Der Duft des Diesels - Ralf Schenzinger - E-Book

Der Duft des Diesels E-Book

Ralf Schenzinger

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Beschreibung

Gregor und Moritz sind Eigenbrötler, die ihr Dorf noch nie verlassen haben. Das Jahr 2005 bringt für beide einen Wendepunkt, mit dem sie nie gerechnet hätten. Sie verlieren mit Anfang fünfzig ihre Jobs am Bau. Da keine Hoffnung auf Besserung ihrer Situation besteht, entschließen sie sich, mit einem alten Traktor und einem Bauwagen die erste Urlaubsreise ihres Lebens zu anzutreten, die sie nach Hamburg führen soll. Doch ihr Ausflug entwickelt sich komplett anders, als geplant. Auf ihrer Reise über Landstraßen, die einem Road-Movie gleicht, werden sie in die Welt der Medien verstrickt, geraten in das Visier von Bankräubern und erscheinen plötzlich auf der Fahndungsliste der Polizei. Die Hintergründe bleiben ihnen unerklärlich. Die mit Witz und augenzwinkernder Menschenkenntnis erzählte Geschichte, verteilt so manchen Seitenhieb. Sie lässt den Leser schließlich mit der Sehnsucht zurück, selbst einmal mit einem Traktor in Urlaub zu fahren.

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Seitenzahl: 338

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

1

Koslowski stampfte das Gaspedal des Kleinbusses mit so brachialer Gewalt nach unten, als hätte er die Absicht, ein Loch in den Boden des Wagens zu treten. Der alte Kleinbus des Bauunternehmens Lose zuckte unter diesem Tritt kurz auf, beschleunigte so gut er konnte und passierte die rote Ampel, als ein Fußgänger gerade den Überweg betreten hatte. Dieser rettete sich durch einen Sprung rückwärts und landete dabei sehr unsanft auf dem Gehweg, wo er noch im Liegen fluchte und Koslowski mit erhobener Faust drohte. In dessen Gesicht breitete sich ein zufrieden-freches Grinsen aus, das ihm einen speckigen Glanz verlieh. Moritz, der neben Koslowski saß, klammerte sich instinktiv an der Sitzlehne fest und stützte sich mit der anderen Hand auf das Armaturenbrett, nachdem er Koslowskis Grinsen aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte. Dieses Grinsen verzog sich in diesem Moment zu einer frechen Fratze, wobei er seine dicken Augenbrauen geradezu diabolisch nach unten zog.

Moritz kannte Koslowskis Anfälle spritziger Fahrweise nur zu gut und ahnte in etwa, was dieser Aktion folgen würde. Er beobachtete ihn weiter, nicht ohne eine ordentliche Portion Angstschweiß auf der Stirn. Er erwartete eine Steigerung. Sein Blick wechselte zwischen Koslowski und der Fahrbahn hin und her. Koslowski packte in die Innenseite des Lenkrades und schlug es mit einer ruckartigen Bewegung ganz nach rechts ein. Der Bus machte einen unangenehmen Knicks. Ohne das Gas zurückzunehmen, bog er mit pfeifenden Reifen in die Normannenstraße ein, woraufhin das Heck des Wagens ausbrach. Sämtliche Passagiere des Kleinbusses rutschten dabei der Fliehkraft gehorchend zur Seite. Wild fuchtelnd versuchten sie irgendwo Halt zu finden, fanden aber jeweils nur die Kleidung des Nachbarn, der auch im Rutschen war. Gregor, der erstaunlicherweise immer noch döste, schlug auf der hintersten Sitzbank mit dem Kopf gegen die Seitenscheibe und schrak hoch. Bevor er sich orientieren konnte, legte Koslowski eine Vollbremsung hin, die das Profil der Reifen pulverisierte. Gregor rutschte wie von Glatteis getragen von seinem Sitz, suchte verzweifelt nach Halt, fand nur Brosmanns abstehendes Ohr und zog ihn mit in die Tiefe des Fonds. Es tat einen kurzen, dumpfen Schlag. Mit einigen akrobatischen Verrenkungen versuchte Gregor, seine etwas korpulente Gestalt wieder aufzurichten. Noch bevor er im Fond des Wagens kniete, fing er an, Koslowski im feinsten Baustellenjargon zu beschimpfen.

„Du verdammtes, hirnverbranntes Arschloch! Willst du uns alle umbringen, du verfluchter Penner?“

Koslowski quittierte Gregors Beschimpfungen mit einer abfälligen Handbewegung, ohne ihn dabei anzusehen. Er starrte wie auf einen Punkt fixiert durch die Frontscheibe des Wagens. Vor ihnen lag die Normannenstraße 12, die Baustelle, auf der sie beschäftigt waren.

„Was soll denn der Maskenball?“, fragte Moritz halblaut in eine von Gregors Schreipausen hinein. Moritz, der sich immer noch mit der Hand am Armaturenbrett abstützte, beugte sich weit zur Frontscheibe des Wagens vor, so dass er sie fast mit der Nase berührte.

Gregor rappelte sich aus dem Fond hoch, stellte fast zeitgleich zu Moritz` Äußerung seine Beschimpfungen ein und starrte wie versteinert durch die Frontscheibe des Wagens. Im Zeitlupentempo fiel ihm die Kinnlade herunter. Das Loch, wie er die Baustelle nannte, war flankiert von Mannschaftswagen der Polizei. Zwischen den Fahrzeugen standen uniformierte Beamte, aufgereiht wie eine Girlande. Dazwischen mischten sich unterschiedlich große Gruppen von Bauarbeitern und Passanten, die heftig und laut diskutierten, so dass einige Wortfragmente bis zum Wageninneren vordrangen. Moritz drehte den Kopf zum Fenster, um einige dieser Bruchstücke aufzufangen. Es gelang ihm jedoch trotz aller Bemühungen nicht, irgendeinen Zusammenhang aus dem Stimmengewirr herauszufiltern. Rings um die Baustelle hatte man ein schwarzgelb gestreiftes Flatterband gezogen. Polizei – Überschreiten verboten stand darauf.

Koslowski stellte den Motor ab und kurbelte das Seitenfenster vollständig herunter. Er öffnete die Tür und benutzte den Fensterrahmen als Leiter zum Dach. Von innen war deutlich zu hören, wie es unter seinem Gewicht nachgab. Es knirschte und wummerte bei jeder Bewegung. Da es nicht verkleidet war, konnte Moritz die Bewegungen, die es unter Koslowskis Schritte machte, sehr gut verfolgen. Er zog den Kopf ein und beobachtete es misstrauisch. Er rechnete damit, dass es unter Koslowskis Gewicht nachgeben und jeden Moment durchbrechen würde, so dass Koslowskis Bein blutverschmiert und vom Blech zerschnitten vor seinen Augen baumeln würde. Moritz schauderte es bei dem Gedanken. Alles konnte er sehen, nur bei Blut hatte er so seine Probleme – was ihm schon so manchen Spott von seinen Kollegen eingebracht hatte.

Als Koslowski nach einer Weile immer noch nicht durchgebrochen war, schob Moritz den Kopf wieder langsam hervor. Er kurbelte das Seitenfenster herunter und streckte den Kopf so weit heraus, dass er Koslowski sehen konnte.

„Siehst du was?“, rief er nach oben.

„Hier ist alles blau“, rief ihm Koslowski zu.

„Das wissen wir schon“, murmelte Moritz und zog den Kopf wieder zurück.

Gregor riss an der Verriegelung der Schiebetür und schob sie kraftvoll nach hinten, bis sie satt einrastete. Mit einem Satz stand er auf dem Asphalt und stampfte auf das mysteriöse Spektakel zu. Kaum war er einige Schritte gegangen, als er Anton Bröske, den Polier der Baustelle, entdeckte. Bröske stand teilnahmslos am Rand einer kleineren heftig diskutierenden Gruppe. Beide Hände hatte er tief in den Hosentaschen vergraben und in seinem Mundwinkel qualmte eine Zigarette, an der er lustlos paffte. Gregor änderte seine Richtung und ging geradewegs auf Bröske zu. Der bemerkte nicht, dass sich Gregor ihm näherte. Gregor packte ihn an der Schulter und riss ihn unvermittelt herum, wobei Bröske, aus seiner Lethargie gerissen, heftig zusammenschrak. Die Zigarette flog aus seinem Mundwinkel heraus und zeichnete einen Halbkreis durch die Luft. In der Geschwindigkeit eines Wildwestschützen zog Bröske beide Hände aus den Hosentaschen und versuchte wild gestikulierend, seine Zigarette zu erhaschen, wobei er sie jedoch so unglücklich berührte, dass sie über Gregors Kopf verschwand. Gregor trat vorsorglich einen Schritt zurück.

„Musst du mich so erschrecken?“, brüllte ihn Bröske an.

„Ist ja schon gut“, beschwichtigte ihn Gregor und legte ihm dabei versöhnlich die Hand auf die Schulter. „Sag mir lieber, was zum Teufel hier los ist.“

„Was hier los ist?“, wiederholte Bröske mit zornigrotem Kopf. „Nichts ist hier mehr los.“

„Wie?“ fragte Gregor und ließ langsam die Hand von Bröskes Schulter gleiten.

„Lose hat sich über Nacht abgesetzt, so sieht es aus!“, schrie Bröske entrüstet und steckte sich eine neue Zigarette in den Mund. Mit zittrigen Fingern angelte er ein Zündholz aus der Schachtel und zündete sie sich an. Bröskes Erregung machte Gregor unsicher. Von ihm war man selbst in den kniffligsten Lebenslagen Ruhe und Besonnenheit gewohnt. Gregor hätte ihn in seiner Hilflosigkeit am liebsten in den Arm genommen, um ihn zu beruhigen. Er ließ es aber sein, da ihm dämmerte, wie dämlich es aussehen würde, wenn er seinen Vorgesetzten, der wesentlich kleiner war als er, an die Brust drücken würde.

„Abgesetzt?“, wiederholte Gregor ungläubig. „Ich glaube, ich habe noch Seife im Ohr, sag das noch mal.“

Bröske warf die Arme weit auseinander wie bei einer Offenbarung, schnippte das Zündholz weg und zuckte mit den Schultern. Moritz und die Kollegen aus dem Kleinbus hatten sich in der Zwischenzeit neben Bröske und Gregor eingefunden. Sie gafften Bröske und Gregor tonlos und mit dicken Fragezeichen in ihren Gesichtern an.

„Ich verstehe nicht?“, fragte Moritz, der noch immer nicht so recht begriff, was dort vor seinen Augen vor sich ging.

„Na, der hat irgendwelche krummen Dinger gedreht und jetzt ist er auf und davon“, klärte ihn Bröske in aller Kürze auf.

„Diese Kanaille“, fluchte einer der Bauarbeiter leise und streckte seine geballte Faust in die Luft.

„Ich habe es immer gewusst“, stieß Gregor hervor. „Dieses Arschgesicht ist doch ständig wie eine hinterlistige Ratte über die Baustelle geflitzt. Dass der Dreck am Stecken hat, war mir schon lange klar.“

Lose erfreute sich bei keinem seiner Mitarbeiter besonderer Beliebtheit. Wenn er gelegentlich auf den Baustellen erschienen war, was sehr selten vorkam, war er mit eingezogenem Kopf darüber hinweggehuscht, als wäre er auf der Flucht. Seine kleine dürre Gestallt hüpfte dabei zwischen den Sandhügeln hin und her. Schließlich verbarrikadierte er sich im Büro des Poliers. Gelegentlich wurde er danach von dubiosen Personen mit dunklen Sonnenbrillen erwartet und fuhr mit ihnen in amerikanischen Limousinen davon.

Dies und anderes hatte zu jeder Zeit die Gerüchteküche auf den Baustellen kochen lassen. Hinzu kam, dass Lose schon mehrmals Firmen in die Pleite getrieben hatte, aus der er jeweils reicher denn je hervorgegangen war.

„Und was soll jetzt werden?“, fragte Moritz verunsichert.

„Nichts mehr. Die Firma Lose ist pleite, verstehst du? Kaputt, hinüber, aus und vorbei“, antwortete Bröske lautstark.

„Kaputt?“ wiederholte Moritz flüsternd.

„Aber es gibt doch noch die Baustelle“, stellte Gregor eilig fest und fuchtelte zur Baustelle hin. „Irgendwer muss die doch ...“

„Jaaa doch“, unterbrach ihn Bröske. „Aber ohne uns. Kapier‘s doch endlich. Es ist vorbei.“

Gregor ließ langsam den Arm sinken. Sein Blick verriet eine tiefe Traurigkeit. Er rief Bröske hinterher: „Aber dort steht doch noch mein Bagger!“

„Den kannst du vergessen“, antwortete Bröske mit einer abfälligen Handbewegung, drehte sich um und verschwand hinter einem Mannschaftswagen der Polizei.

Gregor schlurfte auf das Baustellenloch zu. Sein Blick schien eingefroren zu sein. Am Rand der Absperrung blieb er stehen und sah zu seinem Bagger. Gelb mit schwarzen Streifen, dachte er. Sieht gar nicht mal so schlecht aus. War mir so noch nie aufgefallen. Moritz, der ihm fast lautlos zur Absperrung gefolgt war, zupfte ihn behutsam am Ärmel. Gregor zuckte zusammen. Er zeigte auf den Bagger. „Da steht er“, sagte er leise.

„Meine Schaufel ist auch futsch“, versuchte ihn Moritz zu trösten. „Komm“, sagte er und zupfte ihn erneut am Ärmel seiner Jacke. Es fühlte sich kraftlos an.

„Ich kann es noch immer nicht glauben“, antwortete Gregor. „Lose, diese Ratte. Wenn ich den zwischen die Finger kriege.“

„Mhmm“, meinte Moritz mit verkniffenem Gesicht. „Komm“, forderte er Gregor erneut auf. „Lass uns zu den anderen zurückgehen.“

Gregor beugte sich weit über das Absperrband.

„He, weg da“, rief ihnen von weitem einer der Polizisten zu. Gregor hob den Kopf und sah den Beamten, der auf einem Erdhügel stand und sie mit einer Handbewegung von der Absperrung wegzitierte.

„Ja, schon gut“, rief Gregor ihm mit einem künstlichen Lächeln zu.

„Nun komm schon“, sagte Moritz, „bevor der uns noch beißt.“

Gregor nickte leicht, sah dem Beamten nach, der hinter dem Erdhügel verschwand, und griff blitzschnell nach einer träge blinkenden Warnleuchte, die in der Halterung eines Pfostens steckte. Mit einer gekonnten Bewegung verschwand sie unter seiner Jacke.

„Bist du verrückt?“ flüsterte Moritz und sah sich aufgeregt um. „Wenn das einer sieht.“

„Ist nur ein kleines Andenken an meinen Bagger“, sagte Gregor und drückte sich eilig an Moritz vorbei.

„Was hast du denn da?“, rief ihm Bröske zu, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war.

„Nichts“, antwortete Gregor flapsig und schlängelte sich elegant an ihm vorbei. Nur schnell das Ding im Rucksack verstauen, bevor noch mehr dumme Fragen kommen, dachte er.

Gregors kleptomanische Anfälle waren allgemein bekannt, wurden aber stets geduldet. Schließlich war er nicht der Einzige, der so manches gebrauchen konnte, was auf einer Baustelle herumlag. Und schließlich hatte Genosse Ulbricht einmal behauptet, dass man aus den Baustellen viel mehr herausholen könne. Und schließlich war es in diesem Fall eine Art sportliche Rache oder ein sozialer Ausgleich dafür, dass Lose die Löhne so weit nach unten gedrückt hatte wie er nur konnte. Die Lampe war jedenfalls nicht das erste, was Gregor als Beute von der Baustelle trug. In der Deckung des Kleinbusses stopfte er sie in seinen Rucksack und zog die Riemen kräftig zu, so dass sie für fremde Augen unsichtbar war.

Danach ging er zurück zu seinen Kollegen, die hitzig über ihr Schicksal diskutierten. Das wird Lose bestimmt nicht schaden, dachte er auf dem Weg zu ihnen. Der geht aus diesem Mist doch sicher wieder als reicher Mann hervor.

„Ich hau jetzt ab“, sagte Bröske, dem das ganze Gebrüll sichtlich auf die Nerven ging. „Hier gibt´s eh nichts mehr zu holen.“ Er grinste dabei Gregor an, der ein bisschen die Gesichtsfarbe änderte.

„Und wenn die unsere Aussage brauchen?“, fragte Moritz naiv.

„Was du weißt, wissen die schon lange“, antwortete Bröske und tippte ihm auf die Brust. Er steckte sich erneut eine Zigarette in den Mund, zündete sie an und blies den Rauch über Moritz` Kopf hinweg. Lässig schnippte er das Zündholz weg und verfolgte seine Flugbahn, bis es nach kurzem Flug auf dem Asphalt landete.

„Seht mal zu, dass es weitergeht“, versuchte er die Kollegen zu ermuntern. „Denkt immer daran, die letzte Kiste ist keine Bierkiste.“

Mit einem Fingertipp an seinen Hut verabschiedete er sich von seinen ehemaligen Kollegen. Moritz sah ihm nach, bis er in der Menschenmenge verschwunden war. Er mochte Bröske sehr und hoffte, ihn auf der nächsten Baustelle wiederzutreffen. So einen netten Polier gibt es nicht alle Tage, dachte er.

Gregor tippte Moritz von hinten auf die Schulter und sagte: „Komm, abhauen.“

„Du hast da was“, stellte Moritz fest und deutete mit dem Finger auf Gregors Stirn. Der entdeckte beim Tasten eine große Beule, die er sich vermutlich beim Aufprall im Wagen zugezogen hatte. In der ganzen Aufregung war sie ihm überhaupt nicht aufgefallen. Erst jetzt bemerkte er an dieser Stelle ein leichtes Pochen, begleitet von aufsteigender Wärme.

„Noch ein Erinnerungsstück“, bemerkte er und warf sich seinen ausgebeulten Rucksack über den Rücken. Deutlich spürbar schlug die Leuchte dabei an seine Wirbelsäule.

2

Gregor und Moritz saßen schweigend im Bus nach Birkmöser. Keiner der beiden hatte heute Augen für die Schönheit der brandenburgischen Landschaft. Der graublaue Überlandbus schaukelte auf einer Nebenstraße träge vor sich hin. Gelegentlich kratzte ein Ast der Alleestraße an seinem Dach.

Birkmöser war die Heimat von Gregor Wallz und Moritz Trautermann. Aber vielleicht ist Heimat die falsche Bezeichnung, denn es war eher ihr Globus, auf dem sie sich in Sicherheit vor Angriffen von feindlichen sie umgebenden Planeten wähnten. Weniger als einhundert Seelen waren seit der Wende noch übrig. Der Rest hatte sich in Richtung Wohlstand verabschiedet. Fünfzehn Jahre war das nun schon her. Und nach und nach zeigte der Zerfall verlassener Häuser die unausweichliche Zukunft von Birkmöser.

Der Ort, die Kneipe Zur Lieselotte und die Baustellen in Berlin und Potsdam bildeten ein kleines Universum, auf dessen Bahnen sich Gregor und Moritz seit Jahr und Tag bewegten. Viel mehr von der Welt kannten beide nicht, abgesehen davon, was ihnen das Fernsehen von ihr zeigte. Es interessierte sie auch nicht sonderlich, wie es hinter diesen Grenzen in der Realität aussah. Sie genossen es, nach jeder vollendeten Umlaufbahn wieder wohlbehalten auf ihrer Basis zu landen.

So sehr man sich auch mühte, es gab nichts, was Birkmöser in irgendeiner Art auszeichnete oder auffällig machte. Kurz, wäre Birkmöser von einem Erdbeben verschluckt worden, so hätte man es vermutlich erst zur nächsten Grundsteuererhebung bemerkt.

Mit einem scharfen Zischen öffnete sich die hintere Tür des Busses und das ganze Gefährt neigte sich zum Ausgang hin. Gregor und Moritz wurden durch dieses Geräusch aus ihren Gedanken gerissen. Für einen winzigen Moment fühlten sie sich an Koslowskis schnelle Kurvenfahrt erinnert und klammerten sich reflexartig an der Lehne der vorderen Sitze fest. Gregor sah auf, erwachte aus seinen Träumen und erkannte die vertraute Umgebung.

Schwerfällig stemmte er sich aus seinem Sitz, griff nach seinem Rucksack und schlurfte mit schweren Schritten zum Ausgang. Dabei musste er sich leicht nach vorne beugen, um nicht mit dem Kopf an die Decke des Busses zu stoßen. Moritz klemmte sich seine Tasche unter den Arm und folgte ihm. Kurz bevor sie ausstiegen, winkten sie noch einmal dem Busfahrer zu, der sie im Innenspiegel beobachtete. Mit zwei großen Schritten verließen sie den Bus. Hinter ihnen zischte es erneut und mit einem rau klingenden Dieselgeräusch setzte sich der Bus in Bewegung. Gregor zog sich den Hut vom Kopf und wedelte sich damit die Abgase aus dem Gesicht. Dann klopfte er Moritz leicht mit der Außenhand vor die Brust. Der schaute zu ihm auf und sah, dass er mit dem Daumen in Richtung Lieselotte deutete.

„Haben wir uns verdient“, stellte Moritz nickend fest.

Die hölzerne Eingangstür des Gasthauses fiel mit einem lauten Schlag ins Schloss. Lieselotte schrak hoch, reckte sich über den Tresen und starrte zur Tür. Gäste waren zu dieser frühen Stunde eher selten, deshalb wunderte sie sich, als Gregor und Moritz vor ihr auftauchten. Beide schlurften mit hängenden Köpfen an ihr vorbei, ohne sie wie üblich zu grüßen. Lieselotte sah ihnen über die Theke verwundert hinterher, bis sie sich auf ihre Stammplätze sacken ließen. Gregor setzte seinen Rucksack behutsam auf der Bank ab und Moritz feuerte seine Tasche auf die Fensterbank des dahinter liegenden Fensters. Ein kleines Wetterfigürchen, das einen fröhlichen Zecher darstellte, wurde von der Tasche erfasst und in die Ecke der Fensterbank geschleudert. Der Kopf brach ab. Lieselotte biss die Zähne zusammen.

Beide stemmten ihre Ellbogen auf die blank polierte Tischplatte und drückten sich die Fäuste in die Wangen. Ohne das Zerbröseln des Figürchens zu kommentieren, zapfte Lieselotte zwei Bier, stellte sie auf einem Tablett ab und legte zwei runde Bierdeckel dazu.

Am Tisch umfasste sie beide Bierdeckel am Rand, hielt sie über die Köpfe ihrer Gäste und ließ zuerst Gregors Deckel fallen, der knapp an seiner Nase vorüberflog, so dass er noch den Luftzug spüren konnte. Danach drehte sie ihren Arm wie einen Kran in der Luft und ließ den Deckel von Moritz los. Er berührte ihn leicht an der Nasenspitze, wurde abgefälscht und landete auf der Kante. Dann kullerte er noch ein Stückchen über den Tisch, bevor er seine natürliche Stellung einnahm. Schließlich knallte sie die beiden Biere auf den Tisch, so dass sich einiges von der Flüssigkeit um die Gläser herum ansammelte. Beide Männer gaben sich von dieser Darbietung völlig unbeeindruckt. Gregor nickte nur dankend, ohne Lieselotte dabei anzusehen. Moritz hingegen hob etwas den Kopf, so dass sein Blick bis zu Lieselottes Bauchnabel reichte. Diese stemmte ihre Fäuste in die runden Hüften und stieß scharf heraus: „Was ist denn mit euch los, hat euch der Pfarrer Kirchenverbot gegeben?“

„Ach, lass mal“, brummte Gregor. „Schlechten Tag gehabt.“

„Deswegen braucht ihr mir nicht gleich die Bude zu demolieren“, antwortete Lieselotte verärgert.

„Und außerdem ist es erst elf Uhr, der Tag hat ja noch gar nicht richtig begonnen.“

„Für uns ist er aber schon zu Ende“, murmelte sich Gregor in den Bart.

„Wie meinst du das? Und warum sitzt ihr eigentlich hier, habt ihr nichts zu tun? Und die Beule an deiner Birne, ihr habt euch doch wohl nicht geprügelt?“, sprudelte es aus Lieselotte heraus.

„Das ist es ja, was wir dir gerade sagen wollten“, meinte Moritz lethargisch. „Wir haben keine Arbeit mehr und das ist eine Erinnerung daran“. Er deutete auf Gregors Beule.

Lieselotte bewegte die Lippen mehrere Male tonlos und versuchte vergeblich, Worte zu finden. Langsam sank sie auf die Bank neben Moritz nieder. Moritz rutschte zur Seite, um Lieselottes mächtiger Hüfte Platz zu machen.

„Arbeitslos“, murmelte sie.

„Richtig erfasst“, stellte Gregor fatalistisch fest.

„Und was nun?“ fragte Lieselotte.

„Arbeit suchen natürlich!“

Lieselotte rieb sich bedächtig mit der Hand über die Wange und formte dabei einen spitzen Mund. Man sah ihr geradezu an, wie die Gedanken in ihrem Kopf rotierten. Danach stützte sie sich auf der Tischplatte ab und legte ihren kleinen Finger auf die Lippen. Immer wieder schüttelte sie den Kopf, wobei sie ihren Blick nicht von Gregor löste. Als sie sich nach einer Weile einigermaßen gefasst hatte, meinte sie:

„Macht euch da mal nicht so viel Sorgen. Es gibt doch eine Menge Baustellen hier in der Gegend. Da findet ihr bestimmt gleich eine Arbeit.“

„Na, lass mal“, sagte Moritz. „Morgen gehen wir nach Potsdam zum Amt und dann sehen wir weiter. Ich glaube, Lieselotte hat recht, Gregor. Bei den vielen Baustellen müsste doch was zu machen sein, oder?“

„Mhmm“, grunzte Gregor. „Kann sein, dass du recht hast.“

Beide hatten seit der Wende das unsagbare Glück gehabt, niemals ihre Arbeit zu verlieren. Durch den Bauboom, der seitdem stattgefunden hatte, konnten sie sich ihre Arbeitsplätze zeitweise sogar aussuchen.

Die Zeiten, in denen es wetterbedingt keine Arbeit gegeben hatte, hatten sie in einem nahegelegenen Viehzuchtbetrieb überbrückt. Der Gang zum Amt, den beide nicht besonders mochten, war ihnen dadurch erspart geblieben. Doch Vieh gab es seit dem letzten Sommer nicht mehr in der Gegend. Jetzt blieb ihnen nur noch der Gang zum Amt.

„Prost!“, rief Moritz bei dem Versuch, Hoffnung hinauszuposaunen. Er hielt Gregor sein Glas entgegen und forderte ihn zum Anstoßen auf. Gregor stieß es so kräftig an, dass es knallte.

„Auf die neue Arbeit und dass Lose endlich einmal auf dem Arsch landet“, gab Gregor als Trinkspruch dazu.

Beide tranken die Gläser in einem Zug aus, knallten sie auf den Tisch und wischten sich mit den Handrücken über die schaumbekleckerten Münder.

„Aber eins kann ich dir sagen“, meinte Gregor.

„Wenn ich Lose eines Tages erwische, drücke ich ihm die Hand.“

„Du willst ihm die Hand drücken?“ fragte Moritz verwundert.

„Ja, mitten in die Fresse.“

3

Zuerst klackte die Nummernanzeige an der Wand. Danach folgten zwei unterschiedlich hohe Töne, die die Besucher der Arbeitsagentur dazu animierten, gleichzeitig in die obere Ecke des Warteraumes zu sehen. Reflexartig verglichen alle die Nummer der Anzeige mit der Nummer auf ihrer Wartemarke, die sie schon hundertmal gelesen hatten. Zweihundertachtundsiebzig, Zimmer neun stand auf der Nummernanzeige, daneben blinkte ein rotes Licht. Gregor sah ebenfalls auf seine Wartemarke, die er schon vor Stunden aus einem kleinen roten Automaten gezogen hatte. Zweihundertachtundsiebzig stand auf der Marke, die in seiner Hand schon ein wenig feucht geworden war. Gregor stand auf, klopfte Moritz kameradschaftlich auf die Schulter und betrat den schmalen Flur vor dem Warteraum. Er ging den Gang entlang und klopfte an die Tür des Zimmers Nummer neun. Er öffnete sie, ohne dass eine Aufforderung zum Eintreten erfolgt war.

Drinnen saß ein älterer Herr an einem Schreibtisch, der in irgendwelche Schreibarbeiten vertieft war und von Gregor keinerlei Notiz nahm. Gregor trat ein und schloss hörbar die Tür hinter sich. Erst jetzt sah der Sachbearbeiter zu Gregor auf und bot ihm mit einer Geste an, vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Danach senkte er wieder den Kopf, um weiter an seinen Notizen zu arbeiten. Gregor setzte sich und bemerkte, dass er mit den Knien fast an den Schreibtisch stieß. Vorsichtig stemmte er sie so lange auf den Boden, bis der Stuhl plötzlich nachgab, sich löste und nach hinten rutschte. Dabei verursachte er ein unangenehmes Quietschen. Das ließ den Kopf des Sachbearbeiters erneut hochfahren. Er musterte Gregor mit scharfem Blick über seine Brille hinweg.

„Haben Sie Ihren Antrag dabei?“ fragte er trocken. Herr Michalik stand auf dem Namenschild.

„Ja, Herr Michalik.“

„Richtig gelesen“, bemerkte Herr Michalik und klopfte mit dem Kugelschreiber auf sein Namensschild, das dabei ein wenig verrutschte. „Michalik, ich bin Ihr persönlicher Arbeitsvermittler“, teilte er Gregor mit weit hochgezogenen Augenbrauen mit.

Gregor lächelte Herrn Michalik mit einem schiefen, etwas verlegenen Lächeln an. Dieser schob mit dem Zeigefinger das Namensschild wieder in seine Position. Bei der Bemerkung Arbeitsvermittler wäre Gregor beinahe warm ums Herz geworden. Klang es doch besser als Arbeitslosenberater oder Arbeitslosengeldvermittler oder sonst irgendein Wort, das einem nur eine Gänsehaut über den Rücken gejagt hätte. Vielleicht bin ich hier doch richtig, dachte Gregor, und die hoffnungslosen Fälle werden woanders behandelt. Er lächelte innerlich.

„Kann ich jetzt Ihren Antrag haben?“, fragte Herr Michalik ohne Melodie in der Stimme.

Gregor streckte ihm den Antrag entgegen und Herr Michalik zog ihn Gregor bedächtig aus der Hand. Er legte ihn auf dem Schreibtisch ab, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen und fuhr fort: „Und die Wartemarke hätte ich dann auch noch gerne.“

Gregor holte die zerknitterte Marke aus seiner Hosentasche, stampfte sie mit der Faust glatt und legte sie vor Michalik auf seinen Antrag.

„Aha“, stieß Herr Michalik hervor, als er die Marke begutachtete. „Zweihundertachtundsiebzig, stimmt.“ „Da muss man aufpassen, was ich da schon alles erlebt habe.“

Er fasste nach der Marke, positionierte sie exakt an der linken oberen Ecke von Gregors Antrag und tackerte sie dort fest. Sorgfältig legte er das Papier zur Seite und widmete sich erneut seinen Notizen. Bleistifte, Radiergummi, Aktenordner und eine halbvolle Kaffeetasse, auf deren Inhalt ein seltsamer Schimmer lag, bildeten auf dem Schreibtisch ein geometrisches Muster. Auf der rechten Seite befand sich ein Bildschirm, davor eine Tastatur. Gregor beugte sich neugierig nach vorne und versuchte zu lesen, was Herr Michalik sich notiert hatte. Michalik zuckte hoch. Er nahm das Blatt, ließ es in einem Aktenordner verschwinden und legte ihn akkurat zur Seite.

„So, nun“, sagte Michalik und widmete sich endlich Gregors Antrag.

Er fuhr die einzelnen Zeilen mit dem Zeigefinger der linken Hand ab und machte sich mit der anderen Hand auf einem separaten Blatt in einer Art Wellenschrift Notizen. Dabei murmelte er leise wie ein tibetischer Mönch, der in sein Gebet vertieft ist, vor sich hin. Unten angekommen, sah er kurz zu Gregor auf und fragte: „Wallz, richtig? Gregor Wallz, ohne t?“

„Ja“, bestätigte Gregor knapp.

„Sieht ein bisschen aus, als wäre das ein t“, meinte Michalik.

„Ist aber ein Doppel-L“, antwortete Gregor.

„Ungewöhnlich“, meinte Herr Michalik. „Sehr ungewöhnlich.“ Er drehte sich zu seinem Computer und tippte die Angaben in das System. Von Zeit zu Zeit legte er eine Pause ein, überflog den Bogen und murmelte wieder undeutlich vor sich hin. Gregor wurde langsam nervös.

Michalik drückte in aller Ruhe die Enter-Taste und griff nach einem Stempel. Sorgfältig drückte er ihn in das Stempelkissen und ebenso sorgfältig machte er einen Abdruck auf Gregors Bogen. Er legte den Bogen in einem kleinen gelben Plastikkörbchen ab, an dessen Kanten sich unter dem Einfluss der Zeit etwas Schmutz angesammelt hatte. Nun wandte er sich Gregor zu, stützte dabei die Ellbogen auf der Tischplatte ab und faltete die Hände vor dem Mund wie zum Gebet. Gregor war mittlerweile aufs Äußerste angespannt. Dieser Michalik nervte ihn.

„Fünfundfünfzig“, sagte Michalik, löste die Hände wieder und legte den Stempel zurück auf seinen Platz.

„Bald sechsundfünfzig“, meinte Gregor, dem diese spitze Andeutung zusetzte.

„Ich möchte Ihnen nicht die Hoffnung nehmen, Herr Wallz“, sagte Michalik, nachdem er tief Luft geholt hatte. „Aber das ist ein sehr gefährliches Alter.“ „Wieso?“ fragte Gregor. „Bekommt man in diesem Alter ansteckende Krankheiten?“

Herr Michalik schmunzelte künstlich, bevor er in seiner Rede fortfuhr.

„Es wird nicht so ganz einfach sein, Sie zu vermitteln, meine ich damit.“

„Wieso, werden denn keine Baggerführer gesucht?“

„Doch, sicher“, bestätigte Michalik. „Aber eben deutlich jüngere, verstehen Sie. Der Markt hat sich verändert und es gibt wesentlich günstigere Konkurrenz aus den osteuropäischen Ländern, wenn Sie verstehen, was ich meine. Das Beste wird sein, Sie gehen im Erdgeschoss an den Computer. Vielleicht finden Sie dort das eine oder andere Angebot. Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich dort vertrauensvoll an meine Kollegen.“

„Ja, aber ... was habe ich jetzt hier bei Ihnen gemacht?“ fragte Gregor.

„Ich verwalte Sie. Es ist leider so, Herr Wallz. Was glauben Sie, wie viele arbeitslose Baggerführer ich in der Kartei habe, die in Ihrem Alter sind“, antwortete Michalik und löschte damit das zu Anfang aufgeflammte kleine Flämmchen der Hoffnung aus.

Gregor ging zum Fenster des Warteraumes und öffnete den Flügel bis zum Anschlag. Moritz ist wohl noch in einer dieser Folterkammern, dachte er. Er wollte hier im Warteraum auf ihn warten, zündete sich eine Zigarette an, tat einen tiefen Zug und blies den Rauch zum Fenster hinaus.

„Kippe aus!“, brüllte eine Stimme hinter ihm. Gregor schreckte herum. Im Türrahmen stand ein Mann in blauem Arbeitskittel mit hellbraunem Cordhut und offenbar entschlossen, sein Revier zu verteidigen.

„Muss ich es noch einmal sagen?“, brüllte er mit hochrotem Kopf.

Gregor sah ein, dass man mit jemandem, der solche Hüte trägt, nicht diskutieren kann. Er warf die Zigarette aus dem Fenster und sah ihr nach, wie sie zu Boden fiel. Sie landete vor Moritz` Füßen, der im Innenhof nervös auf und ab ging. Moritz sah hoch und grüßte ihn mit einem schwachen Winken. Gregor winkte ebenso schwach zurück. Und ohne ein Wort zu wechseln, hatten sie sich beide soeben ihre Geschichte erzählt.

4

Gregor stieg aus dem Bus und stellte seine Tasche auf dem Boden ab. Langsam zog er den Hut vom Kopf, wischte sich den Schweiß von der Stirn und verrieb ihn gleichmäßig auf seinem Hemd. Moritz stupste ihn an und deutete mit dem Daumen Richtung Lieselotte. Gregor schüttelt daraufhin den Kopf und sagte: „Nein, Moritz. Heute ist mir nicht nach Trubel. Ich gehe nach Hause. Wenn du willst, kannst du ja mitkommen.“

Moritz zog die Schultern hoch und nickte bereitwillig. Er wohnte zur Untermiete bei der Witwe Sanders, die ihm manchmal furchtbar auf die Nerven ging. Wenn die erfahren würde, dass er arbeitslos ist, würde sie ihm die Ohren volljammern. Überhaupt lamentierte sie den lieben langen Tag über Gott und die Welt. Daher zog er es von Zeit zu Zeit vor, sich bei Gregor einzuquartieren, um sich ein wenig von ihr zu erholen. Ganz und gar zu Gregor ziehen würde er jedoch nicht. Dagegen sprachen Gregors Sinn für Ordnung und seine zeitweilige flatterhafte Art. Gregor war der Erfinder des unorganisierten Chaos. Zudem konnte er manchmal wie eine Turbine aufdrehen, so dass Moritz als Drosselklappe einschreiten musste, bevor Gregor komplett abhob. Von solchen Exzessen erholte er sich dann wiederum bei der Witwe Sanders.

Gregor bewohnte einen alten Bauernhof einige hundert Meter hinter dem Ortsschild von Birkmöser. Es war ein alter Familienbesitz, der sich schon seit Urzeiten in den Händen der Familie Wallz befand. Seit dem Tod seines Vaters vor fast zwanzig Jahren war der Hof jedoch nicht mehr bewirtschaftet worden. Auch war die gesamte Substanz des Hofes nicht mehr das, was sie einmal gewesen war, da Gregor es an der nötigen Pflege mangeln ließ. Der Hof bestand im Wesentlichen aus einem Wohnhaus mit vier Räumen und einer Außentoilette hinter dem Haus. Gegenüber dem Wohnhaus stand eine noch recht passable Scheune, in der Gregor alles lagerte, wofür er weder Platz noch Verwendung hatte. Daran grenzte eine Scheune an, die von der Zeit und vielen Stürmen sehr gezeichnet war. Sie war um viele Jahrzehnte älter als die andere Scheune. Ein Großteil des Daches war abgerissen und die Außenwand zur Wetterseite hatte sich stark nach innen geneigt. Gregor betrat die Scheune schon lange nicht mehr, da er jeden Tag mit ihrem Einsturz rechnete. Wasser bezog Gregor aus einem Brunnen vor dem Wohnhaus. Luxus suchte man vergebens.

Das Wohnhaus selbst zeichnete sich dadurch aus, das sämtliche Möbelepochen des zwanzigsten Jahrhunderts darin vereint waren. Alles, was Gregor mit der Zeit aufgespürt und als brauchbar erachtet hatte, hatte dort einen Platz gefunden. Der Geruch, der sich durch das ganze Haus zog, erzählte die Geschichte von der Erfindung des möblierten Wohnens bis zum heutigen Tag. Ein orangefarbenes Telefon und ein Fernsehgerät mit übergroßer Mattscheibe hoben sich von dem seltsam anmutenden Ambiente ab. Die das Anwesen umgebenden Wiesen waren zur Freude der Natur sich selbst überlassen.

Gregor hackte Holz und warf die Scheite zur Feuerstelle, wo Moritz sie sorgfältig übereinanderschichtete. Nebenher sammelte er etwas Reisig, um das Lagerfeuer anzünden zu können. Beide arbeiteten sich wortlos zu. Während Moritz aus dem Haus einige Dosen Bier holte, um sie in einem wassergefüllten Eimer zu kühlen, bereitete Gregor in der Küche das Fleisch zu. Als die Dämmerung hereinbrach, loderte das Feuer und die Steaks über dem Schwenkgrill brutzelten appetitlich vor sich hin. Als Aperitif genügte den Männern ein kühles Bier aus der Dose.

„Prost auf diesen Scheißtag“, sagte Gregor und hielt Moritz seine Dose zum Anstoßen hin.

„Scheißtag, kannst du laut singen“, antwortete der und stieß die untere Kante seiner Dose an Gregors Dose an.

„Hast du dir schon ein paar Gedanken gemacht, was jetzt werden soll?“, fragte Gregor, nachdem er seine Dose abgesetzt hatte.

„Puh, keine Ahnung. Vielleicht gehe ich noch einmal zu diesem dämlichen Computer. Kann ja sein, dass ein Wunder geschieht.“

„Ein Wunder“, antwortete Gregor spöttisch. „Ich glaube, das einzige Wunder wäre eine Verjüngungskur mit Sofortwirkung.“

„Ich weiß nicht“, sagte Moritz entmutigt. „Keine Ahnung, was jetzt werden soll.“

„Lass uns erst mal essen, dann sehen wir weiter. Vielleicht fällt uns noch was ein“, schlug Gregor vor. Moritz stimmte Gregors Vorschlag hungrig zu.

Nach dem Essen saß Moritz im Campingstuhl und starrte wortlos ins Feuer. Gelegentlich nahm er einen Schluck aus seiner Bierdose oder legte ein Scheit Holz nach. Gregor lag ebenso stumm gegenüber auf einer Isomatte, die seine massige Erscheinung gerade so fasste. Die Hände hatte er hinter dem Kopf verschränkt und seine ganze Aufmerksamkeit galt der sternklaren Nacht. Beiden war bisher noch nichts eingefallen, was sie aus ihrer Situation hätte retten können. Gregor begaffte stur den sommerlichen Sternenhimmel und die Gedanken von Moritz waren überall, nur nicht bei möglichen Lösungen ihres Problems.

Außer ein paar Schleierwolken war der Himmel klar. Aus irgendeiner Richtung näherte sich in großer Höhe ein blinkendes Flugzeug. In der abendlichen Stille konnte man deutlich das Pfeifen der Turbinen hören. Das Flugzeug verschwand hinter einer Schleierwolke und tauchte nach wenigen Sekunden wieder auf. Gregor kniff sich das linke Auge zu, visierte es mit dem Zeigefinger der rechten Hand an und folgte damit seiner Flugbahn. Er pfiff dabei durch die Zähne und ahmte das Pfeifen der Turbinen nach.

„Abhauen sollte man“, murmelte er, als er von dem Flugzeug abgelassen hatte. „Einfach abhauen und den ganzen Mist hinter sich lassen.“

Moritz blickte in seinem Campingstuhl wie aus dem Schlaf gerissen zu Gregor.

„Was hast du gesagt?“

„Abhauen“, wiederholte Gregor lauter.

„Blödsinn“, murmelte Moritz und lehnte sich wieder zurück.

Gregor schoss ruckartig von seiner Isomatte auf, setzte sich in den Schneidersitz und schlang die Arme, so gut es bei seiner Fülle ging, um die Beine. Er sah Moritz eindringlich und ernst ins Gesicht.

„Ja“, stieß er hervor. „Ist doch eine Möglichkeit, oder?“

„Du bist ja verrückt. In welcher Region deiner Birne ist denn diese Idee entstanden?“

„Ach“, stöhnte Gregor und drehte den Kopf zur Seite.

„Und wohin willst du denn abhauen?“

„Muss ich das gleich wissen?“, fragte Gregor gereizt.

Moritz lächelte milde. Er kannte Gregor und seine Reiselust nur zu gut. Gregor war ein ebenso bodenständiger Typ wie er, der Birkmöser nur ungern den Rücken kehrte, um irgendwohin zu reisen. Außer einem Urlaub mit der FDJ irgendwann in den siebziger Jahren an der Ostsee war Gregor nie verreist. Moritz nahm daher seinen spontanen Anfall nicht ernst. Aber bei Gregor musste dieses Flugzeug wohl ein Gen geweckt haben, das seit seiner Geburt in ihm geschlummert hatte. Es war ihm anscheinend verdammt ernst damit und es ärgerte ihn, dass Moritz ihn nicht für voll nahm. Daher versuchte er ihn erneut von der Ernsthaftigkeit seiner Absicht zu überzeugen: „Bertram hat es auch geschafft.“

„Bertram? Wer zum Teufel ist Bertram?“, fragte Moritz verwundert.

„Bertram ist mein Cousin.“

„Ich wusste gar nicht, dass du einen Cousin hast. Wo wohnt der denn?“

„Der ist irgendwo in Argentinien und dem geht es dort gut ... habe ich jedenfalls gehört“, meinte Gregor.

„Ich verstehe überhaupt nichts mehr“, sagte Moritz lachend. „Du hast einen Cousin und erzählst mir nichts davon?“

„Ich muss dir ja nicht gleich alles erzählen, oder?“ erwiderte Gregor borstig.

„Ist ja schon gut. Dann hast du jetzt Gelegenheit dazu.“

Gregor holte tief Luft und festigte seine Sitzposition auf der Isomatte. Er presste die Lippen zusammen und kratzte sich verlegen am Kopf. Moritz rutschte auf seinem Stuhl ein Stückchen nach vorne, um ja kein Wort zu verpassen. Er drehte dabei Gregor sein Ohr zu und fixierte ihn aus dem Augenwinkel.

„Bertram Wallz, mein Cousin“, begann Gregor wie bei einem Vortrag, „ist vor dem Mauerbau abgehauen. Dann haben wir ein paar Jahre lang nichts mehr von ihm gehört, bis eines Tages ein Brief von ihm aus Argentinien kam. Er schrieb, dass es ihm dort tausend Mal besser ginge als hier. Ich habe den Brief noch irgendwo liegen. Wenn du willst, suche ich ihn für dich.“

„Nein, lass mal“, sagte Moritz im Hinblick auf Gregors Ordnungssinn. „Wann war denn das?“

„Pfff“, pfiff Gregor und druckste herum. „Irgendwann Anfang der siebziger Jahre, glaube ich.“

Moritz sah ihn amüsiert an und ließ sich lachend in seinen Campingstuhl fallen. Er steigerte sein Lachen und fing schließlich an, sich auf die Schenkel zu klopfen. Gregor sah Moritz mit hochrotem Kopf zu. Am liebsten hätte er ihm eine gescheuert. Es dauerte ein, zwei Minuten, bis Moritz sich beruhigte. Er nahm einen Schluck aus seiner Dose, der ihm aber nicht bekam. Er verschluckte sich und musste derart heftig husten, dass ihm das Bier aus allen Gesichtsöffnungen floss. Das ist die Rache des Herrn, dachte Gregor und freute sich innerlich. Als Moritz sich von seinem Hustenanfall erholt hatte, nahm er das Gespräch mit Gregor wieder auf.

„Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Überleg doch mal. Wie viele Jahre in der Zwischenzeit vergangen sind. Da kann doch alles Mögliche passiert sein. Oder hast du in letzter Zeit etwas von deinem Cousin gehört?“

„Nein“, antwortete Gregor barsch, der immer noch verärgert war.

„Na, siehst du.“

„Ist das so wichtig, dass du den aktuellen Stand der Dinge kennst? Es kann doch sein, dass er reich geworden ist und viel zu tun hat. So viel, dass er nicht mehr an uns denkt. Vielleicht hatte er auch Angst vor der Stasi und hat deswegen nie mehr etwas von sich hören lassen. Woher soll ich denn das wissen. Aber ich glaube, es geht ihm immer noch gut. Schließlich wendet man sich doch an seine Familie, wenn es einem dreckig geht, oder?“

„Ja sicher, da ist schon was dran“, antwortete Moritz, der sich diesem Argument nicht verschließen konnte. „Aber deswegen gleich seinem Beispiel folgen und abhauen? Soweit mir bekannt ist, wird derzeit keine Mauer gebaut. Und ich finde, wir haben hier noch nicht alle Möglichkeiten ausgelotet.“

„Welche Möglichkeiten denn? Die Möglichkeit etwa, dass wir jeden Tag ein Stück älter werden und unsere Chancen auf einen Job immer mehr schwinden? Die Mauer steht wieder, verstehst du, sie sieht nur anders aus und fühlt sich anders an.“

„So können wir doch nicht denken, Gregor.“

„Aber so ist es doch. Du hast es doch selbst gesehen. Wir sind zu alt für den Arbeitsmarkt.“

„Ich fühle mich noch nicht so alt, wie die denken.“

„Ich auch nicht, aber das hilft uns nicht weiter.“

„Ach, ich habe keine Lust mehr, darüber zu reden“, sagte Moritz genervt und wendete sich von Gregor ab. Peinliche Stille kehrte am Lagerfeuer ein. Das Knistern und Knacken der Holzscheite klang in der Stille der Nacht doppelt so laut. Aus dem nahegelegenen Wald rief ein Käuzchen. Gregor drehte seinen Kopf zu dem Ruf hin. Er griff nach einem Holzscheit, warf ihn mit einer kurzen Bewegung ins Feuer und sah den aufsteigenden Funken nach.

„Wir können das Abhauen ja erst einmal üben“, schlug Gregor halblaut vor, ohne Moritz dabei anzusehen.

„Üben, wie kann man denn so etwas üben?“ fragte Moritz.

„Wir machen Urlaub“, antwortete Gregor.

„Ich weiß nicht, was heute Abend mit dir los ist. So viel hast du doch gar nicht getrunken. Eine tolle Idee jagt die andere.“

„Es sind keine Ideen. Es sind Wünsche“, versicherte ihm Gregor.

„Ich glaube, diese Wünsche scheitern an einem Problem, das uns beiden bekannt ist.“

„An was denkst du da?“

„Ich nehme an, wir beide haben den gleichen Kontostand“, stellte Moritz fest. „Knapp am Gefrierpunkt.“

„Ach“, stöhnte Gregor, „woran du die Dinge immer scheitern lassen möchtest.“

„Man muss der Realität eben ins Auge sehen. Reisen ist bei unserem Vermögen nicht drin, oder willst du vielleicht auf deinem alten Diamant-Fahrrad die Welt erkunden?“

„Man kann sich auch anders durch die Welt bewegen“, antwortete Gregor.

„Na, da bin ich aber mal gespannt“, meinte Moritz neugierig. „Jetzt musst du mir nur noch sagen, dass du per Anhalter reisen willst.“

„Dann werde ich diesen Abend mit einer kleinen Sensation krönen“, parierte Gregor mit dem Lächeln einer Chimäre. „Wenn du mir vielleicht für einen Moment deine Aufmerksamkeit widmen würdest.“ Er machte dabei eine tiefe majestätische Verbeugung vor Moritz und schwang eine einladende Geste zu der intakten Scheune.

„Bitte“, forderte er ihn überhöflich auf, ihm dorthin zu folgen.

Moritz reckte sich langsam in seinem Stuhl hoch und sah Gregor nach, der geradewegs auf die Scheune zuging. Er fragte sich, was jetzt kommen würde. Doch egal was es war, sein Nein zu dieser Idee stand jetzt schon felsenfest.

Gregor packte den rechten Flügel des Scheunentores mit beiden Händen und zog daran. Als er ihn etwa zur Hälfte geöffnet hatte, gab er ihm einen