Leuchtende Gräber - Mo Siegel - E-Book

Leuchtende Gräber E-Book

Mo Siegel

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Beschreibung

»Eine einzige Kerze auf jedem Grab, in dem das Opfer eines ungesühnten Verbrechens liegt, und der Friedhof wäre nachts taghell erleuchtet.« Eindringlich hallen diese Worte, die Vater vor vielen Jahren ausgesprochen hatte, in Marion wider. Weiß sie doch, dass auch das Grab von Monika ein leuchtendes Grab sein würde. Monika - eine Frau, die das Unglück magisch angezogen hatte, von dem Tage an, als sie in Marions Leben getreten war. Dabei hatte die Liebesbeziehung der beiden Frauen so vielversprechend begonnen ...

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Seitenzahl: 345

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Autorin

Mo Siegel ist das Pseudonym der Thriller-Autorin Symone Hengy.

Ihre Romane um die charismatische Profilerin Dr. Gloria Siegel: »Ekstase: Tödlicher Rausch«, »Explosion: Heiß abserviert« und "Extrem: Mord ist dicker als Blut" haben bereits eine begeisterte Leserschaft gefunden.

Mit »Operation Gay Bomb« startete sie 2019 eine Thriller-Reihe um Privatermittler Alexander Buschbeck.

Unter ihrem Pseudonym Mo Siegel veröffentlicht sie ausschließlich Werke anderer Genres.

Die Autorin arbeitete als Ingenieurin, leitende Angestellte im öffentlichen Dienst, als Steuerfachangestellte, Bibliothekarin, Webdesignerin und Versicherungsfachfrau, bevor sie sich ganz dem Schreiben zuwandte. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrem Ehemann in Baden-Württemberg.

Für

Marion und Monika

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

1

»Eine einzige Kerze auf jedem Grab, in dem das Opfer eines ungesühnten Verbrechens liegt, und der Friedhof wäre nachts taghell erleuchtet …«

Ich erinnere mich an diese Worte, die mein Vater ausgesprochen hatte, nachdem meine Mutter beerdigt worden war. Eindringlich hallen sie in meinem Inneren wider.

Wir waren damals ganz allein auf dem Friedhof, mein Vater und ich, und auf mich, das achtjährige Mädchen, wirkte das Szenarium wie ein böser Traum, aus dem ich jeden Moment zu erwachen hoffte, um unendlich erleichtert zu meiner Mutter ins Bett zu kriechen. Ich hatte ihn doch schon so oft geträumt, diesen Traum - warum sollte es diesmal anders sein?

Aber dieser Traum endete nicht.

Vergeblich wartete ich darauf, dass ein herzliches Auflachen den grauen Nebel, der mich umgab, vertreiben möge, dass zärtliche Hände mich aus den Fängen einer Realität befreien, die so völlig unverhofft über mich hereingebrochen war.

Durch einen Tränenschleier blickte ich auf den Sarg meiner Mutter hinab, in Erwartung, dass er sich schon bald vor meinen Augen in Nichts auflöste.

Aber alles blieb, wie es war.

Leiser Nieselregen, der unmittelbar eingesetzt hatte, benetzte das Eichenholz, lief in kleinen Bächen die Seiten herunter und sammelte sich auf dem Grund des gefrorenen Bodens.

Es war kalt. Meine Zähne schlugen klappernd aufeinander, und ich fror entsetzlich. Es war November.

»Warum?«, hatte ich mit tränenerstickter Stimme gefragt. »Warum meine Mama?«

Verzweifelt stieß ich die Fußspitze in den Kies, der die Wege befestigte, und Tränen schossen wie Sturzbäche aus den brennenden Augen. Ich zitterte vor Kälte und bebte vor Schmerz.

Vater griff nach mir, zog mich in seine Arme und hielt mich fest. Noch heute spüre ich seine warmen Hände auf meinen Schultern. Wie kleine Öfchen durchfluteten sie meinen Körper.

»Weine nur, mein Liebling«, sagte er sanft. »Schreie, wenn dir danach zumute ist, oder schlage alles kurz und klein! Wüsste ich einen Weg, dir diese Qualen erträglicher zu machen, ich würde ihn gehen, ohne mich umzudrehen, immer geradeaus. Und hätte ich einen Wunsch frei, meine Süße, dann glaub mir, ich wünschte, dass kein Kind je wieder seine Mama beweinen müsse.«

»Und kein Papi seine Frau«, schluchzte ich und schlang meine Ärmchen fest um seinen Hals. »Es sollte überhaupt kein Mensch sterben.«

»Aber Sterben gehört nun einmal zum Leben dazu«, erwiderte Vater. »Will sagen, dass der Tod immer allgegenwärtig ist, auch wenn wir ihn nicht sehen oder hören können. Er ist der siamesische Zwilling des Lebens, ist untrennbar mit ihm verwachsen. Das Leben und der Tod bedingen einander. Wer also JA zum Leben sagt, der muss auch den Tod akzeptieren.«

»Und wer NEIN sagt?«

»Für den ist sowieso alles zu spät.«

Der Regen fiel jetzt in großen Tropfen von Himmel herab. Es hatte sich eingeregnet. Das Haar meines Vaters klebte an seinem Kopf, Wasser tropfte ihm von Nase und Kinn.

»Vor dem Tod gibt es kein Entrinnen, meine Kleine«, erklärte er mit sanfter Stimme. »Er ist uns allen vorbestimmt.«

»Und wenn wir uns verstecken?«, fragte ich. »Wenn wir ihm einfach aus dem Weg gehen?«

»Keine Chance«, erwiderte er und strich mit warmen Händen in großen Zügen auf meinen Armen auf und ab. »Unser Leben gleicht einer Reihe aufgestellter Dominosteine. Der erste Stein fällt in dem Moment, in dem wir das Licht der Welt erblicken. Er fällt und … klack, klack, klack, reißt er jeden nachkommenden Stein mit sich. Der letzte Stein schließlich bringt den Tod, das ist unser Schicksal.« Er verstummte kurz, um tief Luft zu holen. »Ein akzeptables Schicksal, wie ich meine, solange sich kein anderer Mensch das Recht anmaßt, in seinen natürlichen Verlauf einzugreifen.« Mit einer nervösen Geste fuhr er sich durch das nasse Haar. »Kein Mensch hat das Recht zu töten! Keiner, hörst du?«

Ich nickte brav.

»Wer es aber dennoch tut, soll dafür büßen.«

»Wie?«

»Indem er eingesperrt wird, weggeschlossen, vielleicht sogar für immer!« Sein Blick floh zum Boden.

»Immer vorausgesetzt, man kann ihm seine Schuld nachweisen.«

»Und wenn nicht?«, fragte ich.

»Nun, dann bleibt wieder einmal ein Verbrechen ungesühnt.«

»Und Mama?« Ich blickte in die Grube hinab, in der sich inzwischen Regenwasserpfützen gebildet hatten.

»Wird Mama auch bestraft werden?« Meine Zähne klapperten noch immer, doch die Kälte spürte ich längst nicht mehr.

Mit einem Aufschrei des Entsetzens, der mich bis ins Mark erschütterte, fiel mein Vater auf die Knie und weinte bitterlich.

»Warum?« schrie er und schlug seine Fäuste kraftvoll in den Schmutz. Wasser spritzte. »Wie soll es denn jetzt weitergehen?«

Ich stand wie betäubt.

Atemlos sah ich auf den großen, starken Mann hinab, der vor mir im aufgeweichten Boden kniete und mein kleines Herz krampfte sich angstvoll zusammen.

So hatte ich meinen Vater noch nie gesehen.

Der Schmerz innerer Zerrissenheit hatte sich tief in seine Züge gegraben. Instinktiv wusste ich, dass es meine Qualen waren, die er durchlitt, meine Ängste, die er durchlebte, meinen Verlust, den er empfand.

Ohne zu überlegen kniete ich mich vor ihn hin, umarmte seinen Hals und schmiegte mein kleines Gesicht an seine kalte Wange.

»Alles wird gut, Papi«, flüsterte ich. »Du musst wirklich keine Angst haben. Wenn wir beide fest zusammenhalten, dann schaffen wir das schon. Auch ohne Mama. Die Hauptsache ist doch, dass wir uns liebhaben und keiner allein bleiben muss. Wir gehören zusammen, Papi.«

Ich erinnere mich an sein erstauntes Aufblicken, an den tränenschweren Ausdruck in seinen aufgerissenen Augen, bevor er mich fest an seine Brust drückte.

»Meine Kleine …!« Schluchzend bedeckte er mein Gesicht mit Küssen. »Wenn du wüsstest …! Schöne Gedanken, schöne Worte, nur leider … Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Mir wurde schwer ums Herz. »Darf ich denn nicht bei dir bleiben?«

»Was für eine Frage«, antwortete er und drückte mich noch fester an sich. »Natürlich bleibst du bei mir. Du bist mein Leben, Engelchen, mein Glück, mein Sonnenschein. Ohne dich wäre ich vollends verloren.«

Er richtete sich auf und stellte sich mit dem Rücken vor die Grube.

Plötzlich schien er nicht mehr unglücklich zu sein und die unsichtbare Hand, die mein Herz zusammengepresst hatte, lockerte ihren Griff.

»Und du glaubst wirklich, dass wir es ohne Mama schaffen könnten? Selbst, wenn wir dafür unser Leben ändern müssten?« fragte er.

Ich nickte und ergriff die Hand, die er mir zum Gehen reichte.

Sein Körper straffte sich. »Nun, dann denke ich, dass wir keine Zeit mehr verlieren sollten.«

Der Kies knirschte unter seinen Füßen, als er sich mit ausladenden Schritten in Bewegung setzte. Meine kleinen Beine stapften tapfer neben ihm her.

»Ich habe eigentlich schon immer von einem kleinen Hotel geträumt und dachte, dass wir vielleicht …«

Aufmerksam hörte ich zu, wie mein Vater unser bevorstehendes Leben mit watteweicher Stimme beschrieb und meine Phantasie malte aus seinen Worten ein Bild in leuchtenden Farben.

Oh ja, ich freute mich auf das, was kommen würde, freute mich auf die Zukunft.

»Nur du und ich, ich und du«, lachte er, hob mich hoch und wirbelte mich in die Höhe.

Mit geschlossenen Augen genoss ich den Flug durch die Luft. Als er mich wieder auf die Füße stellte, schwankte der Boden unter mir, so schwindelig war mir.

»Und wenn du eines Tages wieder heiratest?«, wollte ich wissen. »Wird es mir dann wie dem armen Schneewittchen ergehen?«

»Heiraten? Ich?« Vater lachte schallend. »Nie wieder! Frauen bringen nichts als Unheil. Die Sanftmut ihrer Stimmen, die Weichheit ihrer Hände und der betörende Duft ihrer Haut sind nur Mittel zum Zweck. Nichts, was sie sagen oder tun, geschieht zufällig. Hinter ihren hübschen Gesichtern verbergen sich Computer die den Erfolg ihrer Aktivitäten überwachen, die Quoten checken. Es scheint ihnen völlig einerlei, wenn Wertvorstellungen wie Liebe und Vertrauen auf der Strecke bleiben. Die Menschen neben ihnen sind ihnen völlig egal. Nein, nein, meine kleine Marion, das Thema Frauen ist mit dem heutigen Tag ein für alle Mal erledigt.«

»Aber wer wird dann für uns kochen und waschen?«, fragte ich.

Wieder ließ mein Vater ein schallendes, beinahe erleichtertes Lachen erklingen. »Daran erkenne ich meine Tochter«, rief er stolz. »Ausgestattet mit den Liebreizen einer zukünftigen Frau und dem unbeirrbaren Verstand eines echten Mannes.«

Wir gingen schweigend einige Schritte weiter, bevor er fortfuhr.

»Wir werden eine Haushälterin haben, die alt genug ist, mich nicht heiraten zu wollen, und lieb genug, dir die Mutter zu ersetzen. Außerdem werden wir einen richtigen Koch einstellen. Wie klingt das für dich?«

»Gut«, erwiderte ich.

Als wir an unserem Wagen ankamen, der vor dem Friedhof geparkt war, drehte ich mich noch einmal um und sah zurück.

Über den unzähligen Gräbern lag eine schaurige Melancholie, und in meiner kindlichen Phantasie hörte ich die Toten klagen.

Ängstlich suchte ich die Nähe meines Vaters.

»Papi«, flüsterte ich, während er eifrig bemüht war, meine Haare mit einem Handtuch zu trocknen. »Gibt es viele ungesühnte Verbrechen?«

Er antwortete nicht, sondern rubbelte weiter an meinem Kopf herum. Dann holte er eine Decke aus dem Kofferraum, wickelte mich darin ein und schnallte mich schließlich auf dem Rücksitz fest. Er selbst nahm auf dem Fahrersitz Platz und startete alsbald den Motor. Seiner Reaktion entnahm ich, dass er nicht antworten wollte, und mochte ihn deshalb auch nicht drängen.

Ich war müde.

Erschöpft kuschelte ich mich tiefer in die weiche Decke und schloss die Augen. Das vertraute Dröhnen der Maschine versöhnte mich mit der Fremdartigkeit der Geschehnisse dieses Tages. Während ich in eine andere Welt hinüberdämmerte, hörte ich meinen Vater die Worte sagen, die ich nie in meinem Leben vergessen sollte:

»Eine einzige Kerze auf jedem Grab, in dem das Opfer eines ungesühnten Verbrechens liegt, und der Friedhof wäre nachts taghell erleuchtet …«

In den zwanzig Jahren, die seither vergangen sind, habe ich nicht oft an jenen Tag gedacht.

Eigentlich nie mehr.

Ganz einfach, weil ich meine Mutter als den lebendigen Menschen in Erinnerung behalten wollte, der sie war, bevor sie mit einer Überdosis Schlaftabletten ihrem Dasein ein Ende gesetzt hatte. Deshalb vergilbten die Bilder von ihrer Beerdigung im Keller meiner Seele und verblassten zu einem Hauch Vergangenheit.

Bis zu diesen letzten Tagen.

»… und der Friedhof wäre nachts taghell erleuchtet …«

Es ist schon merkwürdig, wie wir uns in Zeiten tiefster Verzweiflung in unsere Kindheit zurückflüchten, während wir Glücksmomente ausschließlich in der Gegenwart genießen. Dass wir uns für gute Taten gern auf ein Podest stellen lassen, während wir schlechte Taten immer mit Ereignissen aus der Vergangenheit zu begründen suchen, um sie, wenigstens moralisch, anderen Menschen anzulasten.

Begangenes Unrecht lässt sich jedoch nicht mildern, indem die Ausläufer seiner Wurzeln bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgt werden. Ein Diebstahl bleibt immer ein Diebstahl, ein Betrug bleibt immer ein Betrug und … ein Mord bleibt immer ein Mord.

Die Verantwortung für sein Verbrechen trägt allein der Täter. Das heißt, dass sich allein der Mörder für die vorsätzliche Tötung verantworten muss - der Entdeckte, anwaltlich vertreten vor Gericht, und der Unentdeckte, von seinem Gewissen vertreten, vor sich selbst.

Doch während Ersterer im Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses seine Strafe absitzt, sitze ich … allein … in meinem Haus.

Eine einzige Kerze auf jedem Grab, in dem das Opfer eines ungesühnten Verbrechens liegt und auch das Grab von Monika würde leuchten.

Monika - ein Name, dessen süßer Klang meine geschundene Seele streichelt, eine Frau, die das Unglück magisch angezogen hatte, von dem Tage an, als sie sich in mein Leben gedrängt hatte.

Wer weiß, vielleicht wäre alles anders gekommen, wäre ich meinem Vater nicht so ähnlich gewesen.

Mein jahrelanger kindlicher Eifer, seine imponierende Persönlichkeit zu imitieren, hatte Spuren hinterlassen, die mir wohl zum Verhängnis geworden waren.

2

Im Laufe der Jahre hatte ich mich daran gewöhnt, dass mein Vater regelmäßig im November nach Mallorca flog, um erst im Frühling nach Deutschland zurückzukehren.

Seine Flucht begründete er mit den für sein Gefühlsleben ungünstigen klimatischen Verhältnissen hier, was ich heute jedoch bezweifele. Vielmehr glaube ich, dass er vor den Erinnerungen floh, die seit dem Tod meiner Mutter jeden November sein Gehirn umklammerten, es walkten und quetschten, bis er innerlich zusammenbrach. Über Wochen und Monate in einem Zustand geistiger Umnachtung, schleppte er sich von einem Tag in den nächsten. Willenlos trieb er in einem Strudel aus Alkohol und Tränen und erwachte erst wieder, wenn der Frühling seine Boten über das Land schickte.

Das wohltuende Licht der Sonne kurbelte seine inneren Motoren an und brachte die inzwischen schal gewordenen Säfte des nun wieder vor Kraft strotzenden Körpers in Wallung.

Doch immer blieb ein Bruchteil seiner selbst im Sumpf der Erinnerungen zurück, um unbemerkt zu sterben.

Ein Sterben auf Raten also, dem mein Vater nur mit dem Flug in die Sonne Mallorcas entkommen konnte.

Als ich mich an jenem Morgen im November am Flughafen von ihm verabschiedete, hatte ich keine Ahnung, dass ich ihn niemals wiedersehen sollte. Keinen blassen Schimmer, dass ich ihn nie wieder umarmen würde.

Es war seine siebte Reise, und ich hatte inzwischen gelernt, unser kleines Hotel allein zu führen.

Unser Hotel.

In einer waldreichen, jedoch sehr schneearmen und flachen Gegend in der Nähe von Dresden gelegen, war es für Naturfreunde, Wanderer und Radler nur in den Monaten zwischen Mai und Oktober interessant. Erst, wenn die Natur im Frühling erwacht, verwandelt sich dieser trostlose Landstrich in einen der reizvollsten der Welt.

Allen voran unser Garten.

Vater hatte ihn angelegt, nachdem wir hierhergezogen waren und mit den schönsten Bäumen und Sträuchern bepflanzt, die ihm während seiner vielen Reisen besonders gefallen hatten.

Bei seiner Auswahl hatte er außerdem auf pollen- und nektarreiche Zier- und Wildgehölze gesetzt. Abgesehen davon, sich das ganze Jahr an einer Vielzahl von blühenden Gewächsen zu erfreuen, beflügelten viele der blühenden Gehölze vor allem nützliche Insekten und Vögel. Für Bienen, Hummeln und Schmetterlinge waren Ziergehölze wie Schmetterlingsflieder, Bienenbaum, Liguster, Zierapfel und Wildgehölze wie Holunder, Kornelkirsche, Apfelbeere, Felsenbirne und Eberesche eine wichtige Nahrungsquelle. Vögel fanden immer geeignete Nist- und Schlafplätze und mit der Frucht- und Samenbildung auch einen reich gedeckten Tisch.

Kurzum: Unser Garten war das reinste Paradies.

Selbst Störche liebten diesen Landstrich. Mehr als fünfzig Nistplätze hatten mein Vater und ich eines Tages rein zufällig entdeckt, als wir fernab vorgeschriebener Wanderwege nichtsahnend durch das Unterholz gestreift waren.

Doch von November bis April jedoch hüllte sich die Landschaft in einen Mantel aus Trostlosigkeit und Langeweile.

Wohl dem, der ihr entfliehen kann wie mein Vater.

»Ich habe heute kein gutes Gefühl«, sagte er an jenem Morgen, nachdem er in den Flug nach Palma de Mallorca eingecheckt hatte. »Selbst Alfred hat mir diesmal abgeraten.«

»Diesmal?«, rief ich heiter. »Wenn es nach Alfred ginge, würde es überhaupt keinen Flugverkehr mehr geben. Der hat doch so große Angst vorm Fliegen, dass er nicht einmal im Notfall in eine Maschine steigen würde. Selbst dann nicht, wenn sein Leben davon abhinge.«

Vater lachte, aber seine Stimmung blieb gedrückt. Unruhig und blass stand er vor mir, während seine Augen nervös über mein Gesicht wanderten. »Vielleicht sollte ich doch besser auf meinen Bauch hören und hierbleiben«, sagte er schließlich. »Du bist nicht erfahren genug.«

»Wenn du plötzlich an meinen Fähigkeiten zweifelst, das Hotel gut über den Winter zu bringen, dann könnte ich das leicht als Beleidigung auffassen, lieber Vater«, unterbrach ich ihn und drohte gespielt entrüstet mit dem Zeigefinger. »Habe ich dich je enttäuscht?«

»Nein, mein Kind, natürlich nicht, aber …«

»Was?«

»Es gibt so vieles, was ich dir noch nicht gesagt, nicht erklärt habe, Marion, so vieles, was du wissen musst, damit du verstehen lernst.«

»Ach, hör schon auf, Paps«, erwiderte ich. »Ich weiß mehr, als du dir vorstellen kannst. Ich bin achtundzwanzig.«

»Und dennoch weißt du nicht genug.«

»Nicht genug wovon?«

»Vom Leben«, antwortete er. »In seiner Unberechenbarkeit hat es schon so manchen aus der Bahn geworfen.«

»Nun, die Gefahr besteht wohl vorerst nicht«, lachte ich. »Zumindest nicht in den nächsten vier, fünf Monaten. Da wird sich das Leben genauso eintönig, trist und deprimierend in die Länge ziehen, wie in den vergangenen Jahren auch. Hin und wieder ein Hotelgast, der sich rein zufällig in unsere Gegend verirrt und ansonsten …« Ich verdrehte die Augen. »Du wirst rechtzeitig wieder da sein, Vater. Da bin ich mir ganz sicher.«

»Ich nicht«, sagte er und wischte sich verstohlen eine Träne vom Auge. »Ich habe so ein merkwürdiges Gefühl im Bauch.«

Hätte ich ihn in diesem Moment gehalten, vielleicht wäre er geblieben und das Leben hätte eine andere Wendung genommen.

Stattdessen atmete ich vor Erleichterung auf, als sein Flug nach Mallorca endlich aufgerufen wurde.

»Mach’s gut, Liebes«, sagte er bewegt und küsste mir die Stirn. »Bleib gesund und gib auf dich Acht!«

Ich genoss die Kraft seiner Umarmung und sah ihm mit einem sorglosen Lächeln hinterher.

Hätte ich meinen Vater nicht so gut zu kennen geglaubt, dann hätte mich seine eigenartig gedrückte Stimmungslage vielleicht beunruhigt. So aber zeichnete ich jenen grauen verregneten Tag im November für sein Verhalten verantwortlich.

Nein, ich dachte nicht im Traum daran, dass ich ihn vielleicht nie wiedersehen würde.

Umso mehr erstaunt es mich, dass sich das Bild des davoneilenden großen Mannes mit der ergrauten Mähne dennoch so tief in mein Bewusstsein gebrannt hatte. So oft ich in diesen Tagen an meinen Vater denke, stets sehe ich dieses Bild vor mir.

3

Während der nächsten Wochen telefonierten wir häufig miteinander, insbesondere an den Weihnachtsfeiertagen, schrieben uns auch dann und wann ein paar kurze Zeilen und lebten ansonsten unser Leben.

Wie in den Jahren zuvor auch.

Als das Wetter schlechter wurde und die Tage kürzer, als die durchnässten Äste der Bäume im Nebel ächzten und die Weiden versumpften, verringerten sich wie erwartet die Übernachtungen im Hotel.

Manche Tage blieben sie sogar ganz aus.

Ich streifte dann unzufrieden durch die Räume und ärgerte mich über den herben Charme des alten Gemäuers.

Die winzigen spartanisch eingerichteten Zimmer erinnerten mehr an ein Kloster, als an eine gastfreundliche Herberge. Ganz abgesehen davon, lagen zentrale Toilettenanlagen und Gemeinschaftsduschen längst nicht mehr im Trend der Zeit.

Ich wusste, dass mein Vater ähnlich empfand, von einem Umbau wollte er dennoch nichts hören.

»Hast du eigentlich eine Ahnung, was so eine Sanierung kosten würde?«, fragte er jedes Mal. »Woher soll ich das viele Geld nehmen?«

Einen Kredit bei der Bank oder Sparkasse lehnte er ab.

»Ich müsste doch verrückt sein, mich freiwillig in die Fänge von Blutsaugern zu begeben«, war dann für gewöhnlich sein Spruch. »Die warten doch nur darauf, ein neues Opfer zu finden, um es ausbluten zu lassen.«

Damit war das Thema abgehakt.

Wenn ich seinen Standpunkt auch nicht teilte, so akzeptierte ich ihn doch letztendlich immer. Und das nicht nur, weil er mein Vater war. Ich vertraute ihm einfach, ihm verdanke ich schließlich, was ich heute bin.

Sofort nach dem Tod meiner Mutter hatte er seinen einträglichen Job als Versicherungsmakler in München aufgegeben und war mit mir in den Osten Deutschlands, nach Sachsen, gegangen, wo er in der Röderaue ein kleines Hotel kaufte.

Ein neues Leben in einem neuen Land begann. Ich hatte nie den Wunsch verspürt, in die Bundesrepublik zurückzukehren, nie das Bedürfnis gehabt, woanders zu Hause zu sein als hier.

Und da sich mein Vater die umfangreiche Arbeit im Hotel mit Gundula, der Haushälterin, und Alfred, dem Koch, teilte, blieb am Ende immer genug Zeit für mich übrig. Genug, um lückenlos meinen Tag zu überwachen und mich auf all meinen Wegen mit wachsamen Augen zu begleiten.

Ich habe das nie bedauert, denn einen gütigeren und verständnisvolleren Vater als ihn, einen besseren Freund und phantasiereicheren Spielgefährten, hätte ich mir nicht wünschen können.

Im Januar kam wieder einmal ein Brief von ihm. Es war ein langer Brief. Ein Brief, in dem er sich, entgegen seiner sonst eher sachlichen und nur aufs Wesentliche bezogenen Schreibweise, zu schwärmerischen Detailbeschreibungen hinreißen ließ.

Ich fragte mich verwundert, ob das wirklich mein Vater war, der über die größte Baleareninsel schrieb, als wäre sie das gelobte Land. Schließlich bewohnte er dasselbe Apartmenthaus wie in den Jahren zuvor auch, beteiligte sich an den gleichen Ausflügen und traf dieselben Leute.

Woher kam also plötzlich diese Begeisterung?

Welcher Teufel hatte ihn geritten, dass er nun weniger mit dem Kopf als mit dem Herzen sprach?

Mein Vater, ein Poet?

All diese Fragen, für die ich im Moment keine Antworten wusste, beantworteten sich am Ende des Briefes jedoch beinahe wie von selbst. Dort sprach er zum ersten Mal von Monika.

Bestimmt erinnerst du dich an unser Telefonat vom Silvesterabend, schrieb er da. An unseren kleinen Disput, weil ich nicht auf die Party gehen wollte, zu der mich mein Reiseveranstalter eingeladen hatte. Wer will denn auch gern allein herumsitzen, während andere vergnügt ihr Tanzbein schwingen?

Jedenfalls bin ich dann doch hingegangen, Dank deiner Zurede - ich gebe es gern zu - und habe eine wirklich nette Frau kennengelernt. So nett, dass ich seitdem einen Großteil meiner Zeit mit ihr verbringe.

Monika ist eine aufgeschlossene, geistreiche Person mit der ich mich ausgezeichnet unterhalten kann. Was zum Teil auch daran liegen mag, dass sie wie ich in der Hotelbranche tätig ist. Sie betreibt hier ein kleines, gut gehendes Haus direkt am Meer.

Natürlich freute ich mich, dass mein Vater endlich Kontakt gefunden hatte, noch dazu zu einem Menschen, mit dem ihn gemeinsame Interessen zu verbinden schienen. Für unser Hotelgeschäft konnte das nur einen Aufwind bedeuten.

Dann ließ mein Vater lange Wochen nichts von sich hören.

Der Winter verging sehr langsam, und sein Kumpan der Frost schwang ein klirrend kaltes Zepter. Heulend, rasselnd bäumte er sich immer wieder auf. Fast hätte man meinen können, er gäbe die Macht nie mehr aus der Hand.

Doch der Frühling kam pünktlich wie immer im März.

Als das erste Grün von den Bäumen und Sträuchern blinzelte, erreichte mich erneut ein langer Brief von meinem Vater.

Mein Herz klopfte laut, denn instinktiv wusste ich, dass er noch nicht nach Hause kommen würde, sondern seine Heimreise verschoben hatte.

Woher?

Keine Ahnung!

Ich lief in den Garten, der meinem Vater so viel bedeutete und wo ich mich ihm, vielleicht gerade deshalb, immer besonders nah fühlte. Ich wählte eine Bank, die von der tiefstehenden Sonne beschienen wurde und faltete das Papier langsam auseinander.

Meine liebe Marion,

der Winter in Deutschland ist vorbei, und du hast dich sicher schon gefragt, warum ich mich nicht melde. Die Antwort ist, dass unvorhersehbare Ereignisse mein Leben von Grund auf verändert haben, und ich erst jetzt zum Luftholen komme. Ich befinde mich derzeit in einem Taumel höchsten Glücks und kann die Gunst des Schicksals selbst kaum fassen.

Monika ist so eine wunderbare Frau. Sie hat mein Dasein total verändert. Du sollst wissen, dass wir uns vor einer Woche verlobt haben und noch in diesem Jahr heiraten werden.

Mein Entschluss wird dir vielleicht übereilt vorkommen, aber nur, weil du Monika noch nicht kennengelernt hast. Ich befürchte, wenn ich sie nicht vom Fleck weg heirate, wird es ein anderer tun.

Weshalb sie gerade mich gewählt hat, einen eigenbrötlerischen, grauhaarigen Alten, weiß ich nicht zu sagen. Das ist mir, ehrlich gesagt, auch egal. Ich weiß nur, dass das Glücksgefühl, welches ich derzeit empfinde, alles übertrifft, was ich je erlebt habe.

Marion, mein Mädchen, du kennst mich besser als sonst jemand auf der Welt, und wirst das Chaos in meinem Inneren schon im vorhergehenden Brief bemerkt haben. Chaos ist vermutlich nicht das richtige Wort, eher glückliches Durcheinander, das sich inzwischen ordnend geklärt hat.

Ach - ich könnte dir so vieles über die Frau meines Herzens schreiben! Ihr Charme, ihr Humor und ihre unvergleichliche Ausstrahlung - ach, du musst dir selbst ein Bild von ihr machen, wenn wir im Oktober nach Hause kommen, um zu heiraten.

Ja, mein Kind, du hast richtig gelesen. Ich habe mich entschlossen, noch hier auf Mallorca zu bleiben. Für das Hotel von Monika muss ein Käufer gefunden werden. Ich habe ihr versprochen, sie dabei zu unterstützen. Und dann, mein Mädchen, beginnt bei uns zu Hause ein neues Leben. Wir werden die längst fällige Sanierung in Angriff nehmen und ein neues Konzept für das Hotel erarbeiten. Das klingt doch gut, oder nicht?

Ich hoffe, du bist nicht allzu traurig darüber, dass ich dich für ein weiteres halbes Jahr allein lasse. Aber im Grunde bist du ja nicht allein! Gundula und Alfred sind ja bei dir und unterstützen dich hoffentlich tatkräftig bei der Arbeit. Grüße die Beiden herzlich von mir und richte ihnen bitte auch die Neuigkeiten aus.

Ich freue mich darauf, dich, meine liebe Tochter, bald wieder in die Arme schließen zu können.

In Liebe, dein Vater.

Enttäuscht ließ ich den Brief sinken.

Vater wollte mich tatsächlich noch einmal für viele Monate allein lassen.

Tränen sammelten sich in meinen Augen und ich war froh, in diesem Moment mit mir allein zu sein. Gundula war mit ihrer täglichen Hausarbeit beschäftigt und Alfred hantierte in der Küche.

Wieder und wieder las ich den Brief und konnte mich nicht mit meinem Vater freuen, der, so weit entfernt von mir, sein Glück gefunden haben sollte.

An diesem Tag dachte ich zum ersten Mal an das Begräbnis meiner Mutter zurück. Jede Einzelheit drängte sich in mein Bewusstsein und mein Herz zersprang beinahe vor selbstsüchtigem Groll.

Doch ich fühlte auch Einsamkeit und Verlorenheit. Genau wie damals. Nur war diesmal niemand da, der mich tröstend an seine Brust drücken konnte. Keiner, der imstande gewesen wäre, mir diesen neuerlichen Verlust zu erleichtern.

4

Als sich die Forsythien-Zweige am Strauch vor dem Hotel dichtbelaubt im lauen Wind wiegten, stellte ich mit Staunen fest, dass bereits Sommer war.

Die egoistische Trauer in meinem Herzen hatte mein Empfindungsvermögen so sehr vernebelt, dass der Frühling mit seinen Lebensgeistern auf leisen Sohlen an mir vorbei geschlichen war, ohne meiner müden Seele auch nur ein Stück seiner Kraft und Lebensfreude zu zollen.

Gram und Zweifel rankten da, wo früher einmal Glück und Frohsinn zu Hause gewesen waren. Die Zeit verging, ohne dass ich ein Teil von ihr gewesen wäre.

Für die Hausangestellten Gundula und Alfred sollte der Grund meines Kummers noch weit bis in den September hinein ein Rätsel bleiben, jene Neuigkeiten im Leben meines Vaters - mein Geheimnis.

Freilich hatte ich sie der Ordnung halber von der Verschiebung seiner Heimkehr informiert; über die Hintergründe hatte ich jedoch beharrlich geschwiegen.

Vielleicht aus Angst, dass sie sich von Herzen darüber freuen könnten. Vielleicht aber auch aus Scham, ich weiß es nicht.

Wahrscheinlich hoffte ich aber einfach nur, dass der Zahn der Zeit das seidene Band dieser absurden Liebesbeziehung zernagen würde, noch ehe der Sommer vorbei war. Dass die Zukunftspläne meines Vaters wie Seifenblasen zerplatzten, stiegen sie nur lange genug in den Himmel hinauf.

Ich wartete deshalb voller Ungeduld auf eine Nachricht von ihm.

Wieder verstrichen einige Wochen und die Zeit wurde zu meinem größten Feind. Sie flog unaufhaltsam dahin und ließ meinem Schweigen schon bald keinen Spielraum mehr.

Die Rückkehr meines Vaters stand nun unmittelbar bevor. Wollte ich ihn nicht enttäuschen oder gar verärgern, musste ich die Karten vorher auf den Tisch legen und mit Gundula und Alfred reden.

Während ich sprach, bemühte ich mich, meine seelische Verfassung nicht allzu offen zur Schau zu tragen. Und indem ich ihnen die dazugehörigen Auszüge aus seinem letzten Brief vorlas, verbarg ich meine eigene tiefe Betroffenheit.

»Die Hochzeit soll noch in diesem Jahr stattfinden«, sagte ich am Ende und beobachtete gespannt die Reaktion der beiden.

Die ehrliche Freude, die mir aus Alfreds Gesicht entgegenstrahlte, versetzte mir einen gewaltigen Hieb. Dennoch klopfte ich ihm lächelnd auf die Schulter und nickte. Ich fühlte mich so schäbig dabei.

Meine gute alte Gundula hingegen zeigte sich wenig erfreut

»Jesses Maria«, rief sie entsetzt. »Diese Frau wird Unruhe bringen und das Unterste zu Oberst kehren. Am Ende werde selbst ich mich nicht mehr zurechtfinden. Ich werde Fehler machen und dein Vater wird mich feuern!«

»So ein Unsinn«, entgegnete ich. »Er wäre doch verloren ohne dich. Wir wären verloren ohne dich, stimmt’s nicht, Alfred?«

Alfreds Nicken konnte Gundula nicht aufmuntern. Ihre Bittermiene rührte mich und ich nahm sie in die Arme.

»Glaubst du ernsthaft, er würde dich wegschicken? Nach allem, was du für uns getan hast?«

»Wer weiß«, brummte sie.

»Ich jedenfalls werde nie vergessen, wie du dich um mich gekümmert hast, wenn mein Vater auf einer seiner ominösen Dienstreisen war.«

»Wieso ominös?«, wollte Alfred wissen und sah Gundula fragend an.

»Weil er sich hinterher immer so eigenartig verhielt«, beantwortete ich seine Frage. Doch just im gleichen Moment schob sich ein breites Grinsen auf mein Gesicht. »Aber vielleicht war die Ursache für seine Missstimmung auch eine ganz andere. Wäre immerhin möglich, nicht wahr, Gundula? Vielleicht hat er herausbekommen, was wir nachts so getrieben haben, wenn er nicht zu Hause war. Hat er jemals Andeutungen gemacht?«

Gundula schüttelte den Kopf - wir mussten lachen. Der arme Alfred, der von allem keine Ahnung hatte, sah mit großem Ernst von einem zu anderen.

Er solle nicht so neugierig sein, verlangte Gundula, diese Schandtaten seien längst verjährt. Aber weil er so verloren dreinschaute, erzählte ich ihm von unseren Streichen. Zum Beispiel, wie wir als Nachtgespenster verkleidet arglose Hotelgäste erschreckt hatten, nachdem uns beim Spielen auf dem Dachboden ein unter Wäschestücken verstecktes Buch von Stephen King in die Hände gefallen war. Oder vom Glasauge, das wir einem grölenden Säufer ins Bierglas geworfen hatten.

»Ja, mein Lieber, das waren Zeiten damals«, schwärmte ich und verspürte ein sehnsüchtiges Ziehen in der Brust.

»Aber Zeiten ändern sich«, murrte Gundula.

»Unser ganzes Leben ändert sich«, entgegnete ich.

»Aber warum?« Gundula sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Warum denn so plötzlich eine Ehefrau? Was lässt er sich in seinem Alter so einen Klotz ans Bein binden? Er hat doch bereits eine Familie - er hat dich! Hat uns!«

Und da war es wieder, dieses verlorene Gefühl in mir, ein Gemisch aus Wut und Angst, Fassungslosigkeit und Trauer.

»Bist du etwa eifersüchtig, Gundula?«, fragte ich schnell, bevor es aus mir hervorbrechen konnte. »In deinem Alter?«

Als sie darauf mit hochrotem Kopf davoneilte, lachte ich ihr höhnisch hinterher.

Hohn als Selbstschutz, wie originell.

Tagelang lief sie mürrisch durch das Haus und bedachte mich mit schiefen Blicken, bis ich sie zur Seite nahm und mich artig für meine Äußerungen entschuldigte.

»Ich könnte beinahe seine Mutter sein«, brummte sie. »Von wegen eifersüchtig. Ich verstehe nur nicht, warum er sich plötzlich eine Frau ins Haus holen will. Wozu?«

»Ja, wozu wohl?« Ich lachte.

Gundula verzog jedoch keine Miene und fuhr unbeirrt fort. »Es ist mir schleierhaft, weshalb diese Frau ein angeblich gut gehendes Hotel auf Mallorca verkauft, um deinem Vater in dieses Kaff hier zu folgen.«

»Vielleicht aus Liebe?«

»Dass ich nicht lache! Die führt etwas im Schilde, das habe ich im Gefühl.«

Zu gern hätte ich mir jetzt meinen eigenen Kummer von der Seele geredet, doch ein unbestimmtes Bauchgefühl hielt mich davon ab. Stattdessen schaffte ich es, gleichgültig zu erscheinen. Ja, ich zwang mich sogar hin und wieder zu einem Lächeln. Was mir besonders schwer fiel, wenn über die bevorstehende Hochzeit gesprochen wurde. Darum ging ich solchen Gesprächen viel lieber aus dem Weg.

Wie Gundula übrigens auch.

Alfred hingegen überschlug sich beinahe vor freudiger Anteilnahme. Seine farbenfrohen Zukunftsbilder, mit denen er mich auf die kommenden Veränderungen einstimmen wollte, gingen mir schon bald gewaltig auf die Nerven.

»Kannst du nicht mal von etwas anderem sprechen?« fragte ich ärgerlich. »Benimmst dich ja gerade so, als würdest du auf Freiersfüßen wandeln. Und überhaupt - was meinst du mit Veränderungen? Ich wüsste nicht, was sich hier ändern sollte, nur, weil mein Vater zukünftig verheiratet sein wird.«

Alfred antwortete mit einem verschmitzten Lächeln.

»Vielleicht solltest du dich erst einmal fragen, warum dein Vater heiratet«, meinte er. »Vor allen aber, warum so plötzlich.«

»Warum wohl«, erwiderte ich und lachte böse.

»Mein alter Herr hat es noch einmal probiert und ist auf den Geschmack gekommen.«

»Probiert? Was …?«, fragte Alfred, wurde aber im selben Augenblick feuerrot.

»Willst du mir etwa weißmachen, Sex spiele in eurem Alter keine Rolle mehr?«, hakte ich nach.

»Ähm …« « Er hüstelte diskret. »Aber dieser Punkt wird für deinen Vater nicht ausschlaggebend gewesen sein. Ich denke vielmehr, dass er mit der Heirat etwas in Ordnung bringen will. Er ist schließlich ein verantwortungsbewusster Mensch, dein Vater! Er würde bestimmt nicht so ohne weiteres …«

Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass Alfred mir etwas sagen wollte, sich aber nicht traute.

»Und im Klartext?«

»Phu …« Er kratzte sich verlegen den Hinterkopf.

»Wenn ich nur wüsste, wie ich …«

»Spuck es aus, Alfred! Was, glaubst du, könnte mein Vater in Ordnung bringen wollen? Und warum sollte er dafür heiraten müssen?«

»Weil …« Wieder kratzte er sich den Kopf und sah dabei sehr unglücklich aus. »Es wäre doch immerhin möglich, dass er …«

»Was?«

»Ist dir wirklich noch nicht in den Sinn gekommen, dass dein Vater - eventuell - noch einmal … Vater werden könnte?«

»Mein Vater?«, lachte ich laut, zu laut vielleicht, und erstarrte jäh, als mein Kopf diese Information nicht nur aufgenommen, sondern auch sortiert und verarbeitet hatte.

In all den Wochen, in denen ich missmutig an die bevorstehende Hochzeit gedacht hatte, war es mir nicht in den Sinn gekommen, dass der Entschluss meines Vaters in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Kind stehen könnte.

»Wäre doch immerhin möglich«, bemerkte Alfred noch einmal sachlich. »Ich kenne Männer, die noch im greisen Alter von achtzig Jahren Kinder gezeugt haben.«

Und weil ich dem nichts entgegenzusetzen hatte, redete er munter weiter, bezeichnete den angeborenen männlichen Instinkt als entscheidende Triebfeder der Evolution, als unverzichtbaren Beitrag zum Fortbestand der Menschheit, der nicht ohne Grund bis ins hohe Alter ausgeprägt sei, und war dabei so überzeugt von der Richtigkeit seiner Worte, dass er keinerlei Kommentar von mir erwartete.

Ich war sehr froh darüber.

»Ich bin beinahe etwas neidisch«, sagte er endlich und lächelte versonnen in sich hinein. »Muss wirklich eine tolle Frau sein, diese Monika.«

War diese Monika bis dahin nur ein imaginäres Störobjekt gewesen, das mein Wohlbefinden ungünstig beeinflusst hatte, ein schwarzer Fleck auf blütenweißem Papier, so bekam sie nun durch seine Worte erstmals auch eine Gestalt.

In meiner Vorstellung mutierte dieser Fleck, winzig wie ein Sandkorn, zu einer vollbusigen Wasserstoffblondine mit nullachtfünfzehn Fön-Frisur, deren biologische Uhr so laut tickt, dass bei so manchem reifen Mann die Glocken klingelten. Verständlich irgendwie, aber mussten es ausgerechnet die Glocken meines Vaters sein?

Ich sah sie von lauter buhlenden, alternden Männern umgeben - allesamt nach Rheumabad, Kamillentee und Erde riechend. Lustgreise mit schlaffer Haut, schlaffen Gliedern, einem schlaffen Geist, aber knallharter Erektion. Zum Schreien komisch, wenn da nicht ein Mann unter ihnen wäre, der verdammt nach meinem Vater aussah.

Geistesabwesend lag er ihr zu Füßen und vergaß dabei die Welt um sich herum, vergaß mich.

Und alle Brücken brachen.

Seit Wochen hatte ich nun schon nichts mehr von meinem Vater gehört. Aus dem Apartmenthaus war er inzwischen ausgezogen und auf seinem Handy meldete sich nur noch die Service-Tussi mit der ausgefeilten Aussprache, die sagte: »Der Teilnehmer ist im Moment nicht erreichbar …« was nach dem zehnten Anruf beinahe wie Hohn in meinen Ohren klang.

Von da an lebte ich in völliger Ungewissheit.

Mit Ungeduld erwartete ich jeden Tag den Postboten, um jeden Tag aufs Neue enttäuscht zu werden.

Kein Brief von meinem Vater, keine Nachricht von ihm, kein Lebenszeichen.

Meine Not war groß und wurde immer größer.

Als der erste Schnee vom Himmel fiel, ohne dass ich etwas von ihm gehört hätte, entschloss ich mich, selbst nach Mallorca zu fliegen, um ihn zu suchen. Seit seiner Abreise waren inzwischen mehr als zwölf Monate vergangen.

Doch just in diesen Tagen erhielt ich endlich den lang ersehnten Brief.

Meine Rückkehr wird sich leider noch um einige Wochen verschieben, schrieb er, und ich spürte, wie sich meine Kehle langsam zusammenzog.

Ich brauche die Zeit, um einer ganz bestimmten Angelegenheit auf den Grund zu gehen. Sollten sich meine Vermutungen bestätigen, dann müssen wir in Zukunft besonders vorsichtig sein. Unsere Sicherheit steht und fällt mit diesen Informationen.

Ach, mein Kind, es ist furchtbar! So viele Jahre lebten wir in Ruhe und Frieden, und nun das. Ich treffe diese Frau, verliebe mich nichtsahnend in sie, und finde mich plötzlich in der Vergangenheit wieder. Eine Vergangenheit, die ich gern für alle Zeit vergessen hätte. Doch gerade als ich glaubte, ihr entkommen zu sein, holt sie mich wieder ein. Man sollte sich eben nie zu glücklich fühlen.

Du armes, unschuldiges Kind weißt natürlich nichts von alledem. Weißt nichts von Verrat, Erpressung und Lüge. Nichts von dem kollektiven Irrsinn einer Horde Geisteskranker, die glaubt, wahnwitzige Ideen mit Terror und Gewalt durchsetzen zu müssen. Was zählt da schon ein Menschenleben?

Wenn ich wieder zu Hause bin, werde ich dir alles erzählen. Alles über den Tod deiner Mutter, unsere Umsiedlung in die DDR und die Schuld, die ich vor vielen Jahren auf mich geladen habe.

Verdammt - ich muss Schluss machen, sie kommen! Sie haben mir nämlich verboten, dir zu schreiben. Zu meiner eigenen Sicherheit, wie sie sagen.

Bitte zeige diesen Brief niemanden, auch nicht Gundula und Alfred, sondern vernichte ihn auf der Stelle, damit nicht auch du in Gefahr gerätst.

Bis bald, mein Liebling, und mach dir keine unnötigen Sorgen.

Alles wird gut.

In Liebe, dein Vater.

Bestürzt ließ ich den Brief sinken, den zuletzt mein Vater in den Händen gehalten hatte.

Ich spürte, wie sich seine Verwirrung, seine Verzweiflung und Einsamkeit auf mich übertrugen, und ein tiefer Schmerz griff mit spitzen Krallen nach meinem Herzen.

Dabei hatte ich mir doch in den vergangenen Monaten nichts sehnlicher gewünscht, als dass sein Glück zerbrechen möge.

Ohne nachzudenken, stürzte ich hinaus und kam erst wieder zu mir, als ich inmitten der verschneiten Gehölze im Garten meines Vaters stand. Erhaben senkten sie ihre Zweige auf mich herab und nickten majestätisch. Ihr Anblick, der mich an die scheinbare innere Ruhe meines Vaters erinnerte, in Verbindung mit der schneidenden Kälte, die wie ein Tadel wirkte, brachten Einbildung und Realität wieder in einen Konsens.

Ich hatte wohl vergessen, dass neben einem Gewinner immer auch ein Verlierer steht, und dass ein errungener Sieg auch gleichzeitig eine Niederlage mit sich bringt.

Heute frage ich mich, ob es Gewissensbisse waren, die zur Taubheit meines Verstandes geführt hatten. Denn anstatt zu reagieren, legte ich schuldbewusst meine Hände in den Schoß und wartete. Ich wartete, obwohl die Anhaltspunkte für eine Gefahr doch so klar auf der Hand gelegen hatten.

Bereits wenige Tage später, ich hatte den Brief meines Vaters vor Gundula und Alfred mit keiner Silbe erwähnt, erhielt ich ein behördliches Schreiben, in dem man mir mitteilte, dass es auf Mallorca einen bedauerlichen Bootsunfall gegeben hatte.

5

Die folgenden Wochen verbrachte ich wie in Trance. Beinahe schien es, als wäre mein Empfindungsvermögen zusammen mit meinem Vater gestorben.

Ich bewegte mich in einer Welt zwischen den Welten, wandelte auf dem hauchdünnen Grat, der die Realität vom Wahnsinn trennt, und nahm deshalb nur am Rande wahr, wie der Sarg meines Vaters nach Deutschland überführt und in einem Bestattungsinstitut aufgebahrt wurde.

Selbst die Vielzahl von Beileidsbekundungen, die während dieser Zeit im Hotel eingingen und die ich nie imstande sein würde, zu beantworten, berührte mich nicht. Luise Schmitz, Erwin Baumann, Generalmajor Köppke, Jochen Weber … alles Namen, die ich noch nie vorher gehört hatte. Namen von Menschen, die ich nicht kannte, nicht kennen wollte.

Ungelesen packte ich die Karten und Briefe in einen Schuhkarton, stülpte den Deckel darüber und verstaute ihn unter meinem Bett.

Auch an die Zeremonie der Beerdigung erinnere ich mich bloß verschwommen. Ich weiß nur noch, dass der beste Freund meines Vaters eine kurze Rede gehalten hatte, dass ein junger Gitarrist Vaters Lieblingsstücke von Eric Clapton spielte und - noch heute läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke -, dass mich beim Anblick der vielen Blumen ein banges Gefühl überkam, eine unheimliche Ahnung, eine Vermutung, dass auch das Grab meines Vaters ein leuchtendes Grab sein würde.

6

»… und im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, vermache ich mein gesamtes Hab und Gut meiner einzigen und über alles geliebten Tochter Marion Brendel. Außerdem darf sie von nun an über das Geld aus dem Treuhandfond verfügen, den ich ihr nach dem Tode meiner Frau eingerichtet habe.«

Der Notar Doktor Henn ließ das Papier sinken, das er zwischen seinen beiden Händen hielt und lächelte mich über die Brillengläser hinweg an.

Er wartete, dass ich etwas fragen, etwas erwidern würde, aber ich hatte weder Fragen noch Widerworte.

»Nun«, sagte er endlich. »Jetzt bist du also eine reiche Frau, Marion. Das Hotel, der Grundbesitz, die Millionen - alles gehört dir. Dir allein! Weißt du schon, was du nun anfangen wirst?«

Schlagartig erwachte ich aus meiner Lethargie und sah ihn verdutzt an.

»Könnten Sie das bitte noch einmal wiederholen, Herr Doktor?«

»Was denn, mein Kind? Dass du die Alleinerbin bist?« Er lachte. »Wer könnte denn deiner Meinung