Der dunkelste Fluch - Stefanie Hasse - E-Book

Der dunkelste Fluch E-Book

Stefanie Hasse

0,0

Beschreibung

"Maître, Ihr seid der Mächtigste hier, aber Sebastien wird noch tausendmal mächtiger als Ihr." Nach dem Tod seiner Mutter litt Sebastien de Beauvais unter seinem Stiefvater und entkam nur knapp dem Tod. Heute sollte er einer der mächtigsten Hexer der Welt sein, doch seine Kräfte schwinden und er ist auf einen Trank angewiesen, der seine Magie auflädt – oder auf Alex, deren Gegenwart dasselbe bewirkt. Ausgerechnet die Frau, die Gefühle liest, anstatt sie zu fühlen, lockt in ihm Emotionen hervor, die bei seiner Berufung ausgelöscht wurden. Alexandra Foster stieß durch eine Verkettung von Zufällen zu der Gruppe junger Hexen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hat sie Freunde, gehört dazu. Doch als die Bedrohung durch die Dunkelmagier ansteigt, erkennt sie, dass ihre besondere Art, die Welt zu sehen, der Schlüssel zu etwas ist, was die Hexenwelt lange nicht mehr gesehen hat …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 366

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der dunkelste Fluch

Stefanie Hasse

Copyright © 2021 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Stephan R. Bellem

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout: Michelle N. Weber

Umschlagdesign: Marie Graßhoff

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-168-9

Alle Rechte vorbehalten

Für alle,

die dort draußen für Gleichberechtigung kämpfen.

Egal, ob mit Magie oder ohne.

Inhalt

Es war einmal …

Prolog

1. Sebastien

2. Sebastien

3. Alex

4. Théo

5. Théo

6. Sebastien

7. Sebastien

8. Sebastien

9. Alex

10. Sebastien

11. Alex

12. Sebastien

13. Alex

14. Sebastien

15. Alex

16. Sebastien

17. Alex

18. Sebastien

19. Sebastien

20. Alex

21. Sebastien

22. Alex

23. Alex

24. Alex

25. Alex

26. Alex

27. Alex

28. Alex

29. Alex

30. Alex

31. Alex

32. Alex

33. Alex

34. Alex

35. Alex

36. Sebastien

37. Sebastien

38. Alex

39. Alex

40. Alex

41. Alex

42. Alex

43. Sebastien

Nachwort

Es war einmal …

In der vor Menschen verborgenen Hexenwelt, die von Anbeginn der Zeit von Frauen regiert wird, findet seit der Hexenverfolgung im Mittelalter alle zehn Jahre ein mächtiges Ritual in der Walpurgisnacht statt, um die Magie mit dem Occultatum weiterhin vor den Menschen verborgen zu halten und sich so selbst zu schützen. Denn nur an denjenigen, die Magie sehen können, kann auch Magie angewandt werden.

In diesem Jahr stand das Ritual schon im Vorfeld unter einem schlechten Stern. Die Prophezeiung eines frisch berufenen Auguren, Sebastien de Beauvais, einem von nur drei Auguren und daher einer der drei mächtigsten Propheten der Welt, sagte voraus, dass sich die Dunkelheit während des Rituals ausbreiten und die Auserwählte Adela Mescinia dabei sterben würde.

Dank ihres von ihrem magischen Blut bestimmten Gefährten, Tristan Atwood, konnten sowohl Adela Mescinia als auch das Ritual gerettet werden. Doch bis dahin war es ein langer Weg. Tristans Vater Liam Atwood wurde vor Jahren der Dunkelmagie bezichtigt und ohne Prozess hingerichtet. Sein Sohn wuchs verborgen vor den Augen des Hohen Rats der Hexen auf – im Bewusstsein, kein magisches Talent zu besitzen. Er wurde von seinen Stiefgeschwistern Christoph und Noah Brand drangsaliert und verspottet – bis Adela herausgefunden hatte, warum er keine Magie wirken konnte: Da er seine Mutter nie kennengelernt hatte, konnte ihr Name nicht in seiner ureigenen Sigille, die auf dem Namen der Eltern beruht, verwendet werden. Ihre gemeinsame Mitschülerin Alex Foster hat jedoch deren Identität ermittelt. Gemeinsam konnten Tristan und Adela nicht nur das Ritual vollenden und die Hexenwelt weiter vor den Menschen verborgen halten, sondern es stellte sich auch heraus, dass seine beste Freundin Mara Rothschild seine Zwillingsschwester ist.

Die Dunkelhexen, jene von Gier nach Macht getriebenen Blut­hexen, die sich um eine in eine rote Robe gehüllte Frau scharen, haben ihr Ziel nicht erreicht. Adelas Schwester Gloria wurde zur Verräterin und hat das Walpurgisritual sabotiert, um die Welt ins Chaos zu stürzen und den Dunkelhexen zur Macht über die nichtmagischen Menschen zu verhelfen.

Der Hohe Rat der Hexen ist seither gemeinsam mit den Weißroben, jenen Magiern, die Dunkelhexen jagen und einsperren, auf der Suche nach der Flüchtigen Gloria Mescinia und ihrem Helfer, dem Junghexer Noah Brand, Tristans Stiefbruder. Die Identität ihrer Anführerin, der roten Frau, bleibt weiterhin verborgen.

Nach dem Walpurgisritual ist Chris(toph) Brand, Noahs Bruder und Tristans Stiefbruder, nur noch genervt, weil die jüngsten Ereignisse aus seiner Mutter eine Helikopterhexe gemacht haben. Zudem hat er gegen die Auflagen des Hohen Rates verstoßen und in einen Verkehrsunfall eingegriffen. Damit hat er zwar das Leben von Tristans bester Freundin Mara gerettet, doch muss er sich nun vor einem Tribunal verantworten.

Nach jenem Unfall wacht Mara im Krankenhaus auf und droht, verrückt zu werden. Sie ist sich nicht nur sicher, dass Chris Brand, der fiese Stiefbruder ihres besten Freundes Tristan, sie mit einem seltsamen Leuchten am Arm beim Unfall mit ihrem Roller gerettet hat, sondern auch, dass sie in ihrem Dämmerschlaf im Krankenhaus gehört hat, wie Tristan und Adela sich über Hexen und Magie unterhalten haben. Doch als sie endlich entlassen wird, ist Tristan nicht erreichbar. Daher konfrontiert sie Chris mit ihren Vermutungen, der sie jedoch eiskalt abblitzen lässt und auslacht, um nicht gegen noch mehr Auflagen des Rates zu verstoßen und sich eine Magiesperre einzuhandeln.

Mara hat darüber hinaus jedoch auch noch andere Probleme. Nach dem Unfall sieht sie täglich schlechter. Sie trägt seit ihrer Kindheit eine Brille, aber dass sie von heute auf morgen nahezu erblindet, war nicht ihr Plan.

Erst als sie herausfindet, dass Tristan ihr Zwilling ist und sie eine Hexe, erfährt sie vom Fluch, der auf Zwillingen ihrer Familie liegt und warum ihre Eltern Tristans und Maras Magie blockiert haben: Die Zwillinge der Familie erkranken und sterben an der Magie, weshalb sich die Familie vor langer Zeit von der Magie losgesagt hat und mit ihrem großen Wissen nur hin und wieder zirkellosen Hexen hilft und daher Wächter genannt wird. Warum Tristan trotzdem überlebt hat, kann sich ihre Mutter Tanja nur durch die Gegenwart von Adela erklären. Wenn sie vom Hexenblut vorherbestimmte Partner sind, heilt Adela Tristan schneller, als er erkranken kann. Was nahelegt, dass Chris, in dessen Gegenwart es Mara immer besser geht, ihr vorher­bestimmter Partner sein muss – und sie retten kann.

Aber Chris ist nicht auffindbar, weshalb Mara gemeinsam mit Tristan und Adela zu Chris’ Mutter Carina geht, die ihnen dann die Wahrheit erzählt. Bei ihrer Initiation als Junghexe wurde festgestellt, dass sie kaum Magie im Blut hat und daher nie eine richtige Hexe werden könnte. In jener Nacht bekam sie aber Besuch von einer in eine rote Robe gehüllten Frau, die ihr Hilfe versprach – und im Gegenzug ihren Erstgeborenen forderte. Nach der Geburt von Chris wollte die rote Frau ihre Bezahlung abholen, Carina handelte jedoch aus, dass Chris bei ihr bleiben durfte, um eine Möglichkeit zu finden, ihn zu retten. Die rote Frau sagte zu, versprach ihr aber, dass die Dunkelheit Chris an seinem siebzehnten Geburtstag holen würde.

Nahezu erblindet und ohne Chance auf Heilung besucht Mara noch einmal ihre Lieblingsplätze, so auch den Schlosspark, in dem die Rosenranken in diesem Jahr sehr früh blühen. Direkt unter dem Westturm des Schlosses, der dank des magieblockierenden Hämatits in alten Zeiten als Gefängnis für Hexen diente, bessert sich ihre Sicht. Sie ist sich sicher, dass Chris in der Nähe – im Turm – ist. Sie findet ihn und folgt dem Instinkt, ihn zu küssen. Er erwacht, rennt jedoch schreiend davon – direkt in die Arme seines Bruders Noah und dessen Freundin Gloria, die ihn mitnehmen.

Chris scheint weder Mara zu erkennen noch zu wissen, dass sein Bruder und Gloria mit der roten Frau paktieren.

Für Mara beginnt ein Wettlauf gegen die Erblindung und den Tod, aber mithilfe einer uralten Sigille, die Gefährten aneinander­bindet, spürt sie Chris auf und schafft es, den dunklen Fluch, der seine Erinnerung trübt, zu brechen. Mara kann wieder sehen, kann nun selbst Magie wirken.

Für den Rat und selbst die Auguren bleiben sowohl die rote Frau als auch Noah und Gloria verschwunden. Doch von einem belauschten Gespräch, als Chris mit den beiden auf der Flucht war, weiß er, dass »das Versteckspiel bald ein Ende haben wird«.

Die Welt der Hexen wappnet sich für den nächsten Schlag der Dunkelhexen.

Prolog

Sechs Jahre zuvor

Uralte, vergilbte Grimoires stapelten sich seitlich des gold­gerahmten Spiegels, vor dem er auf ihre Ankunft wartete. Das ehemalige Ankleidezimmer seiner verstorbenen Frau hatte er nun nur für sie reserviert, begierig darauf, mehr über Magie und seine erfolgreiche Zukunft zu erfahren. Er verbrachte täglich mindestens zwei Stunden in der fensterlosen Kammer, umhüllt vom Geruch der Magie, die an all den Aufzeichnungen der mächtigsten Hexen der Welt haftete. Er studierte, verbesserte sich, kam seinem Ziel immer näher, wie auch sie ihm immer versichert hatte.

Eine starke Brise brachte seine Robe in Bewegung und zupfte an den Seiten des aufgeschlagenen Buchs. Gänsehaut überzog seine bloßen Unterarme. Nicht aus Angst, nein. Es war die pure Macht, die ihr Kommen ankündigte und die Luft vibrieren ließ.

Er trat vor den Spiegel, dessen Oberfläche verschwamm wie ein vom Wind bewegter See. Das Bild des Mannes mit dunklen Haaren und dem Ansatz von Grau an den Schläfen, die das bleiche Gesicht einrahmten, verwischte immer mehr, bis er in ihr Antlitz blickte. Sie war schön wie eh und je, ihre vollen Lippen rot wie Blut. Rot wie die Robe, die sie trug und deren weite Kapuze auch ihr Gesicht verbarg. Nur der zu einem Lächeln verzerrte Mund und der Schemen ihrer Nasenflügel waren zu erkennen.

»Was hast du heute für mich?« Er lechzte nach Neuem ebenso wie nach Bestätigung, dass sich all seine Aufopferung, all seine Taten gelohnt hatten.

Er wartete auf den ihm bekannten Satz. Wartete, dass sie ihm wie immer in den vergangenen Monaten bestätigte, der mächtigste Hexer der Welt zu sein, auf dass er endlich dazu bereit war, worauf er seit dem Tod seiner Frau hingearbeitet hatte.

Ihr Lächeln fiel in sich zusammen, ehe sie neue Kunde brachte, ihre Stimme scharf wie nie zuvor.

»Maître, Ihr seid der Mächtigste hier,

aber Sebastien wird noch tausendmal mächtiger als Ihr.«

Wort für Wort hallte ihre veränderte Botschaft in seinem Kopf wider, schlug Wellen wie zuvor die Oberfläche des Spiegels. Sie verzog den Mund zu einem garstigen, abfälligen Lächeln. Ein Sturm tobte in seinem Inneren, Übelkeit wollte ihn übermannen. Was, wenn er ihrer nicht länger würdig war? Wenn sie ihn nicht länger auf seinem Weg begleitete?

Er schluckte den bitteren Geschmack hinunter, der in seiner Kehle aufstieg. Fixierte die Karikatur des ehemals freundlichen Lächelns der blutroten Lippen. Er brauchte sie. Musste alles dafür tun, weiter in ihrer Gunst zu stehen – und an der Spitze der Macht. Er hatte sich geschworen, Liam Atwoods Nachfolger zu werden – dem einst mächtigsten Hexer der Welt –, und sie hatte ihm geholfen, wie dem vor zwei Jahren hingerichteten Liam zuvor. Sein Atem stockte, doch als ein dunkler Plan in ihm reifte, straffte er die Schultern.

Mit seinem unstillbaren Wissensdurst war Sebastien ihm schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Und er war nicht einmal von seinem Blut. Er hatte den Unfall überlebt, während seine treue Frau verstorben war! Um das noch magielose kleine Kind zu retten! Seine Lippen pressten sich zu einem festen Strich zusammen, während ihr Bild verblasste, die vollen blutroten Lippen zu seinen wurden.

Sein Entschluss stand fest. Hastig wandte er sich um, suchte in den an den Wänden aufgetürmten Bücherstapeln nach dem Codex obscurus, dem dunklen Buch, das sie ihm über finstere Wege zugänglich gemacht hatte.

Schwarzer Rauch kroch zwischen den Seiten hervor, kaum dass er den Buchrücken berührte. Die Dunkelheit verdichtete sich, rahmte ihn und den Codex ein. Der Findezauber, der nun aus der Sigille an seinem Handgelenk glitt, vermochte die Finsternis kaum zu verdrängen, legte sich auf das aufgeschlagene Buch und sickerte in das Pergament. Der Codex obscurus wurde lebendig, die Seiten blätterten auf der Suche nach einer Lösung, der Antwort auf seine in den Zauber gelegte Frage wild hin und her, ehe sie mit einem leisen Seufzen zur Ruhe kamen.

Sein Blick huschte über den vorgeschlagenen Zauber und seine Mundwinkel hoben sich. Während die Dunkelheit ihn noch immer umhüllte, griff er nach einem Pergament, schrieb die unverständlichen lateinischen Worte ab und schlug das Buch zu.

Die wabernde Düsternis kroch zurück in den Codex obscurus. Er löschte mit einem Wink seiner Hand das Deckenlicht und verließ die Kammer, um die Zutaten für den Zauber zu besorgen.

Sein Plan würde funktionieren.

Liam Atwood, zu seiner Zeit mächtigster Hexer der Welt, war binnen weniger Stunden nach seiner Festnahme durch die Jäger ohne Tribunal hingerichtet worden. Was sollte dann schon ein Junge ausrichten können?

Wenig später betrat er mit einem Trank in der Hand Sebastiens Zimmer. Die Sonne war bereits aufgegangen und er lag noch immer im Bett und schlief, obwohl heute der wichtigste Tag seines Lebens war, seine Magieprüfung. Tiefe Abscheu legte sich wie Säure auf seine Zunge.

Er träufelte ein paar Tropfen des Tonikums auf Sebastiens zerzauste Locken und seine Brust, ehe er die auf Pergament gebannte Sigille entzündete.

Ein roter Schimmer legte sich auf den schlafenden Jungen vor ihm. Beim Wirken eines Zaubers – seinem ersten Zauber überhaupt – würde er den Alarm der Hexenjäger auslösen.

Sein Mundwinkel zuckte. Die einzige Zurschaustellung seiner Zufriedenheit, die er sich erlaubte. Er begutachtete sein Werk, verließ Sebastiens Raum und ließ sich kurz darauf im Speisezimmer nieder, wo schon Croissants und Café au Lait auf ihn warteten.

1

Sebastien

Sechs Jahre zuvor

Luft! Ich brauchte Luft! Der beißende Gestank des Todes ging von den rot leuchtenden Händen aus, die um meinen Hals lagen. Die Ränder meines Sichtfelds verschwammen bereits, meine Augen fühlten sich an, als würden sie aus den Höhlen quellen. Ich wollte schreien, um Hilfe rufen, doch die schattenhaften Finger schlangen sich so eng um meine Kehle, dass es unmöglich war. Ich strampelte mit den Beinen, versuchte die Schattenprojektion, ein zu Schatten gewordener Wille, zu greifen, um mich zu befreien, doch meine Finger glitten durch sie hindurch. Jeder Muskel in meinem Körper spannte sich an, verkrampfte angesichts des Sauerstoffmangels. Mein Blick ruckte hin und her, ich suchte nach der Hexe, deren Zauber mich gerade töten wollte. Doch da war niemand. Mein Zimmer war leer. So leer wie immer. Es gab nur den improvisierten Schreibtisch und den wackeligen Stuhl mit den Löchern im Polster davor. An den Wänden rollte sich die Tapete ab, brachte den rauen, vergilbten Putz der alten Abstellkammer zum Vorschein, in die ich nach Mamans Tod hatte ziehen müssen.

Schwarze Schlieren zogen sich über alles, was ich sah. Mein Körper bäumte sich ein letztes Mal auf, instinktiv suchte ich nach der Magie in mir, wusste genau, welche Sigille mich retten könnte. Doch vor dem Ritual der Sigillenvergabe konnte ich keinen Zauber wirken. Es war mir ohne das mittels Magie in die Haut an meinem Handgelenk eingebrannte Zeichen schlichtweg unmöglich.

Ich liebe dich, Maman, flüsterte ich in Gedanken. Und ich vermisse dich so sehr.

Die Schwärze kroch von allen Seiten näher, während mein rasender Herzschlag den letzten Sauerstoff durch meinen Körper pumpte. Mein Magen hob sich.

Ich fiel.

Schweißgebadet lag ich in meinem Bett, das löchrige Laken, das ich als Bettdecke nutzte, klebte an mir wie eine durchnässte zweite Haut. Keuchend setzte ich mich auf und fuhr mit den Fingerspitzen über meine Kehle, die sich noch immer eng anfühlte, so trocken, als hätte ich tagelang nichts getrunken. Gierig sog ich die Luft ein, mein Blick irrte dabei noch immer halb in dem Albtraum steckend durch die Kammer, suchte nach der Schattenprojektion oder der Hexe, die sie gewirkt hatte. Erst nachdem sich mein Puls normalisierte und ich die letzten Fetzen des Traums von mir gerissen hatte, schob ich das fadenscheinige Laken zur Seite und schwang die Beine aus dem Bett. Ein Blick aufs Display des Weckers auf dem Turm an Büchern neben dem Kopfende, der Nachttisch und Lesestoff zugleich war, sandte ein Hochgefühl durch meine Adern. Heute war der wichtigste Tag meines Lebens!

Von puren Endorphinen getragen, holte ich frische Kleidung aus dem Schrank und zog sie mir über, während ich darüber nachdachte, aus welchem Grund mein Unterbewusstsein den Kleiderschrank aus meinem Traum gelöscht hatte. Alles andere sah aus wie in meinem Albtraum. Die abblätternde Tapete, das winzige Fenster, das einst die Vorräte belüftet hatte. Warum war der Schrank nicht dort gewesen?

Ich hatte zahlreiche Bücher über die Magie der Träume gelesen, wusste, dass sie für viele Hexen die einzige Möglichkeit waren, ihrer schwach ausgeprägten prophetischen Gabe, die laut Legenden einst jeder Hexe zu eigen war, eine Stimme zu geben. Ich sah zu meinem Bett, dessen Holz schon wurmstichig war und mehr Schrammen besaß als lackierte Stellen, zum Schrank, der nicht besser aussah. Meine Kehle wurde erneut enger, als mein Kopf die Bilder des Traumes wiederholte. Ich schüttelte sie ab und verließ mein Zimmer.

Es war, wie eine andere Welt zu betreten, von einem Albtraum in die wunderschöne Realität zu gleiten. Jenseits meiner Kammer war nichts kaputt, wurmstichig oder fadenscheinig. Maison de Beauvais wurde mit Magie intakt gehalten. Einfache Trugbilder sorgten für den finalen Glanz. Auch ohne Licht warfen die Kristallleuchter der hohen, mit Stuckleisten in Rauten geteilten Decke Glitzereffekte auf das polierte hölzerne Geländer der Galerie, über die ich zum Badezimmer gehen musste. Auch hier funkelte alles. Mein Stiefvater duldete kein einziges Staubkorn, keinen einzigen Kalkfleck.

Die Wassertropfen, die noch im Marmorwaschbecken und in der Dusche funkelten, und der Dunst, der mein Spiegelbild leicht verzerrte, verschwanden nur wenig später in einem zart blau schimmernden Lufthauch der Magie, kaum dass ich aus der Dusche stieg. Binnen eines Wimpernschlags war alles blitzblank – wie in einem Werbespot der Untalentierten für Reinigungsmittel.

Ich fixierte mein Spiegelbild, versprach dem zwölfjährigen Jungen mit den dunklen Locken, die sich vom Duschen noch kräuselten, dass sich heute alles verändern würde. Dass er nach der Magieprüfung und der Sigillenvergabe endlich auch Teil der magischen Welt war und nicht länger verabscheuungswürdig. Ich sah dem Jungen ins Gesicht, versprach ihm, dass wir Maman stolz machen und Gutes mit unserer Magie tun würden.

Die Augen meines Spiegelbildes glänzten verdächtig, während der Schmerz in meiner Brust immer stärker wurde. Ich vermisste sie so sehr. Sie hätte an diesem Tag an meiner Seite sein sollen, am wichtigsten Tag einer jeden Junghexe! Nun war es meine eigene Hand, die nach der meines Spiegelbilds griff. Entgegen meiner Erwartung war die Stelle warm wie von einer echten Berührung. Ich atmete noch ein letztes Mal tief durch, sammelte wie jeden Morgen Kraft, meinem Stiefvater gegenüberzutreten.

Während ich das Badezimmer verließ, wischte die Magie meinen Handabdruck weg und es war, als wäre ich nie hier gewesen.

Vor Betreten des Speisesaals wappnete ich mich innerlich für eine Standpauke, weil ich zu spät aufgestanden war, doch es blieb still im Raum. Zögernd ging ich hinein, sah vom reich gedeckten Esstisch auf den leeren Platz an der Stirnseite, an dem sonst mein Stiefvater saß und mit vorwurfsvollem, fast abfälligem Blick aufsah. Irritiert blieb ich stehen, bis Florence im Durchgang zur Küche erschien.

»Was stehst du hier herum, Sebastien?«, fragte unsere Haus­hälterin mit einem dampfenden Kännchen in der Hand und lächelte mich an. »Hast du keinen Appetit? Du musst essen, Junge! Der Tag wird anstrengend!«

Sie scheuchte mich zu meinem Platz und belud meinen Teller, ehe sie mir den heißen Kakao mit Milchschaum in meine Bol goss und sich dann neben mich setzte.

»Wo ist Papa?«, fragte ich irritiert, weil ich mich nicht erinnern konnte, wann er das letzte Mal nicht am Tisch gesessen hatte, wenn ich aufgestanden war. Das Licht fiel in bunten Schlieren durch die Bleiglasfenster auf seinen unbesetzten Platz, als wollte selbst die Sonne mir zeigen, dass heute etwas anders war.

»Er ist schon runter in den Keller gegangen, um die letzten Vorbereitungen für deinen großen Tag zu treffen. Und jetzt iss!«, forderte sie erneut und tupfte sich mit einem zerknitterten Stofftuch den Schweiß von der faltigen Stirn. Auch wenn sie eine Hexe war, nutzte sie nie Magie für sich selbst. Sie glättete weder die Falten in ihrem Gesicht noch tönte sie ihr silbergraues Haar. Auch wenn einige Zirkel­mitglieder genauso alt waren wie sie, war sie die älteste Frau, die ich kannte. Mit Abstand.

Ich folgte ihrem Befehl und biss in meine Brioche, ehe ich die Bol zum Mund führte und der cremige Kakao meine Geschmacks­knospen explodieren ließ.

»Ich habe deinen Umhang frisch gemacht. Er bestand ja nur noch aus Löchern! Wird Zeit, dass du hexen kannst und in deiner Kammer für Ordnung sorgst.« Florence seufzte theatralisch auf. Es lag nicht an mir, dass jedes Ungeziefer in meiner Kammer landete. Da der Rest von Maison de Beauvais durch Magie geschützt war, blieb den Motten, Spinnen, Kellerasseln und wer weiß, was noch, gar nichts anderes übrig, als bei mir Asyl zu suchen. Ich hatte mich in den letzten beiden Jahren mit ihnen gezwungenermaßen arrangiert. Nachdem mein Stiefvater mich ausgelacht hatte, als ich kurz nach Mamans Tod um Hilfe geschrien hatte, weil eine – zumindest in meiner Erinnerung – handflächengroße haarige Spinne über den nackten Betonboden spaziert war.

Ich hatte eben den letzten Schluck Kakao getrunken, da rückte Florence ihren Stuhl nach hinten und scheuchte auch mich auf.

»Bist du bereit für den Tag der Tage?« Sie zwinkerte mir zu und ich erhob mich, während Florence schon den Umhang von der Kommode an der Wand holte. Sie hatte ihn tatsächlich geflickt, ich sah keine Löcher oder fadenscheinige Stellen mehr. Sie legte mir mit einem stolzen Lächeln die Robe um, zupfte sie zurecht und schloss mit einer Brosche an meinem Hals den Stoff. Ein wohliges Gefühl wärmte meine Brust von innen. »Du wirst ein großer Hexer werden, Sebastien. Da bin ich mir ganz sicher.«

Sie tätschelte meine Wange und ich war kurz davor, mich in die warme Handfläche zu schmiegen, so sehr sehnte ich mich nach ihrer Fürsorge und Zuneigung. Sie drückte mich noch an ihre Brust, ich roch für einen Moment nichts anderes als Flieder, ehe sie mich von sich schob und mir tief in die Augen sah. »Du darfst nie vergessen, dass ich dich immer lieben werde wie einen Enkel, auch wenn du keine Magie im Blut haben solltest. Verstanden?«

Sie wartete so lange, bis ich nickte.

Sosehr mich ihre Aussage auch von innen heraus wärmte, so sehr wusste ich, dass ich in den Augen meines Stiefvaters noch untauglicher wäre als bisher schon. Ich konnte es mir nicht leisten, keine Magie zu haben. Das wäre mein Ende.

Mit pochendem Herzen folgte ich unserem Butler Antoine ins Kellergewölbe. Auch hier war alles prachtvoll gehext, silberne Kandelaber funkelten mit Kristallleuchtern um die Wette. Mit jeder Stufe wurde das Stimmengewirr aus dem Ritualraum lauter. Meine Schritte hallten auf dem polierten Marmorboden wider.

Antoine legte mir die Hand auf die Schulter. »Du machst das schon, Junge.« Ich sah den Mann an, der nicht viel älter aussah als mein Stiefvater, vollkommen irritiert darüber, dass er versuchte, mir … Mut zu machen? Ich blinzelte noch immer ungläubig, als wir im Ritualsaal ankamen.

Die Gespräche verstummten sofort. Die dreizehn anwesenden Mitglieder unseres Zirkels wandten sich wie eine Person mir zu. Mein Stiefvater machte ein Gesicht, als hätte ich ihn bei etwas Wichtigem unterbrochen, obwohl es mein Tag war. Die Zirkelmeisterin Odette warf meinem Vater daraufhin einen strengen Blick zu. Sie verstanden sich nicht. Etienne de Beauvais hatte schon vor Mamans Tod Ambitionen, Odette eines Tages von ihrem führenden Posten zu verdrängen, aber eine männliche Hexe – offiziell gab es den Begriff Hexer nicht einmal – als Anführer eines Zirkels war schlichtweg undenkbar. Dabei war es egal, wie viel Magie in seinem Blut ruhte und wie viel Wissen und Macht er sich in den vergangenen Jahren angeeignet hatte. Seit Mamans Tod mehr denn je. Niemand durfte ihn bei seinen Studien unterbrechen, für die er sich ausgerechnet Mamans Ankleidezimmer ausgesucht hatte, weshalb dort nichts mehr an sie erinnerte.

»Tritt zu uns, Sebastien.« Odette lächelte freundlich und meine Beine folgten ihrem Befehl wie von selbst. »Ich werde deine Patin sein.«

Ich hatte erwartet, dass Etienne die Rolle übernahm. Er – den zusammengekniffenen Augen nach zu urteilen – ebenso. Mein Stiefvater machte bereits einen Schritt auf uns zu, doch Odette hob ihre Hand und Etienne prallte von einer schimmernden blauen Wand ab, woraufhin er mit wüsten Flüchen um sich warf.

»Setz dich«, forderte Odette bestimmt, aber freundlich, und schob mit Magie den schweren Stuhl vor dem dunkel lasierten Tisch zurück, auf dem bereits Pergament, Tinte und eine Feder neben einer dicken weißen Kerze und einer bronzenen Schale auf ihren Einsatz warteten.

Von unzähligen Büchern über den Ablauf – und Odettes Anweisungen – angeleitet, schrieb ich meinen Namen auf das Pergament, konzentrierte mich dabei immer auf die in meinem Blut liegende Magie, die nach außen zu tragen das Ziel des Rituals war.

SEBASTIEN DE BEAUVAIS.

De Beauvais war der Nachname meiner Mutter gewesen, den Etienne angenommen hatte, wie es in Hexenkreisen Tradition war. Den Nachnamen meines mir unbekannten leiblichen Vaters notierte ich dahinter. MESCINIA, eine der mächtigsten Hexendynastien der Welt, vermutlich die mächtigste Familie in Europa. Mehr als den Namen besaß ich nicht von meinem Vater.

Ich strich alle doppelten Buchstaben durch und übertrug die übrigen Zeichen – SEBATINDUVMC – auf das Hexenrad, das mir Odette auf das Pergament projizierte, als hätte ich nicht die Stelle eines jeden einzelnen Buchstabens auf den drei konzentrisch angelegten Kreisen auch mit geschlossenen Augen benennen können.

Das Ergebnis war eine entfernt an eine durchgestrichene Raute erinnernde Sigille, die in nur wenigen Minuten die Haut über meiner Pulsader am linken Handgelenk zieren würde.

Odette stand noch immer hinter mir, legte mir die Hände auf die Schultern und entzündete mit Magie die Kerze. Sie flüsterte mir zu, mich noch einmal vollkommen auf die Magie in meinem Blut zu konzentrieren, während ich das Pergament in die Hand nahm und über die Kerze hielt. Die Flammen leckten begierig daran, das Blatt färbte sich an den Rändern schwarz, ehe es zu brennen begann. Ich warf es in die bronzene Schale, wo das Feuer in den getrockneten Kräutern darin neue Nahrung fand und sich Rauch entwickelte, der sich schnell der Gewölbedecke entgegenkräuselte, ehe Feuerzungen aus der Schale nach oben schossen.

Nur am Rande meiner Wahrnehmung erfasste ich die erstaunten Laute der Zirkelmitglieder, während mein Blick von den Flammen erfüllt war, die immer weiter emporwuchsen, größer wurden als alle, über die ich gelesen hatte. In ihrer Mitte schwebte meine geschriebene Sigille empor, tanzte im Feuer, ehe sie ein paar herausbrechenden Funken folgte und sich auf meinem Handgelenk niederließ.

Im ersten Moment prickelte es angenehm, dann verbiss sich die glühende Sigille begleitet vom Gestank nach verbranntem Fleisch in meiner Haut. Der sengende Schmerz ließ meine Konzentration schwinden, ich blinzelte gegen die Tränen an, während sich Odettes Finger in meinen Schultern vergruben und sie wohlige Kühle, getragen vom weißblauen Glimmen von Magie, zu mir sandte. Der Schmerz ebbte ab, war kurz darauf verschwunden und ich sah auf mein Handgelenk hinab, auf dem meine Sigille, der Beweis meiner Magie, hell­blau leuchtete.

Fasziniert von dem magischen Tattoo starrte ich reglos darauf, die Zeit schien stillzustehen. Im Ritualsaal war es totenstill, ich hörte niemanden sprechen, ja nicht einmal atmen.

»Wow!«, stieß Odette hinter mir irgendwann aus und brach den Bann, dem offenbar alle erlagen. »Das war … neu.« Sie stieß ein heiseres Lachen aus, kam an meine Seite und zog mich von meinem Stuhl auf. »Ich glaube, wir dürfen Großes von dir erwarten, Sebastien de Beauvais.« Sie drückte mich kurz an sich, ehe sie mich dem Zirkel präsentierte. »Heißt unseren offenbar mächtigen Neuzugang im Zirkel willkommen!«

Die Zirkelmitglieder klatschten Applaus. Alle, bis auf meinen Stiefvater, dessen Nasenflügel bebten. Seine Augen waren so weit zusammengekniffen, dass ich das blasse Blau darin gar nicht mehr erkennen konnte.

»Nun zeig uns, was du kannst«, forderte Odette und ließ ein Papierflugzeug auf ihrer ausgestreckten Handfläche erscheinen. Sie schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln.

Ich konzentrierte mich auf den Befehl FLIEG. Der Zauber besaß keine doppelten Buchstaben und musste daher nicht gekürzt werden. Ich zog auf dem Hexenrad in meinem Kopf die Buchstaben nach. Vom F aus, das auf einer Uhr an der Stelle der Fünf liegen würde, nach links oben zum L bei der Elf, senkrecht nach unten zum I, in einer waagrechten Geraden zum E auf Position der Vier, und hinab zum G am tiefsten Punkt des Kreises. Alle Buchstaben des Zaubers lagen auf dem äußeren Ring. Ich hatte die Sigille direkt vor Augen und sandte sie bis zu meinem Unterarm, um den Zauber an das Element Luft zu übergeben, wie es bei einfachen Zaubern ausreichte.

Mein Handgelenk begann zu leuchten, als die Magie ihre Wirkung zeigte. Doch es war nicht das weißblaue Schimmern, wie Magie aussehen sollte. Meine Sigille leuchtete blutrot.

Aufschreie und Zischen echoten durch das Gewölbe, während mein Zauber aus meiner Hand floss, auf Odette zuglitt, den Papierflieger anhob und ihn in Fetzen riss. Das Schimmern war bereits vergangen, als die Schnipsel noch im Hexenwind, der nach jedem Zauber die Überreste der Magie hinfort trug, tanzten und zu Boden rieselten.

»Dunkelhexe!«, schrie Marianne, eine der jüngeren Hexen des Zirkels, und zeigte mit dem Finger auf mich. Ihr Vorwurf hallte durch den Ritualsaal. Ich taumelte zurück, als hätte sie mich geschlagen, prallte gegen irgendjemanden, der mich von sich stieß, sodass ich stolpernd auf den Knien landete. Was war da eben geschehen? Warum war meine Magie rot wie die von Blutmagiern, sich den dunklen Künsten hingebenden und nach Macht gierenden Hexen, die sich von den Zirkeln und dem Rat losgesagt hatten? Wie der bis zu seinem Tod mächtigste Hexer der Welt, der Blutmagier Liam Atwood, der vor zwei Jahren enttarnt und hingerichtet worden war? Ich hatte alles über ihn gelesen, was ich in die Finger bekommen konnte. Und so war ich mir sicher, dass mich dasselbe Schicksal wie ihn ereilen würde, als die Luft im Gewölbekeller zu prickeln begann und die Hexenjäger, die Elitegruppe des Rates, die Dunkelhexen jagten, in ihren weißen Roben aus dem Nichts erschienen, ihre gebündelte Magie auf mich warfen und mich am Boden fixierten. Sie legten mir eine Kette aus Hämatit an, die meine Haut versengte, während der Blutstein wie ein Brenneisen auf mir lag und jeden Funken Magie in meinem Körper aus mir heraussaugte.

Niemand kam mir zu Hilfe. Niemand hielt sie auf. Wie in meinem Traum war es mir unmöglich zu schreien. Ich suchte nach meinem Stiefvater, fing seinen Blick auf, flehte ihn stumm um Hilfe an.

Doch er verzog nur enttäuscht das Gesicht. Zumindest versuchte er es. Denn ich konnte das Zucken seines Mundwinkels sehen, den Beweis seiner Zufriedenheit.

2

Sebastien

Sechs Jahre zuvor

Ich erwachte aus der Benommenheit des Schlafzaubers, mit dem man mich zusätzlich belegt hatte. Als würden es mir die magischen Fesseln nicht schon unmöglich machen, mich zu wehren.

Ich blinzelte, versuchte, etwas zu erkennen. Nach und nach klärte sich mein Blick und mein Atem stockte. Auch wenn ich nie zuvor hier gewesen war, wusste ich, wo ich mich befand. Der Stuhl, auf den man mich gesetzt hatte, stand inmitten eines im Boden eingelassenen Pentagramms, dem ältesten Schutzzeichen der Hexenwelt. Ich drängte meine Neugier zurück, wagte es nicht, mich der Begeisterung hinzugeben und mich umzusehen, jedes Details des sagen­umwobenen Raumes in mich aufzunehmen. Ich befand mich in dem unter­irdischen Saal, in dem der Hohe Rat der Hexen tagte und die Tribunale abhielt. Aus meinen Büchern wusste ich, dass der Sitzungssaal sechs Wände besaß, die sich über meinem Kopf in mindestens zehn Meter Höhe zu einem bogenförmigen Gewölbe vereinten. Wie gern hätte ich den Kopf in den Nacken gelegt und die uralten magischen Symbole betrachtet, die bei der Erbauung des Saals in die tragenden Säulen eingelassen worden waren.

Stattdessen schluckte ich und sah auf die Hexen vor mir, die in zwei Ebenen, einer Tribüne gleich, über mein Schicksal und mein Leben entscheiden würden.

»Sebastien de Beauvais«, hallte die Stimme der Ratsvorsitzenden Calliope durch den Saal. »Du bist angeklagt, dich der Blutmagie hingegeben zu haben, dem höchsten Verbrechen der Hexenwelt.«

»Ich …«, wollte ich mich instinktiv verteidigen, doch schon dieses eine Wort blieb mir im Hals stecken, als mich Calliopes finsterer Blick traf, noch ehe ihr Zauber bei mir ankam.

»Schweig!«, sprach sie den Befehl ihrer Sigille zusätzlich aus. Der Befehl hallte wie Donner durch den Ratssaal, ehe er mir die Lippen versiegelte.

»Aufgrund der Macht, die sich bei deiner Initiation gezeigt und die uns von deinem Zirkel bestätigt wurde, sehen wir uns gezwungen, zu einer sofortigen endgültigen Maßnahme zu greifen.«

Während es mir eiskalt den Rücken hinablief, meine Lippen unkontrolliert bebten, war Calliopes Gesicht bar jeder Emotion. Sie blinzelte nicht, zeigte nicht einmal ein kleinstes Zucken ihrer Mundwinkel oder der Stirn. Irgendetwas, was mir vielleicht geholfen hätte zu ergründen, ob sie mit »endgültig« tatsächlich das meinte, was ich mir zu glauben verbot. Seit Liam Atwood war niemand mehr ohne Tribunal hingerichtet worden, ohne die Möglichkeit, Zeugen zu befragen und die Umstände ausführlich zu untersuchen.

»Das wäre vorschnell«, sagte eine Stimme hinter mir. Auch wenn ich Calliope nicht aus den Augen lassen wollte, drehte ich mich um. Am Rande des in den Marmor unter mir eingelassenen schwarzen Pentagramms standen drei Weißroben. Ich konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob die zwei Frauen und der Mann jene Hexenjäger waren, die mich überwältigt und mitgenommen hatten. Eine der Frauen fuhr fort: »Vielleicht ist etwas bei seiner Initiation … schiefgelaufen.«

Ein abfälliges Auflachen ließ mich wieder zu Calliope herumschnellen. »Das glaubst du doch selbst nicht, Giulia! Ich habe eine Verantwortung den Hexen der ganzen Welt gegenüber. Erlaube dir nicht, meine Entscheidung anzuzweifeln. Auch wenn du eine Mescinia bist, hast du nicht das Recht dazu.«

Ihre Stimme wurde immer schärfer, schnitt durch meine Ohren hindurch direkt in mein Gehirn – und doch blieb ich an dem Namen hängen. Giulia Mescinia. Ich hatte nie eine Hexe aus der Familie meines leiblichen Vaters kennengelernt. Auch in den ganzen Chroniken, die ich gelesen hatte, stand kaum etwas über die Tätigkeiten der Familie, nur über die Macht, die seit Jahrhunderten mit dem Namen verbunden wurde. Dass sie zu den Hexenjägern gehörten, hatte ich mir durch Berichte in den ausgelesenen Hexenzeitungen meines Stiefvaters zusammengereimt, wann immer ich eine davon in die Finger bekam.

Eine finstere Stimme in mir flüsterte, dass sich der Kreis so schließen würde. Ein Mescinia hatte mir das Leben geschenkt, eine Mescinia würde mich hinrichten.

»Verzeih mir, Ratsvorsitzende.« Der Tonfall von Giulia Mescinia klang alles andere als entschuldigend, aber Calliope nickte zufrieden.

»Nehmt ihn mit und bereitet der Quelle der Dunkelmagie ein Ende.«

Wie konnte sie so emotionslos über meinen Tod sprechen? Ich wollte etwas sagen, schreien, brüllen, mich auf die Knie werfen und um mein Leben betteln. Doch ich konnte mich aufgrund des Zaubers, der über dem Pentagramm lag, nicht vom Stuhl erheben, meine Lippen waren von Calliopes Zauber noch immer versiegelt. Ich spürte die Tränen, die mir unablässig aus den Augenwinkeln rannen. Es hätte heute mein großer Tag werden sollen. Ich hatte Maman stolz machen wollen – und nun hatte ich nicht nur sie enttäuscht, sondern gleich meinen ganzen Zirkel entehrt. Mein Stiefvater hatte immer richtig­gelegen. Er hatte gewusst, dass ich zu nichts taugen würde, das selbstgefällige Grinsen, als ich abgeführt wurde, hatte es deutlich gezeigt.

Vergib mir, Maman. Et Papa, auch wenn ich dir nie begegnet bin.

Ich senkte kurz die Lider. Bis ich wieder aufsah, waren die Ratsmitglieder via Sigillenfährte – der kräftezehrenden, aber schnellsten Art des Reisens der Hexen, einer Teleportation ähnlich – verschwunden und der Zauber, der mich auf dem Stuhl hielt, verpuffte. Ich fiel zur Seite und schaffte es gerade noch, mich mit den Händen aufzufangen. Ein stechender Schmerz fuhr durch mein Handgelenk und ich stieß eine Verwünschung aus. Offenbar war auch der Schweigezauber gebrochen. Auf allen vieren sah ich auf und traf den Blick von Giulia Mescinia, die sich eben mit dem männlichen Hexenjäger unterhielt. Hinter ihnen nichts als die kahle Wand. Die zweite Jägerin war ebenfalls abgereist.

»Er ist eine Junghexe, kaum älter als Adela!«, sagte sie gerade, der Mann schüttelte jedoch den Kopf.

»Blutmagie, Giulia. Er hat sich der Blutmagie bemächtigt.«

»Das glaubst du doch selbst nicht! Wie sollte er das denn bewerkstelligt haben ohne Sigille? Der gesamte Zirkel war zugegen und niemand hat von Blut berichtet.« Giulia schob den Unterkiefer hin und her. »Würdest du nicht wollen, dass man Adela beschützt, sollte sie in dieselbe Situation geraten? Was, wenn jemand den Initiationszauber verflucht hat? Was, wenn Adela in ein paar Monaten dasselbe Schicksal ereilt, Alfredo?«

Der Mann, wenn ich den Namen richtig zuordnen konnte, Giulias Gemahl, begann zu zweifeln. Giulia legte sofort nach. »Bei Liam Atwood hat der Rat zu schnell geurteilt, lass uns nicht denselben Fehler begehen wie vor zwei Jahren.«

Es gab nicht sehr viele Hexen, die sich dem Aufspüren und Ergreifen von Dunkelhexen widmeten. Aber war es nun Segen oder Fluch, dass nun dieselben Jäger vor mir standen, die auf den Befehl des Rates hin den zu jener Zeit mächtigsten Hexer der Welt, Liam Atwood, hingerichtet hatten?

Der Mann stieß seufzend den Atem aus, öffnete eben den Mund für einen Konter, als die Luft statisch aufgeladen wurde und für Gänse­haut sorgte. Eine blaue Rauchwolke zischte wie eine Nebelschlange unter dem Gewölbe über dem Pentagramm umher, tanzte zwischen den sechs Wänden immer weiter nach unten, bis sie sich direkt über dem Boden in eine Frau verwandelte, die noch älter aussah als Florence.

Giulia und Alfredo Mescinia senkten sofort den Kopf zum Gruß. Selbst ich folgte dem Beispiel, schließlich hatte ich vor Mamans Tod die wichtigsten Verhaltensregeln gelernt und Augurinnen, die Prophetinnen der Hexenwelt, die auch jenseits des Rates agieren konnten, verdienten den höchsten Respekt.

»Aveline!«, grüßte Giulia die Augurin, und ein schon fast liebe­volles Lächeln zeigte sich auf ihren Lippen, was sie direkt sympathisch werden ließ – selbst in der weißen Jägerrobe.

»Ihr dürft ihn nicht hinrichten«, krächzte die alte Augurin und Giulia verschluckte sich, weshalb sie husten musste.

»Wir können nicht gegen Calliopes Anweisung agieren«, sagte Alfredo sofort. »Wir sind an den Hohen Rat gebunden. Wo kämen wir denn hin, wenn …«

Aveline stieß ein Schnauben aus, das eher zu einem Teenager als zu ihrer betagten Erscheinung passte, und sah zu mir. Ihre Augen strahlten schon beinahe vergnügt, schienen nicht so richtig in das von Falten und Altersflecken übersäte Gesicht zu passen.

»Ich habe das Privileg, jenseits des Hohen Rates Entscheidungen fällen zu können.« Sie legte Giulia die Hand auf die Schulter und strich sanft darüber. »Niemand wird davon erfahren. Ich nehme den Jungen mit und verstecke ihn mit der Magie der Auguren.« Sie hob ihren rechten Arm, die dunkelblaue Robe glitt zurück und zeigte eine Sigille, die mit viel Fantasie einem Blitz glich – oder dem mathematischen Zeichen für Wurzel. Die Augurensigille, die die Macht der drei Augurinnen verband, den mächtigsten Seherinnen der Welt. Diese drei Hexen richteten unentwegt ihren Blick auf die Zukunft der Hexenwelt und konnten – zum Wohle der Magie – jenseits der Autorität des Hohen Rates agieren. »Ich werde ihn ausbilden, und wenn das, was wir gesehen haben, zutrifft, wird diese Junghexe alles verändern. Vor allem für dich, Alfredo.« Sie lächelte den Jäger an, der sogleich die Augenbrauen zusammenzog.

»Was willst du damit sagen? Hattest du eine Vision über mich?« Ich konnte regelrecht sehen, wie sehr er nach einem Blick in die Zukunft lechzte. Ich konnte es ihm nachfühlen.

»Nicht nur über dich.« Aveline machte eine Pause, in der weder Alfredo noch Giulia oder ich auch nur wagten zu atmen. Dann fuhr sie fort, ihre Stimme hallte im Ratssaal wider, jede Silbe mächtig genug für eine Prophezeiung, die sich selbst erfüllen würde. »Sebastien de Beauvais wird die Stellung aller männlichen Hexen der Welt verändern.«

Die Worte tanzten um mich herum wie Hexenfunken, strichen sanft über meine Arme, verursachten eine Gänsehaut, die ich so noch nie gespürt hatte. Sie berührten mich bis tief in mein Innerstes, zupften an einem Teil von mir, den ich bereits verkümmert geglaubt hatte. Hoffnung. Ich würde Maman stolz machen.

Erst als sich meine Wangen verkrampften, bemerkte ich, dass ich lächelte, während jedes Blinzeln Tränen aus meinen Augen schob. Ich erhob mich vom Boden und atmete das erste Mal seit dem Tod meiner Mutter richtig auf.

Aveline trat flankiert von Monsieur und Madame Mescinia zu mir. Die Augen der Augurin funkelten noch immer vergnügt.

»Ich wollte schon immer mal das Recht der Auguren nutzen, Entscheidungen des Rates zu übergehen. Im Besonderen Entscheidungen von Calliope, dieser Bissgurke!« Sie lachte, während Alfredo schockiert die Luft einsog.

»Aveline!«, tadelte Giulia, bemühte sich offenbar aber, nicht ebenfalls zu grinsen.

»Komm mit, Junge.« Aveline streckte mir die linke Hand entgegen, zögernd erhob ich meine. Begrüßungen unter Hexen sind eine Demonstration von Macht. Im Gegensatz zu normalen Menschen grüßen sich Hexen, indem sie das Handgelenk des Gegenübers ergreifen und so die Sigille berühren.

»Bei allen Hexen!« Aveline schüttelte den Kopf. »Nehmt ihm erst dieses Ding ab.« Sie deutete auf die Hämatitfessel und sofort öffnete Giulia den Verschluss. Umgehend kehrte die Magie in meinen Körper zurück, belebte jede Zelle wie Sommerregen nach einer langen Dürre.

Mit einem leisen Klackern landete die Kette mit den eingeflochtenen Hämatiten auf dem Marmorboden, wo der Stein sofort begann, die Magie des Ratssaals, all die Schutzzauber, die über ihm und insbesondere dem Pentagramm in seiner Mitte lagen, in sich aufzusaugen. Schnell bückte sich Alfredo und hob die Fessel auf, vorsichtig darauf bedacht, den weiten Ärmel der weißen Robe zwischen sich und der magiesaugenden Kette zu halten, ehe er sie in einem kleinen dunklen Samtbeutel versenkte, auf dem ein goldenes M eingestickt war.

»Das war knapp«, kommentierte Aveline trocken, ihre Hand war noch immer in meine Richtung ausgestreckt. »Calliope hätte es gespürt, wenn jemand versuchen würde, die Zauber hier zu brechen.«

Ich atmete tief durch und ging einen letzten Schritt auf sie zu, griff mit meiner Hand nach ihrem Handgelenk, während sie dasselbe bei mir tat. Kaum dass ich ihre seidig weiche, faltige Haut berührte, raste eine Welle der Magie durch meinen Körper. Avelines Macht schien grenzenlos, niemals endend.

Ich sah ihr in die viel zu jungen Augen, die sich gerade kaum merklich weiteten, ehe sie mich abrupt losließ, sodass meine Hand nach unten fiel. »Ich wusste es doch«, sagte sie noch mit einem Grinsen, ehe sie sich an die Mescinias wandte: »Ihr könnt zurück nach Rom. Euer Auftrag ist erledigt. In den Chroniken wird stehen, dass Sebastien de Beauvais am heutigen Tage hingerichtet wurde.«

Sie hob die Hand, ihre Sigille schimmerte erst leicht, leuchtete dann gleißend hell auf, ehe die Magie aus ihr herausbrach, über ihren altersfleckigen Handrücken zu den Fingern floss und auf mich zuglitt. »Sebastien de Beauvais wird in den kommenden Jahren nicht mehr existieren. Du wirst fortan Théo Miroir genannt werden.«

Ihre Magie war überwältigend, sie schlug über mir zusammen wie eine Welle. Ich sah bildlich vor mir, wie die Wogen anschließend auseinandertrieben, hier und da auf der Welt einen Funken erzeugten, um die nicht vorhandene Vergangenheit von Théo glaubhaft zu machen. Mein Handgelenk kribbelte, und begleitet von einer kühlen Brise veränderte sich auch die Sigille daran. Ich starrte auf das ureigene Zeichen meiner Magie.

Avelines Blick folgte meinem. »Nur ein kleiner Tarnzauber, damit niemand auf die Idee kommt, an deinem Namen zu zweifeln.«

Was sie als kleinen Tarnzauber abtat, ließ mich vor Ehrfurcht erschaudern. Wenn ich mich stark konzentrierte, konnte ich die zu meinem echten Namen gehörende Sigille durch die Tarnung hindurchschimmern sehen, aber niemand würde so genau hinsehen, oder?

Zufrieden nickte Aveline, verabschiedete sich von Giulia und Alfredo Mescinia, meinen … Verwandten, ehe sie mir die rechte Hand reichte. »Lass mich dir dein neues Zuhause zeigen, Théo.«

Ich griff nach ihrer Hand und gemeinsam reisten wir in blauem Nebel davon.

3

Alex

Zwei Monate zuvor

Schon wieder eine neue Austauschschülerin. Ich hatte nie verstehen können, warum das Grimm-Gymnasium oder gar Falkhausen für Außenstehende so reizvoll war, aber ständig tauchten neue Gesichter auf und wurden direkt neben mich gesetzt, weil es der einzig freie Platz im Klassenzimmer war.

Unser Mathelehrer, Herr Reeder, stellte die Neue als Ela aus Rom vor. Während der Stunde zupfte sie ständig an dem Armband an ihrem linken Handgelenk herum, ein eindeutiges Zeichen von Nervosität. So ging es allen Neuen, aber spätestens in der Pause, wenn unsere Schulsprecherin Patricia oder die Clique um die Geschwister Chris und Noah Brand sie in ihren erlesenen Club aufnehmen würden, wäre das vorbei. Das Schema hatte sich in den vergangenen Jahren nicht geändert und daher ersparte ich uns beiden Zeit und erklärte ihr nach Ende der Stunde, dass sie sich von mir fern- und sich wohl besser an die Hyänen halten sollte.