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Nicht nur, dass ihre Ehe die Hölle ist, nun bricht auch noch das System eines Landes zusammen, in dem sie sich immer zu Hause gefühlt hat. Ein System, mit dem sie von klein auf Gefühle wie Sicherheit und Geborgenheit assoziierte. Gerade erst zum zweiten Mal Mutter geworden, kann sie die Unzufriedenheit ihrer Landsleute nicht nachvollziehen. Selbst gute Bekannte, mit denen sie aufgewachsen und zur Schule gegangen ist, verlassen das Land. Am Hauptbahnhof in Dresden kommt es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizisten. Ehemals beste Freunde springen sich auf einmal gegenseitig an die Kehlen … Und zu den täglichen Auseinandersetzungen mit ihrem Mann kommen nun auch noch immense Zukunftsängste.
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Seitenzahl: 272
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Mo Siegel ist das Pseudonym der Krimiautorin Symone Hengy.
Ihre Thriller um den charismatischen Profiler Alexander Buschbeck „Ekstase“ und „Explosion“ haben bereits eine begeisterte Leserschaft gefunden.
Unter ihrem Pseudonym Mo Siegel veröffentlicht sie ausschließlich Werke anderer Genres.
Die Autorin arbeitete als Ingenieurin, leitende Angestellte im öffentlichen Dienst, als Steuerfachangestellte, Bibliothekarin, Webdesignerin und Versicherungsfachfrau, bevor sie sich ganz dem Schreiben zuwandte. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrem Ehemann in Sachsen.
Bei dem vorliegenden Roman handelt es sich um eine fiktive Geschichte. Personen und Handlungen sind frei erfunden.
Für Ines
Drei Urnen
Dialog
Auf ein Wort
Die Reise beginnt
Türen ins Gestern
1. Tür
2. Tür
3. Tür
4. Tür
5. Tür
6. Tür
7. Tür
8. Tür
9. Tür
10. Tür
11. Tür
12. Tür
13. Tür
14. Tür
15. Tür
16. Tür
Die Reise endet
Wenn ein erfülltes Leben zu Ende gegangen ist, versammeln sich für gewöhnlich die Hinterbliebenen, um dem Verstorbenen in stiller, zärtlicher Trauer die letzte Ehre zu erweisen. Stumm und mit leeren Augen stehen sie an seinem Grab und versuchen einander Trost zu spenden. Und spätestens beim Leichenschmaus erzählen sie sich rührselige und lustige Anekdoten über ihn. Anekdoten, durch die er fortan als ein schillernder Stern am Nachthimmel weiterleben soll.
Ganz anders, wenn ein junger Mensch den Tod gefunden hat. Das gellende Warum hallt als stummer Schrei in die laute Stille der vertrauten Welt.
Auf einmal ist der Tod nicht mehr nur ein Wort mit der Bedeutung vom Ende des Seins. Ist nicht mehr nur unabwendbares, zwangsläufiges Schicksal - Tribut für ein gelebtes Leben -, sondern Jammer und Verzweiflung.
Der Tod eines jungen Menschen gleicht einer Amputation funktionstüchtiger Körperteile, einem Auseinanderreißen fest verwachsener Strukturen.
Worte des Trostes wollen sich nicht aussprechen lassen, weil blutleere Lippen ganz einfach ihre Funktion verweigern. Und Hände, in anderen Situationen so gut geeignet, Halt und Stütze zu sein, ballen sich zu Fäusten, um das Zittern zu unterdrücken, das einem Grillenzirpen gleich die feinen Glieder schüttelt.
Eine ganze Welt ertrinkt in Tränen aus Hilflosigkeit und Wut, ohne Hoffnung, diesen Schlag des Schicksals jemals zu verwinden ...
An einem Frühlingstag im Mai erfahren Hilflosigkeit, Verzweiflung, Schmerz und Wut in einem kleinen Ort in Sachsen eine ungeahnte Steigerung ...
Weiße Kerzen atmen gierig die muffige Luft der alten Kapelle. Ihre züngelnden Flammen recken sich verlangend in die Höhe, als lechzten sie nach etwas Brennbarem. Seltsam, wie lebendig sie anmuten, während sie jene drei toten Gefäße bescheinen: Urnen, mit Tod gefüllt und mit Rosen gekrönt - Rosen so anmutig und schön wie das Leben.
In tiefem Rot erstrahlt eines der Gestecke im Licht der Kerzen. Bei seinem Anblick ergreift eine kalte Hand das Herz des Betrachters, denn als diese Herrlichkeit gebrochen wurde, hatte deren Blüte gerade begonnen, war ihre Schönheit erst im Begriff gewesen, sich zu entfalten.
Rechts und links neben ihm ducken sich zartgelbe Blüten beinahe ängstlich unter seinem Schatten. Emotionen überschlagen sich - spiegelt der Hauch von Farbe doch ihr kurzes Leben so schmerzhaft deutlich wieder.
Fassungslos stehen die Menschen davor, und als die Urnen in die Grube gesenkt werden, umschlingt ein langer Arm von Trostlosigkeit die Menge. Er legt sich um die Traurigen und hält sie fest, während sich seine Klauen schmerzhaft tief in ihr Fleisch schlagen. Ein Schmerz, zu tief, um ihn ignorieren zu können. Er ist da und verlangt nach Respekt.
Und so verschieden, wie die Menschen sind, so verschieden gehen sie mit diesem Schmerz um: Einige der Anwesenden blicken hilflos, andere scheu um sich und wieder andere suchen Trost und Halt in den Tränen, die sie vergießen.
„Es ist vorbei. Komm, lass uns gehen!“
„Warum das alles? Warum die Kinder?“
„Nicht so laut! Man guckt schon nach uns ...“
„Und wenn schon! Wo waren denn die Gucker, als die arme junge Frau am Leben verzweifelte?“
„Pst!“
„Warum haben die nichts unternommen, als noch Zeit dazu war?“
„Was denn? Was hätten sie unternehmen sollen?“
„Sie hätten ihr helfen können, mit dem Leben klarzukommen, als noch Zeit dazu war.“
„Und wie? Hast du schon mal versucht, einem Menschen zu helfen, der sich nicht helfen lassen will?“
„Woher weißt du, dass sie sich nicht helfen lassen wollte? Hat sie das gesagt?“
„Nein. Aber sie hat doch keinen mehr an sich herangelassen! Sie hat sich völlig abgekapselt!“
„Abgekapselt? Sie sich? Dass ich nicht lache! Ein Mensch isoliert sich nicht so einfach. Entweder er wird von der Gesellschaft akzeptiert, dann ist er ein Teil von ihr, oder ...“
„Sprich doch leiser, meine Güte Man kann dich hören.“
„Mir doch egal! Wir sind ein freies Land, da kann jeder offen seine Meinung vertreten!“
„Auch wenn er damit die Gefühle anderer Menschen verletzt?“
„Das kommt auf die Gefühle an ... Schau dir doch bloß ihre Mutter an! Sie lässt sich von beiden Seiten stützen - so ein Theater!“
„Theater? Diese Frau hat ihre Tochter verloren, ihre Enkel - Menschen, die ihr nahe standen.“
„Hätten sie ihr wirklich so nahe gestanden, dann wäre diese Tragödie nie geschehen ...“
Es ist beinahe unmöglich, den Gemütszustand eines Menschen richtig einzuschätzen; zumal wir in einer Welt leben, in der jeder von uns schon sehr früh lernen muss, seine Gefühle zu verbergen.
Was nun wirklich in den Köpfen unserer Angehörigen, Freunde und Nachbarn vor sich geht - wer kann das mit Bestimmtheit sagen? Die dunklen Seiten ihrer Wesen schlummern im Verborgenen. Wir sehen sie nicht, wir hören sie nicht, wir spüren sie nicht. Ihrem plötzlichen Erwachen stehen wir deshalb nicht selten überrascht, hilflos und vor allem befremdet gegenüber.
Bestürzt werden wir uns unserer Unfähigkeit bewusst, einen anderen Menschen wirklich zu durchschauen. Was wir von ihm wissen oder zu wissen glauben, ist immer nur das, was er uns glauben machen will. Mit anderen Worten: Wir erkennen einen anderen Menschen nur so weit, wie er es zulässt.
Um aber tatsächlich Klarheit über sein Gefühlsleben zu erlangen, müssten wir in seine, vor uns aus Angst und Scham so sorgfältig verborgene, Welt der Psyche eindringen - einem Schloss, in dem ein wahres Labyrinth von Gängen unzählige Zimmer miteinander verbindet: prunkvolle Gemächer und schäbige Kammern, in denen neben leuchtenden Erinnerungen finstere Kreaturen schlummern. Dunkle Schatten, die wie Ratten an der Seele nagen.
Wenn wir diese Türen öffnen, wird das Licht der Erkenntnis ihre Räume erhellen, werden sich die unheimlichen Schatten vor unseren erstaunten Augen vielleicht in Nichts auflösen ...
Vor einem schönen Haus, weiß verputzt, mit honigfarbenen Holzgiebeln und einem roten Dach, sitzt eine junge Frau auf der Terrasse.
Duftende Sträucher und Blumen umsäumen diesen von der Sonne überfluteten Platz. Irgendwo bellt ein Hund, eine ferne Kreissäge klagt über zu viel Arbeit und dennoch ... Die Eintracht und den Frieden dieses Ortes zerstören sie nicht.
Der liebliche Gesang heimischer Vögel umrahmt dieses Bild, das sich aus scheinbar belanglosen Details zusammensetzt, im Zusammenspiel jedoch von unbezahlbarem Wert für sie ist, weil es Heimat bedeutet.
Die junge Frau sitzt auf einem Gartenstuhl und beobachtet zwei miteinander spielende Kinder, ein Mädchen und einen Jungen. Es sind Geschwister, die eine besonders tiefe Zuneigung miteinander verbindet, erkennbar in jedem ihrer Blicke, in jeder ihrer Gesten.
Die Frau lächelt still. Sie ist stolz auf diese Kinder, stolz auf ihre Kinder.
Aber ganz plötzlich strafft sich ihr Oberkörper und sie presst die Lippen fest aufeinander. Schwer atmend lässt sie ihre Blicke über den Boden unter ihren Füßen gleiten. Ihre Augäpfel bewegen sich wie Taktgeber im Klavierunterricht und verharren jäh, als sie auf eine bestimmte Stelle vor ihrem Stuhl treffen.
Da sind sie wieder!
Von allen Seiten kriechen sie auf sie zu: Dunkle Schatten, die näher und näher kommen. In Panik reißt sie ihre Beine nach oben und zieht die Knie bis an die Stirn.
Noch immer bellt der Hund, jammert die Kreissäge, singen die Vögel ... Alles scheint friedlich. Ja, selbst die Sträucher und Blumen verbreiten ihren Duft, als sei nichts geschehen.
Mit feingliedrigen Händen umschließt die Frau ihre Füße und wiegt sich sanft von einer Seite auf die andere. Und bald schon existiert die Welt um sie herum nicht mehr. Nichts dringt mehr zu ihr durch: weder die wärmende Sonne, noch der Duft des Gartens oder das Kinderlachen.
Eingehüllt vom schwarzen Tuch dunkler Erinnerungen, verliert sie die Beziehung zum Hier und Jetzt und ist nur noch Gefangene ihrer eigenen Schatten. Schatten, die sie nicht verscheuchen, nur verdrängen kann. Schatten, die sich im Laufe der Jahre zu Ungeheuern entwickelt haben.
Wir - Sie, lieber Leser, und ich - werden versuchen, diese lichtscheuen Kreaturen und Seelenfresser im Gehirn dieser Frau aufzuspüren.
Indem wir in den Kopf dieser Frau eindringen und ihr Innerstes mit dem gleißenden Licht dieses schönen Sommertages durchfluten, werden die Schatten ein Gesicht bekommen ...
Wir fühlen uns leicht und schwerelos, sind nur noch Kopf und Geist - nicht Körper.
Wie Federflaum erheben wir uns in das Azur des Himmels und blicken nun von oben auf die Terrasse herab. Und während wir näher und näher an die Frau heran fliegen, streichelt warmer Sommerwind unsere Gesichter.
Schwer und süß liegt der Duft von Jasmin in der Luft. Er drückt betörend auf unsere Lider und benebelt die Sinne.
Mit geschlossenen Augen schweben wir immer dichter an die Frau heran, weichen aber erschrocken ein paar Meter zurück, als wir ihren Atem dicht vor uns spüren. Schaudernd blicken wir in das verstörte Gesicht. Auf braunen, glanzlosen Augen liegt ein dunkler Schleier, die Mundwinkel zucken.
Einige Momente verharren wir zögernd in unserer Position. Wollen wir wirklich wissen, wie es im Inneren dieser Frau aussieht? Was, wenn uns die Bilder in ihrem Kopf nicht gefallen? Wenn sie uns irritieren, verändern oder gar abstoßen?
Bevor wir eine Entscheidung treffen können, bewegen wir uns in rasantem Tempo auf ihren Kopf zu. Kinderstimmen hallen an unsere Ohren, Vögel zwitschern und sogar das Bellen des Hundes nehmen wir noch wahr ...
Mit erstaunlicher Leichtigkeit durchdringen wir die Stirn dieser fremden Frau und ... stehen erst einmal im Dunkeln.
Es ist still und erstaunlich kühl.
Als sich unsere Augen an das mäßige Licht gewöhnt haben, sehen wir uns staunend um. Der Ort, an dem wir uns befinden, ist tatsächlich ein schlossähnlicher Bau. Aber alles hier wirkt trostlos.
Geschlossene Fensterläden verhindern, dass das Licht des herrlichen Sommertages die Gänge erhellt und diesen Ort etwas freundlicher stimmt. Die Wände sind kahl, der Fußboden nackt. Und wo immer wir auch hinsehen: Türen, Türen, Türen.
Wir wollen einige der Türen öffnen, um zu erfahren, was sich dahinter verbirgt, sollten aber bedenken, dass wir in dem Augenblick, in dem wir das jeweilige Zimmer betreten, denken und fühlen werden, wie die Frau, in deren Gehirn wir eingedrungen sind.
Ob Sie, lieber Leser, das wohl aushalten werden?
Komm endlich ins Bett - ich kann es kaum noch erwarten!“ Wilfried rekelt sich stöhnend in unserem gemeinsamen Bett und lüftet die Decke.
Angewidert wende ich mich ab. Diese ewige Bettelei um ehelichen Beischlaf begleitet mich nun schon seit Monaten. Wäre dieser Mann mit seinem Charme aus Schmutz und Gestank nicht schon selbst ein Lustkiller, dann wäre es mit Sicherheit seine ewige Bettelei.
Eifrig bürste ich mein Haar, ohne Wilfried jedoch aus den Augen zu lassen.
„Heute bitte nicht“, sage ich leise und von einer undefinierbaren Angst erfüllt. „Ich hatte einen anstrengenden Tag. Ich bin müde.“
„Willst du mich für blöd verkaufen?“, zischt Wilfried böse und wackelt mit seinem Kopf. „Seit Wochen höre ich nichts anderes. Soll ich mir das Zeug vielleicht aus den Rippen schwitzen? Ich bin dein Ehemann, verdammt noch mal! Ich habe Rechte!“
„Du bist aber auch Vater”, sage ich kleinlaut. „Würdest du mich bei den Kindern und im Haushalt ein wenig mehr unterstützen ...“
Wilfried schlägt mit der flachen Hand auf das Deckbett.
„Bla, bla, bla“, erwidert er verächtlich. „Ihr Weiber seid doch so was von erbärmlich! Immer habt ihr Probleme mit den Kindern und dem Haushalt! Und wer muss darunter leiden? Wir Männer!“
„Mein Problem sind nicht die Kinder und der Haushalt“, entgegne ich gereizt, obwohl ich weiß, dass es klüger wäre, den Mund zu halten. „Mein Problem ist, dass ich mit allem allein fertig werden muss.“
Wilfried wedelt lachend mit dem Zeigefinger.
„Irrtum“, sagt er. „Dein Problem ist ganz ein anderes. Willst du wissen, welches?“
Ich bemühe mich um Gleichgültigkeit, reiße und rupfe jedoch an meinen Haaren herum, dass es schmerzt. „Keine Ahnung, worauf du hinaus willst“, antworte ich. „Du wirst es mir sicher gleich sagen.“
„Und ob“, entgegnet Wilfried und lacht belustigt auf. „Willst du es wirklich wissen?“
Ich zucke die Schultern: „Ja ...“
Sein Gesicht verfinstert sich.
„Du bist frigide, mein Fräulein. Und langsam frage ich mich, wie ich so etwas wie dich heiraten konnte. Hast du eigentlich eine Ahnung, wie viele Frauen bloß darauf warten, von mir gefickt zu werden?“
Wieder zucke ich die Schultern.
„Dann fick doch diese Frauen! Warum gehst du nicht zu einer von ihnen?“ Mit lächelnden Lippen, aber einem gehetzten Blick, krieche ich unter meine Decke und drehe Wilfried den Rücken zu.
Als er nichts erwidert, kann ich mir eine weitere Bemerkung nicht verkneifen. „Ein Hoch auf jede Frau, die bereit ist, mir diese Folter hier abzunehmen!“
Atemlos erwarte ich seine neuerlichen Beschimpfungen. Doch alles bleibt still. Mit geschlossenen Augen ergebe ich mich schließlich der Macht der Müdigkeit, die nach einem langen, anstrengenden Tag ihr Recht auf Schlaf einfordert.
Schwerelos treibe ich davon, tauche in ein Meer aus bunten Farben, himmlischen Gerüchen und lieblichen Melodien und reite auf den Wellen der Fantasie dem Land der Träume entgegen.
Oh ja, schlafen möchte ich jetzt - nur noch schlafen!
Plötzlich wackelt das Bett.
Von einer ungeheuerlichen Ahnung begleitet schrecke ich hoch und drehe mich ungläubig zu Wilfried um. Keuchend und schnaufend liegt er neben mir. Mit Abscheu betrachte ich sein rotes verschwitztes Gesicht, die geschlossenen Augen und das fettige Haar, welches wirr im Rhythmus seiner Zuckungen tanzt.
Es ist unglaublich! Auf der einen Seite beschwert er sich über meinen mangelnden sexuellen Appetit und auf der anderen Seite präsentiert er sich als ungenießbarer Kotzbrocken: exhibitionistisch und schamlos, widerlich und rücksichtslos.
Aber so plötzlich, wie der Spuk begonnen hatte, ist er auch wieder vorbei.
Lautlos bette ich meinen Kopf ins Kissen zurück und schließe die Augen wieder. Dabei sehne ich den schwerelosen Zustand von vorhin herbei und hoffe, dass mein aufgewühltes Ich nun endlich Ruhe findet.
Eine derbe Hand reißt mir die Decke weg - ich schrecke auf. Starr vor Entsetzen gelingt es mir nicht, meine Glieder zu bewegen. Wilfried hockt neben mir: hechelnd, stöhnend; und noch ehe ich so richtig begreife, was eigentlich geschieht bespritzt er mich ...
Ein Meer aus üblen Gerüchen, widerlichen Lauten und Körperflüssigkeit überschwemmt mich und ich zittere am ganzen Leib.
Warum darf so etwas geschehen? Gibt es keine höhere Macht, die in ausweglosen Situationen den Hilflosen hilft? Niemanden, der ein Unheil abwenden kann, bevor es geschieht?
Meine Kehle ist wie zugeschnürt - ich bekomme kaum noch Luft. Ich spüre, wie die Spuren auf meiner Haut, die sich tief in meine Seele gebrannt haben, erkalten.
Wie wird sich Wilfried diesmal herausreden? Hinterher tut ihm ja immer alles so leid. Welche Rechtfertigung wird er finden? Gibt es überhaupt eine Rechtfertigung für diese Art von Erniedrigung?
All diese Fragen habe ich noch nicht zu Ende gedacht, da erfüllen auch schon gleichmäßige, tiefe Atemzüge den Raum. Wilfried ist tatsächlich eingeschlafen.
Die Tür fällt ins Schloss.
Unsere tiefe Betroffenheit schlägt erst in Ratlosigkeit und später sogar in Zweifel um. Durften wir einfach so in ein fremdes Schlafzimmer eindringen?
Wir beantworten die Frage mit einem klaren: nein! Warum? Weil eheliche Schlafzimmer tabu sind! Sie sind Oasen der Ruhe und der Lust für Verheiratete. Orte, wo sich zwei Menschen nicht rein zufällig begegnen, sondern aus freien Stücken zusammen sind.
Was auch immer hinter diesen Türen geschehen mag: Es geht uns nichts an!
Oder vielleicht doch?
Aber warum verschließen dann selbst die wachsamsten Zeitgenossen unter uns ihre Augen und Ohren?
Weil es peinlich ist?
Oder beginnt die Intimsphäre eines Menschen erst im ehelichen Schlafzimmer? Macht es diesen Platz dadurch zu einem Ort ungesühnter Grausamkeiten?
Leise grollend erwacht in uns der Widerstand gegen diese lähmende Moral. Doch noch ehe heißer Zorn die Gemüter entflammen kann, wird unsere Aufmerksamkeit in eine andere Richtung gelenkt.
Neugierig treten wir an eines der Fenster heran, durch welches helle Kinderstimmen einen Weg in dieses düstere Gemäuer gefunden haben. Stimmen voller Frische und ungebremster Energie. Wir stoßen die Fensterläden auf und schauen hinaus.
„Mama“, ruft eine Kinderstimme. “Mama - schläfst du?“
Der kleine Junge und seine Schwester stehen mit großen fragenden Augen vor dem Stuhl der Frau.
„Nein, ich schlafe nicht“, antwortet sie und die Färbung ihrer Stimme verrät ein lächelndes Gesicht.
„Tante Linda hat uns erlaubt, in ihrem Pool zu baden - dürfen wir rüber?“
Während das Mädchen spricht, nickt ihr kleiner Bruder unaufhörlich mit dem Kopf, als verlange jedes ihrer Worte nach Bestätigung. Sein kleiner Arm weist dabei winkend auf ein benachbartes Grundstück.
Als die Mutter ihre Erlaubnis erteilt, klatscht der kleine Junge entzückt in seine Hände.
„Nehmt aber Handtücher und Wechselsachen mit!“
Das Mädchen holt hinter ihrem Rücken Handtücher und Shorts hervor und wedelt damit. Der Junge lacht herzlich darüber, dann laufen die Kinder davon.
Schmunzelnd wenden wir uns vom Fenster ab und schauen wieder in das inzwischen von Helligkeit erfüllte Labyrinth der Erinnerungen.
Erneut treten wir vor eine der vielen Türen und legen behutsam unsere Hand auf die Klinke. Der Stahl ist kalt. Beim Herunterdrücken halten wir den Atem an. Was wird uns wohl diesmal erwarten?
Die Türe geht auf und eine unüberschaubare Weite eröffnet sich unserem Auge.
Wir schreiben das Jahr 1989.
Fröhliches Kinderlachen belebt das alte, tot scheinende Gebäude, in dem ich mit meiner Familie lebe, leben muss. Denn eigentlich ist dieses Haus mehr eine Zumutung als eine Bleibe. Aber Wohnraum ist knapp, überall in der DDR, und wer mit seiner Familie als Familie leben will, bezieht auch ein solches Loch und nennt es Wohnung.
Da erklingt es schon wieder, das herzliche Lachen meiner spielenden Tochter. Ich fühle, wie sich mein Gesicht entspannt, und muss unwillkürlich lächeln.
Meine kleine Marie hat ein wahrlich sonniges Gemüt. Kein Gedanke ist so finster, kein Ort so düster, wie es den Anschein haben mag, sobald dieses Kind in der Nähe ist. Erst mit ihm wird dieses Haus auch wirklich zu einem Zuhause.
Früher lebte hier eine angesehene Großbauernfamilie. Zu dieser Zeit war das sicher auch ein schöner Besitz gewesen. Aber das ist sehr lange her. Dazwischen liegen mehr als vier Jahrzehnte staatlich verordnete Mindestmieten.
Die Erben konnten das Haus nicht unterhalten. Wie auch? Mit fünfzig Pfennig Miete pro Quadratmeter?
Bedauerlich nur, dass sie sich über ihr staatlich verordnetes Unvermögen erst klar wurden, als viele der Zimmer bereits unbewohnbar geworden waren.
Erst als die elektrischen Leitungen eine Gefahr für Leib und Leben der Mieter darstellten, hatten sie die Notbremse gezogen und ihren Besitz dem Staat übertragen.
Ach, hätten sie es doch früher getan! Vielleicht wäre dieses Haus dann nicht zu dem verkommen, was es heute ist: ein unansehnliches Gebäude, in dem es immer irgendwie nach Waschküche, Stall und gedämpften Kartoffeln riecht.
Da helfen weder Lüften noch oberflächliches Renovieren. Der Geruch scheint sich im Mauerwerk regelrecht eingenistet zu haben. Wie ein Schwamm saugt er frische Luft oder neue Farbe in sich auf und atmet sie als Mief wieder aus.
Grob geschätzt ist das Haus dreimal so lang wie breit.
Im ersten Drittel befinden sich der Eingang und die ehemalige Bauernwohnung auf zwei Etagen. Die verbleibenden zwei Drittel im Erdgeschoss, die früher als Stallungen genutzt wurden, dienen heute zum Abstellen von Hausrat und als Kohlenkeller. Im Bereich darüber, im ersten Stock, wo früher das Gesinde des Bauern lebte, verbindet ein schmaler Flur, der über die gesamte Breite führt, kleine und kleinste Kammern miteinander.
Unserer Familie wurden vier dieser Kammern zur Verfügung gestellt.
Die größte Kammer, unser Wohnzimmer, ist dabei gerade mal zehn Quadratmeter groß.
Zehn Quadratmeter!
Wohnzimmer, Küche und Kinderzimmer liegen parallel zueinander. Die Küche ist vom Gang aus zu erreichen. Wohnzimmer und Kinderzimmer gehen rechts und links von der Küche ab. Da die beiden Türen eine Flucht bilden, sind sie tagsüber geöffnet und vermitteln so ein Gefühl von Freiraum.
Marie ruft nach mir.
„Mama, Mama …!“
Obwohl ich auf dem Hof vor dem Haus stehe, um gewaschene Windeln aufzuhängen, kann ich sie gut hören.
„Mama, wo bist du?“
Die Ungeduld in der Stimme des kleinen Mädchens mahnt mich zur Eile. Schnell hänge ich die letzte Windel auf und laufe ins Haus, die Treppe hoch. Oben auf dem Absatz steht sie: meine kleine Tochter. Mit einem verkniffenen Gesicht sieht sie mich an.
„Ich muss mal Berg machen“, sagt sie und hält sich mit beiden Händen den Po fest.
Ihr Anblick erheitert mich. Marie ist zum Anbeißen süß - ich muss sie einfach küssen. Aber schnell wischt sie sich den Kuss von der Nase und ermuntert mich so, ihr noch einen zu geben. Und dann noch einen, und noch einen ...
Als ich verhaltene Schritte hinter uns höre, unterbreche ich das Spiel und drehe mich neugierig um.
„Michelle“, sage ich erfreut. „Wie schön, dich zu sehen! Geh schon mal in die Küche, wir kommen gleich nach. Wir müssen vorher nur noch ein dringendes Geschäft erledigen, nicht wahr Mäuschen?“
Marie nickt. „Berg machen“, erklärt sie.
Michelle lacht und entblößt eine Reihe perlweißer Zähne.
„Dann scheint es diesmal aber sehr dringend zu sein.“
„Und wie“, erwidert Marie und tänzelt ungeduldig auf der Stelle. „Mama, komm schnell“, presst sie mühsam hervor und sieht dabei sehr unglücklich aus. „Es geht nicht mehr.“
„Dann aber schnell“, lacht Michelle und macht auf dem Absatz kehrt. „Ich komme später wieder vorbei. Habe sowieso noch etwas zu erledigen.“ Und so schnell, wie sie aufgetaucht war, ist sie auch wieder verschwunden.
Ohne weitere Verzögerung nehme ich Marie auf den Arm und laufe mit ihr und einem lauten: „Tatütata“ zur Toilette. Mein Mäuschen jauchzt und gluckst vor Freude, und sie lächelt zufrieden, als sie endlich sitzt.
Unsere Toilette - das ist ein Holzkasten mit Loch und Deckel, wobei das Loch so groß ist, dass ein Kleinkind wie Marie problemlos durchrutschen könnte. Deshalb habe ich ihr auch ausdrücklich verboten, dieses Örtchen allein aufzusuchen.
Marie sitzt auf dem Holzkasten und gibt sich ordentlich Mühe. Ich selbst hocke vor ihr und halte sie mit beiden Händen fest. Zärtlich betrachte ich das kleine Wunder, denn ein Wunder ist sie in der Tat. Alles an ihr ist perfekt: die Augen, der Mund, die Nase und selbst die Ohren … Ihre hübschen, anliegenden Ohren kann sie keinesfalls von mir geerbt haben.
Plötzlich begegnen sich unsere Augenpaare, trifft der seltsam reservierte Blick dieser Dreijährigen auf mein Erstaunen.
Schämt sich dieses Kind vor mir, seiner eigenen Mutter? Mein Gott, was hat denn das zu bedeuten? Ist es vielleicht ein erster Schritt von Abnabelung? Jetzt schon?
Das Gesicht meines Kindes ist mir ganz nah. Noch immer schaut es mich abweisend an. Ich gebe ihm einen schnellen schmatzenden Kuss und schaue dann demonstrativ zur Seite, damit es sein Geschäft beenden kann.
Während Marie nun wieder fröhlich in ihrem Kinderzimmer spielt, schleiche ich auf leisen Sohlen ins Schlafzimmer. Mehr als drei Stunden ist es jetzt her, seit ich das Baby zum Schlafen ins Bett gelegt habe.
Erfreut stelle ich fest, dass es bereits wach ist.
Felix strampelt und zuckt mit Ärmchen und Beinen. Flatternd erhebt sich mein Herz, um diesem Winzling entgegen zu fliegen.
Als Felix mich bemerkt, verstärken sich seine Bewegungen und er kräht vor Ungeduld.
„Aber, aber“, rufe ich sanft. „Wer wird denn gleich schimpfen?“
Unendlich behutsam, hebe ich das Baby aus seinem Bettchen und drücke es an mich. Sofort ist es still. Der kleine Körper ist warm - rote Schlafbäckchen leuchten und dichtbewimperte Augen strahlen. Blaue Augen. Augen, in denen sich in diesem Moment das ganze Glück der Erde vereint.
Selig wiege ich meinen kleinen Schatz und küsse sanft sein kahles Köpfchen. Minuten später befestige ich ihn mithilfe eines speziellen Tragetuches an meinem Oberkörper.
Felix braucht ständigen Körperkontakt während seiner Wachphasen - ein Bedürfnis, dem ich, in Anbetracht meiner weiteren Pflichten, mit einem Tragetuch am besten nachzukommen in der Lage bin.
„Du verwöhnst den Bengel ...!“
Eiskalt fährt die Stimme meines Ehemannes zwischen uns und zerstört das zarte Band, das meinen Sohn und mich in Frieden vereint hatte.
Verärgert drehe ich mich zu Wilfried um. Will dieser Kerl tatsächlich meine Fähigkeiten als Mutter infrage stellen?
„Was weißt denn du?“, erwidere ich gereizt.
„Ich weiß, dass du meinem Sohn schadest, indem du ihn nach Strich und Faden verwöhnst“, entgegnet Wilfried ungerührt.
Ich bemerkte die glimmende Zigarette zwischen seinen Fingern und schlage sie ihm aus der Hand.
„Das einzige, was ihm im Moment schadet, ist deine elende Qualmerei.“
Wilfried zeigt mir den Vogel und hebt die Zigarette wieder auf.
„Du bist ja bescheuert“, sagt er, nimmt einen kräftigen Zug und bläst mir den Rauch direkt ins Gesicht.
Aus Sorge um die Gesundheit meines Babys weiche ich einige Schritte zurück.
„Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?“, brause ich bestürzt auf und schaue abwechselnd auf ihn und das Kind.
Wilfried weiß sofort, dass er übers Ziel hinaus geschossen ist und grinst dümmlich.
„Übertreib mal nicht“, sagt er kleinlaut. „So ein bisschen Rauch hat noch niemandem geschadet.“
Bei so viel Ignoranz kann ich nur den Kopf schütteln, berühre das kleine Köpfchen des Babys mit der Nasenspitze und flüstere: „Armer Schatz, dein Vater ist ja noch dümmer als ich dachte.“
„Vorsicht, Fräulein …“
„Er weiß noch nicht einmal, dass er eigentlich gar nichts weiß.“
„Hauptsache, du weißt alles“, entgegnet Wilfried verärgert, zieht ein paar Mal kräftig an seiner Zigarette und bläst den Rauch erneut in meine Richtung. „Freilich, Madame Superschlau hat ja studiert und ist was Besseres. Ich dagegen bin nur ein einfacher Mann aus der Arbeiterklasse.“
Ich nähere mich, um ihm die Zigarette wegzunehmen, bleibe aber auf halber Strecke stehen, weil mir sein Körpergeruch den Atem verschlägt.
„Aber klar doch“, sage ich, während ich mir mit der freien Hand die Nase zuhalte. „Wer studiert hat, ist was Besseres und wer sich ab und zu mal wäscht, ist eitel.“
Wilfrieds Blick wechselt von gehässig zu beleidigt.
„Ach, lass mich doch in Ruhe! Gib mir lieber etwas Geld, ich habe keins mehr.“
Für einen Moment weiß ich nicht, was ich sagen soll. So viel Unverfrorenheit grenzt beinahe schon an geistige Behinderung.
„Wie bitte? Du fragst mich nach Geld? Ausgerechnet du, der sein Geld nur für sich ausgibt, während ich mit meinem Einkommen unsere Familie ernähren muss?“
Wilfried kratzt sich den Kopf und schnieft.
„Du willst mir also kein Geld geben?“
„Bestimmt nicht”, antworte ich und verlasse das Schlafzimmer, um weiteren Diskussionen aus dem Weg zu gehen.
Wilfried holt mich jedoch schnell ein und versperrt mir auf dem Gang den Weg.
„Du gibst mir sofort Geld, mein Fräulein, sonst kannst du was erleben!“
„Sag bloß! Was denn?“
„Das wirst du schon sehen, Miststück! In einer Ehe gibt es weder meins noch deins! In einer Ehe gehört allen alles! Wenn ich also Geld brauche und du hast welches, dann hast du es mir gefälligst zu geben! Oder warum, glaubst du, habe ich geheiratet?“ Drohend sieht er mich von oben bis unten an.
Ich verschränke die Arme über der Brust und bewege mich nicht. Selbst wenn er der Teufel persönlich wäre, von mir würde er keinen Pfennig bekommen.
Wieder führt Wilfried die Zigarette zum Mund und lässt ihre Spitze mit einem leisen, pfeifenden Geräusch aufleuchten. Seine Pupillen verengen sich gefährlich.
Was hat der Kerl vor, verdammt?
Ich will ihn fragen, aber ein unbestimmtes Bauchgefühl hält mich zurück. Allein schon das auffallend ausgeprägte Heben und Senken seines Brustkorbes verheißt nichts Gutes.
Wilfried sieht mich an. Er studiert mich. Sein Blick gleitet beinahe suchend über mein Gesicht. Auf einmal wirft er die Zigarette mit einer wilden Geste auf den Boden und stürmt in die Küche.
Ich laufe ihm nach.
Im Wohnzimmer, vor der Vitrine, bleibt er stehen. Sofort fallen mir meine Gläser und das Porzellan ein - Erinnerungsstücke aus dem Nachlass meiner Großeltern mütterlicherseits, in deren Besitz ich erst vor wenigen Monaten, gekommen war.
Diese Stücke sind alles, was mir von diesen lieben Menschen geblieben ist und Wilfried weiß nur zu gut, was sie mir bedeuten.
Fast schon feierlich öffnet er eine der Türen, holt ein Glas hervor und hält es gegen das Licht. Er trübt es mit seinem Atem, reibt und putzt es, dass ich Angst bekomme, er könnte es zerbrechen. Ein leiser, vorsichtiger Protest wölbt meine Zunge ... Und gefriert augenblicklich.
Das Glas, eben noch in den schmierigen Händen dieses Scheusals, fliegt direkt auf mich zu.
Entsetzt springe ich zur Seite und das Glas zerschellt auf dem Küchenboden. Aber schon greifen seine Hände nach einem neuen Stück.
In diesem Moment kommt Marie aus dem Kinderzimmer gelaufen und schaut sich neugierig um.
Panik erfasst mich.
Mit einem verzweifelten Aufschrei schiebe ich Marie hinter meinen Rücken und entferne mich, ohne jedoch das Glas in den Händen dieses Irren aus den Augen zu lassen, rückwärts aus der Küche ins Kinderzimmer.
Ich will die Tür schließen, aber in diesem Moment holt Wilfried noch einmal weit aus. Wieder fliegt ein Glas - fliegen die Gläser ... Aus einer Entfernung von etwa vier Metern wirft er sie zielsicher vor meine Füße.
Während Marie sich wimmernd hinter ihrem Bett verkriecht, schreit das Baby aus Leibeskräften.
Scherben spritzen.
Voller Angst verschränke ich die Arme über dem Körper meines Sohnes und schütze zusätzlich meinen eigenen Kopf vor. Dabei laufen mir die Tränen haltlos übers Gesicht.
„Schluss jetzt! Aufhören!“, schreie ich verzweifelt. “Oder willst du eines unserer Kinder verletzen?“
Wilfried zuckt die Schultern.
„Wenn du mir kein Geld gibst, kann ich für nichts garantieren.“
Voller Verachtung sehe ich auf und schüttele den Kopf.
“Was bist du nur für ein Arschloch ...“
Aber Wilfried lacht nur. Und wieder fliegen Gläser durch die Luft, jeder Wurf mit einem lauten: „Hopp“ begleitet.
Ich kann kaum noch atmen und zittere.
Warum?, schreit es in mir. Die Gläser gehörten meinem Opa und meiner Oma! Niemand bringt mir diese lieben Menschen zurück, und niemand bringt mir diese Gläser zurück!
Ich habe das Gefühl, als würden meine Großeltern in diesem Augenblick ein zweites Mal sterben.
Plötzlich ist es still.
Marie hebt den Kopf aus ihrem Versteck. Als ich ihr zunicke, kommt sie sofort gelaufen und umklammert Schutz suchend meine Beine. Dabei hat sie keine Ahnung, dass sie es ist, die mir in diesem Moment Halt und Stütze ist.
Ich hocke mich nieder und drücke das kleine Mädchen an mich. Eng umschlungen halten wir einander fest und trösten uns gegenseitig.
Als Wilfried ins Kinderzimmer kommt, schmiegen wir uns noch enger aneinander. Verächtlich schaut er von oben auf uns herab, wendet sich um und holt Maries Sparbüchse aus dem Schrank.
Marie reißt ihre Augen auf und sieht ihn ängstlich an.
„Aber das ist mein Sparschwein“, protestiert sie weinerlich. „Wenn du es fallen lässt, geht es kaputt. Ich will nicht, dass es kaputt geht! Bitte Papi, mach es nicht kaputt!“ Sie versucht zu lächeln, aber Wilfried beachtet sie nicht. Ohne auch nur einen Gedanken an das Kind zu verschwenden, wirft er das Schwein mit Wucht zu Boden.
Marie erschrickt und ihr furchtbares Zusammenzucken verletzt mich bis ins Mark.
Ich möchte aufschreien, möchte dem Kerl an die Kehle springen, der die Würde meines Kindes mit Füßen tritt. Ich will auf ihn einprügeln, bis er regungslos am Boden liegen bleibt, bis er nicht mehr zuckt, und bin doch in einer lähmenden Ohnmacht gefangen.
Als die Münzen spritzen, grinst Wilfried breit.
„Bums, kaputt“, sagt er und bückt sich gierig nach dem Geld. „Es tut mir sehr leid um dein Sparschwein, Marie, wirklich sehr, sehr leid! Aber deine Mutter hat es nicht anders gewollt! Sie ist an allem Schuld!“
Marie wirft mir einen kurzen Seitenblick zu und sieht dann wieder zu Wilfried.
„Du bist ein böser Papi“, sagt sie und ihre dunkelbraunen Augen schwimmen in einem Meer von Tränen. Die Unterlippe zittert, ein Zeichen dafür, dass sie ihre Tränen nur noch mit Mühe zurückhalten kann.
Doch Wilfried lässt sich davon nicht beeindrucken, droht ihr stattdessen belustigt mit dem Zeigefinger.
„Spricht denn ein artiges Kind so abfällig mit seinem lieben Vater?“, fragt er und schüttelt den Kopf. „Du solltest dich wirklich schämen, Püppchen! Du bist wie deine Mutter, ihr habt einfach keinen Respekt vor mir! Was bleibt mir anderes übrig, als euch diese Respektlosigkeit auszutreiben? Schließlich bin ich der Herr in diesem Haus!“
Marie vergräbt ihr Gesicht in meinem Haar und weint nun doch.
Und ich? Ich denke an Mord! Ich möchte ihn auf der Stelle töten, diesen Mistkerl!
Aber …
Was würde dann wohl aus meinen Kindern werden?