Der dritte Berg - J. F. Dam - E-Book

Der dritte Berg E-Book

J. F. Dam

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Beschreibung

Maggie Chelseworth, die beste Freundin von Bernard Rai, Enkel eines indischen Freiheitskämpfers und Meteorologe in Wien, wird tot aufgefunden. Rai ahnt, dass Maggies Exmann, ein auf altindische Heilsysteme spezialisierter Wissenschaftler und seit Wochen verschwunden, der Schlüssel zu ihrem mysteriösen Tod sein könnte. Bei seinen Nachforschungen stößt Rai auf ein rätselhaftes Sanskrit-Manuskript und wird unversehens zur Zielscheibe skrupelloser Verbrecher. Die Suche nach der Wahrheit führt ihn nach Asien in ein entlegenes Tal in Indien, wo eine Pflanze wachsen soll, die ewiges Leben - und damit unendlichen Profit - verheißt. Ein fulminantes Debüt aus Österreich.

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Deuticke E-Book

J.F. DAM

DER DRITTE BERG

Roman

Deuticke

ISBN 978-3-552-06231-3

Alle Rechte vorbehalten

© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2013

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Schutzumschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung einer Illustration von © Michela Sorrentino/ImageZoo/Corbis

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Auch die berühmten weißen Flecken auf den Karten,

die als terrae incognitae eingetragen waren,

fungierten als künftig bekannt zu machende Punkte.

Peter Sloterdijk*

Rigveda VIII.48.3 (7000)**

* Aus Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals: für eine philosophische Theorie der Globalisierung © Suhrkamp Verlag 2005. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin

** Wie der Verweis sagt, handelt es sich beim zweiten, dem Roman vorangestellten Motto um Vers Nummer siebentausend aus dem ältesten indischen Text, der Rigveda-Samhita. Er lautet in Übersetzung:Wir haben Soma getrunken und sind unsterblich geworden,wir haben das Licht erlangt und die Götter gefunden.(Das Sanskrit lautet folgendermaßen:Apāma somam amritā abhūma āganma jyotir avidāma devān.)

Die Bergung

Acht Tage nach Einbruch des Monsuns liegen die Männer im triefenden Unterholz einer Gruppe von Schierlingstannen. Sie sind nackt und sehen aus wie drei blutleere Gespenster. Eine Woche heftiger Regengüsse hat die Leichen bereits aufgebläht; das quellende Fleisch zerdrückt die Gesichtszüge und hinterlässt bloß Furchen aus Schrecken und Verwunderung, als hätten die Männer nicht glauben können, dass ein allenfalls doch vorhandenes göttliches Gericht so hart mit ihnen verfahren konnte.

Colonel Vikram Singh und seine Leute von der zweiten Gebirgsdivision des Eastern Command, die eben noch die Talsohle durchkämmt haben, betrachten stumm die Szene. Wolkenschwaden drängen durch das enge Tal. Der Eisgipfel des Kanchanjanghā1hebt seinen Kopf von Zeit zu Zeit zwischen ihnen empor; so hoch über den Soldaten des Suchtrupps steht er dann, dass er Vikram Singh als ein weißes, schroffes Gestirn erscheint.

Die Leichen sind unversehrt. Der Regen hat das Mahl vor den Aasvögeln verborgen, Regen, der hier, in den feuchtesten Regionen der Erde, so dicht fällt, dass kaum noch Luft zum Atmen bleibt, und der den Wald innerhalb von Minuten in eine Agonie aus Wasser taucht, in der die Spinnen verschwinden, die Käfer, Vögel und Marder. Doch der Regen hat aufgehört.

Auf seinen Befehl ziehen Vikram Singhs Leute die Toten aus dem Schutz der Bäume. Dabei gehen sie äußerst gewissenhaft vor, sie legen Arme und Hände der Leichen zurecht und packen sie an den Füßen. Vergeblich sucht Vikram Singh nach Verletzungen. Dann macht er sich zusammen mit seinen Männern auf den Weg zurück zu der kleinen Lichtung, wo sie sich aus einem Dhruv-Hubschrauber abgeseilt haben. Sie wollen Tragbahren und Leichensäcke herbeischaffen.

Beim Aufstieg sammeln die Soldaten Kleidung sowie Gepäckstücke auf, die allerorten über den Waldboden verstreut liegen. Und als die Lichtung erreicht ist, fasst der Colonel den riskanten Entschluss, drei seiner Männer auch den schwer zugänglichen oberen Teil des Tals absuchen zu lassen. Zwei weitere Tote soll es geben: Träger aus einem Bergdorf werden vermisst. Vikram Singh will diese, falls gefunden und tot, aber nicht mitnehmen, er will bloß einen glasklaren Bericht schreiben können, der auf keinen Fall die Worte vielleicht und könnte enthält.

Als seine Leute abgezogen sind und der Colonel wartet, beginnt es leicht zu regnen. Der Berg in Vikram Singhs Rücken ist wieder verschwunden; niemals hätte man jetzt vermutet, dass dort ein solches Ungetüm von fast achttausendsechshundert Metern Höhe und fünfzehn Kilometern Breite lauert.

Colonel Singh wendet sich den gefundenen Gepäckstücken zu, durchwühlt sie, bis er auf ein Satellitentelefon stößt. Das Telefon haben sie in den letzten Tagen angepeilt. Und als die Soldaten mit dem ersten Toten endlich den steilen Hang heraufkeuchen, berichten sie vom Fund eines vierten Mannes. In einem Gebirgsbach liege er, die Hände in die Uferränder gekrallt.

»Accha«, sagt Vikram Singh, »und bewegt eure Ärsche sofort wieder da runter.« Er hält zwei Finger nach oben. »Regen, ha?«

Besorgte Funksprüche aus dem Helikopter, der auf einem kleinen Felsplateau gelandet ist, erreichen Singh bald im Fünfminutentakt. In heftigen Monsunschauern will niemand durch diese Berge fliegen. Da ohnehin nur noch ein Träger fehlt, befiehlt der Colonel daher den weiter oben suchenden Soldaten, ihr Vorhaben abzubrechen und sich ebenfalls an der Bergung zu beteiligen. Nachdem er dem Piloten genaue Anweisungen erteilt hat, steigt er selber nochmals hinab zu der Fundstelle, fotografiert sie (die jetzt von Menschen gesäubert ist), und eine halbe Stunde darauf balanciert der Helikopter bereits über der Lichtung, im langsam dichter werdenden Regen; an langen Seilen saugt er die Leichen, die Männer des Suchtrupps sowie den Colonel in seine Eingeweide hinein.

Der fünfte Tote wird nicht mehr gefunden. Als die Maschine Colonel Singhs in Richtung Siliguri abfliegt, verlässt sie ein Tal im Himalaya, das Felsflanken an einigen Stellen zu einer dschungelüberwachsenen Rinne von bloß fünfzig Metern Breite zusammendrücken. Monatelang werden die bleiernen Regentürme des Nordostmonsuns über ihm stehen; niemand wird diesen Ort besuchen. Seinen Namen kennen nur einige weiter oben lebende Bergdörfler sowie die Armee der Republik Indien, in deren Karten das Tal aber bloß unter dem Kürzel SK-V97/2 zu finden ist.

1 Das Wort Kanchanjanghā spricht man aus, wie nach den gängigen Transliterationen indischer Sprachen vorgesehen: Kan-tschan-dschan-gha.

Erstes Buch

WEST

But there is neither East nor West.

Rudyard Kipling

SIND DIE DINGE DENN – dieser Gedanke ist jetzt oft in mir – bloß Projektionen und Abbilder, sind sie Geschichten?

Nach einigen nordindischen Denkschulen war das Erste Wort, das Wort der Schöpfung, eine Vibration im Kehlenschlund des Seins/Nichtseins. In äonenlangen Lautkaskaden und Schwingungsinterferenzen (so denke ich), in sich verdichtenden Bedeutungen, war daraus ein Muster gewoben worden, ein textum. Ist dieses Gewebe nun unsere Welt? Eine Welt, die noch immer nicht über das Wortsein hinausgelangt ist? Die noch immer ein Schleier ist, vacuus in atomis (und sind die masselosen subatomaren Teilchen Laute, knatternde Konsonanten, zischende Vokale?).

Wie dem auch sei. An diesem Morgen, fünf Wochen vor der Bergung von Leichen, von der ich nichts ahnen kann, denke ich nicht an die innere Leere der Welt. Ich denke etwas ganz anderes. Es ist ein nebliger, kalter, mitteleuropäischer Tag gegen Ende März. Ich stehe am Fenster, und es ist das Wort Kuyāshā, das wenige Augenblicke lang Platz in meinem Kopf beansprucht. Kuyasha – so nennt man den Nebel in meiner zweiten Heimat. Man stößt meist nur in den Hügeln auf ihn, wo er während des Regens in großen Fontänen aus der Erde hervorschlägt.

Ich wende mich um. Gabriela spitzt die Lippen und sieht mich an. Dann schlüpft sie in ihr dunkelgraues Kleid mit den Aufschlägen, ohne einen unerklärlichen Blick von mir zu lassen. Es ist ein sonderbarer Morgen; aus irgendeinem Grund hat das Leben gerade seine Leichtigkeit eingebüßt. Ich gehe in die Küche und mache zwei Tassen Passalacqua-Kaffee. Dazu röste ich große Zuckerkristalle karamelig. Eine Tasse stelle ich auf den Küchentisch, setze mich mit der anderen an den Schreibtisch und widme mich – auf meinem Notebook – Geopotenzialen und dem Satellitenbild Europas von sieben Uhr fünfzehn.

Der Schnee in den Bergen wird uns erhalten bleiben. Die Klettersaison in den Alpen beginnt erst in sechs Wochen, und ich treibe mich jetzt oft bei der Wetterstation im Wienerwald herum. Ich liebkose das Solarimeter nach Moll-Gorczynski, das aussieht wie ein ptolemäisches Weltmodell, mit den Fingerkuppen und werfe danach einen Blick in die Wetterhütte.

Gabriela kommt und küsst mich (Gabriela-die-Katalanin, die schwarzes, lamettadickes Haar hat und der Meinung ist, ich sei Teil eines weltweiten männlichen Unterdrückungssystems, was sie nicht davon abhält – ach, lassen wir das, zumal in solch Herrgottsfrühe); sie fährt mir dabei durch das frisch gewaschene Haar.

Ich nehme ihre Finger und presse sie zweimal an mein Ohr. Gabriela versteht.

»Änderungen, Bernard?«

»Maggies Geburtstag, am Freitag«, sage ich. »Vergessen? Ich rufe dich an.«

»Heiliger Bimbam.« Gabrielas Stimme ist eine Terz nach unten gerutscht, und sie ist etwas zu fest. »Du und sie und eine Flasche Gin?«, sagt sie.

»Portwein«, sage ich.

Jetzt geht Gabriela. Hart fällt die Tür ins Schloss. Jetzt bin ich ein paar Minuten, bevor ich zu meinem Wagen und an die ZAMG hetze, allein. Es tut mir nicht gut. Ich lasse die meteorologische Seite liegen, öffne zuerst linkedIn und sehe dann nach den Mails, was ich sonst beides – eine strenge, disziplinierende Maßnahme – bis zum Büro aufschiebe. Etwas irritiert mich an den Letzteren. Ich lese keine der fünf oder sechs Mails und stehe auf. Ein dunkles Gefühl sucht mich heim, als ich in meine rahmengenähten Schuhe schlüpfe. Am Spiegel füge ich meiner Frisur eine halbe Fingerspitze Haarwachs bei; beinahe ist mir, als sei das Gewebe der Welt um mich spröde geworden. Als hätten die Dinge – der nebelversunkene Garten drüben vor dem Fenster, die ostindische Vase auf dem Tisch, das weiße Ledersofa – ihre Freundschaft aufgekündigt und beschlossen, von nun an eigene Wege zu gehen.

I

Von

Iskander Mahan <[email protected]>

An

Dr. Bernard Rai <[email protected]>

Am Morgen des achtzehnten Mai (man schrieb 1498, Jahr des mysteriums) erwachte Fernão Pinto mit einem dicken Schädel in die gnadenlose Hitze dieses Tages hinein. Der Ausguck der São Gabriel wartete auf ihn. Dabei hatte Fernão ein Gelage mit dem Gebrannten hinter sich, den ihnen der Kapitän von der Offiziersration hatte schicken lassen. Und nun musste Fernão, kaum wach, hinauf.

Hinauf, hinauf in den Mast mit ihm, lasst ihn sehen, was kein Matrose aus dem Abendland noch gesehen hat.

Als Fernão Pinto dann oben im Mastkorb schwankte, schlief er fast ein. Wohin würden sie schon gelangen? Zum Paradies? Keineswegs, es musste sich noch viel weiter im Osten befinden und war von einer hohen Feuerwand umgeben. Monsunwolken sah Fernão rechts durch seine klein gewordenen Augen, im Süden. Schwarz wie Pech waren sie, oben schwefelgelb. Ja, die São Gabriel näherte sich bestimmt der Hölle.

Unten auf dem Deck standen der Kapitän und dieser Maure, der im afrikanischen Malindi an Bord gegangen war. Und dann war der Augenblick da. Fernão musste rufen, schreien. Endlich wieder richtiges Fleisch, irgendwas wird es da wohl geben. Und Brot, und Vögel.

Also rief Fernão Pinto, der in entscheidenden Augenblicken zum Stottern neigte, an diesem Mittag das Übliche, es ist nicht exakt überliefert (wahrscheinlich war es: ›T-T-Terrrra!‹, oder ›Í-Í-Índia!‹), und dann blickte er mit ungläubig offenem Mund auf seinen Kapitän hinunter, diesen Vasco da Gama, den großen Ritter des Christusordens, den Menschen, der in diesem Augenblick, welcher in seiner Feierlichkeit etwas verunstaltet wurde durch Fernão Pintos Gestammel, die wichtigste Entdeckung der Menschheit gemacht hatte.

Da Gama wiederum wandte seinen Blick jenem dunklen, weißgekleideten Mann namens Ahmad ibn Majid zu, dem Verfasser des Kitab al-Fawa’id, dem Großen Nautischen Handbuch, der wissend in sich hineinlächelte. Christenbarbaren! Und weder Fernão Pinto ––

VIELLEICHT IST DER EINZIGE GRUND, diese erste, seltsam abrupt endende Mail nicht zu löschen, sondern doch noch zu lesen, zwei Mal zu lesen, weil sie alle auf dem Gang vor meinem Büro herumflattern wie eine Schar Hühner. Guggenberger, Chef der meteorologischen Abteilung, den wir den Bos nennen (von lateinisch Ochse – bos, bovis–, denn wir hassen seine Stahlrahmenbrille, seine billigen Dreiteiler und seinen lächerlichen französischen Kleinwagen), treibt seit der Morgenbesprechung sein launiges Unwesen. Vielleicht hat diese Mail mich aber auch in ihren Bann gezogen. Ein Unbekannter mit einem merkwürdigen Namen, der mir ein solches Ding über ein Jahr desmysteriums schreibt. Doch bevor ich über dieses Mannes Beweggründe und Urteilsfähigkeit nachdenken kann, klingelt mein Telefon. Festnetz. Ein gewisser Fiala. »Wir brauchen Sie in der Gerichtsmedizin, Herr Rai,« sagt er. »Sofort. Margaret Chelseworth.«

Und so steige ich nun – in Begleitung von Fiala und einem humorlosen Gentleman namens Robert Wilson, den man aus der britischen Botschaft geschickt hat – über eine breite Treppe in die Unterwelt hinab. Ich finde mich in einem Raum wieder, dessen Boden und Wände mit weißer, glasierter Keramik bedeckt sind. An der mir gegenüberliegenden Wand befinden sich drei Waschbecken mit Ablagen voll mit Handtüchern, metallischen Schüsseln und chirurgischem Besteck. Darüber ein paar Hängeschränke. Und rechts von mir reihen sich die Kühlkammern aus Edelstahl. Aus jedem Gegenstand und jedem Möbelstück quillt ein Grauen, dem ich nichts entgegenzusetzen habe.

Fiala nickt wortlos, worauf der Obduktionsarzt eine der Edelstahlkammern entriegelt. Er zieht einen Metallschlitten heraus und schlägt die grüne Plastikhülle zur Seite. Das Gesicht, das wir zu sehen bekommen, ist fremdartig verzerrt und die Augenlider schimmern steingrau. Der Arzt tritt einen Schritt zur Seite, als ich ihn fragend ansehe. »Natürlich, Herr Rai«, sagt er und schnauft. Ich strecke meine linke Hand langsam vor, um Maggie eine Haarsträhne aus der Stirn zu streichen. Ich bin aber nicht auf das betäubende Gefühl vorbereitet, welches bei dieser Berührung meinen Arm hochläuft. Was ich berühre, ist: das Nichts. Hohles, böses Nichtsein. Erschrocken werfe ich einen Blick zu Fiala hinüber, der mittlerweile meine Kaschmirjacke und die halblangen, dunklen Haare einer eingehenden Prüfung unterzieht.

Mein Magen baumelt an seidenen Stricken. Fast glaube ich, kotzen zu müssen. Ich sage etwas. »Ja, das ist Frau Chelseworth, Margaret Chelseworth«, sage ich. Fiala nickt zufrieden, er hat, was er will, und dieser Wilson hüstelt. Fiala wendet sich abrupt um, während Robert Wilson noch eine Sekunde stehen bleibt, dann steuern sie beide langsam auf die Tür zu. Ich zögere. Nicht nur Maggie, sondern dem Tod selber fühle ich mich ein paar Augenblicke lang seltsam nahe. Es ist, als strecke er zärtliche Arme nach mir aus. Soeben habe ich Maggie zum letzten Mal gesehen. Das begreife ich erst jetzt. Es folgen Räuspern und ein letztes Schnauben des Obduktionsarztes, der nun die Kunststoffhülle wieder über Maggies Kopf zieht. Dann trotten wir alle nach oben; Stahltüren öffnen und schließen sich. Ich wage es nicht, einen Blick zurück zu werfen.

Mit schwerem Schritt verlässt Chefinspektor Fiala das Gelände der Klinik und bedeutet Wilson und mir, ihm durch den Nebel zu folgen. Die Kronen der Linden über uns sind blasse Skelette.

Fiala steckt sich eine Zigarette an. Abrupt bleibt er stehen. »Gift«, sagt er. »Keinerlei äußere Gewaltanwendung.« Der Rauch steigt dabei durch seinen rostgrauen, buschigen Schnauzbart. Fiala trägt eine Jacke aus braunem Leder, dazu Cordhosen. Auch seine Wimpern sind rostfarben. »Und wenn Sie es genau wissen wollen, Dr. Rai, dafür ist dann der toxikologische Befund zuständig. Drei, vielleicht vier Tage.«

»Vermutlich Suizid«, brummt Fiala weiter und setzt sich wieder in Gang. »Und was für eine kolossale Scheiße sowieso.«

»Miss Chelseworth«, sage ich, »hätte sich niemals …«

»Dass man sich in den Menschen nur nicht täuscht, sie bringen sich auch um, wenn sie achtunddreißig und quickfidel sind, wie Frau Chelseworth«, und dabei fängt Fiala sich einen finsteren Blick von Robert Wilson ein, für den sich Mitglieder der englischen Gesellschaft niemals einfach so um die Ecke bringen, fidel oder nicht. »Wir haben nichts, das auf einen Mord hindeuten könnte. Abgesehen von einem fehlenden Motiv.« Fiala sieht mich an. »Vorschläge?«

Ich zucke mit den Schultern. Sie sind schwer. Es mag der Nebel sein. Er verdichtet sich und wird gleich wie ein grauer Felsblock auf uns fallen.

»Und wie«, sage ich schwach, »sind Sie zu meiner Nummer gekommen?«

»Sie haben gestern Abend noch mit Frau Chelseworth telefoniert.« Das ist natürlich keine Frage, sondern eine Feststellung. Ich nicke trotzdem. »Heute Morgen«, sagt Fiala und stößt die Worte mit jedem Schritt vor sich her über den nassen Asphalt, »kurz. vor neun. ist Frau Chelseworth. dann. verstorben.«

»Anderthalb Stunden später«, fährt er nach pietätvoller Pause fort, »war die Polizei bereits zur Stelle. Man hat Frau Chelseworth in ihrer Agentur vermisst. Hätte dort einen wichtigen Termin wahrnehmen sollen. Frau Chelseworth stammte aus London?« Fiala tut, als ob er das nicht schon wüsste.

»Nördlich von London«, sage ich. »Kleiner Landadel.«

Wilson hüstelt. Er denkt, er muss jetzt etwas sagen. Wilson ist ganz dunkel gekleidet und bestes Westend-Englisch presst sich aus seiner Nase: »Die britische Botschaft, in deren Auftrag ich der Identifizierung beiwohnen durfte, ist besorgt, wie Sie sich denken können, Mr. Rai.«

Eine Adlige, wenn auch nur Chelseworth, tot in Wien. Die ganze Botschaft aus dem Schlaf geschreckt. Fialas Schnauzbartspitzen zucken griesgrämig. Auch ihm gefällt dieser Wilson nicht. »Sie kennen doch Christian Fust, Miss Chelseworths früheren Ehemann?«, fragt er. »Seit drei Wochen liegt uns eine Vermisstenanzeige von Frau Chelseworth vor. Er ist Professor für …« Fiala zögert.

»Kultur Südasiens«, ergänze ich.

»Kultur Südasiens«, wiederholt Fiala langsam. Dieser für ihn neue Kontinent – Südasien! – macht ihn nachdenklich.

»Ich habe Frau Chelseworth damals zur Polizei begleitet«, sage ich. »Sie war seit einem Jahr geschieden, aber trotz allem sehr besorgt wegen Christian Fusts langer Abwesenheit.«

»Und Sie selber«, sagen Robert Wilsons dünne, hässliche, englische Lippen, »Sie haben diese Sorge nicht …?«

Jetzt darf ich zum ersten Mal etwas verneinen, wenn ich mich dazu auch nur einer Kopfbewegung bediene. »Bei seinen Forschungen«, füge ich der Bewegung hinzu, »hält Herr Fust sich öfter in entlegenen Gegenden in Indien auf. Und er spricht nicht gerne vorzeitig über seine wissenschaftlichen Projekte.« Dann muss ich noch einen Satz sagen, den ich meinem Großvater schulde. »Sie kennen doch Indien?«, sage ich. »Das ist dieser sonderbare Landstrich, aus dem die vielen Nullen herstammen, welche die englischen Bankkonten noch heute so unübersichtlich machen.« Immer wenn ich auf Briten treffe, die ich nicht mag, geht es mir so. Nur Maggie und ich – wir beide waren ein postkoloniales Versöhnungsprojekt.

Robert Wilson zuckt und zieht die Brauen hoch, gleich werden sie seinen Haaransatz berühren. Fiala gibt vor, nichts gehört zu haben, und verlangsamt seinen Gang. Wir befinden uns an der Ecke zur Alser Straße.

»Wir haben an Ihrer Arbeitsstelle angerufen, Dr. Rai«, sagt er. »Alibi. Darauf können wir in einem solchen Fall nicht verzichten. Zur Todeszeit befanden Sie sich in einer morgendlichen Besprechung.« Begeisterung glimmt jetzt in Fialas Augen auf, und dazu beginnt er zu nicken. »Wissen Sie, zu Hause werfe ich öfter einen Blick in meinen Wolkenatlas. Sehr interessant. Meistens schaffe ich es, damit das Wetter vorauszusagen, Sie wissen schon … Cirruswolken, und dann kommt …«

Fiala bemerkt meinen angeekelten Blick, mitten im Satz bricht er ab. Und aus seinem Nicken wird ein langes Vor- und Zurückwippen seines Kopfes, so, als habe er vergessen, welcher Schalter diese Bewegung wieder abstellt. Am Ende bleibt sein Kopf doch noch irgendwo in der Mitte stehen. Die olivgrünen Äuglein heften sich an meinen Schal.

»Ich muss Sie leider bitten, zur Protokollaufnahme mit mir in die Wattgasse zu kommen, Dr. Rai«, sagt er.

»Na dann«, flötet Wilson und hält mir eine zögerliche Hand entgegen. Ich ergreife sie, trotz allem, und mache mich mit Fiala auf den Weg zu seinem Dienstwagen. »Wann wird denn dieser verdammte englische Nebel endlich aufhören?«, ruft Wilson mir verschämt nach; ich weiß es, antworte aber nicht.

EINE KALTFRONTOKKLUSION schiebt sich an diesem Nachmittag auf den Osten des Landes zu; sie ist es, die den Nebel auflösen wird. Der Luftdruck sackt an ihrer Front in wenigen Stunden um fünfunddreißig Millibar ab. Wir befürchten Erdrutsche in den Bergen sowie regional schwere Überschwemmungen. Nachdem ich Fiala sein Protokoll diktiert habe, kaufe ich mir zu Ehren Maggies eine Flasche Portwein. Portwein und Gin sind das Einzige, das Maggie je getrunken hat. Eine Flasche Grabrede und Gedenken.

Doch anstatt sogleich nach Hause zu fahren, mache ich mich auf den Weg zurück zur ZAMG, der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik – ich weiß nicht, was über mich gekommen ist, der Schock, ein Mangel an Geistesgegenwart –, und trotte wie willenloses Vieh in mein Büro. Abwechselnd und jedes Mal noch dumpfer stiere ich zweieinhalb Stunden lang auf meinen Bildschirm oder hinaus in den Nebel. Ich besuche XING, linkedIn und Facebook. In Letzterem hinterlasse ich einen kurzen Nachruf auf Maggie, den ich in der Folge bestimmt zehn Mal überarbeite.

Auf meinem Bildschirm nähert sich die Okklusion auf den alle paar Minuten erneuerten Satellitenbildern; Wände von Wasser stelle ich mir vor. Ich halte es mit Sintfluten und Kataklysmen. Das Leben wippt über einem Abgrund. Unsolide, ein Irrsinn.

»Maharadscha.« Als ich Maggie das erste Mal sehe, hat sie ein Glas Portwein in der Hand, und sie verpasst mir einen Namen, den ich nicht mehr ganz loswerde. »Oder etwa doch nur bengalische Rotznase?«

»Und selbst? Aufseherin im Cellular Jail auf den Andamanen?« Es ist ein Empfang an der indischen Botschaft. Mein Großvater hat eine martialische Rolle im indischen Unabhängigkeitskampf gespielt und Maggies Großvater hat seine Zeit als britischer Kolonialoffizier abgedient.

»Fünfundzwanzig Prozent indisches Blut qualifizierten selbst damals nicht für eine englische Spezialbehandlung. Sie geben aber eine hübsche Unterhaltung ab.« Maggie grinst, sie trinkt nicht das erste Glas, und sie konnte sowieso schmutzig grinsen. Ihre knochige, lange Gestalt steckt in einem weit geschnittenen Hosenanzug. »Nachher«, haucht sie.

»Dazu reicht deine Portokasse nicht.«

Maggie legt mir einen Finger auf die Lippen. »Ich mag dich«, sagt sie. Dabei kannte sie mich seit genau einer halben Minute. »And I am lovely, just try.«

Eine eigenartig durchscheinende, leere Dunkelheit legt Hülle um seidene Hülle über mich. Bis ich kaum noch freie Sicht auf die Welt habe.

Gegen halb sechs Uhr wird mir die Lächerlichkeit meines Tuns bewusst; ich mache mich aus dem Staub. Als ich meine Jacke vom Haken nehme, kommt mir das Telefongespräch mit Maggie von letzter Nacht in den Sinn; Gabriela schlief schon fast, ich war zum Telefonieren hinaus ins Wohnzimmer gegangen. Anfangs ging es um einen alten Druck der Silberstiftzeichnung von Jan van Eyck, den sie bei einer Auktion erstanden hatte, als Geburtstagsgeschenk an sich selbst. Und während ich jetzt hinunter auf den Parkplatz laufe, die Treppe, den Gang, die Eingangshalle, kaue ich das ganze Gespräch durch, ich nehme mir vor, es aufzuschreiben, so gut es geht, Wort für Wort, eine Andachtsübung. Und ich entdecke, dass Maggie mir zwischendrin einen Namen mitgeteilt hat. Wir haben über ihren, wie Maggie dachte, verschollenen Exmann Christian gesprochen.

»Christian hatte Kontakt zu einem Zellbiologen in Heidelberg«, sagt sie. »Fucking curious name, Maettgen, mit ae.«

»Doch bestimmt wegen seiner Handschriften«, werfe ich ein. Christians Forschungsschwerpunkt sind alte medizinische Manuskripte auf Sanskrit.

»Quatsch, Prinz«, sagt Maggie. Immer wieder hat sie mich so genannt. Ungenaue Übersetzung des Maharadscha. »Der hat doch mit solchen Leuten sonst nichts zu tun. Und dann verschwindet Christian auch noch.«

Draußen angekommen, hat es zu regnen begonnen. Was mich aber nicht davon abhält, die Mülltonne neben meinem Wagen zu misshandeln. Maggies Stimme hat bei diesem Gespräch anders geklungen als sonst, zerbrechlicher. Das spricht gegen Fialas Selbstmordthese. Eine Heidenangst war in Maggies Stimme – und ich habe nichts bemerkt. Ich fluche; die Tonne empfängt ihren zehnten Tritt. Leute wie Maggie gehen in ein Zenkloster in Kyoto, sie besteigen einen unbezwingbaren Berg, sie marschieren allein von Südlibyen nach Marokko und verdursten dabei; niemals aber nehmen sie Gift in ihrer Wohnung.

»Was denn los?«, sagt jemand in meinem Rücken. Ausgerechnet jetzt geht Marlies mit Minnie zu ihrem Wagen. Die beiden wissen noch nichts von Maggie.

»England–Indien, zweites Innings 214:3«, ruft Marlies.

Ich knurre. Die wasserstoffblonde, kurzhaarige Minnie pfeift durch die Zähne. Dann kommt Minnie näher, sehr viel näher.

»Morgen«, sagt sie an meinem Ohr. »Unser Bernard hat heute gaaanz miese Laune. Sein Indien liegt vor den Engländern im Staub des Infield.«

Es läuft gerade die Kricket-Meisterschaft, doch ich habe keine Ahnung von den Tagesergebnissen. Obwohl es meine Anwesenheit an der ZAMG ist, die diesen Sport dort populär gemacht hat.

Ich hebe genervt die Hand und steige in meinen Wagen, ohne mich umzudrehen. Wann immer an der ZAMG Alkohol im Spiel ist, lande ich irgendwann bei Minnie. Und bei der letzten Weihnachtsfeier sind wir beide wohl ein ganzes Stück zu weit gegangen.

M&M, wie man Marlies und Minnie nennt, heben zum Abschied die rechte Faust. Es ist eine revolutionäre Geste. Denn wenn ich mich nicht so fühle wie heute, dann bin ich der hübsche Paradiesvogel an der ZAMG. Der mit den seltsam braun-blauen Augen und einem toten Freiheitskämpfer als Großvater.

Obwohl doch Shivmangal Rai im südostasiatischen Dschungel an der Seite der Japaner gekämpft hat. An der Nahtstelle des Jahrhunderts, genau dort, wo es in zwei ziemlich ungleiche Hälften zerbricht. (Ich öffne meine Wagentür und sehne mich zurück in dieses Jahrhundert, es war am Ende besser, ich war fünfundzwanzig, als es sein Leben aushauchte, Maggie lebte und alles war fast so, wie es sein sollte.) Es erfüllt Marlies und Minnie aber mit Stolz, dass Shivmangal Rai sich gegen die seit zweihundert Jahren rhythmisch niedersausende Kolonialistenknute der Briten gestellt hat. Nicht nur für meinen Großvater waren die Briten in Indien der Bei-weitem-größere-Teufel. Ja, Marlies und Minnie kennen den Enkel eines Anführers in einem der großen gerechten Kämpfe dieser ansonsten so abscheulich stinkenden Jahrhundertschweinehälfte. Da stört es sie ausnahmsweise nicht weiter, dass dieser Umstand meinen Großvater zum ungewollten Freund der Faschisten und Militaristen gemacht hat, ihn, den die Engländer kurz zuvor einen verdammten Bolschewiken genannt haben. Denn in den dreißiger Jahren flieht Shivmangal Rai vor den Engländern nach Nazi-Deutschland. Schließlich kommt er nach Wien. Und bei einem Aufenthalt in Bad Gastein heiratet und schwängert er meine Wiener Großmutter Cäcilie.

Immer noch stehe ich auf dem Parkplatz. M&M sind bereits abgefahren. Ich lasse meinen Motor an und fahre hinaus auf die Döblinger Hauptstraße. Ich sehe das Straßenschild, und die Wörter erscheinen mir fremd. Dö Bling, Meister sämtlicher schwarzer Künste Nordtibets.

Schwerer Regen setzt ein, als die Okklusion anfängt, sich über Wien zu schieben. Ich krieche durch den Wald im Westen der Stadt. Es wird dunkel und nach wenigen Minuten könnte man meinen, sich unter Wasser zu befinden. Der Portwein rollt auf dem Beifahrersitz im Kurvenrhythmus hin und her.

Zu Hause schreibe ich einen kurzen, etwas emotionalen Brief an Sir Robert Chelseworth, Maggies Vater. Bestimmt wird Maggie nach St. Neots bei Cambridge überführt und in der Familiengruft neben ihrer Mutter bestattet werden.

Ich schalte Macfreedom ein, bis zum Morgen werde ich vom Internet getrennt sein. Lange stehe ich am Fenster, ein Glas Portwein in der Hand. Draußen die Dunkelheit, hier drinnen die Finsternis des Lebens. Bald ist es, als klafften um mich bloß gefräßige, schwarze Löcher. Gleich werde ich in eines von ihnen gesogen werden und fallen, fallen, bis ich zerdrückt werde von Schwerkraft, Traurigkeit und dem bloßen Mangel an Zuversicht. Und ich stelle mir unangenehme Fragen. Zum Beispiel, ob Maggie noch am Leben wäre, wenn ich die Angst in ihrer Stimme gehört und auf sie reagiert hätte, oder auch, und es ist beachtenswert, welche Fragen der Tod aufzuwerfen imstande ist, ob ich eigentlich der Mensch bin, der ich sein will (was voraussetzt, dass ich von Letzterem eine gewisse Vorstellung habe). Ich bin mitschuldig an Maggies Tod – Unterlassung, miserable männliche Intuition, insgesamt unverzeihliche Verbrechen.

Gegen Mitternacht schiebe ich Bruckners Neunte in den Schlitz meiner Soundanlage. Einen Teil meiner Kindheit habe ich vor einem Stutzflügel zugebracht. Doch nach Mozart und Brahms kamen der Grunge Rock und Nirvana und mit ihnen eine Fender Stratocaster special edition. Heute ist Bruckner zu meinem Gott geworden (Nirvana sind sein wilder Messdiener). Und die Neunte – ihr Gesäusel, das Getrappel, die Kaskaden, der massive, herabstürzende Block der Gnade – ist die kosmische Messe meiner Religion.

Bruckner jedenfalls ist es, der mich über die nächsten Stunden rettet.

Als ich zu Bett gehe, ist die Portweinflasche leer und die Nacht bald vorüber. Keine zwei Stunden habe ich geschlafen, als ich aus dem Schlaf schrecke: ein Geräusch. Ich horche in die Dunkelheit. Wut sitzt in meiner Kehle, sie ist wie abgeschnürt. Eben habe ich geträumt, wie ich Maggies mutmaßlichem Mörder gegenüberstehe; meine Ferse war in seine Magengrube versenkt und meine Spucke klebte als weiße Spinne in seinem Gesicht. Ich wälze mich aus dem Bett, schlurfe am Badezimmer vorbei hinüber in den Wohnraum. Ich lasse mich in das kühle Leder des Sofas fallen und stelle das Fernsehgerät an, worauf das Licht aus einem Kabelkanal in das Zimmer fällt. Da sind Unstimmigkeiten: Das Maul einer kaum jemals benutzten Schreibtischlade steht halb offen; durch die Unterlagen zu dem Artikel, an dem ich seit Wochen arbeite (Microclimates of Minor Alpine Glaciers), ist ein kleiner Wind gefahren. Ich trete hinaus in den Vorraum, mache Licht. Da sind braungraue Spuren. Ich prüfe mit dem Finger: Die Spur ist noch nass, und sie kommt von keinem meiner Schuhe. Hellwach laufe ich zurück in den Wohnraum. In diesem Augenblick schnappt das Schloss der Eingangstür. Jetzt renne ich aus dem Zimmer und reiße die Wohnungstür auf. Leere, Fahrstuhlgeräusche; dann höre ich den Fahrstuhl drei Stockwerke unter mir ankommen. Wut schießt wieder hoch in meine Kehle. Ich stürme zurück in die Wohnung und auf den Balkon: Eine in der Finsternis kaum erkennbare Gestalt verlässt bedächtig das Haus und verschwindet unter den Ahornkronen der Straße.

Das wahrhaft Bizarre aber ist die Nachricht, auf welche der Einbrecher mich stößt.

Auf dem Boden meines Wohnzimmers liegt ein Brief, den ich am Vortag erhalten und noch nicht geöffnet habe. Ich hebe ihn auf und sehe, dass der Brief von dem Eindringling halb aufgerissen worden ist. In dem Umschlag steckt eine Broschüre. Werbeprospekt über San Felice del Benaco. San Felice del Benaco. Ein kleiner Ort am Westufer des Gardasees. Und Maggie, Christian und ich haben dort vor zwei Jahren ein Wochenende verbracht. Ich besehe mir den Umschlag näher. Auf der Rückseite befinden sich mit Bleistift hauchdünn aufgetragene Worte, in Maggies Handschrift:

eternal friendship, Maggie

MEINE GEDANKEN sind adrenalinverseucht, dabei fett und irgendwie träge. Erstarrt stehe ich mitten im Raum, den Briefumschlag in der einen, den Gardaseeprospekt in der anderen Hand. Ich halte den Atem an und gehe drei Schritte vor, drei zurück. Dann noch einmal. Ich weiß, dass damals am Gardasee etwas getan oder gesagt worden sein muss, das einen Schlüssel zu den Ereignissen dieses Tages darstellt. Oder Maggie hat das vermutet. Oder sie hat bloß eine Spur legen wollen. Aber ich weiß nicht, was und wozu und wohin.

Ich sollte wohl etwas tun. Das Dröhnen in meinem Kopf lässt nach. Ich denke daran, Fiala anzurufen, gehe dann aber bloß zu meinem Schreibtisch und greife mir das Notebook. Ich lasse mich wieder in mein Ledersofa fallen.

Ich klappe das Notebook auf und stelle fest, dass es läuft, obwohl ich es doch runtergefahren habe. Ich werfe einen Blick auf meine Mails. Vielleicht deshalb, weil der Eindringling in ihnen rumgestöbert hat. Der Ordner mit den gesendeten Mails ist geöffnet. Und ich frage mich, ob der dunkle Kerl gefunden hat, weshalb er gekommen ist. Ein Dieb ist er nicht. Mein Portemonnaie liegt auf meinem Schreibtisch, die Kreditkarte steckt darin, und das Einzige von Wert in meiner Wohnung, ein in seinem Feuerkranz tanzender, bronzener Shiva Nataraja aus dem dreizehnten Jahrhundert, steht unberührt und entrückt auf seiner Konsole.

Ich bin jetzt klar im Kopf, spule alle Möglichkeiten durch. Ich erstelle eine Liste, streiche und korrigiere. Es bleibt dabei: Irgendjemand (mit diesem Indefinitivpronomen werde ich mich vorerst wohl abfinden müssen) trachtet danach, herauszufinden, ob ich etwas weiß.

ES GIBT SUBTROPISCHE HOCHDRUCKSYSTEME, die sich in solch solider Ordnung über einem Kontinent festsetzen, dass sie alles unter sich versengen. Erst wenn Zyklone wie gierige Bestien über diese Systeme herfallen, kehrt das Leben zurück, oder ein anderer Tod.

Es ist eine halbe Stunde später und ich sitze aufgewühlt in meinem Wagen. Vor der Motorhaube schießt die Autobahn durch eine tunnelförmige Nacht. Kurz zuvor habe ich gepackt und bin in die Tiefgarage zu meinem Wagen gelaufen. Und jetzt habe ich mich aus meiner Erstarrung gelöst und fühle mich fast wieder gut.

In meinem Gehirn jagen die Gedanken durcheinander wie Kugeln auf einem Pooltisch. Ich fange an, mich für den weinerlichen Portweinabend zu schämen. Und ich habe kapiert; ich habe kapiert, dass dieses letzte Telefongespräch mit Maggie und ihre Gardasee-Botschaft, ganz gleich was sie darin mitteilen wollte, mir zuraunen:

Du hast einen Auftrag, Prinz.

Du hast zu tun.

Steh auf, du bist viele verdammte Stunden in Verzug.

Also fahre ich durch den Nachttunnel; auch wenn ich nicht so recht weiß, wohin. Ich habe nicht einmal eine Hypothese, kein Gerüst erster Denkbarkeiten. Dieser Maettgen in Heidelberg ist meine einzige, dürre Spur, wenn man die Annahme vertritt (und mangels Alternativen vertrete ich sie vehement), dass Maggies Tod und Christians Verschwinden in Zusammenhang stehen.

Bald meldet sich die Müdigkeit zurück. Ich drossle meine überhöhte Geschwindigkeit und öffne das Wagenfenster. Kalter Regen fährt mir augenblicklich ins Gesicht. Aus dem Nichts schießt er hervor und existiert nur für mich in dieser Nacht. Woher er kommt, herrscht vollkommene Dunkelheit. Es ist eine eisnasse Finsternis, die mich für wenige Augenblicke mit einem entlegenen Ort verbindet.

Bloß bewehrt mit Taschenlampen, mit der Kletterausrüstung, Saugnäpfen, Farbe und Pinseln, werden wir auf der Age of Reason von einem Regenguss überrascht, genau in den schutzlosen Minuten, als wir das Schlauchboot zu Wasser lassen. In das Wasser des fünfundfünfzigsten Breitengrades, Süd, dessen Temperatur kaum über dem Gefrierpunkt liegt und das sich unfassbar weit in die Finsternis hinein erstreckt. Eine Minute lang sehen wir gar nichts. Dann machen wir uns mit zwei Außenbordmotoren, die auf den niedrigsten Touren laufen, an den Luxuskreuzer heran. Wir stecken in Neoprenanzügen, mit dicken Schwimmwesten, und an der weißlackierten Wand des riesigen Schiffes angekommen (tags zuvor haben wir es nur aus der Ferne zu Gesicht bekommen), arbeiten Joshua-the-Canadian, Christa und ich uns mit Kletterausrüstung und Saugnäpfen an ihr hoch. Wir sind nass von der Dünung und der Gischt und malen in großen Lettern unsere Botschaft an den Schiffsbauch. Zwei Stunden später wieder runter, wobei ich um ein Haar das Boot verpasse und im Wasser lande. Am nächsten Morgen nähern wir uns dem Kreuzer mit Kameras und filmen für eine Dokumentation, für YouTube und für unsere eigene Genugtuung das Werk der Nacht. Hinter dem Bug des Luxusschiffes, auf dem kaum noch jemand wach ist, leuchtet unser riesiger Slogan:

LUXURY FOR YOU – PEST FOR THE REST

Und darunter die Zahlen über den Kohlendioxidausstoß dieser lächerlich luxuriösen Schiffsreise nach Polynesien und in die Antarktis, die veranschlagten Rekordgewinne für die Reederei, die Tonnagen des ins Meer geworfenen Mülls und die Namen einiger prominenter Kreuzfahrtteilnehmer. Das Video wird einer der ersten großen Hits auf YouTube.

Ich lasse das Fenster wieder hochfahren und steige auf das Gaspedal. Bald graut der Morgen. Vor Salzburg reißt die Wolkendecke auf: Ein blauvioletter Lichtstreif erscheint in meiner Windschutzscheibe.

Im Süden Salzburgs verlasse ich die Autobahn und suche mir ein ruhiges Plätzchen am Fuß des Untersbergs. Ich stelle meinen Wagen hinter eine wintergrüne Hecke und drehe den Sitz zurück. Vor mir liegt eine taufrische Wiese in der fahlen Morgensonne.

Dämonische Verfolger sitzen mir bald im Nacken. Sie tragen mächtige Scheinwerfer auf ihren Schultern, während ich in einem kleinen Schlauchboot durch ein nicht enden wollendes Grottensystem in Richtung Küste rudere. Die Höhlengrotte verengt sich an einigen Stellen, ich scheuere meine Schultern wund, am Ende mündet alles in einen gewaltigen Ozean, der mehr bösartige Leere ist als eben ein Ozean.

Signaltransduktion – Ionenkanäle

Signalübertragung in biologischen Membranen. Ionenkanäle als Vermittlungsinstanz, Prof. Dr. Horst Maettgen … In: Jahrbuch 2003 der Max-Planck-Gesellschaft, Heidelberg …

Der Sieg über den Tod – Interview auf Die Welt.de

3. Febr. 2010 …behauptet Prof. Horst Dieter Maettgen aus Heidelberg in einem Interview mit der Tageszeitung »Die Welt«, der etappenweise Sieg über den Tod sei nicht bloß …

Sensory responses with depolarisation

Sensory responses with unexpected depolarisation in layer 2 of barrel cortex … V. Lübbers, Horst Maettgen, B.M. Duncan …

Die Suchmaschine, gefüttert mit den Begriffen Maettgen und Heidelberg, liefert mir 8613 Einträge über Artikel auf den Gebieten der Zellbiologie, Molekularbiologie und Neurologie, dazu Informationen zum Max-Planck-Institut für medizinische Forschung in Heidelberg, an dem dieser Maettgen seine Brötchen verdient.

Der Tag hat sonnig begonnen und während meines kurzen Schlafs ist von den Bergen Nebel auf meinen Wagen herabgekrochen. Ich sitze jetzt wie in einem Kokon aus feinen Wassertröpfchen.

Ein vor wenigen Minuten gefundener Lebenslauf weist Horst Dieter Maettgen als Professor der Universitäten Heidelberg und Göttingen sowie als Leiter der Abteilung für Zellphysiologie am Heidelberger Max-Planck-Institut aus. Maettgen ist Mitglied in verschiedenen internationalen Scientific Societies, außerdem hat er eine Menge Preise eingestrichen (wie den Feldberg Prize oder den Von Humboldt Prize).

Und Horst Dieter Maettgen hat ein Steckenpferd: die Unsterblichkeitsforschung. Wie andere Einträge nahelegen, handelt es sich dabei um einen exzentrischen, aber ernstzunehmenden, boomenden Zweig der Biologie und Biochemie.

In Verbindung mit Maettgen taucht mehrmals der Firmenname ArogaCorporation auf. Mit diesem Unternehmen steht mein Professor offenbar in Verbindung. Ich sehe aber nicht nach, was die Aroga Corporation so treibt. Denn ich stoße endlich auf einen Hinweis:

Wiederentdeckung der altindischen Pharmazie

Ayurveda: Die vergessene Medizin. Erste Schritte auf dem Weg zur Wiederentdeckung der altindischen Pharmazie … Prof. Horst Maettgen, Heidelberg, mit Prof. Xaver Schmithausen, Wien …

Mehrere Einträge dieser Art gibt es. Ayurveda. Indische Heilpflanzen. Scheint sich um ein weiteres Hobby Maettgens zu handeln; und es ist eine solide Brücke zu meinem Freund Christian Fust. Christian vertritt die Meinung, in den alten medizinischen Schriften Indiens lägen zahllose Schätze verborgen, die man erst heben könne, wenn es gelänge, die in diesen Sanskrit-Texten beschriebenen Pflanzen zu identifizieren. Das Wiener Südasien-Institut, an dem Christian seine Professur innehat, betrachtet diese Aufgabe als einen seiner Forschungsschwerpunkte. Maettgen und Christian könnten also gemeinsame Ziele haben.

Und dann ist da noch dieser Wissenschaftler aus Wien.