Die Nacht der verschwundenen Dinge - J. F. Dam - E-Book + Hörbuch

Die Nacht der verschwundenen Dinge E-Book und Hörbuch

J. F. Dam

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Beschreibung

Thomas und Christina sind jung und erfolgreich; er ist Architekt, sie entwirft Mode. Während eines Konzertbesuches verliebt Thomas sich plötzlich in Helen, die Frau seines Freundes Michael. Es ist eine unmögliche Liebe, jedes Treffen im Freundeskreis wird zur Tortur. Als er es nicht mehr schafft, seine Gefühle zu verbergen, fällt sein geordnetes Leben wie ein Kartenhaus zusammen. Christina lässt sich scheiden, Michael beendet die Freundschaft – und Helen schweigt. Ohne Pathos und deshalb umso eindringlicher erzählt J. F. Dam davon, wie sich das Leben in einem Augenblick ändern kann.

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Seitenzahl: 191

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Zeit:4 Std. 45 min

Sprecher:Mike Maas

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Deuticke E-Book

J.F. Dam

Die Nachtder verschwundenenDinge

Roman

Deuticke

ISBN 978-3-552-06287-0

Alle Rechte vorbehalten

© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2015

Umschlag: Lübbeke Naumann Thoben, Köln Foto: © plainpicture/Caiaimages

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

für Aleen

Cavalcando l’altr’ier per un cammino,

pensoso de l’andar che mi sgradia,

trovai Amore in mezzo de la via

in abito leggier di peregrino.

Dante Alighieri (Vita Nuova)1

Ja wohl bin ich nur ein Wandrer!

Seid ihr denn mehr?

Werther2

Inhalt

Mandalay

I

Die Himmelsrichtungsbuddhas

Labyrinthe

Der Abend in Andalusien, und der Tag am Meer

II

Die Steinhütte

Die Trattoria

Cipangu

Der Steg am Fluss

Das falsche Leben

III

Der Glasturm

Mandalay

Mandalay

Der Atem Mandalays ging zu flach; die heiße Nacht glitt in einen zu schwülen, stillen Sonnenaufgang hinüber, und auf den pagodenbestückten Hügeln um die Stadt lag mehr Dunst als an anderen Tagen. Weiter draußen, über den Reisfeldern, standen noch die Staubwölkchen des Vortags, etwas zerfleddert vom Morgentau, als unser Wagen die Straße von Mandalay hinauf in die Berge nahm. Ich hätte es wissen müssen, ich hätte es mir denken können. Jo scherzte mit dem Fahrer, obwohl der kaum Englisch sprach, bis wir am Rand eines ehemaligen Kolonialstädtchens hielten.

Nur wenige Meter hinter dem Ort endeten die befestigten Straßen. Jo wickelte sich beim Gehen sein Hemd um den Kopf. Auf Pfaden und unbefestigten Straßen bahnten wir uns vier Stunden lang den Weg durch knochentrockenes Buschland. Kaum ein Mensch weit und breit; einmal ein halb verlassenes Hindudorf, mitten in Zentralburma, gebaut entlang einer unbefahrbaren Lehmstraße, die bloß aus mannshohen Wellen bestand. Schließlich wurde die staubige Gegend abgelöst von einer Wiesenlandschaft, es war fast eine winzige Hochebene, durch die sogar ein tiefer Bach kroch. Eine ganze kleine Welt für sich, menschenleer und vollkommen still. Unweit des Baches stand, was wir gesucht hatten: ein schäbiger, vergessener Tempel, der sich hinter einer brüchigen Umfassungsmauer versteckte. Eine kleine Enttäuschung. Trotzdem schoss Jo viele Bilder mit seiner ehrwürdigen Nikon. Den Mittag über lehnten wir im Schatten einer Pagodenspitze, aßen ein Büschel Bananen und Kekse; die Geier pendelten die ganze Zeit über lautlos am milchigblauen Himmel, Planeten, die hoffnungsvoll den Tod umkreisten, doch sie sollten ihn nicht kriegen, nicht gleich hier am Tempel. Am Rückweg dann war es passiert. Verfluchte Schlange, verfluchtes Land der Schlangen, Burma. Ich saugte an der Wunde, ich trug Jo, ich schleifte ihn zu dem Städtchen, lief mir die Lunge aus dem Leib, nur ein einziger Inhalt in meinem von den spitzen Zweigen und Dornen blutenden Kopf: Zeit.

Das ist vor mehr als zwei Jahren gewesen. Danach ging nichts mehr. Warum nur hatten wir nicht an Schlangen gedacht, an Medizin? Die Figuren in meinem Leben wurden jetzt neu aufgestellt. Doch anstatt zu handeln wartete ich bloß. Ich war berührt worden von den richtigen Dingen: Leben, Tod, Wahrheit, Abgrund, und sie lähmten mich.

Etwas musste geschehen.

I

Die Himmelsrichtungsbuddhas

Der Schmetterling ist seidenschwarz. An seinen Flügelenden stehen orangefarbene Wolken, aus denen zwölf grellweiße Augen – mir zublinzeln. Elend starre ich in den scharfrandigen Oktoberhimmel. Der Schmetterling bekommt Gesellschaft. Fünf, acht, zehn Mohrenfalter, deren emsige Rüssel auf meiner Haut nicht fündig werden. Meine mühsamen Gedanken schweben. Allmählich lassen sie Mandalay im Dunst verschwinden, und werden hineingesogen.

***

Das Reispapier, auf dem ich (im Licht der Bettlampe) schrieb, hatte ich in einem Laden in der Altstadt Kyotos gekauft. (Der Himmel pechfarben im Schlafzimmerfenster.) Jo und ich waren soeben zurückgekehrt von einer Fototour durch den Nanzenji-Tempel, an dessen Hinterseite sich ein Mönch unter einem eiskalten Wasserfall gewaschen hatte. Jo duckte sich und drückte ab, viele Male. Eines dieser Bilder war auf dem Umschlag des Buches zu sehen, das ich als Schreibunterlage benutzte.

Ich hob den Kopf und warf einen scheuen Blick zu Christina hinüber. Seit einer halben Stunde schlief sie fest. Ich war nicht müde. Ich war den ganzen Tag herumgelungert. Dinge zerfielen vor meinen Augen. Der Entwurf einer Kunstgalerie wartete auf meinem Computerbildschirm, dass ich mich endlich mit ihm befasste, daneben das Modell eines Büroturms aus Glas (an dem wir bei Waldner und Kunig Architekten demnächst bauen würden), und draußen der akribisch gepflegte Garten der Dominikaner: alles unfassbar leer, nichtig, eigentlich albern.

Böiger Wind fuhr in die Dunkelheit. Dazu wildes Wetterleuchten. Die schon den halben Tag in der Ferne herumschleichenden Gewitter näherten sich rasch. Der Garten fing an, in unregelmäßigen Intervallen aufzuleuchten.

Abends dann im Konzert. Mit einer schlechtgelaunten Christina, mit Michael und ihr. Zusammen mit einem Chor aus Prag hatten die Symphoniker Olivier Messiaens La Transfiguration de Notre Seigneur Jésus-Christ gegeben; sie hatten das Publikum in Ekstase versetzt, die Stimmen, das Chaos der Streicher, die wilden Pauken, und ich dachte nur diesen absurden Gedanken.

Als nun ein erster mächtiger Blitz die Dunkelheit zerriss, brach ich meinen Brief ab. Ich faltete das dünne Blatt möglichst geräuschlos; die Schrift leuchtete schwarzblau durch das Reispapier. Man hätte sie für japanische Zeichen halten können.

Nach dem Konzert waren wir alle vier im Foyer herumgestanden. Ihr Blick suchte Halt. Sie schien anfangs ein wenig verloren.

»Ein Mann, stell dir vor, ist seit Wochen mit allen möglichen Zügen in ganz Europa unterwegs«, sagte sie. Stimme mit samtenem Klang. »Familie und Identität – einfach weg.«

Michael und Christina unterhielten sich laut neben uns. Ich half ihr in den Mantel. Ihre Schultern waren ungewöhnlich breit. Schwamm sie? Hatte Michael je etwas davon erwähnt?

»In der Klinik sind alle ganz aus dem Häuschen deshalb.«

Es hatte den Anschein, als wären Michael und Christina völlig aus ihren Gedanken. Was ich an einer winzigen, wie unbeabsichtigten Drehung ihrer Schulter ablas, von ihnen weg.

»Amnesie?«, fragte ich.

Der Gedanke näherte sich wieder. Er lauerte mir im Halbdunkel auf. Neben mir ging Christinas Atem regelmäßig wie ein Uhrwerk. Während Fluten blonden Haars auf unseren beiden Kissen Seen bildeten und gekräuselte Teiche. Langsam ließ ich das gefaltete Blatt zu Boden gleiten, wo es einen Augenblick lang stand, balancierte, um dann kraftlos auf das Parkett zu fallen. (Eine Bibliothek bauen, notierte ich flüchtig ins Nichts hinein, in Form eines solchen Blattes, eines stehend aufgeschlagenen Buchs.)

»Eine seltene Art von Fugue«, sagte sie. »Spektakulär. Man lebt einfach in der Gegenwart, ohne nennenswerte Vergangenheit zu besitzen.«

Jemand drückte uns Konzertankündigungen in die Hand und zwängte sich ohne Entschuldigung zwischen uns hindurch. Ich blickte zu ihr hinüber. Die rahmenlose Brille sah ich zum ersten Mal an ihr. Die trug sie sonst wohl nur beim Autofahren. Darunter rehbraune Augen, Augen, die sie nach innen blicken ließen; diese Augen waren wie ein Eingang (war das der Gedanke oder Teil von ihm?).

»Und die Zukunft?«, fragte ich.

Donner krochen mittlerweile über unsere Köpfe. Regen klebte an den Fensterscheiben. Irgendwo heulte schon eine Sirene. Ich dachte daran, mich noch an den Computer zu setzen, um endlich mit meinem Entwurf der Galerie voranzukommen, der mir seit Wochen im Magen lag. Doch mein matter Enthusiasmus sackte binnen Sekunden wieder in sich zusammen. Sollten sie im Büro doch einfach warten. Lass sie schmoren. Schmoren. Wenn es hart herging bei Waldner und Kunig Architekten, hatten Phillip Waldner, ein ehemaliger Studienkollege, und Edgar Kunig ohnehin stets die rotzigen Nasen vorn. Phillip Waldners Ehrgeiz hatte seinen Namen auf das Firmenschild gestanzt, wo meiner niemals stehen würde. Dabei war es nicht so, dass ich keine Ambitionen in mir spürte. Doch reichten diese für mutige Entwürfe und für gewonnene Architekturwettbewerbe, beileibe nicht für Firmenschilder. Beim bereits legendären Wettbewerb für dieses turmartige, gläserne Bürogebäude in der Stadtmitte hatte ich ein Jahr zuvor mit meinem Entwurf den zweiten Platz belegt. Und da dem Sieger des Architekturwettbewerbs ein Fehler in der Materialbehandlung der Fassade nachgewiesen werden konnte, wurden Waldner und Kunig Architekten Monate später mit der Gesamtplanung beauftragt.

Ein eigentlich weit vom Haus wegstehender Ast begann an der Wand des Schlafzimmers zu scharren. Der den Hügel hinaufsteigende Obstgarten loderte jetzt immer wieder grellweiß auf. Schwarze Birnbaumskelette standen zackig im Licht. Ich beobachtete, wie diese verrenkte Armee von Blitzschlag zu Blitzschlag den Hang herabrückte.

»Pah, kommt nicht vor. Keine Pläne, nichts.«

Für einen Moment hatte ich es mit der Angst zu tun bekommen. Ich durchstöberte meine Gesichtszüge nach einem passenden Lächeln, fand es, schwieg dazu.

»Und dann ist dieser Kerl auch nicht dumm. Oberstufenlehrer. Hat eine Menge Rechtfertigungen für das, was er tut. Oder eben nicht mehr tut.«

Ich schwieg immer noch. Es war mir unerklärlich, wie mir Helens Gesicht, in diesem Moment etwas nach unten gewandt, in dem Konzertprogramm in ihren Händen lesend, so lange hatte entgehen können. Beim kurzen Lesen neigte sie langsam den Kopf zur Seite, wie ein Halm, als sickerte ein stiller Lufthauch in das Foyer, und in ihrem Blick stand einen Sekundenbruchteil lang eine Erkenntnis, die sich mir nicht erschloss. Christina und Michael, jetzt beinahe in unserem Rücken, lachten auf.

Die Planung des Büroturms hatte anfangs zahllose Schwierigkeiten mit sich gebracht. Dieses sechzehn Geschoße hohe Gebäude, das sich wie eine schiefe, kegelförmige Schraube labyrinthisch in den Himmel wand, war nicht nur das größte, an dem Waldner und Kunig Architekten bisher gebaut hatten, nein, es musste unbedingt auch in sandhaltigem Boden entstehen und in der unmittelbaren Nachbarschaft alter Bausubstanz. Deshalb meldeten die von uns beauftragten Ingenieurbüros bloß Unmöglichkeiten. Sie lieferten ihre Berechnungen spät, sie ließen uns zappeln. Phillip Waldner, Hipsterbrille, Vollbart und was sonst noch dazugehörte, und Edgar Kunig, ein aus höchsten Biohausweihen gefallener Architekt mit schulterlangen Haaren, hatten daher beschlossen, eine eigene Ingenieursabteilung aufzubauen. Und weil das Edgar Kunig in seiner Arbeit entlastete und er nun seinen architektonischen Verspieltheiten nachgehen konnte, war mir bald die Planungsleitung entzogen und eine sogenannte Beförderung angeboten worden: Ich solle nun auch den Scout spielen. Ich sollte den allerwichtigsten Job übernehmen, »das Material, Tommy, das Material!«, zirpte Phillip Waldner. (Er nannte mich Tommy, wenn er schlechte Nachrichten hatte.) Ich sollte meine Augen also für technische Neuerungen und Materialentwicklungen offen halten.

Christina bewegte sich unruhig. Ich löschte rasch das Licht. Sie war aber nicht wach geworden. Ich machte es wieder an. Der gekräuselte Haarteich war über seine Ufer getreten und rann hinab auf das Laken. Bei der Tür lag bleich wie Knochen Christinas Unterwäsche von Witteau, die sie wie immer einfach von sich geworfen hatte. Christina trug nicht irgendeine Wäsche. Das sagte sie jedem, der es hören wollte, wenn die Sprache auf ihren Beruf, die Mode also, kam und bereits die eine oder andere leere Flasche französischen Weißweins auf dem Tisch stand. Im gleichen Atemzug konnte sie mit einem Seitenblick zu mir hin die Meinung vertreten, ich solle mir doch auch einmal ein Beispiel an Phillip Waldner nehmen. Schließlich könne man es sich in unserem Alter nicht mehr leisten, bis zum Überlaufen voll mit Ansichten zu stecken. Wie das mit der Wäsche zusammenhing, hatte ich bis heute nicht ganz rausgekriegt. Christina träumte von einer Ehe, in der Firmenschilder, ein im ganzen Land bekanntes Modelabel (Christinas Label war auf dem besten Weg dahin), ein von Edgar entworfenes, fast augenblicklich zu Ruhm gelangendes Architektenhaus (man entwarf weder das eigene Haus noch die eigene Kleidung selber, um Himmels willen) bedeutende Rollen spielten. Christina war überzeugt davon, ich würde demnächst aufwachen. Dann würde ich meine Bücher über Tempel in Asien, deren Architektur-Essays mir nicht nur in Fachkreisen einen passablen Namen verschafft hatten – aber keine nennenswerten zusätzlichen Einkünfte –, als das betrachten, was sie waren: Marotte einer über Gebühr prolongierten Jugendzeit. Doch gäbe es diese Bücher über Göttliche Metropolen: die südindischen Tempelstädte und Die Pagoden Burmas nicht, beide erarbeitet mit Jo, und wäre mein drittes Buch über Heilige Räume in Asien, das ich mit Jo begonnen und mit Fery, der aber leider kein so großartiger Fotograf ist, wie Jo es immer war, fertiggestellt hatte, nicht kurz vor der Publikation gestanden, wäre mir die Architektur … aaargh, hingegen sie, sie, Christina, sie wäre, abgesehen davon, dass sie diese Jammerpredigt über die zermürbenden finanziellen Zwänge architektonischer Gestaltung nicht mehr hören könne, so erwachsen wie »Pippi Langstrumpf nach sieben Mai Tais«, nur sehe sie nicht so scheiße aus, sie habe ihr Instagram-Konto gelöscht, das Profil bei Xing behalten, dann habe sie ihr iPhone gegen ein Blackberry getauscht und ihr altes Apple-Notebook gegen irgendeines vom PC-Widersacher, und »verdammt nochmal, mein liebster Thomas, wir spielen nicht mehr, wir leben, und es sollte, denk dran, seit Äonen heißen, Waldner, Kunig und Well Architekten«.

Während es am Himmel über uns ein weiteres Mal laut krachte, legte ich das Buch mit dem Umschlagbild aus Japan auf den Boden zu dem Brieffragment und schob einen Fuß aus dem Bett. Zum ersten Mal in dieser Nacht, dem Vorabend von Christinas dreiunddreißigstem Geburtstag, verließ ich das Schlafzimmer. Ich ging auf die Toilette und schloss darauf das Wohnzimmerfenster. Regen am Glas wie Gischt.

»Das müssen wir unbedingt noch einmal zusammen machen«, hatte Helen gesagt und mir einen Kuss auf die Wange gedrückt. »Konzert, meine ich.«

Ich suchte in meiner Jackentasche nach Müll; ich wurde fündig und knüllte den Fetzen Papier zu einem Kügelchen.

»Nachdenklich geworden? Messiaen?«, sagte sie fröhlich.

Jetzt hatte sie endlich ganz festen Grund unter den Füßen, und ich stand wehrlos vor ihr, wie nackt. Das Merkwürdige daran war: Dieses Gefühl der Schutzlosigkeit bewegte sich nahe am – Glückseligen. Ich wollte lachen, doch das Lachen misslang; es musste klingen wie auf dem Schafott.

In einem Schub von Verzweiflung stattete ich der Küche einen Besuch ab und machte, was sonst kaum vorkam, auf dem Sofa eine Flasche Shiraz auf und den Fernseher an. Ich ließ die Kabelbilder dahinlaufen. Den Ton stellte ich aus. Ich trank ein halbes Glas, schaltete den Fernseher wieder aus und ging, noch immer nicht müde, zurück ins Schlafzimmer. Dort setzte ich mich an den Bettrand. Helen – der Mantel offen, die enge Taille in einer blauschwarzen Bluse – hatte hinzugefügt: »Du bist ja jedenfalls nicht der Mensch, der angekommen ist, Thomas.« Dabei ergriff sie meine Hand. »Du rennst, du glaubst, an die grünere Seite am anderen Ufer? Tun wir alle, mein Lieber. Ausgenommen Christina.« Sie ließ einen Blick in Christinas Richtung los. Leiser, verschwörerisch fuhr sie fort: »Ihre Welt ist so, wie sie sie haben will.«

Sie hob meine Hand und warf sie von sich, als sei diese Teil ihrer Geste. Sie lächelte mich an, wie belustigt über ihre Bewegung, aber so, als seien solche kleinen Dinge schon oft vorgefallen zwischen uns. Ungläubig gaffte ich sie an. Ich, der torkelnde Stern.

Der nun tatsächlich in die Augen der Frau seines besten Freundes starrte.

Da eilte mir Christina zu Hilfe. Ihr linker Arm schob sich von hinten in meinen rechten und drängte zum Gehen. Michael klopfte mir auf die Schulter und erinnerte mich an unsere Verabredung am übernächsten Abend. Bei seiner Berührung fuhr ich zusammen.

In der folgenden Stunde versuchte jede Art von Qual ihr Glück in mir. Christina schlief nichtsahnend, während Helen, ihre Augen, auch ihr Busen (viel größer als Christinas), langsam den fast grenzenlos weiten Raum in meiner Gehirnschale ausfüllten. Mehrmals sah ich auf mein Telefon. Erwartete ich etwa eine Nachricht von Helen? Ich kam mir trotz allem leer vor, die Leere schmerzte; zugleich war ich wie in Ketten gelegt und minutenlang unfähig, mich zu bewegen. Was hatten alle diese Gefühle in mir zu suchen?

Bald ertrug ich es nicht mehr und flüchtete ein weiteres Mal aus dem Schlafzimmer. Diesmal hinaus auf den Balkon. Die Kühle tat mir gut, nur noch in der Ferne krachte Donner. Der Klinkerboden stand unter Wasser. Ich trat an die Brüstung und überließ mich minutenlang der unruhigen Nacht. Letzte Wassergarben schlugen in mein Gesicht. Ich fragte mich, was Helen sich dabei dachte. Durchnässt schlich ich mich in die Küche und machte grünen Tee. Dann ging ich auf leisen Füßen ins Badezimmer. Den Tee vergaß ich. Ich trocknete mich ab und kroch zurück in mein warmes Bett. Neben mir atmete es tief. Ich löschte das Licht.

Der Ast kratzte immer noch an die Außenwand. Halb sitzend kauerte ich da und glotzte in die Dunkelheit. Ich hoffte, den Riss im Gefüge der Ereignisse zu finden; den Spalt in das Unbekannte.

Im Garten herrschten die Farben Dunkelgrau und Schwarzgrün, und durch alles zog ein Hauch von Rot. Jemand ging neben mir. Wer war das? Ich bewegte mich zäh. Und da hörte ich das Weinen. Zunächst war es, als würde sich jemand schluchzend hinter den Büschen und Bäumen verstecken; manchmal glaubte ich ein Gesicht zu erkennen, wie kurz herangeholt von einer Kamera. Doch dann schwirrten die Tränen um mich. Ich konnte mich ihrer nicht erwehren, beinahe wie Regenschauer: ein nasses Klagen. Und ich erkannte Helens Stimme. Sie verbrannte vor Sehnsucht.

Ich weiß nicht, wie ich daraus erwachte. Sogar Christina schreckte kurz auf, schlief jedoch gleich wieder ein. Ich musste seltsame Laute von mir gegeben haben. Wie konnte Helen das bloß mit mir machen? Wir waren einer dem anderen vollkommen unantastbar. Noch am Morgen war ich stinkwütend.

Der Regen hing wie Lametta vom Himmel. Zu Ehren von Christinas Geburtstag. Dann hob sich der graue Tag, eine blasse Sonne sandte zwei oder drei Strahlen, bevor es, mit weniger Entschlossenheit, wieder anfing zu regnen. Wir warteten eine Stunde lang, dann mussten wir raus. Christinas Vater bestand auf dem traditionsreichen Spaziergang an diesem Tag, war er doch aus S. angereist und wollte die triefenden Knospen und Blätter des hier bei uns schon eingetroffenen Vollfrühlings erleben. Ob es die in S. noch nicht gab? Ob die juridische Fakultät in S. die Atmosphäre congelierte? Schlimm genug war es, einen Professor für römisches Recht mit fixen Spaziergewohnheiten zum Vater zu haben. Doch verfügte Ferdinand Merlatt zudem über katholische Tiefen und schauerliche konservativ-politische Ambitionen. Ja, nun aber, einmal war er beinahe Bürgermeister in S. geworden, sonst nur im Stadtsenat gesessen und eine Menge mitgeredet, und der Kanzler, der Kanzler selber, der Parteifreund, hatte ihn immer »meinen Ferdi« genannt, niemals meinen Ferdinand.

Der Traum verfolgte mich den ganzen Tag. Im Wald sah ich keinen Wald, sondern hatte einen rotgrauen Garten vor meinen Augen. Der Regen, der von den schütteren Baumkronen immer wieder auf uns herabdrizzelte, waren Helens Traumtränen. Ein Rascheln ließ mich herumfahren und nach einem verborgenen Gesicht Ausschau halten. Es war alles zu realistisch gewesen und einfach nicht aus mir rauszukriegen.

Erst der Abend verschaffte Erleichterung. Wir waren in einem erstklassigen Restaurant in der Innenstadt eingeladen, wo der Fisch fünfzig Euro kostete, das Bier acht, die Flasche Blauburgunder hundert und der doppelte Cognac an der Bar, der gewährleistete, dass ich Ferdi und seine Frau überstehen würde, neunzehn. Die Restaurantpreise hoben aber die Stimmung nicht. Da schuf auch die hysterische, noch immer schöne Mutter kaum Abhilfe, die uns, eigentlich so blond wie Christina, aber Alter und Stand gemäß eher aschblond gefärbt, den Rest des Abends unterhielt. Und wenn ihm, dem Professor, dem Dekan und Beinahebürgermeister (gekleidet in einen dunklen Maßdreiteiler), nun wieder eine Geschichte einfiel, schrillte sie immer nur, »ja, Ferdi, das kommt vor!«. Die betrunkene Christina warf sich voller Verzweiflung wiederholt an mich. Ich kam mir dabei wie ein seltsam stumpfer Holzblock vor; als wären meine Nervenenden auf eine andere Frequenz eingestellt, nicht auf Christinas. Auch aus diesem Grund griff ich noch eifriger zum Blauburgunder. Ich wollte flüchten, wenigstens in Gedanken. Aber die Angst davor, bei meinem Fluchtversuch bloß bei Helen zu landen, führte dazu, dass ich ständig an die Ehrfurcht einflößenden Räume von Christinas Elternhaus in S. dachte, an die steifen Klavierabende und die Bibliothek, die mehr nach den miefigen Ledereinbänden honorabler juristischer Reihen denn nach Büchern roch. (Nichts weniger als erstaunlich war es, dass man die jüngste Tochter Christina ins Modebusiness hatte gehen lassen.)

Am Ende genoss ich es beinahe. Warf dieser entsetzliche Abend schließlich doch eine Schicht von Vergessen über den Traum, über Helen und über meine Wut auf sie. Als wäre er ein Riesensack voll Sand aus den Flüssen um S. Während ich so allein an der Bar saß, nicht einsehbar vom Tisch der Familie Merlatt, bei meinem Cognac, gelangte ich sogar zu der Überzeugung, ich könnte, wenn ein nächster Helenanfall käme (und mit einem solchen rechnete ich schon an diesem ersten Tag, eine Tatsache, die mich noch heute in Erstaunen versetzt), alles in einer ausreichenden Menge Alkohol ertränken und wäre sogleich gerettet. Alkohol würde mich außer Reichweite schlittern lassen. Irgendwo hinunter, wo mich keiner sah und vermutete, schon gar nicht Helen.

Christinas Eltern übernachteten niemals in unserer Wohnung. Sie bevorzugten ein nahe gelegenes, passables Viersternehotel. Und da der Abend in einvernehmlicher Trunkenheit geendet hatte und die Party mit Christinas Freunden erst drei Tage später stattfinden würde, hatten wir die Nacht vor uns. Ehelicher Sex unter Alkoholeinfluss war doch eine probate Medizin gegen den Einbruch des anderen. Also frohlockte ich, meine Unpässlichkeit schien überstanden. Von dem Traum waren, als wir nach Hause kamen, bloß noch fahle Bilder übrig geblieben.

Dieser mir mit den Jahren immer rätselhafter und immer weniger biologisch determiniert erscheinende Vorgang, hier in unserem Bett, verwandelte Christina. Es war, als löschte Sex den Bann, den die Jahre der Ehe über sie geworfen hatten. Plötzlich war sie wieder gelassen, unkompliziert, selbstironisch. Undenkbar erschien es mir dann, sie könnte bei einer meiner kleinen Nörgeleien Türen zuknallen (falls zur Hand), die Wohnung verlassen und erst Stunden später völlig unansprechbar vor Wut wieder zurückkommen.

Witteaus Wäsche bereits auf dem Boden, öffnete Christina soeben die Badezimmertür – zunächst erschien nur ein langes Bein, dann ihr schelmisch grinsendes Gesicht – und tänzelte schließlich in Rumbaschritten (sie hatte einmal auf Wettbewerben lateinamerikanisch getanzt) langsam auf mich zu.

Am Bett angekommen, schlich sie mit gehauchten Sätzen über mich hinweg. Wie ein Panther. Sätzen, die mich aber kaum erreichten, fast schienen sie außerhalb meines Hörbereichs zu fallen. Vielleicht, weil ich zu tun hatte, weil ich mich erinnerte, ich wog ab, ich erkannte … erst jetzt?, dass es damals nicht Christinas Aussehen gewesen war, nicht ihre kaum beschreibbaren Gesichtszüge (nun in Großformat über mir), da so unspektakulär und vollendet, nicht einmal ihr betont unostentatives Auftreten, dessen Wirkung ganz auf einem Übermaß an Schönheit beruhte – der entscheidende Grund war doch mein Selbstzweifel gewesen. Ich sah mich … kurz nach dem Studium, orientierungslos, und Christina mit der Wirklichkeit geradezu im Bunde. Alles war ihr zu Füßen gelegen. Und wenn es nicht so war, konnte sie es so erscheinen lassen.

Einen Moment lang nur war Christina, Meisterin des Erscheinenlassens, jetzt geringfügig ernüchtert, weil ich kein Wort sagte. Weil ich keine verbale Liebe gab, und verbale Liebe war Christina sehr, sehr wichtig. Sie ließ ab, erhob sich über mir und schleuderte von dort weit oben einen Königinnenblick in meine Augen, der mich suchte, mir die Lücke wies. Die ich mir Mühe gab zu füllen – während sich meine Seele bebend daranmachte, gemeinsame Schätze einzusammeln … die Wanderung durch den Süden Navarras (ein alter Wunsch, den Christina tapfer durchlitt), die Fehlgeburt vor einem Jahr, ihr erster großer Modepreis und die Gala im Rathaus … der legendäre Streit im Lagunenwasser eines Mauritius-Strandes, wo sie mich am liebsten ersäuft hätte und dennoch eine Stunde später in einem nierenförmigen, nächtlichen Pool …