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Wenn zwischen Liebe, Freundschaft und vergessenen Lügen kein Geheimnis verborgen bleibt …
Ein berührendes Familiengeheimnis zwischen der stürmischen Nordseeküste und der trügerisch-idyllischen Eifel
1962: Die schüchterne Ernestine sehnt sich nach der großen Liebe, doch die Verantwortung für die Antiquitätenhandlung ihrer Familie lastet schwer auf ihr. Ihre engste Vertraute ist Adelheid, die junge, verwitwete Köchin der Familie. Doch dann trifft Ernestine auf den attraktiven Kunsthändler Kuno, der die einsame Frau als Einziger versteht und sie so akzeptiert, wie sie ist – und ausgerechnet Adelheid gönnt Ernestine ihr Glück nicht. Kann Ernestine ihrem Herzen folgen oder lauern Lügner unter den Personen, denen sie am meisten vertraut?
Gegenwart: Helmke Tegeler ist nicht nur Erbin einer renommierten Antiquitätenhandlung, sondern kümmert sich auch um ihre betagte Großtante Ernestine. Als diese nach einem besonderen Rezept aus ihrer Jugend verlangt, stößt Helmke auf die Spuren eines verschwundenen, antiken Kochbuchs der Familie. Ihre Suche führt Helmke in die Eifel – und zu dem charismatischen Koch Leopold. Doch die Entdeckung des Buches enthüllt Geheimnisse, die besser im Verborgenen geblieben wären …
Erste Leser:innenstimmen
„Ein faszinierender Zeitebenen-Roman über Freundschaft, Geheimnisse und die Wahrheiten, die in der Vergangenheit verborgen liegen.“
„Eine spannendes Familiengeheimnis voller Romantik, Drama und Familiengeschichte.“
„Das Geheimnis um das mysteriöse Kochbuch und das Familienrezept haben mich sofort in ihren Bann gezogen.“
„Die wundervolle Atmosphäre der Nordseeküste und die zauberhafte Eifel haben mich in diesen Familienroman gezogen.“
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Seitenzahl: 426
Veröffentlichungsjahr: 2025
1962: Die schüchterne Ernestine sehnt sich nach der großen Liebe, doch die Verantwortung für die Antiquitätenhandlung ihrer Familie lastet schwer auf ihr. Ihre engste Vertraute ist Adelheid, die junge, verwitwete Köchin der Familie. Doch dann trifft Ernestine auf den attraktiven Kunsthändler Kuno, der die einsame Frau als Einziger versteht und sie so akzeptiert, wie sie ist – und ausgerechnet Adelheid gönnt Ernestine ihr Glück nicht. Kann Ernestine ihrem Herzen folgen oder lauern Lügner unter den Personen, denen sie am meisten vertraut?
Gegenwart: Helmke Tegeler ist nicht nur Erbin einer renommierten Antiquitätenhandlung, sondern kümmert sich auch um ihre betagte Großtante Ernestine. Als diese nach einem besonderen Rezept aus ihrer Jugend verlangt, stößt Helmke auf die Spuren eines verschwundenen, antiken Kochbuchs der Familie. Ihre Suche führt Helmke in die Eifel – und zu dem charismatischen Koch Leopold. Doch die Entdeckung des Buches enthüllt Geheimnisse, die besser im Verborgenen geblieben wären …
Erstausgabe Januar 2025
Copyright © 2025 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98998-468-4 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98998-507-0
Covergestaltung: ArtC.ore-Design / Wildly & Slow Photography unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Georgios Tsichlis, © thatkasem14, © JoeLogan, © Sergey Clocikov, © Pixel-Shot, © DarkBird, © Nataly Studio, © Finley..y © MarBom Lektorat: Sandra Florean
E-Book-Version 13.03.2025, 06:30:52.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Für Konnie, auch wenn dein Name nicht Konstanze ist ;)
Juni 1961
Ernestine nahm das schwere Buch aus dem Regal. Der rötliche Ledereinband, der beinahe die gleiche Farbe wie ihr Haar hatte, duftete ganz leicht nach ihrem Lieblingsgericht.
Grüner Knurrhahn, das Geheimrezept ihrer Familie … Der Dunst, der beim Kochen entstand, war hundertfach in das weiche, von vielen Berührungen verfärbte Material gesunken und rief bei ihr augenblicklich einen unstillbaren Appetit hervor.
Unstillbar, weil sie selbst nicht kochen konnte. Eigentlich eine Schande für eine Frau Anfang zwanzig, doch seit stetig deutlicher wurde, dass ihr älterer Bruder Emil es gesundheitlich nicht schaffen würde, das Antiquariat zu führen, bezogen ihre Eltern sie immer mehr in die Geschäfte mit ein.
Sie seufzte und strich über den Buchdeckel, auf dem sie jeden Fettspritzer einzeln kannte. Dieser große hier war beim letzten Mal hinzugekommen, als Adelheid, ihre neue Köchin, den schmackhaften Eintopf zubereitet hatte. Sie hatte ihre Sache mehr als gut gemacht und sich geradewegs in Ernestines Herz gekocht.
Ein wenig neidisch war sie auf diese Kunst. Viel lieber würde sie selbst die Hauswirtschaftsschule besuchen, so wie es ihre Freundinnen von früher getan hatten. Sie wollte kochen lernen, nähen, stricken und alles, was man brauchte, um einen Haushalt zu führen. Wie sollte sie jemals einen Mann finden, wenn sie das nicht konnte?
»Ernestine! Nun lass doch dieses Buch und kümmere dich um die Geschäftsbücher! Deinem Bruder geht es nicht gut, das weißt du doch.«
Ernestine fuhr herum und hätte beinahe das alte Kochbuch fallengelassen.
Ihre Mutter hatte die hauseigene Bibliothek betreten und blickte sie streng an. Wie fast immer stemmte sie dabei die Hände in die Hüften und zog die Brauen derart zusammen, dass zwischen ihnen, direkt über der Nasenwurzel, eine steile Falte erschien. Ehrlich gesagt hatte sich diese Falte längst in die Haut gegraben und glättete sich auch nicht, wenn Mutter einmal entspannt aussah. Wohlgemerkt kam das auch eher selten vor.
»Natürlich, Mutter«, sagte sie und räusperte sich. Die Buchhaltung war ihr ein Graus.
Behutsam legte Ernestine das Buch zurück ins Regal. Es würde ihr nicht gefallen, wenn damit etwas geschehen würde. Sie war vielleicht die einzige, der dieses alte Familienerbstück etwas bedeutete, doch da konnte sie nicht aus ihrer Haut: Einem guten Essen konnte sie einfach nicht widerstehen. Und dieses Buch steckte voller guter Gerichte.
Ihre Mutter wartete, bis sie an ihr vorbei in den Flur getreten war, und schloss geräuschvoll die Tür hinter ihnen. Ernestine spürte ihren missbilligenden Blick auf sich ruhen.
»Heute Abend solltest du wirklich das Essen ausfallen lassen, Ernestine«, sagte sie scharf.
Ernestine konnte es nicht verhindern, dass sie zusammenzuckte. Obwohl sich ihr Magen bei dem Gedanken, nichts mehr zu bekommen, jetzt schon schmerzhaft verzog, nickte sie. »Natürlich, Mutter.«
Wenn sie ihr jetzt in die Speckröllchen kniff, die sich über ihrem Rocksaum wölbten, könnte sie für nichts garantieren.
»Und wie du aussiehst. Deine Haare kräuseln sich schon wieder. Kind, du hast das störrische Haar deiner Großmutter, da musst du …«
Ernestine strich sich über ihre hochgesteckten rotbraunen Locken, die sie in Wahrheit sehr schön fand. »Sicher hast du recht, Mutter.«
So schnell, wie es gerade noch damenhaft war, ließ sie ihre Mutter stehen, spurtete den Flur entlang und öffnete die schwere Tür, die in die Geschäftsräume des Antiquitätengeschäfts führte, das ihre Familie in mittlerweile dritter Generation betrieb.
Sofort umfing sie die Geschäftigkeit Bremens, die durch die einladend geöffnete Glastür quoll. Absätze klickten auf dem Kopfsteinpflaster in der Jakobistraße. Einige Jungs in knielangen Hosen boten ihre Dienste beim Schuhputzen an, ein weiterer verkaufte die Tageszeitung, die er lautstark anpries.
»Extrablatt! Moorleiche im ewigen Meer bei Aurich entdeckt! Lesen Sie bei uns alles über den grausigen Fund!«
Ernestine musste lächeln. Sie kannte die Geschichte der berühmten Moorleiche von Bernuthsfeld, die vor über fünfzig Jahren im Moor gefunden wurde. Sie selbst hatte sie sich als Kind einmal ansehen dürfen, wenn auch nur heimlich. Ihr Bruder Emil hatte sie mitgenommen. Auch wenn es schon fünfzehn Jahre her war, erinnerte sie sich immer noch an die Aufregung, die sie den ganzen Tag über nicht losgelassen hatte.
Seitdem machte das Moor häufig Schlagzeilen, in den meisten Fällen entpuppte sich die vermeintliche Leiche jedoch als entlaufenes Schaf, das den Weg aus dem Moor nicht finden konnte.
Dennoch juckte es sie in den Fingern, sich eine Ausgabe der Zeitung zu kaufen. Immerhin besaß ihre Familie ein Sommerhaus in der Gegend, das sie sehr liebte. Sie konnte es jedes Jahr gar nicht erwarten, wenn sie dorthin aufbrachen.
Sie kramte schon in der Tasche ihres biederen Rockes nach Kleingeld, als ihr Vater von seinem Platz hinter dem Tresen aufstand und die Tür ins Schloss drückte.
»So ein Lärm, da kann ja kein Mensch arbeiten.« Mit seinen lustigen Fältchen um die Augen sah er immer freundlich aus, wie er sie über seine Brillengläser hinweg anblickte. »Stimmt es nicht, Mädchen? Gut, dass du da bist. Dem Emil geht’s nicht gut. Es wird sicher besser, wenn du ihn ablöst und er sich ein wenig hinlegen kann.«
Ernestine nickte und lächelte ihren Vater an. »Natürlich, Vater.«
Wieder einmal fiel ihr auf, wie sehr sich ihre Eltern im Typ unterschieden. Sie hatten die Fältchen an völlig unterschiedlichen Stellen, und, auch wenn sie beide das gleiche von Ernestine erwarteten, schaffte Vater es, sie dazu zu bewegen, es gern zu tun.
Sie klopfte an die Tür zum Hinterzimmer. Ein leises Husten erklang, dann folgte die Stimme ihres Bruders. »Herein.«
Sie öffnete die Tür und schob sich durch den Spalt. »Ich übernehme die restliche Buchhaltung, Emil. Leg du dich doch ein wenig hin. Du siehst müde aus.«
Müde war stark untertrieben. Sein hageres Gesicht war noch eingefallener als sonst. Sie hatte ihn über ein Stockwerk hinweg die ganze Nacht husten hören, immer im Wechsel mit dem Geschrei des kleinen Konrads, der noch bei Emil und seiner Frau Merle im Zimmer schlief – oder eben nicht schlief, wenn sein Vater dauernd Geräusche machte.
Ausnahmsweise protestierte Emil nicht. Das zeigte, wie schlecht es ihm an diesem Tag wirklich ging. Das und der Berg an handschriftlichen Rechnungen, die noch ins Rechnungsbuch eingetragen werden mussten. Schrecklich viele Rechnungen. Ihr wurde ganz flau bei dem Anblick.
Weit war er nicht gekommen.
»Vielen Dank, Ernie. Ich weiß auch nicht, was heute mit mir los ist. Irgendwie habe ich schlecht geschlafen.« Er erhob sich mit einem Ächzen, das einem viel älteren Mann deutlich besser gestanden hätte.
Wie immer versuchte er, seine Krankheit herunterzuspielen. Dabei konnte sogar Ernestine an den sorgenvollen Mienen der Ärzte ablesen, wie es um ihn stand.
Traurig blickte sie ihm nach, als er viel zu gebeugt für sein Alter durch die Tür verschwand. Noch Minuten später vernahm sie sein unterdrücktes Husten. Es hallte durch das Treppenhaus, während er sich hinauf in die kleine Wohnung schleppte, die er mit seiner Familie bewohnte.
Ergeben setzte sie sich auf seinen Platz. Er war noch warm, und ein leichter Hauch seines Rasierwassers lag in der Luft.
Das und der würzige Geruch einer Portion Labskaus. Sie entdeckte die Leckerei hinter dem alten Abakus, den niemand mehr benutzte. Wie es aussah, hatte der Appetit Emil sehr früh verlassen. Es fehlten höchstens zwei oder drei Löffel der roten Masse.
Ernestine konnte es nicht verhindern, sich darüber zu freuen. Sofort mischte sich Scham darunter. Natürlich wünschte sie sich, dass es ihrem Bruder bald wieder besser ginge.
Labskaus verkommen zu lassen, war auch keine Lösung, vor allem, wenn Adelheid es zubereitet hatte.
Mit einem genüsslichen Seufzen schob sich Ernestine den ersten Löffel zwischen die Lippen. Diese neue Köchin war ein wahrer Segen für dieses Haus.
Gegenwart
Was für ein Segen, dass sie es bald geschafft hatte! Helmke schleppte einen weiteren Karton die dunkle Stiege hinauf, die in den ersten Stock führte.
Von oben vernahm sie ein leises Rumpeln. Ihre Tochter Konstanze räumte offenbar mit viel Elan ihre Sachen ein. Als sie das große Zimmer mit dem altmodischen Himmelbett erblickt hatte, das nun ganz allein ihr gehören sollte, hatte sie vor Freude gequietscht. Vor allem, weil es direkt mit einem weiteren Raum verbunden war, den sie zu ihrem Arbeitszimmer auserkoren hatte.
Der Gedanke daran entlockte Helmke ein Lächeln. Sie sollte froh sein, dass Konstanze nicht dagegen rebellierte, aus ihrem Freundeskreis, ihrer Schule und ihrem Zuhause in Oldenburg gerissen zu werden, um in einem muffigen, dunklen Herrenhaus in einem ostfriesischen Kaff zu leben.
Ja, sie war froh darüber, überhaupt keine Frage. In der großen Kinderlotterie hatte sie die beste Tochter der Welt erwischt; fantasievoll, genügsam, abenteuerlustig und unglaublich neugierig.
Helmke hatte nur ihr Los ein wenig zu früh gezogen – jedenfalls wenn man den Großteil ihrer Familie fragte. Da half es auch nichts, dass sie ihren Abschluss an der Wirtschaftsschule mit Auszeichnung abgelegt, sich eine Garnitur eleganter Hosenanzüge gekauft und das Familiengeschäft im Alleingang aus der Misere gezogen hatte, und all das in Rekordzeit.
Sie sah an sich hinab. Besagter Hosenanzug in gedecktem Dunkelblau war an diversen Stellen eingestaubt. Am Knie könnte sogar ein schmaler Riss entstanden sein.
Sie biss sich auf die Lippe. Das war ihre Lieblingshose, jedenfalls von den seriösen. Hoffentlich ließ sie sich stopfen.
»Mama!«, rief Konstanze von oben. »Weißt du, wo mein Kuschelkissen ist?«
Helmkes Blick fiel auf den türkisfarbenen Zipfel, der aus ihrem Karton hervorlugte. »Ich bringe es dir sofort, Maus!«
Schnell nahm sie die letzten Stufen. Die Höhen waren teilweise so unregelmäßig, dass sie ins Straucheln geriet.
Kein Wunder, dass Großtante Ernie lieber im Erdgeschoss ihr Lager aufgeschlagen hatte und ihnen den kompletten ersten Stock überließ. Immerhin war sie inzwischen fünfundachtzig Jahre alt und nicht mehr gut zu Fuß.
Im nächsten Moment streckte Konstanze ihren blonden Wuschelkopf durch die Tür ihres neuen Zimmers.
»Ich glaube, ich werde hier große Geheimnisse entdecken, Mama«, sagte sie strahlend und strich sich eine Locke aus der Stirn.
Instinktiv hatte Helmke das Bedürfnis, es ihr nachzutun. Sie sahen sich mit ihren blonden Locken nicht nur sehr ähnlich, sondern hatten auch die gleichen Angewohnheiten.
Sie spürte, wie sich ihre Mundwinkel stolz hoben. »Da bin ich mir sicher, Maus.«
»Wusstest du, dass es hier ein Tau gibt? Das führt einfach in die Decke! Was das wohl bedeutet?«
»Hm, zeig mal.« Sie trug den Karton an ihrer Tochter vorbei ins große Schlafzimmer.
»Hier!« Konstanze zeigte auf ein dickes rotes Seil mit einer Quaste am Ende und hüpfte dabei auf und ab. Jedes Mal, wenn sie oben war, überragte sie Helmkes ein Meter siebzig bereits um etliche Zentimeter. Es würde nicht mehr lange dauern, dann schaffte sie das auch im Stehen.
»Ich denke, damit konnte man früher eine Glocke läuten. Dann kamen die Dienstboten und haben einem alles gebracht, was man haben wollte.«
»Meinst du, das funktioniert immer noch?« Ihre Tochter strahlte sie an, als hätte sie sie bereits zu ihrer Lieblingsdienstbotin erkoren.
»Auf keinen Fall funktioniert das noch. Nicht mehr, seit Tante Ernie nicht mehr hier schläft. Jetzt gibt es immer Stubenarrest, wenn man da läutet.«
Konstanze kicherte. »Und du hast wirklich nichts dagegen, dass ich Tante Ernies altes Zimmer bekomme?« Sie ließ sich auf das Bett fallen. Ihre Pose machte deutlich, dass die Entscheidung ohnehin gefallen war, egal was Helmke jetzt dazu sagte.
»Ach was. Mir passt das auch viel besser.«
Sie brauchte nicht so viel Platz und arbeiten würde sie ohnehin unten in der Bibliothek. Dort stand ein riesiger Tisch, auf dem sie sich ausbreiten konnte. Das Internet funktionierte da auch viel zuverlässiger.
Zwar hatte sie es nicht weit bis nach Aurich, wohin Ernie vor über fünfzig Jahren die Hauptfiliale des Antiquitätenhandels verlegt hatte, aber hin und wieder würde es sicher möglich sein, auch von zu Hause aus zu arbeiten.
Momentan war sie jedoch einfach nur erleichtert, dass sie nicht mehr die weite Strecke von Oldenburg nach Aurich fahren musste. Wie viel mehr Zeit ihr dadurch für Konstanze bleiben würde!
Konstanze sah sie an und lächelte. »Ich freu mich, dass wir jetzt viel mehr Zeit füreinander haben werden, Mama.«
»Auch wenn wir die Zeit hier am … am Ende der Welt verbringen müssen?« Sie biss sich grinsend auf die Unterlippe, als sie das Blitzen in Konstanzes Augen wahrnahm. Ihre schlaue Tochter hatte natürlich sofort verstanden, was sie eigentlich hatte sagen wollen.
»Dieser Ort wird meinen wissenschaftlichen Studien zuträglich sein.« Konstanze zog ihr Kissen und einen Panamahut aus dem Karton.
Beides landete auf ihrem Bett. Seit sie lesen konnte, bekam sie nicht genug von allem, was mit Archäologie zu tun hatte, und plante mit Inbrunst ihre eigene Ausgrabung.
»Wusstest du zum Beispiel, dass in diesem Moor, dem Ewigen Meer, schon mal eine Leiche gefunden wurde?«
Sofort lief Helmke ein Schauer über den Rücken. »Du meinst diesen archäologischen Fund, nicht wahr?«
»Natürlich! Aber das heißt nicht, dass ich dort nicht auch noch etwas finde!« Sie lachte auf und umarmte ihr Kissen.
»Ach, Maus!« Helmke schlang die Arme um sie.
Was für ein Glück sie doch hatte, so eine tolle Tochter zu haben.
Juni 1961
»Was für ein Unglück«, murmelte Ernestines Mutter.
Ernestine fühlte sich von ihr gemustert und hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie damit gemeint war. Ihre Existenz in ihrer Gesamtheit.
Dabei war es ihr Bruder, der sich zum Abendessen hatte entschuldigen lassen. Sein Platz war frei geblieben. Nur seine Frau saß mit dem Rest der Familie am Tisch und blickte verschüchtert in die Runde. Die meiste Zeit jedoch musste sie sich ohnehin um das kleine Kind kümmern, das neben ihr in einen Kinderstuhl geklemmt worden und gerade dabei war, ein eingespeicheltes Brot in seinen Haaren zu verteilen.
In Ernestines Eingeweiden krampfte sich die Sorge unangenehm zusammen. Sorge um ihren Bruder, um sein Leben. Und natürlich auch die daraus resultierende Angst davor, das Geschäft in einigen Jahren allein führen zu müssen.
Sie wollte das doch gar nicht!
Unauffällig sah sie zum Tischhaupt hinüber. Ihr Vater stocherte in seinem Essen herum. Er wurde immer magerer.
Ihre Mutter war immer schon die zäheste in der Familie gewesen.
Um ihren Bauch zu beruhigen, griff Ernestine nach der Schüssel mit den Klößen. Sie schaufelte sich zwei Stück auf den Teller, und, als ihr der warnende Blick ihrer Mutter auffiel, nahm sie noch einen dritten. Dabei hatte sie gar nicht mehr so viel Hunger. Diese Frau brachte sie dazu, aus reinem Trotz mehr zu essen.
Sie zerkleinerte die soften, runden Bälle und übergoss sie mit viel zu viel brauner Soße.
Die Falten ihrer Mutter vertieften sich. Ihr würde ein bisschen mehr braune Soße ebenfalls hervorragend stehen, dann wäre sie nicht so hager. Wer weiß, vielleicht wäre sie sogar ein wenig zufriedener.
Ernestine schaufelte sich ein viel zu großes Stückchen Kloß in den Mund und kaute selig. Sie selbst war nach dem Genuss von gutem Essen jedenfalls immer sehr zufrieden, vor allem, wenn es so schmeckte wie heute.
Die Soße war hervorragend, viel vollmundiger und intensiver als die ihrer früheren Köchin. Bestimmt gab es eine geheime Zutat, und Ernestine wüsste nur zu gern, um was es sich dabei handelte.
Wie aufs Stichwort betrat die neue Köchin Adelheid den Raum. Sie war eine zierliche Frau mit kräftigen Händen. Ihren langen blonden Zopf hatte sie geflochten und um ihren Kopf gelegt wie einen Haarreif. Mit gesenktem Blick trug sie eine weitere Schüssel zum Tisch. Grüne Bohnen schwammen in einem hellen Dressing, zusammen mit einigen Zwiebelstückchen.
Mutter griff sie am Arm, bevor sie wieder verschwinden konnte. »Was ist das, bitte?«
Nicht wenige Menschen schafften es, das Wort »bitte« so unfreundlich klingen zu lassen wie Ernestines Mutter.
Sogar Vater hob kurz den Blick. Seine Augen weiteten sich bei dem Anblick der Bohnen, und Ernestine kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlief.
»Das ist Bohnensalat, gnädige Frau«, antwortet Adelheid bescheiden, ohne den Blick zu heben. Es fehlte nur, dass sie einen Knicks machte.
Ernestine betrachtete sie aufmerksam, studierte ihre ernsten, etwas bedrückt wirkenden Gesichtszüge unter dem zurückgekämmten Haar. Sie schätzte sie auf etwas älter als sich selbst, vielleicht Mitte zwanzig, doch das konnte auch an ihrer Ernsthaftigkeit liegen.
»Bohnen!« Mutter gab sich ordentlich Mühe, entrüstet zu wirken. »Wissen Sie, was Bohnen mit meinem Mann anstellen?«
Adelheids dunkle Augen blitzten auf, aber sie war klug genug, den Kopf zu schütteln. »Es ist ein Rezept meiner Mutter«, fügte sie lediglich hinzu.
Schrecklich, dass Mutter es jedem so schwer machen musste. Adelheid war noch neu, woher sollte sie wissen, dass Mutter es nicht schätzte, wenn Vater Bohnen aß?
Entschlossen griff Ernestine nach der Schüssel. »Das probiere ich sehr gern. Du doch auch, Mutter?« Sie löffelte eine Portion Bohnen auf den Teller und zwinkerte der jungen Frau zu, die erst so kurz in ihrem Haus lebte.
»Bohnen!«, krähte Konrad und klopfte mit seinem Löffel auf den Tisch.
Adelheid zwinkerte zurück. Ein zurückhaltendes Lächeln umspielte ihre Lippen, und sofort wirkte sie jünger.
Vielleicht würde Ernestine morgen in den Unterlagen einmal nach ihrem Alter sehen. Eine Sache wusste sie bereits: dass Adelheid, im Gegensatz zu ihr, bereits ein Kind hatte. Da sie zudem immer schwarze Kleider trug, konnte sich Ernestine den traurigen Hintergrund zusammenreimen.
Ernestine seufzte. So tragisch es war, immerhin war Adelheid einst verheiratet gewesen. Ein Glück, das ihr selbst wohl für immer verwehrt bleiben würde.
Welcher Mann würde schon eine Frau heiraten, die ein großes Antiquitätengeschäft führen musste? Männer wollten eine Frau, die sich um sie kümmerte, die ihnen etwas kochte, ihre Sachen flickte.
Das konnte sie alles nicht. Sie war nur in der Lage, die Buchhaltung zu machen und den Wert eines alten Buches einzuschätzen oder die Epoche, in der ein bestimmtes Möbelstück oder Kunstwerk geschaffen worden war.
Trotzig schob sich Ernestine eine Gabel voller Bohnen in den Mund und kaute. Das würzige Dressing war genau nach ihrem Geschmack. Adelheids Talent würde noch ihr Untergang werden, wenn sie alles so gut zubereitete.
Als die Köchin den Nachtisch servierte – dunkle Schokomousse in flachen Dessertschalen, bei deren Anblick Ernestine das Wasser im Munde zusammenlief –, und jeder beherzt zugriff, räusperte sich Mutter laut vernehmlich, sobald das Tablett bei Ernestine stoppte.
»Meine Tochter verzichtet heute auf den Nachtisch«, sagte sie laut.
Adelheid zögerte und sah von Ernestine zur Herrin des Hauses. Langsam ging sie weiter zu Merle, Ernestines Schwägerin.
Ernestines Gesicht wurde heiß. Sie senkte den Blick und fixierte die Tischdecke. Das weiße, eingewebte Blumenmuster verschwamm vor ihren Augen, und kalte Wut kroch ihr in die Kehle. Nur das verhinderte, dass sie etwas sagte.
Der kleine Konrad, dessen Haare wieder brotfrei waren, langte mit seinen dicken Händchen nach einem Schälchen. Bei ihm regte sich am Tisch kein Widerstand, obwohl es sicher jedem bewusst war, dass er den größten Teil des Desserts in seinem Gesicht und auf der Tischwäsche verteilen würde. Und die Menge, die in seinem Bäuchlein landete, war für ein kleines Kind garantiert auch alles andere als empfehlenswert.
Diese Demütigung war zu viel. Ernestine schob den Stuhl zurück. »Entschuldigt, mir geht es nicht …«, murmelte sie, bevor sie, ohne jemanden anzusehen, den Raum verließ.
So schnell sie konnte lief sie die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Es gelang ihr, die Tür hinter sich zuzuwerfen, bevor die erste heiße Träne über ihr klammes Gesicht lief.
Wie früher als Kind warf sie sich auf das Bett und vergrub den Kopf in der Menge an Zierkissen, die sich am Kopfende türmte. Sie dämpften alles um sie herum: den Straßenlärm, die Tauben, die auf dem Sims über ihrem Fenster nisteten, das Husten ihres Bruders und das Geklapper von Geschirr aus der Küche direkt unter ihrem Zimmer.
Nur ihre Gedanken, die behielten ihre volle Kraft und schrien sie in ihrem Kopf an.
»Du dicke Kuh!«
»Niemand liebt dich, wenn du so weiter frisst!«
»Was soll nur aus dir werden?«
Sie stöhnte in die weiche Wattefüllung ihres Lieblingskissens. Darüber hätte sie beinahe das leise Klopfen überhört, das plötzlich ertönte.
Abrupt hob sie den Kopf. Was war das? Es hatte beinahe so geklungen, als hätte jemand an ihre Tür geklopft, doch wer sollte das gewesen sein? Alle außer ihrem Bruder waren beim Essen, und ihn hatte sie gerade noch in seiner Wohnung husten hören. Er ahnte nicht, dass sie bereits in ihrem Zimmer war, und wusste natürlich nicht, was sich zugetragen hatte.
Sie lauschte, aber das Klopfen wiederholte sich nicht. Zum Glück, denn sie hatte überhaupt keine Lust, jetzt mit jemandem zu reden.
Dennoch bewegte sie irgendetwas dazu aufzustehen und nachzusehen. Vielleicht hatte sie sich nur verhört.
Behutsam öffnete sie die Tür einen Spalt breit.
Niemand stand davor, der Flur war verwaist. Die gegenüberliegende Schlafzimmertür ihrer Eltern war geschlossen, der Zugang zur Wohnung ihres Bruders ebenfalls. Nur ein leises Husten erklang dahinter.
Sie musste sich verhört haben.
Ernestine wollte die Tür gerade wieder schließen, als ihr Blick auf den Fußboden fiel.
Dort stand ein kleines Silbertablett und darauf ein Glasschälchen mit einer duftenden Schokomasse. Ein silberner Löffel lag auf einer weißen Serviette bereit.
Gegenwart
Helmke legte den letzten silbernen Löffel auf seinen Platz und trat einen Schritt zurück.
Sie betrachtete ihr Werk. Der dunkle Tisch im Esszimmer von Großtante Ernestines Haus war so groß, dass es nicht leicht war, ihn nur für drei Personen zu decken. Das Geschirr wirkte verloren, egal, wie sie es anordnete. Da konnte auch der große Strauß roter Lilien nichts ausrichten. Sie hatte schon die größten Teller des Hauses benutzt.
So gemütlich und wohnlich sie sich auch eingerichtet hatte, es war kein Wunder, dass die alte Frau nicht mehr allein hier leben wollte. Die Pflegekraft, die zwei Mal am Tag vorbeischaute, reichte als Gesellschaft sicher nicht aus.
In dem alten Herrenhaus in Bremen wäre sie sich allerdings noch bedeutend verlorener vorgekommen, da war sich Helmke sicher. Insofern konnte sie es vollkommen verstehen, dass Ernestine das Geschäft hierher verlegt hatte; in ein Haus, in dem sie sicher in ihrer Jugend schöne Sommer verbracht hatte.
Das große Haus der Familie Tegeler in der Jakobistraße in Bremen, in dem sich einst das Antiquitätengeschäft befunden hatte, kannte Helmke nur noch von Bildern aus dem Album ihres Vaters. Er hatte bis zu dem Tod seines Vaters, Ernestines Bruders Emil, darin gelebt. Danach war Oma Merle zu ihren Eltern nach Oldenburg gezogen und hatte ein neues Leben begonnen.
Nur durch Glück war Helmke vor fünf Jahren auf diesen Zweig der Familie gestoßen und das zu einem Zeitpunkt, als sie gerade beinahe mit ihrem Studium fertig war und die zu dem Zeitpunkt fast schon achtzigjährige Ernestine eine Nachfolgerin im Geschäft suchte, das sie nicht mehr allein führen konnte.
Helmke lächelte bei dem Gedanken, wie sich manchmal alles fügte. Man musste dem Universum nur die Chance dazu geben, indem man offen war, fleißig, aufgeschlossen … und eine Möglichkeit ergriff, wenn sie sich bot.
Dass sie ein paar Jahre später dann sogar zusammenziehen würden, hätte sie seinerzeit allerdings auch nicht für möglich gehalten.
Ein würziger Duft wehte aus der Küche zu ihnen herüber und kündigte an, dass der Auflauf so gut wie fertig war. Hoffentlich schmeckte er Großtante Ernie. Sie war als Feinschmeckerin in der Familie bekannt und Helmke war keine besonders geübte Köchin. Es gab nur eine Handvoll Gerichte, die sie gut beherrschte, und ihr Schollenauflauf war eins davon.
Besser, sie stapelte erst einmal hoch, bevor Ernestine es noch bereute, sie hier aufgenommen zu haben.
Helmke schob das Blumengesteck auf dem Tisch ein Stückchen nach links. Wirkte der Tisch so nicht etwas gemütlicher und irgendwie voller, die Gedecke weniger verloren?
Sie schüttelte den Kopf und schob es wieder zurück. Da half alles nichts, drei Teller waren drei Teller, das änderte sich auch nicht, wenn sie den ganzen Tisch voller Blumen packte.
Rasch lief sie in die angrenzende Küche. Sie musste die Scholle aus dem Ofen nehmen, bevor der Käse verbrannte.
Es dauerte ein paar Minuten, bis sie einen Topflappen gefunden hatte. Wertvolle Minuten, die Käsekruste war einen Hauch zu dunkel geworden.
Helmke verkniff sich einen Fluch.
Irgendein Geräusch musste sie allerdings von sich gegeben haben, denn plötzlich erklang eine Stimme hinter ihr. »Ich bin mir sicher, es wird hervorragend schmecken, mein Liebes.«
Helmke fuhr herum. Ernestine stand im Türrahmen, mit einer Hand auf einen massiven Gehstock gestützt. Es fiel ihr sichtlich schwer, ihren Körper aufrecht zu halten, dennoch umspielte ein Lächeln ihre Lippen.
»Das hoffe ich sehr. Eine besonders talentierte Köchin bin ich nicht, muss ich zugeben.« Zerknirscht kaute Helmke auf ihrer Unterlippe.
Ernestines Mundwinkel hoben sich. »Ach, Merl… ich meine, Konstanz…« Sie wedelte mit der Hand in der Luft wie immer, wenn sie nicht sofort auf den richtigen Namen kam. Es war ihr sichtlich unangenehm, obwohl niemand ihr diesen kleinen Anflug von Verwirrung übelnahm. In ihrem Alter hatte sie schließlich schon einige Menschen kennengelernt, deren Namen sie durcheinanderwürfeln konnte. »Helmke, meine ich.« Ein sympathischer Anflug von Röte überzog ihr Gesicht. »Du kannst nichts dafür, das liegt einfach nicht in deinen Genen. Ich bin zum Beispiel auch eine miserable Köchin, oder zumindest habe ich es niemals richtig gelernt.« Ein Schatten wanderte über ihr Gesicht, während sie diese Worte aussprach, doch sie vertrieb ihn durch ihr Lächeln. »Aber weißt du was?«
Helmke schüttelte den Kopf. »Nein, was denn?«
Das Lächeln der alten Frau verbreiterte sich. »Es gibt in Aurich ein hervorragendes Fischrestaurant und einen tollen Italiener. Und das Beste an der Sache: Die liefern auch.«
Helmke lachte auf, Erleichterung machte sich in ihr breit. »Das ist schon mal gut zu wissen!«
Nicht dass sie etwas dagegen hatte, sich hin und wieder an den Herd zu stellen, doch so richtig Spaß hatte sie nicht daran. Ihr Job erfüllte sie da deutlich mehr. Dennoch hatte sie immer das Gefühl, sich dafür rechtfertigen zu müssen.
Ernestine stöhnte leise. »Bitte sieh es mir nach, dass ich mich schon einmal hinsetze. Meine alten Knochen wollen nicht mehr so lange stehen.« Mit Hilfe des Stockes schlurfte sie ins Esszimmer.
Immerhin tat sie das so schnell, dass Helmke ihr gar nicht mehr zur Hilfe eilen konnte. Vermutlich war das auch nicht nötig.
Helmke sah ihr ein paar Augenblicke nach. Für ihr Alter kam Ernestine wirklich noch hervorragend allein zurecht. Nur zum Duschen, Anziehen und Ausziehen kam jeden Tag eine Hilfe vorbei, doch das war wohl eher ihrem Gewicht und der daraus resultierenden Bewegungseinschränkung geschuldet.
Man sah ihr an, dass sie gern gut aß.
Sofort stieg Helmkes Puls an. Ob ihr Auflauf Ernies Ansprüchen genügen würde, noch dazu, da er leicht verbrannt war?
Die Haustür öffnete sich und fiel sofort wieder ins Schloss. Schnelle, leichte Schritte tanzten durch den Flur, kurz darauf steckte Konstanze ihren Kopf durch die Tür.
Sie schnupperte. »Riecht super! Da komme ich wohl gerade richtig!«
Helmkes Blick fiel auf die schlammverkrusteten Schuhe ihrer Tochter, auf die mit braunen Spritzern verunstaltete Hose und ihre schmutzigen Finger. Sie sah aus, als hätte sie im Alleingang versucht, die Gefährtin der bekannten Moorleiche aus dem in direkter Nachbarschaft liegenden Ewigen Meer auszubuddeln.
Es fiel ihr schwer, nicht zu grinsen. »Wenn du dich beeilst, schaffst du es noch, dich schnell umzuziehen, bevor deine Urgroßtante und ich alles aufgegessen haben.«
Konstanze verdrehte die Augen. »Wehe, ihr lasst mir nichts übrig.« Noch im Umdrehen kickte sie die schmutzigen Schuhe von den Füßen.
Ohne dass Helmke sie darauf hinweisen musste, räumte sie sie unter das Regal neben der Treppe. Sehr umsichtig und rücksichtsvoll Ernie gegenüber, die mit ihrem Stock sicher nicht immer so geschickt rangieren konnte.
Dann fegte ihre Tochter die Treppe hinauf. Wasser rauschte, jedoch viel zu kurz, als dass irgendetwas ordentlich hätte gewaschen werden können.
Helmke trug die Auflaufform ins Esszimmer und platzierte sie möglichst mittig zwischen den drei Tellern. »Was möchtest du trinken?«, fragte sie an ihre Großtante gerichtet.
»Wasser reicht mir, Marei… ähm, meine Liebe«, sagte diese.
Helmke lief erneut in die Küche und stellte drei Gläser und eine Karaffe mit Wasser auf ein kleines Tablett. Das Haus war mit Küchenutensilien wirklich hervorragend ausgestattet. Manches erinnerte an eine professionelle Restaurantküche.
In einer großen Schublade fand sie einen Pfannenwender, der geeignet war, Auflaufportionen abzustechen und auf den Tellern zu platzieren. Er wog mehr als alles, was sich in ihrer alten Küche gefunden hatte.
Sie steckte ihn in eine Gürtelschlaufe ihrer Hose und balancierte das Tablett zum Tisch.
In dem Moment, als sie die Gläser verteilte und aus der Karaffe füllte, erschien Konstanze. Sie hatte sich tatsächlich saubere Kleidung angezogen und zumindest ansatzweise die Hände gewaschen. Nur unter den Nägeln sah man noch deutliche Reste vom Moor.
Konstanze drückte Ernie einen schnellen Kuss auf die Wange und schwang sich dann auf ihren Stuhl. »Ich liebe Schollenauflauf!«, sagte sie mit einem langgezogenen I im mittleren Wort.
Ernie freute sich sichtlich. »Na, was hast du denn heute so erlebt, Kleines?«
Für einen Moment überlegte Helmke, ob Ernie bewusst darauf verzichtete, Konstanze mit ihrem Namen anzusprechen.
Konstanze zog den Pfannenwender aus der Gürtelschlaufe und begann, den Auflauf in Portionen zu zerteilen. Sofort fühlte sich Helmke an Torfstecher erinnert. Wie passend.
»Ich war im Moor unterwegs und habe mir die Gegend angesehen!« Vorsichtig balancierte Konstanze ein Stück vom Auflauf zu Ernies Teller.
Nur ganz wenig ging auf dem Weg dorthin verloren. Helmke schnappte sich ein Stückchen Käse von der Tischplatte und steckte es sich in den Mund. Ihr Vater hätte jetzt gemeckert, dass Konnie doch vorsichtig sein sollte, und warum man das überhaupt ein Kind machen ließe.
Helmke warf einen schnellen Blick zu Ernie, doch diese sah einfach nur hungrig aus – und vielleicht ein wenig besorgt. Jedenfalls runzelte sie die Stirn.
»Da bist du aber bitte schön vorsichtig, ja? Das Gelände ist nicht ganz ungefährlich.«
Wenn jemand das wusste, dann auf jeden Fall Ernie. Dafür lebte sie schon so lange hier in der Gegend.
»Ist denn da schon mal etwas Schlimmes geschehen?«, fragte Helmke. Ein leiser Anflug von Sorge machte sich in ihr breit.
Ernestine wiegte den Kopf. »Es kommt schon hin und wieder zu Unglücken, wenn die Leute nicht auf den Wegen bleiben. Aber wenn man sich richtig verhält, dann kann nichts passieren.« Sie legte die Hand auf Konstanzes Arm. »Danke dir, Kind. Der Auflauf duftet hervorragend. Ich will nur, dass du vorsichtig bist.«
Helmke runzelte die Stirn. Sollte sie sich wegen Konstanzes Ausflügen ins Moor Sorgen machen? Ernies Vorsicht wunderte sie, immerhin hatte sie als Kind hier die Sommer verbracht und war sicher ebenfalls über das Gelände gestreift.
Den Rest des Abends plauderte Ernie mit Konstanze über die Schule und mit Helmke über das Geschäft und einen Nachlass, aus dem sie ein Möbelstück ersteigern sollte.
Auf das nahegelegene Moor und seine Gefahren kam das Gespräch nicht mehr, dafür lobte sie noch mehrfach das Essen, seinen feinen Geschmack und vor allem, wie gut es roch.
Juni 1961
Ernestine atmete tief ein, sobald sie die Küche betrat. So sehr sich ihre Mutter auch darüber echauffierte, sie selbst liebte es, wie es hier roch.
Sogar noch jetzt, als das Essen längst beendet war, die Töpfe geschrubbt worden waren und das Geschirr bereits in der Spüle stand, hing der Duft der Knödel in der Luft. Das Aroma der Soße hatte sich im Raum festgesetzt und das gebratene Fleisch, dessen Überbleibsel unter einer Glasglocke auf der Anrichte standen, verströmte einen unwiderstehlichen Geruch.
Adelheid stand in der Tür der Speisekammer und machte sich Notizen. Sie drehte sich rasch um, als Ernie hereinkam. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, sobald sie sah, was diese in der Hand hielt.
Ernie stellte das Tablett mit dem leeren Schälchen neben die Spüle. Irgendwie hatte sie ein schlechtes Gefühl dabei, als würde sie der Köchin damit mehr Arbeit bereiten. Am liebsten würde sie es schnell abspülen.
»Vielen Dank«, sagte sie leise zu der schwarzgekleideten jungen Frau. »Das war wirklich sehr nett von dir. Deine Mousse war köstlich.«
Adelheid senkte bescheiden den Kopf. »Ebenfalls ein Rezept meiner Mutter.«
»Du hast wohl viel von ihr gelernt.« Kurz überlegte Ernestine, was sie selbst von ihrer Mutter gelernt hatte, gab die Überlegung jedoch schnell wieder auf. Ihr fielen zu viele Eigenheiten ihrer Mutter ein, die sie absichtlich vermied, um etwas zu finden, was sie von ihr übernommen hatte.
»Ich habe alles von ihr gelernt.«
»Aber du kannst auch neue Gerichte sehr gut zubereiten.« Ernie biss sich auf die Zunge. Irgendwie hatte sie das Gefühl, etwas Nettes sagen zu müssen, als Dank dafür, dass die Köchin es riskiert hatte, ihr den Nachtisch zu bringen.
Adelheid schlenderte zur Spüle. »Sie meinen den Eintopf, den ich zum Einstand gekocht habe? Den Grünen Knurrhahn?«
Sie ließ Wasser ins Becken und gab etwas Spülseife hinzu. Mit raschen Handbewegungen sorgte sie dafür, dass sich das Putzmittel auflöste.
Schon bei dem Namen ging Ernestine das Herz auf. »Das ist mein absolutes Lieblingsgericht.«
Es war eine kleine Nicklichkeit ihrer Mutter, dass sie der neuen Köchin an ihrem ersten Abend freie Hand ließ. Vermutlich hatte sie gehofft, dass sie etwas finden würde, über das sie sich aufregen konnte, doch Adelheid hatte diesen Wusch nicht erfüllt.
Als sie das alte Familienkochbuch in die Küche gelegt hatte, hätte Ernestine es niemals für möglich gehalten, dass sich die junge Frau ausgerechnet diesen Eintopf als ihr erstes Essen für die Familie Tegeler aussuchen würde.
»Ach, deswegen öffnete sich dieses alte Kochbuch wie automatisch auf dieser Seite.«
Die beiden Frauen sahen einander an. Dann brachen sie gleichzeitig in Gelächter aus.
»Immer, wenn ich mir das Essen gewünscht habe, hab ich der Bertha, unserer früheren Köchin, das Buch aufgeschlagen auf die Anrichte gelegt.« Ernie wischte sich eine Träne aus dem Auge. »Dann wusste sie Bescheid.«
»Das erklärt es natürlich!«, japste Adelheid ein wenig außer Atem.
Die junge Köchin wirkte, als sei ihr eine unglaubliche Last von den Schultern gerutscht. Bestimmt hatte sie Angst gehabt, mit ihrer kleinen Tochter in dieses große Haus zu kommen, allein unter fremden Menschen zu leben und von ihrem Wohlwollen abhängig zu sein. Als sie Mutter kennengelernt hatte, war diese Angst sicher nicht eben geschrumpft. Gewiss war sie froh gewesen, nachdem ihr bewusst geworden war, dass es hier eine junge Frau in ihrem Alter gab.
Und dann noch eine, deren Liebe zum Essen sie teilen konnte.
Ernestine lächelte ihre neue Freundin – denn so empfand sie es – an. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie einsam sie geworden war, seit ihre Schulfreundinnen andere Wege eingeschlagen hatten als sie selbst. Emil war nur ein schwacher Ersatz, da sich seine Aufmerksamkeit in den vergangenen Jahren vermehrt auf seine eigene kleine Familie konzentriert hatte. Als dann dieser Husten ausgebrochen war, hatte sie auch ihn als engen Vertrauten verloren.
Adelheid deutete mit einem entschuldigenden Lächeln auf den Spülstein. »Ich muss noch den Abwasch erledigen, Fräulein.«
Ernestine nickte und knöpfte die Manschetten ihrer Bluse auf. »Wenn du versprichst, mich Ernie zu nennen, helfe ich dir.« Sie rollte die Ärmel auf und griff nach einem Lappen, den sie für ein Trockentuch hielt.
Hoffentlich hielt sich Mutter vorn der Küche fern. Es war zum Glück nicht ihre Art, sich hierher zu begeben. Wenn sie etwas mit der Köchin zu besprechen hatte, bestellte sie sie in ihr Arbeitszimmer.
Adelheid sah sie aus geweiteten Augen an. »Sie wollen mir helfen?«
Ernie schüttelte den Kopf. »Nein. Nur, wenn du mich duzt.«
Die Augen der jungen Köchin blitzten auf. Sie nahm Ernie den Lappen aus den Fingern und drückte ihr ein größeres, viel sauberer wirkendes Tuch in die Hand. »Na fein, Ernie. Ich spüle, du trocknest ab.« Für einen Augenblick verdunkelte sich ihre Miene. »Aber nur, solange niemand es hört. Vor Frau Tegeler nenne ich dich weiterhin Fräulein Ernestine.«
»Das halte ich für eine sehr gute Idee.« Ernie wusste sehr genau, was Mutter von einer Verbrüderung mit dem Personal hielt. Ihrer Meinung nach hatte sich jeder nur mit Angehörigen des eigenen Standes abzugeben. Auf diese Diskussion konnte sie durchaus verzichten.
Sie nahm die ersten Gläser in Empfang und begann damit, sie zu polieren. Dabei erzählte sie von ihrer Familie und den Marotten der einzelnen Mitglieder, von ihrer Liebe zu dem alten Kochbuch und ihrer Sehnsucht nach dem Sommerhaus in Aurich, in das sie dieses Jahr zum ersten Mal seit langer Zeit nicht würden fahren können. Den Grund musste sie nicht aussprechen, Adelheid hatte sich sicherlich auch gewundert, dass sich ein Zimmermädchen allein um das gesamte Haus kümmern musste. Das war nicht immer so gewesen – und hoffentlich würde es nicht immer so bleiben.
Dann fragte sie Adelheid über ihr Leben aus, ihre früheren Anstellungen und – ganz behutsam natürlich – über ihren Mann. Es war ein Thema, das sie umtrieb.
»Er war Gärtner in dem ersten Haus, in dem ich gearbeitet habe«, erzählte Adelheid. »Ein ganz stattlicher Kerl mit kräftigen Unterarmen, dem man es ansah, dass er kräftig zupacken konnte.« Sie schluckte und wandte schnell das Gesicht ab.
Ernestine senkte den Kopf. »Du musst ihn sehr geliebt haben.« Ob sie auch jemals so über einen Mann würde sprechen dürfen? Über jemanden, der sie auch mochte?
Adelheid schien sich wieder gefasst zu haben. »Er war ein guter Mann. Anständig. Nicht jede Frau hat so viel Glück.«
»Wie meinst du das?« Ob sie schlechte Erfahrungen gemacht hatte?
Ein trauriges Lächeln umspielte Adelheids Lippen. »Als Hausangestellte sieht man mitunter mehr, als einem lieb ist. Und es gibt Fälle, in denen eine Frau ohne Mann besser …« Sie brach ab. »Tut mir leid. Es steht mir nicht zu, so etwas zu sagen.«
Ob sie ahnte, wie es in Ernestine aussah? Nun, in die Verlegenheit, sich mit einem schlechten Mann herumärgern zu müssen, würde sie wohl nicht geraten.
Sie sah an sich hinab, und ihr Blick blieb an ihrem runden Bäuchlein hängen, das vom weiten Faltenwurf ihres Kleides nur im Ansatz verdeckt wurde. Sofort stieg Traurigkeit in ihr auf. Welcher Mann sollte sich in sie schon verlieben?
Wie immer, wenn sie traurig war, knurrte ihr der Magen, und sie hätte sich am liebsten sofort über den restlichen Braten hergemacht, der unter der Glasglocke auf seine Weiterverarbeitung wartete. Es war ein Teufelskreis, den sie einfach nicht zu durchbrechen vermochte.
Sie zwang sich, den Blick vom Fleisch zu lassen. Bestimmt hatte Adelheid es als Brotbelag für den nächsten Tag eingeplant, doch ganz sicher nicht als Mitternachtsimbiss für die pummelige Tochter des Hauses.
Nachdenklich sah sie zu, wie die Köchin die Teller ins Wasser gleiten ließ, um die Reste der braunen Soße abzuwaschen.
»Worüber denkst du nach, Ernie?«, fragte Adelheid plötzlich.
Ernie zuckte zusammen. Auf keinen Fall würde sie dieser Frau, die gerade vor ein paar Monaten ihre große Liebe verloren hatte, von ihren eigenen Sehnsüchten erzählen. »Ich frage mich, wie du es hinbekommst, dass diese Soße so schmackhaft ist. So vollmundig und intensiv hat die Bratensoße von Bertha niemals geschmeckt.« Sie warf Adelheid einen schnellen Blick zu. »Gib es zu, du hast eine geheime Zutat.«
Adelheids Mundwinkel zuckten. »Das ist durchaus im Bereich des Möglichen.«
Auch sie schien über den Themenwechsel erleichtert zu sein.
»Verrätst du es mir?«, fragte Ernie.
Die junge Köchin zog einen Teller aus dem Seifenwasser, ließ die Flüssigkeit ein wenig abtropfen und reichte ihn an Ernie weiter.
»Es gibt ein großes Geheimnis der guten Küche, das nicht allen bekannt ist«, sagte sie mit einem mysteriösen Unterton.
»Und du verrätst es mir?«, wiederholte sich Ernie gespielt quengelnd.
Die Köchin zwinkerte verschwörerisch und trocknete sich die Hände an ihrer Schürze ab. Danach trat sie an die Anrichte. Sie zog eine Schublade auf, zögerte aber. »Du musst versprechen, es für dich zu behalten.«
Ernie hob die rechte Hand und streckte Zeigefinger und Mittelfinger in die Höhe. »Ich schwöre.« Am liebsten hätte sie die Hand jetzt auf das alte Kochbuch der Familie gelegt. Das hätte sich sehr passend angefühlt.
»Also gut.« Adelheid holte etwas aus der Schublade. Es war eine kleine Schachtel. Sie hielt sie Ernie entgegen.
Diese trat einen Schritt näher, dann erkannte sie, um was es sich handelte. »Pralinen?«
Schon wieder lief ihr das Wasser im Mund zusammen.
Adelheid nickte. »Ein wertvoller Trick: In jedes herzhafte Essen gehört etwas Süßes, und in jede Süßspeise gehört eine Prise Salz.«
Ernie deutete auf die Dessertschälchen, in denen sich die Mousse befunden hatte. »Du hast den Pudding gesalzen?«
Adelheid lachte auf. »Eine Prise!«
Ernies Gesicht wurde warm. »Ich weiß leider nicht, was das bedeutet.«
Ihre Freundin schien es allerdings nicht armselig zu finden, dass sie sich damit nicht auskannte. Sie hob die Hand und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. »Das, was zwischen diese beiden Finger passt, ist eine Prise.«
»Das ist nicht viel. Und das macht einen Unterschied?«
»Auf jeden Fall! Einen riesigen Unterschied!«
»Und warum steht das nicht im Rezept?«
Adelheids Schultern hoben sich. »Das weiß ich auch nicht. Vielleicht, weil es dann kein Geheimnis mehr wäre.« Sie überlegte kurz. »Nicht einmal in diesem wunderbaren Kochbuch deiner Familie steht es.«
»Vielleicht sollten wie es hinzufügen?« Bei der Vorstellung, das Familienkochbuch zu verändern, kribbelte es in Ernies Eingeweiden.
Adelheid seufzte. »Ach, es wäre schon einfach schön, wenn das Buch nicht in der Bibliothek stünde, sondern hier, wo ich es studieren kann. Ich glaube, darin finde ich einige tolle Rezepte, die ich gern ausprobieren würde.«
Ernie nickte. »Das verstehe ich.«
Ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus, als ihr bewusst wurde, dass sie wirklich einen Menschen gefunden hatte, der dieses Buch genauso schätzte wie sie, nämlich nicht nur als wertvolles Erbstück, das von Generation zu Generation weitergereicht wurde, sondern als Inspiration.
Sie fasste einen Entschluss: Wenn es sich schon nicht ändern ließe und es eines Tages so weit war, dass sie das Geschäft übernommen hatte, dass sie das Sagen hatte, dann würde sie dafür sorgen, dass die Köchin des Hauses jederzeit Zugang zu dem Kochbuch erhielt. Nur so ergab es Sinn. Was brachte es, wenn dieses Schmuckstück in der Bibliothek versauerte?
Sie hoffte nur, dass die Köchin, die sie dann in der Bibliothek besuchte und sich das Kochbuch auslieh, Adelheid sein würde.
Gegenwart
Helmke hatte sich mit ihrem Laptop in der Bibliothek von Ernies Haus niedergelassen. Hier stand in der Mitte ein alter Tisch, der gut für Konferenzen genutzt werden könnte, so groß war er. Um ihn herum gruppierten sich einige Stühle, und in der Mitte gab es einige Stromanschlüsse. Wieder waren es rote Lilien, die dem Raum etwas Farbe verliehen.
Sie öffnete das Geschäftsprogramm des Antiquitätenhandels Tegeler und in einem weiteren Browserfenster die Website des Auktionshauses in Hamburg. Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis die Möglichkeit eröffnet wurde, die ersten Gebote abzugeben.
Noch einmal betrachtete sie die Artikelbilder, studierte die Beschreibung. Ihr Gespür sagte ihr, dass sie einem wahren Schatz auf die Spur gekommen war. Das Preisziel des Auktionshauses lag weit unter dem Wert des zierlichen Chippendale-Schreibtisches, da war sie sich sicher.
Noch sicherer wäre sie, wenn sie ihn erst einmal persönlich in Augenschein nehmen könnte, aber dafür hatte sie keine Zeit gefunden. Der Umzug nach Aurich hatte mehr ihrer Energie geraubt, als sie gedacht hatte. Doch jetzt war es so harmonisch und friedlich hier, die Stille und die unberührte Natur direkt vor der Haustür taten ihr so gut, dass sie geradezu spürte, wie sich ihre Batterien wieder aufluden.
Wer hätte gedacht, dass drei Frauen unter einem Dach, drei Generationen von Frauen sogar, so einträchtig miteinander auskommen würden?
Dennoch wäre es ihr lieber, Ernestines Meinung zu dem Stück zu hören. Ihre Großtante hatte im Laufe ihres Lebens so oft den richtigen Riecher bewiesen, war Risiken eingegangen, die sich beinahe immer gelohnt hatten. Außerdem hatte sie viel mehr Erfahrung als Helmke, die erst fünf Jahre im Geschäft war.
Wo sie nur blieb? Sie hatten sich für genau jetzt hier verabredet.
Helmke ließ den Blick über die Reihen von Büchern schweifen. Wie es sich für ein renommiertes Haus gehörte, blickte sie auf zahlreiche Buchrücken mit goldgeprägten Ledereinbänden. Bisher hatte sie noch keine Zeit gefunden, ein wenig zu stöbern, doch sicherlich gäbe es einige Schätze zu entdecken.
Sie erhob sich und schritt die Regale ab. Solange Ernestine noch nicht hier war, konnte sie die Gelegenheit auch genauso gut nutzen.
Auf Anhieb entdeckte sie einige wertvolle Stücke. In einer Vitrine thronte eine Erstausgabe von Oliver Twist mit der Signatur des Autors. Auch ein Board voller Bibeln mit Goldprägung weckte ihr Interesse. Für eine davon wüsste sie sofort einen Käufer, der dafür Unsummen hinblättern würde.
Ein ganzes Regal war offenbar Ernestines Leidenschaft gewidmet: dem Essen. Eine Antiquitätenhändlerin mit einem feinen Gaumen war keine schlechte Kombination. Auf diese Weise hatte sich ihre Großtante einen gewissen Ruf erarbeitet. Sie spürte alte, wertvolle Kochbücher auf und hatte es in den Siebzigern sogar in die Zeitung geschafft, als sie das handgeschriebene Rezeptbuch einer berühmten Köchin aus dem neunzehnten Jahrhundert für eine Rekordsumme an ein Sternerestaurant veräußert hatte.
Ein gerahmter Zeitungsartikel zeigte die feierliche Übergabe des Werkes. Im Hintergrund türmten sich bereits die Leckereien, auf die sich Ernie sicher schon gefreut hatte, als das Bild gemacht worden war.
Obwohl es fast fünfzig Jahre her war, erkannte Helmke ihre Großtante sofort. Sie war schon damals eine stattliche Person gewesen. Ihre Haare waren noch rotbraun und sie trug einen zu der Zeit modernen Kurzhaarschnitt, der ihr Gesicht zusätzlich ein wenig runder wirken ließ.
Sie war die einzige Frau auf dem Foto, umringt von Männern in spießigen Anzügen. Dennoch wirkte es nicht so, als gehörte sie nicht dazu. Ganz im Gegenteil, sie hielt sich selbstbewusst gerade und schien vollkommen akzeptiert zu werden.
Ein warmes Gefühl von Stolz breitete sich in Helmke aus. Was ihre Großtante geschafft hat, ist den meisten Frauen ihrer Zeit nicht möglich gewesen.
Im Gegensatz zu den anderen Regalböden, die sich allesamt unter ihrer Last zu biegen schienen, klaffte zwischen den Kochbüchern eine Lücke. Die angrenzenden Werke, eins davon erkannte sie als ein zweihundert Jahre altes Buch über friesische Hausmannskost, kippten in diese kleine Kluft, die sich in ihrer Mitte aufgetan hatte.
Helmke runzelte die Stirn. Was hatte dort wohl einmal gestanden?
Sie wischte mit dem Finger über die freie Stelle. Als sie die Hand zurückzog, hinterließ sie eine deutliche Spur im Staub. Was auch immer es war, es fehlte nicht erst seit gestern, sondern mindestens, seitdem der Putzservice zum letzten Mal hier gewesen war – vielleicht auch länger. Seltsam, dass ihre Großtante diesen Platz nicht längst besetzt hatte.
Das Klopfen ihres Gehstocks auf den Holzdielen im Flur kündigte Ernestines Ankunft an.
Helmke hatte die Tür extra offen gelassen. Sie wollte es der alten Dame so einfach wie möglich machen, sich fortzubewegen.
Schon stand diese im Türrahmen und lächelte. »Das sind meine Lieblingsbücher, Liebes. Es mögen nicht die wertvollsten sein, aber jedes von ihnen enthält eine Erinnerung an ein wundervolles Essen, das ich genießen durfte.« Sie rieb sich mit der freien Hand den umfangreichen Bauch. »Oder auch an zwei oder drei.«
Helmke lachte auf und ging zurück zum Tisch, auf dem der Laptop inzwischen in den Ruhemodus übergegangen war. Auf dem Bildschirmschoner wirbelte ein Foto von Konstanze wild umher.
Ernestine betrachtete es interessiert. »Was genau wolltest du mir zeigen, Marei… Ach, ich meine …« Ein verlegenes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Bitte verzeih, Helmke. Du musst mich ja für tüddelig halten.«
»Ach was, überhaupt nicht.« Helmke zog ihr einen Stuhl zurecht und deutete darauf. Mareike hieß die Pflegekraft, wenn sie sich richtig erinnerte. Da die Frau schon seit vielen Jahren zu Ernie kam, fühlte sich Helmke ein wenig geehrt, mit diesem Namen angesprochen zu werden. »Willst du es dir nicht bequem machen? Ich hätte gern deine Einschätzung zu einem Möbelstück gehört.«
Mit einem Ächzen, das so klang, als käme sie vielleicht nie wieder hoch, ließ sich Ernie auf den Stuhl fallen.
Helmke ließ sich neben ihr nieder und drückte eine Taste.
Sofort lud die Website des Auktionshauses neu. Ein Bild des Schreibtisches erschien, nur die Zeit bis zum Start der Auktion hatte sich verändert. Sie zählte unerbittlich herunter.
Helmke drehte den Laptop so, dass Ernestine den Bildschirm besser erkennen konnte. »Was hältst du von diesem Stück?«
Schweigend betrachtete die alte Frau das Bild. Als Helmke schon überlegte, ob sie sich genug mit der Technik auskannte, um zu wissen, wie man zum nächsten Foto kam, klickte Ernie sich weiter. Ihr Gesicht war ernst und konzentriert.
Helmke bemerkte, dass sie die Luft anhielt, und zwang sich zum Atmen. Sie war gespannt, was ihre Großtante zu diesem Schmuckstück sagen würde.
Als der Start des Bietvorgangs immer näher rückte, räusperte sie sich. »Ich weiß, es ist ein Risiko, aber ich würde gern auf den Tisch bieten. Ich glaube, er könnte mehr wert sein als das.« Sie zeigte auf den Schätzwert.
Ernestine kniff die Augen zusammen, während sie versuchte, den Preis zu entziffern. »Da bin ich mir beinahe sicher, meine Liebe.«
Sofort kehrte dieses Gefühl von Stolz zurück, das sie vorhin beim Betrachten des Artikels empfunden hatte. »Ich dachte an diesen Betrag als Höchstpreis. Was meinst du?« Sie schob ihrer Tante einen Zettel hin, auf dem sie eine Summe notiert hatte.
Ernestine setzte ihre Brille ab und rieb sich die Augen. »Mein Vorschlag wäre, einhundert Euro höher zu gehen.«
»Warum das?«
»Weil ich vermute, dass der Muhlhauser aus Hamburg auch mitbieten wird. Und wie ich ihn kenne, bietet er genau bis zu der Summe, die du dir überlegt hast.«
»Du meinst, er erkennt auch, dass das Stück mehr wert ist?«
»Auf jeden Fall. Wenn er davon Wind bekommen hat, dann bietet er auch mit, dieser windige Halunke. Der junge Kerl hat ein viel besseres Gespür als sein Vater vor ihm. So hat er mir schon mehr als ein Schnäppchen vor der Nase weggekauft.«
Helmke biss sich auf die Lippe. Der »junge Kerl« war schätzungsweise siebzig, und der Vater war schon länger tot, als Helmke lesen konnte. Dennoch war der Tipp unglaublich wertvoll. Genau das hatte sie sich von ihrer Großtante erhofft.
Sie wurde ganz kribbelig bei dem Gedanken, wie viel sie von der alten Frau noch lernen würde, jetzt, da sie so eng zusammenlebten. Noch ein Grund, so oft wie möglich von zu Hause aus zu arbeiten. Es war definitiv die richtige Entscheidung, hierher zu ziehen, nicht nur, um ihrer Großtante zu helfen. Sie halfen einander gegenseitig, und das war ein schönes Gefühl.
Sie sah sich um und atmete tief die staubige, aber inspirierende Atmosphäre der Bibliothek ein, in der sie sich befand.