinnung zu bringen. Ihre Stimme klang nun leise und verhalten, als sie fragte: »Wo halten du meine Baby gefangen? Es müssen sein in dieses Haus, meine Baby!«

»Ja, gewiß – bei den Schneidersleuten oben ist es, bei denen ich soeben zur Anprobe war«, entgegnete er dreist und unverfroren.

Diese Sicherheit verblüffte die erregte Frau. Leise weinend wandte sie sich an ihren Begleiter.

»André – meine Baby«, schluchzte sie und lehnte sich an seine Brust, was dem Herrn anscheinend sehr peinlich war.

»Laß doch, Grace«, sagte er. »Ich habe dir doch gesagt, daß du das Baby nicht mitnehmen kannst. Wir müssen wirklich eilen, damit wir noch den Zug erreichen.«

»Ohne Baby ich nicht kommen mit«, schluchzte die Frau herzzerreißend.

»Das hättest du dir früher überlegen sollen, bleibe denn hier, und ich fahre ohne dich«, entgegnete der Herr nun reichlich unwillig.

»Sagst du, wo mein Baby ist?« zischte die Dame dem Herrn noch einmal drohend zu, der neben Jonas stand.

»Zu Hause«, war die erschöpfende Antwort. »Wenn du mir nicht glaubst, kannst du ja zur Polizei gehen und die Stadt und Umgegend nach Baby durchsuchen lassen. Vielleicht wird dir das Gericht dann noch einmal deutlich klarmachen, daß du jedes Recht an das Kind verwirkt hast.«

»Oh, du jämmerlicher Schuft!« keuchte sie, und die kleine Faust fuhr ihm unter die Nase. Da zog ihr Begleiter sie fort, zerrte sie aus dem Hause und nach dem Auto hin, das auf der Straße hielt. Als sie sich noch einmal umwenden wollte, stieß er sie ohne weiteres in das Auto hinein und schlug die Tür zu.

Der andere Mann war ihnen gefolgt, stand nun neben dem Auto, schaute in dessen Inneres und pfiff leise durch die Zähne.

»Oh, mein Freund ist ja auch darin.« Er verbeugte sich ironisch zu einer Gestalt hin, die neben dem Chauffeur saß.

Er sah dem Auto nach, bis es um die Ecke verschwunden war, und wandte sich dann an Jonas, packte dessen Arm und zog ihn in das Haus hinein.

»Kommen Sie, noch ist die Gefahr nicht vorüber«, flüsterte er ihm zu.

Kopfschüttelnd folgte er dem seltsamen Fremden, der nun mit wenigen Schritten vor der Tür der Raveschen Wohnung stand und wie besessen klingelte. Die Tür öffnete sich, und Jobst Oluf stand vor ihnen, immer noch mit rührendem Ungeschick das rätselhafte Bündel im Arme haltend.

Der Anblick war so komisch und rührend zugleich, daß der Fremde schnell die Tür hinter sich zuzog und dann in ein herzliches Lachen ausbrach.

»Mein Herr, wer Sie auch sein mögen«, sagte der Fremde immer noch lachend, »ich bin Ihnen jedenfalls zu großem Dank verpflichtet. Wenn Sie mir nun gestatten wollen, ein wenig bei Ihnen zu verweilen, dann will ich Ihnen alles erklären.«

Nun kam auch Frau Hortense herbei, die das Schrillen der Glocke aus dem Mittagsschläfchen gestört hatte. Einen Augenblick lang zögerte sie, doch dann zeigte sie mit einer einladenden Bewegung nach der Tür des Wohnzimmers und ließ den Herrn eintreten.

Jetzt erst sah der Fremde die Menschen an, mit denen er auf so seltsame Art bekannt geworden, und tiefes Erschrecken malte sich auf seinem hübschen, offenen Gesicht.

Er hatte geglaubt, bei Leuten zu sein, wie sie eben in derartigen Steinkästen wohnen. Erschrocken und sehr verlegen flog nun sein Blick über die kostbare Einrichtung des Zimmers, blieb an den vornehmen Gestalten von Mutter und Sohn haften.

»Verzeihung«, stotterte er fassungslos. »Ich dachte – ich glaubte – in solchem Hause.«

»Das tut ja wirklich nichts zur Sache, mein Herr«, sagte Frau Hortense ganz liebenswürdig. »Wollen Sie nicht Platz nehmen?«

Sie bot ihm einen Sitz an, den er auch sofort einnahm. Er war tief beschämt.

»Jobst Oluf, was hast du denn da?« wandte sich Frau Hortense lachend an den Sohn, der noch immer stocksteif dastand, das Bündel mit herrlichem Ungeschick hielt.

»Ich glaube, es ist etwas Lebendiges«, sagte er ebenfalls lachend.

Die Mutter trat zu ihm und lüftete den Mantel.

»Ein Kind!« rief sie dann verblüfft und schaute auf ein vielleicht zehn Wochen altes Kind, das fest schlief.

Es herrschte tiefe Stille in dem Zimmer, als sich Frau Hortense nunmehr dem Fremden zuwandte, der zerknirscht in seinem Sessel kauerte.

»Mein Herr, wollen Sie uns nicht erklären…?«

Er war so blaß und verstört, daß Jonas hinauseilte und gleich darauf mit einer Karaffe Wasser und einem Glas zurückkehrte.

Währenddessen hatte Frau Hortense das Kind von des Sohnes Arm genommen, schritt zum Sofa und bettete das Kleinchen warm und weich.

Das Wasser half dem Fremden wieder auf die Beine, und nun stand er vor Frau Hortense und Jobst Oluf, sich in tadelloser Weise vor ihnen verbeugend.

»Hans Heinrich Brandler«, nannte er seinen Namen und sah dann hoch, mit dem ihm eigenen treuherzigen Blick. Und er entwaffnete auch Frau Hortense.

»Nehmen Sie wieder Platz, Herr Brandler, und erklären Sie uns die Situation, die, wie Sie wohl zugeben werden, recht seltsam ist.«

»Ach ja«, atmete er erleichtert auf.

»Ich heiße Hans Heinrich Brandler, wie ich schon sagte, und bin Besitzer des Gutes Groß-Löschen, das fünf Kilometer von dieser Stadt entfernt liegt. Vor etwas mehr als einem Jahr heiratete ich eine Südamerikanerin, eine Pensionsfreundin meiner Base Manuela Brandler, die Besitzerin der Herrschaft Hohenweiden ist.

Meine jetzt von mir geschiedene Frau besuchte damals meine Base. Ich lernte Grace kennen, verliebte mich in sie, und schon acht Wochen später waren wir Mann und Frau. Wie übereilt diese Ehe geschlossen war, mußte wir sehr bald einsehen. Grace fühlte sich kreuzunglücklich in Deutschland.

Als nun vor einigen Monaten ein Geschäftsfreund ihres Vaters anlangte, um ihr Grüße von ihren fernen Eltern zu überbringen – da – na, kurz und gut – betrog sie mich mit ihm. Ich reichte selbstverständlich die Scheidungsklage ein. Es ging auch alles glatt, und wir hätten in Frieden auseinandergehen können, wenn Baby nicht gewesen wäre. Das Kind wurde mir vom Gericht zugesprochen – und da erwachten in Grace plötzlich Muttergefühle, die bisher niemals an ihr wahrzunehmen gewesen waren.

Ich hätte ihr das Kind auch gelassen, wenn ich sicher gewesen wäre, daß sie es liebte. Doch es war mir leider allzusehr bewußt, daß sie das Kind nur mit sich nehmen wollte, um mir weh zu tun.

Der Tag der Abreise wurde festgesetzt, die Karten für den Dampfer bestellt und am Abend vorher Abschied gefeiert – mit sehr vielen Tränen und obligater Rührseligkeit, so daß ich annehmen mußte, es täte Grace nun doch leid, von mir zu gehen.

Doch ich war wach – hellwach! Den größten Argwohn hegte ich gegen den Diener, den der Liebhaber meiner verflossenen Frau bei sich hatte. Ich wich daher nicht mehr von Babys Seite.

Es war kurz vor der Abfahrt. Ich saß am Bettchen meiner Kleinen, als ich Schritte hinter mir hörte. Ich fuhr herum – und sah in die tückischen Augen des Dieners, sah seine mageren, scheußlichen Hände nach meinem Mädchen greifen. Dann sah ich noch einen Lappen, dem ein ganz scheußlicher Geruch entströmte.

Nun begann ein lautloses, zähes Ringen; mein Jiu-Jitsu-Griff war ihm zum Glück nicht geläufig. So lag er dann bald betäubt am Boden. Ich ergriff mein Mädel, enteilte, hüllte Baby in das erstbeste Kleidungsstück, das ich fassen konnte, kurbelte meinen Wagen an und raste davon.

Meine kleine Schaukel konnte selbstverständlich nicht mit dem großen Wagen des Galans konkurrieren, und so dauerte es nicht allzulange, bis ich merkte, daß ich verfolgt wurde. Kurz entschlossen ließ ich meinen Wagen in dieser Straße stehen, rannte die Straße hinunter und stieß auf dieses Haus, drückte auf den ersten besten Klingelknopf und drückte mein Mädel in die ersten besten Arme.

So, nun konnte ich den Leutchen ganz seelenruhig unter die Augen treten. Bald wäre alles an der Gründlichkeit dieses Herrn gescheitert«, dabei zeigte er – nun schon ganz vergnügt – auf Jonas.

»Doch es ging besser, als ich annahm«, erzählte Brandler weiter. »Die liebevolle Mutter mußte abziehen. Rache im Herzen – und ich habe mein kleines Mädel – Gott sei Dank!«

Er seufzte tief auf, und sein zärtlicher Blick ging zu dem Töchterlein hin.

»Gnädige Frau – zürnen Sie mir?« fragte er dann die Hausfrau wie ein betrübter kleiner Junge, und sie mußte wiederum lachen.

»Herr Brandler, ich habe ganz gewiß kein Recht, Ihnen zu zürnen. Ich verstehe nur nicht, warum Sie nicht die Polizei zu Hilfe riefen.«

»Ach – die Polizei!« winkte er geringschätzig ab. »Bis die sich erst bequemt und etwas untersucht! Der Diener war aus zähem Material, er hätte einen zweiten Anschlag nicht gescheut und hätte hinter der Polizei hergelacht – den sicheren Raub im Arme.«

»Wenn Frau Grace es sich aber nun einmal in ihr Köpfchen gesetzt hat, das Kind zu bekommen?« ließ sich nun Jobst Olufs Stimme leise vernehmen. »Man kann den Diener ja unauffällig hier gelassen haben…«

»Daran habe ich auch schon gedacht«, entgegnete Brandler, »und daher kann ich mein Kleinchen auch nicht mit mir nach Hause nehmen. Muß mich bemühen, ihm eine Unterkunft zu suchen, wo es geborgen ist.«

»Das wird nicht so einfach sein«, warf Jobst Oluf bedenklich ein.

»Ja, das weiß ich alles«, seufzte Hans Heinrich. »Wenn nur erst einige Wochen vorüber wären, denn länger dürften die Muttergefühle meiner ehemaligen Frau nicht andauern.«

»Lassen Sie das Kind hier, Herr Brandler«, sagte Frau Hortense, einer plötzlichen Eingebung folgend.

Zuerst begriff Hans Heinrich das Angebot nicht so recht; er sah Frau Hortense ganz verständnislos an, die ihm aufmunternd zunickte. Da sprang er auf, drückte ihre Hände in seiner impulsiven Art an die Lippen.

*

Nun begann in der kleinen Wohnung ein ganz anderes Leben. Das kleine Wesen, das so plötzlich in das beschauliche Dasein der drei Bewohner gefallen war, brachte eine tolle Verwirrung in diesen mit so peinlicher Sorgfalt geführten Haushalt.

Als Brandler nach einigen Wochen die Kunde brachte, daß mit Frau Grace und ihrem Gatten – das Paar war inzwischen auf dem Schiff getraut worden – auch der Diener gefahren sei, konnte man aufatmen. Und als nach zehn Wochen aus glaubwürdiger Quelle die Nachricht kam, daß sich Frau Grace bereits wieder Mutter fühlte, war jede Gefahr vorüber. Ihr Interesse für ihr Kind aus erster Ehe war nun wohl sehr gering.

Diese Kunde löste gemischte Gefühle aus. Brandler war glückselig, doch weniger Frau Hortense und Jonas. Selbst Jobst Oluf nahm die Nachricht nicht mit Begeisterung auf. Auch er hatte das süße Geschöpfchen liebgewonnen und sah es ungern scheiden.

»Nun werden auch die gemütlichen Stunden, die ich in diesem Hause verleben durfte, ein Ende haben«, sagte Brandler ehrlich betrübt. »Ich möchte Baby nun wieder zu mir nehmen – und was hätte ich dann hier wohl auch zu suchen?«

»Das hängt doch ganz von Ihnen ab, Herr Brandler«, tröstete Frau Hortense, und seine betrübte Miene hellte sich sogleich auf.

»Ich darf wirklich herkommen, sooft ich nur will, gnädige Frau?«

»Gewiß, mein junger Freund«, sagte sie herzlich. »Unsere Bekanntschaft – oder sagen wir ruhig Freundschaft – wurde unter so ungewöhnlichen Umständen geschlossen, daß sie nicht wieder enden darf. Außerdem muß ich unsere Didi oft sehen können, sonst sehne ich mich zu sehr nach dem süßen Kleinchen.«

»Wirklich?« strahlte Hans Heinrich. »Dann ist es auch nicht unbescheiden, wenn ich Sie bitte, Baby noch so lange zu behalten, bis ich eine gute, zuverlässige Pflegerin gefunden habe?«

»Ganz und gar nicht, Herr Brandler. Je länger Sie uns das Püppchen lassen, desto lieber ist es uns. Ich werde Ihnen auch helfen, eine gute Pflegerin zu finden.«

Deshalb hatte sie auch an einem Vormittag einen Gang unternommen. Jobst Oluf war wieder einmal auf der Stellungssuche, und so fand Hans Heinrich nur Jonas und Baby im Hause vor, als er eintrat.

»Pst – unser Kleinchen ist gebadet, schläft und möchte nicht gestört sein«, empfing Jonas den Besucher an der Korridortür.

»Jonas, Sie sind ein Prachtexemplar«, sagte er mit unterdrücktem Lachen. »Was können Sie eigentlich nicht?«

»Der Mensch muß alles können«, erwiderte Jonas mit Würde.

»Recht so«, lobte Brandler. »Doch wo ist die gnädige Frau, wo Herr Rave?«

»Die Herrin ist wegen der Pflegerin für Didi unterwegs und der Herr ist – nun – er hat eine dringende Angelegenheit zu erledigen.«

»Und was machen Sie nun?«

»Ich bereite das Mittagsmahl.«

»Recht so, alter Freund! Ich habe einen Bärenhunger und lade mich feierlichst zu Tisch.«

Er konnte es sich nicht erklären, warum Jonas auf einmal so verlegen wurde. Und als der Gast ihm gar in die blitzsaubere Küche folgte, war er vollkommen ratlos.

»Es schickt sich für den gnädigen Herrn doch nicht, hier in der Küche…«, wagte er einzuwenden, doch er lachte ihn aus.

»Schicken oder nicht, Jonas – mal kann man auch etwas tun, was sich nicht schickt.«

Und schon saß er auf der Küchenbank.

Er machte große Augen, als Jonas nun aus der kleinen Speisekammer Brot holte und dieses in einen Topf schnitt.

»Was wird denn aus dem Brot?«

»Das gibt, mit Milch gekocht, eine nahrhafte Suppe.«

Jetzt herrschte eine lähmende Stille in der Küche. Brandler meinte, ihm fielen plötzlich Schuppen von den Augen.

Da war er nun wochen-, nein, monatelang in diesem Haus ein und aus gegangen und hatte nicht einmal darüber nachgedacht, was für eine Beschäftigung Jobst Oluf eigentlich hat. Nun fiel es ihm allerdings ein, daß er fast immer zu Hause war – sollte er etwa stellenlos sein?

Herrgott – das war ja gar nicht auszudenken! Da hatte er sich hier immer bewirten lassen, hatte das Kind hier mehr als ein Vierteljahr in Pflege gelassen, ohne auch nur einmal an eine Vergütung zu denken.

Er stöhnte auf und war mit einem Satz bei Jonas. Er packte seine Schultern. »Jonas – so sagen Sie doch, um alles in der Welt, wird das das ganze Mittagessen Ihrer Herrschaft?«

»Meine Herrschaft hat früher bessere Tage gesehen«, antwortete er mit versagender Stimme.

»Und jetzt – Menschenskind, Jonas!«

Jonas sah die tiefe Erregung Brandlers, sein Blick irrte zur Seite. »Jetzt sind sie unverschuldet in Not geraten. Kein Geld – der Herr schon fast ein Jahr ohne Stellung.«

Die zitternden Hände Hans Heinrichs drückten Jonas auf einem Küchenstuhl. Er selbst blieb vor ihm stehen. »Was hat Ihr Herr für einen Beruf, Jonas?«

»Der Herr ist Landwirt. Und daß er tüchtig in seinem Fach ist, das brauche ich wohl nicht erst zu betonen. Er hatte auch schon ganz gute Stellen – doch die Weiber – die laufen ihm ja nach wie die Schafe und waren allemal daran schuld, wenn er bald seine Stelle verlor.«

»Ah so – und weiter, Jonas?«

»Weiter kann ich nichts verraten, gnädiger Herr. Es ist nicht meine Sache, über die Verhältnisse meiner Herrschaft zu sprechen.«

Brandler rannte in der Küche auf und ab; mit zwei Schritten war er sie allemal durch. Unermüdlich schritt er wohl fünf Minuten lang hin und her.

»Wenn ich daran denke, Jonas – daß ich Ihrer Herrschaft noch die Pflege des Kindes aufgehalst habe…«

Er hastete wieder in der Küche umher, machte dann aber plötzlich halt. »Jonas, ich kann nicht warten, bis die Herrschaften zurückkommen, ich bin zu erregt. Sagen Sie, ich wäre hier gewesen, hätte ihre Rückkehr jedoch nicht abwarten können.«

Ohne Jonas noch einmal anzusehen, hastete er nach dem Korridor, nahm Hut und Mantel und verließ die Wohnung.

*

Hans Heinrich Brandler hatte eine schlaflose Nacht, wohl die erste in seinem verwöhnten, sorglosen Dasein.

Gutmachen – nur gutmachen!