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Ein Haus in einem alten Geisterdorf in Italien, ein Traum, der zum Albtraum wird ... Der nervenaufreibende neue Pageturner von Vera Buck, «der Meisterin des Plot-Twists» Alltag eines Bestsellers Ein Haus in Italien für einen Euro: Für die deutsche Architektin Tilda ist die verfallene Villa auf Sardinien ein Glücksgriff. Sie will alle Brücken hinter sich abbrechen und stürzt sich in die Renovierung. Doch die vermeintliche Idylle des verwinkelten Ortes trügt. Ist das Geisterdorf wirklich so verlassen, wie es den Anschein hat? Sonntags läuten die Glocken, und Unbekannte behaupten, ein Fluch liege auf Tildas Haus. Zusammen mit dem Journalisten Enzo, der die Geschichte des Dorfes erforscht, versucht Tilda herauszufinden, was hier geschehen ist. Doch der einzige Bewohner, der mehr weiß, ist der alte Silvio. Und der schweigt beharrlich. Als plötzlich Tildas jüngerer Bruder Nino vor ihrer Tür steht, lässt Tilda ihn zähneknirschend bei sich unterkommen. Er bringt Erinnerungen mit, die sie dringend vergessen will. Dann verschwindet Nino auf mysteriöse Weise. Getrieben von der verzweifelten Suche nach ihm offenbart sich Tilda und Enzo im schroffen Hinterland der Insel eine Wahrheit, die düsterer ist als jede Geistergeschichte – und die eng mit Tildas eigener Vergangenheit verwoben scheint.
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Seitenzahl: 466
Veröffentlichungsjahr: 2025
Vera Buck
Thriller
Das dunkelste Buch des Sommers
Ein Haus für einen Euro. Ein Sommer in Italien. Ein Traum, der keiner ist.
Verwinkelte Gassen, flirrende Hitze, ein Dorf, in dem die Zeit stehen geblieben ist. In Botigalli gibt es Häuser für nur einen Euro. Ein verlockendes Angebot – und eine Falle. Denn wer hier einzieht, kauft mehr als nur Mauern. Er kauft die Geheimnisse, die darin wohnen. Auch die dunklen.
«Vera Buck ist die Meisterin des Plot-Twists.» Alltag eines Bestsellers
Vera Buck hat Journalistik, Europäische Literaturwissenschaft und Drehbuchschreiben in Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien und auf Hawaii studiert. Für ihr Schreiben erhielt sie Stipendien und Auszeichnungen im In- und Ausland. Sowohl ihr Debütroman Runa als auch ihr erster Thriller Wolfskinder erhielten eine Nominierung für den Friedrich-Glauser-Preis. Mit Das Baumhaus schaffte sie den Sprung in die Bestsellerliste und war für den Crime Cologne Award nominiert. Heute lebt die Autorin in der Schweiz, wo sie bei mitunter halsbrecherischen Touren Inspiration für ihre Thriller findet.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung semper smile, München
Coverabbildung Barbara Prasnowska/Arcangel Images
ISBN 978-3-644-02307-9
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Die Luft flirrt in der Sonne. Das Wasser unter dem Boot ist träge, fast ölig. Ich strecke eine Hand aus, um hineinzugreifen. Es ist, als würde ich meine Finger in warme Suppe tauchen.
Das T-Shirt klebt mir verschwitzt am Rücken. Selbst hier auf dem Meer entkommt man der Hitze nicht. Ich lasse den Blick über das türkisblaue Wasser gleiten. Eine Möwe hebt schwerfällig die Flügel und gleitet lustlos über das Meer hinweg. Ein paar Meter weiter treibt ein zweites Boot in der ansonsten einsamen Bucht. Wie ein schaukelnder Scherenschnitt hebt es sich vor der gleißenden Sonne ab. Und etwas an dem Boot – oder an dem Unbekannten darauf – lässt mich zweimal hinsehen. Ein Zittern geht durch meine Hand, die das Steuer hält.
Einen Moment glaube ich, dass die Hitze mir einen Streich spielt. Dass es eine optische Täuschung ist. Das Flimmern der Sonne über dem Meer. Aber es ist keine Täuschung. Ich erkenne ihn sofort. Die Luft bleibt mir augenblicklich in der Kehle stecken. Meine Finger krampfen sich fester ums Steuer. Die Erinnerungen überschwemmen mich wie eine gigantische Welle. Da sind sie plötzlich wieder, die Schreie, die Verstörung und der Schmerz danach. Die vielen Nächte, in denen ich wach lag und weinte. Aus einem Angstgefühl heraus, das mich nie wieder losgelassen hat. Ebenso wenig wie das Gesicht jenes Mannes. Es hat sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingefressen. Ich würde es überall erkennen. Ich habe es hier und jetzt erkannt. Es ist dasselbe Gesicht, derselbe Mann. Ich bin mir sicher. Nie im Leben war ich mir einer Sache so sicher. Es ist, als würde die Zeit zurückgedreht und mir die Möglichkeit gegeben, es diesmal richtig zu machen. Vergeltung zu üben. Angst und Wut kriechen aus meinem Magen hoch, direkt in meine Kehle. Das sanfte Schaukeln der Wellen bereitet mir plötzlich Übelkeit. Ich will mich übergeben.
Der Mann im anderen Boot dagegen bemerkt mich nicht. Erkennt mich nicht. Kann mich nicht erkennen.
Denn der Mann im anderen Boot ist tot.
Die Kopfhörer sind mit Klebeband an meinen Ohren festgeklebt, damit ich nichts mehr höre. Nicht die Hunde, die draußen bellen. Und nicht die Hubschrauber, die über dem Loch kreisen, in das sie mich gesteckt haben. Ich soll überhaupt nichts hören, was mir verraten könnte, wo ich bin. Aber eigentlich weiß ich es schon: Das hier ist die Hölle.
Es ist dunkel und kalt. Ich liege zusammengekrümmt in einer Holzkiste. Eine Kiste in einem Bodenloch. Zusätzlich hat man mir einen Sack über den Kopf gestülpt und ein Tuch in den Mund gesteckt. Der Knebel erschwert mir das Atmen, das Schlucken. Warum ist es nötig, mich hier drinnen auch noch blind und taub und stumm zu machen? Meine Sinne sind fast vollständig ausgeknipst. Nur meinen Körper spüre ich noch. Er ist wund und juckt überall.
Und dann die Musik. Sie dudelt in meinen Ohren. Tag und Nacht. Füllt meine Gehörgänge. Meinen Kopf. Setzt sich in mir fest. Die Musik ist vielleicht das Schlimmste von allem.
Manchmal kommt einer der Männer, um mir Essen und Trinken zu bringen oder um die Batterien des Walkmans zu wechseln. Das sind die einzigen Momente, in denen ich aus der Kiste komme und mir die Kopfhörer abgenommen werden. Meine Ohren fiepen dann, als wehrten sie sich gegen die plötzliche Stille.
Die Männer tragen Strumpfmasken, wenn sie mir den Sack vom Kopf ziehen. Sie geben mir Wasser, Brot, manchmal einen Apfel. Als sei ich ein Pferd. Heute gibt es Suppe.
Von dem Knebel sind meine Mundwinkel aufgerissen. Die Suppe brennt in den Wunden, dabei ist sie eigentlich schon kalt. Es muss ein weiter Weg von dem Herd sein, auf dem diese Suppe gekocht wird, bis hierher. Das Loch, die Kiste und ich befinden uns im Nirgendwo. Sicher ist das der Grund, warum sie mich nicht finden. Sie suchen doch nach mir, oder? Ich lausche, doch da ist nichts. Nur das Fiepen in meinen Ohren.
Die Suppe schmeckt nach Blech. Ich wische mir mit dem dreckigen Ärmel durchs Gesicht, schaue den Mann an, der mich durch die Strumpfmaske beobachtet. Wie ein schwarzer Geist. Er sieht unheimlich aus.
Ich weiß, dass ich zurück in mein Gefängnis muss, wenn ich fertig bin. Darum steche ich mit dem Löffel ein Kartoffelstück klein und schiebe es auf dem Boden der Blechbüchse hin und her. Zeit schinden. Die Kiste ist ein Albtraum. Diese Unbeweglichkeit. Doch endlos kann ich den Moment nicht hinauszögern. Endlos ist nur die Zeit in dieser Höhle. Die Dunkelheit. Die Musik. Die Angst.
Zurück in den Sack, zurück in die Kiste. Als würde ein Erdloch, das keiner finden kann, nicht reichen, um mich zu verstecken. Man hat mir ein Gefängnis im Gefängnis im Gefängnis gebaut. Wie bei diesen Holzpuppen, die ineinandergesteckt werden. Ich bin die innerste, die kleinste dieser Puppen. Ein glattes, bemaltes Holzstück, das sich nicht mehr öffnen lässt. Das keinerlei Geheimnis birgt. Keines zumindest, das man lüften könnte, ohne Säge und ein bisschen Gewalt.
Die Suppendose ist leer. Ich kneife die Augen zusammen, als sich der Deckel wieder über mir schließt. Atme hektisch in den Knebel. Ich habe keine Ahnung, warum man mich festhält. Warum man mich ausgewählt hat. Ich habe kein Geheimnis, das die Männer mir entlocken könnten. Nicht mal mit Gewalt.
Die Häuser sind Haut und Knochen. Ein Elefantenfriedhof aus verlassenen Gebäuden, auf einer Bergkuppe in der wilden Barbagia, dem Land der Barbaren. Was für eine Ironie, dass ausgerechnet ich hierherkommen und eins dieser Gerippe mit neuem Leben füllen will.
Ich steige über heruntergefallene Dachziegel und Steine, während ich der Maklerin durch die eng gewundenen Gassen folge. Das Haus, vor dem wir stehen bleiben, ist das letzte in der Straße. Es trägt die Nummer fünfzehn, ist zweistöckig und größer als die anderen. Schief steht es zwischen den Nachbarhäusern eingeklemmt, denen ebenfalls die rechten Winkel fehlen. Bis hin zu den schmalen Balkonen vor den Fenstern im zweiten Stock gibt es praktisch keine geraden Linien. Als hätte ein Kleinkind es entworfen.
Die Maklerin, eine energische Frau mit streng zurückgebundenen Haaren, holt einen Schlüsselbund heraus, der aussieht wie der eines Schlosswarts oder Kerkermeisters. Sie geht einen nach dem anderen durch, bis sie den Schlüssel findet, der in das Schloss in der Holztür passt. Die Tür öffnet sich mit einem Knarren.
Im Haus ist es trotz der Jahreszeit kalt. Die Tapeten sind verblasst und an den Rändern aufgerollt. Die rechteckigen Verfärbungen, die sich vom Fußboden bis zur niedrigen Zimmerdecke ziehen, lassen auf Fotorahmen schließen, die hier viele Jahre gehangen haben müssen.
Links von uns befindet sich die Küche mit ihren gemauerten Wänden. Töpfe und Pfannen hängen an dicken Eisenstiften zwischen den Ziegeln. Von dem Herd selbst sind die Fliesen abgefallen und liegen überall auf dem Fußboden. In der ebenfalls gemauerten Spüle stapeln sich weitere Töpfe, überzogen von Rost und Staub.
«Es hat alles seinen eigenen Charme, nicht wahr?», versucht die Maklerin, die Situation zu retten. «Und die Möbel sind selbstverständlich im Preis enthalten.»
Sie muss von dem kleinen Holztisch und den vier Stühlen sprechen. Dreieinhalb Stühle, korrigiere ich mich und steige über den vierten, zerbrochenen hinweg, um durch die Fenstertür in den Hinterhof zu sehen. Er ist verwildert, die Steintreppe völlig mit Pflanzen überwuchert. Die Wildnis der Berge, die man von hier aus sehen kann, hat den kleinen Ort längst an sich gerissen.
Wir setzen unsere Tour fort. Hinter der Küche befindet sich ein kleiner, fensterloser Raum mit einem WC, in dem der Putz von den Wänden bröckelt. Ein blinder Spiegel hängt über einem Waschbecken, das mir nur bis zu den Oberschenkeln reicht. Ich stelle den Wasserhahn an. Er quietscht und rumpelt und gibt sich alle Mühe. Doch es kommt nichts.
Die Maklerin runzelt die Stirn, bevor sie den Hahn ein paarmal energisch schlägt wie einen störrischen Esel. Daraufhin hustet er mehrere Spritzer rostbraunes Wasser aus und beginnt zu laufen.
«Ecco!», sagt sie. «Na bitte!»
Zufrieden klemmt sie ihre Mappe vor die Brust und führt mich in den letzten Raum im Erdgeschoss, das Wohnzimmer, dessen Wände von Rissen durchzogen sind wie von alten Narben. Es gibt auch in diesem Raum noch ein paar Möbel, aber alle versteckt unter weißen Tüchern. Ich mache mir nicht einmal die Mühe, die Laken abzuziehen. Mir fallen die dunklen Flecken auf dem Boden auf. Probeweise reibe ich mit dem Schuh darüber. Sie sind überall. Sind das Wasserflecken? Schwarzer Schimmel? Sie sind ungewöhnlich dunkelbraun. Ich blicke auf und stelle fest, dass auch die Wände voll davon sind. Versprenkelte dunkle Flecken. Und Löcher. Sind das … Einschusslöcher? Ich drehe mich zur Maklerin um, die mit ihrem Klemmbrett im Eingang steht und mich mit einem gezwungenen Lächeln ansieht.
«Wer hat hier früher gewohnt?», frage ich.
«Eine Familie», sagt sie ziemlich vage.
«Und kennt man den Grund für den Auszug?»
Das Lächeln der Maklerin verrutscht. Ihre manikürten Finger krallen sich fester um das Klemmbrett.
«Derselbe Grund wie bei allen anderen Bewohnern. Der Ort wurde 1982 komplett verlassen. Seitdem steht das Haus leer.»
Ich nicke und lasse das Thema fallen. Mehr werde ich von ihr nicht erfahren. Über eine Holztreppe gelangen wir ins obere Stockwerk. Zwei Schlafzimmer. In einem davon stehen ein großes Bett und ein verlassener Kleiderschrank, in dem anderen ein schmaleres Bett und eine Kommode. Auch hier ist alles mit Laken abgedeckt. Im Badezimmer offenbart sich uns dann geradezu ein Anblick der Verwüstung. Das Fenster ist kaputt. Die Scherben liegen überall auf dem Boden verteilt. Selbst in der alten, halb zertrümmerten Badewanne.
Diesmal bleibt die Maklerin stumm. Sie zeigt mir nicht einmal mehr den Dachboden, woraus ich schließe, dass sie nicht die geringste Hoffnung hat, mir das Haus zu verkaufen. Gut so. Dann können wir das ganze Prozedere abkürzen.
«Möchten Sie sich noch andere Objekte im Ort ansehen?», fragt sie halbherzig. Genug gäbe es, das weiß ich, denn ich habe vorab den Katalog studiert. Das ganze Dorf steht zum Verkauf.
«Nein danke», sage ich. Die Maklerin nickt verständnisvoll. Wir verlassen das Gebäude und gehen zu den Autos zurück, die wir auf der gepflasterten Straße vor dem Ortseingang abgestellt haben. Botigalli ist nicht für Autos gebaut. Die Straßen haben Eselskarrenbreite. Selbst mit eingeklappten Spiegeln wäre ich nicht bis zu der Gasse gekommen, in der das Haus liegt.
Vor uns breitet sich die bergige Landschaft von Sardinien aus. Fast eine Stunde Autofahrt durch wilde Serpentinen hat es gedauert, um herzukommen. Ich blicke mich noch einmal um, zum Dorf. Wie Bienenwaben ziehen sich die Häuser den Gebirgskamm entlang. Einige sehen aus, als würde der Berg sie verschlucken. Dahinter ragen steile Felsen in den Himmel. Und ganz oben, auf der Spitze des Grats, thront die Kirche. Es ist ein irrer Anblick.
Die Maklerin holt einen Stapel Mappen aus ihrem Kofferraum. «Wissen Sie, wir haben natürlich auch noch Objekte in anderen Dörfern. Bonnanaro beispielsweise, ein paar Kilometer nordwestlich von hier, ist ein ganz entzückender Ort.» Sie deutet in die Ferne, auf die karg bewachsene gebirgige Landschaft. «Oder, mein persönlicher Favorit, Osilo, nahe der Stadt Sassari. Da müssten Sie sich allerdings beeilen, die meisten Häuser sind nämlich schon verkauft. Die Gemeinde erlebt gerade einen richtigen Aufschwung durch die Neuzugezogenen. Da gibt es jetzt sogar Restaurants und Geschäfte. Und ich möchte ganz ehrlich zu Ihnen sein: All das sehe ich in absehbarer Zeit für Botigalli nicht. Nicht bei der Reputation, die diesem Ort anlastet.»
Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, von welcher Reputation sie spricht. Ich hatte im Vorfeld kurz darüber gelesen, als ich mich über das Dorf schlaugemacht habe, dem Ganzen dann aber keine weitere Beachtung geschenkt. Die Wahrscheinlichkeit, beim Kauf eines alten Hauses an eine Immobilie zu geraten, in der schon mal jemand gestorben ist, ist immerhin ziemlich hoch und hat mich noch nie abgeschreckt. Wenn ich mich überhaupt vor Geistern fürchten sollte, dann vor denen, die ich selbst hierhin mitbringe.
«Sie wären ohnehin ziemlich alleine hier. Und dann derart abgelegen. Und als Frau.»
Die Dame hat wirklich ihren Job verfehlt.
«Ich nehme es», sage ich, bevor sie es für uns beide noch unangenehmer machen kann.
«Bitte?»
«Ich möchte das Haus gerne kaufen.»
Sie starrt mich kurz an, als erwarte sie, dass ich den Scherz auflöse. Als das nicht passiert, wendet sie sich hastig ab und klopft unnötigerweise ihren Mappenstapel in Form, bevor sie ihn zurück in den Kofferraum legt.
«Entschuldigung, das kommt jetzt wirklich etwas überraschend! Aber dann … herzlichen Glückwunsch!»
«Danke.» Ich ringe mir ein unverbindliches Lächeln ab.
«Es ist durchaus ein Haus mit Potenzial.»
«Absolut.»
«Und für den Preis von einem Euro – da kann man ja eigentlich gar nichts falsch machen, nicht wahr?»
Ich lächle weiter. Sie sieht noch immer verlegen aus.
«Es muss natürlich eine offizielle Bewerbung stattfinden, aber wie Sie wahrscheinlich schon herausgehört haben, sind Sie derzeit die einzige Interessentin, das sollte also kein Problem sein. Dann gibt es noch die Prüfung Ihrer finanziellen Mittel für die Renovierung. Die amtlichen Mühlen in Italien mahlen da langsam, Sie müssen etwas Geduld haben …»
«Natürlich.»
«Aber – wenn Ihr Entschluss trotz alldem noch fest steht …», sie wirft einen Blick zurück auf den Ort, als könne sie es noch immer nicht glauben, «dann habe ich natürlich eine Liste mit Adressen von Handwerkern, die wir empfehlen können. Es ist wirklich nicht einfach, in dieser Region zuverlässige Leute zu finden, darum würde ich stark dafür plädieren, unseren Empfehlungen zu folgen. Wir haben außerdem gute Erfahrungen mit einem Architekten gemacht, der die meisten Häuser in Osilo renoviert hat. Möchten Sie, dass ich Ihnen den Kontakt gebe?»
Ich lächle noch breiter. «Das wäre sehr nett, danke», sage ich. Die Dame hat wirklich keine Ahnung, wer ich bin. Und das ist gut so.
Ein Haus für einen Euro auf Sardinien. Es klang erst wie ein Witz und dann, als ich mich näher damit beschäftigte, wie ein Wink des Schicksals. Dabei bin ich normalerweise nicht der abergläubische Typ. Ich lese keine Horoskope, lege keine Tarotkarten. Ein Yogakurs ist bisher mit Abstand das Spirituellste, was ich ausprobiert habe. Und selbst dort bin ich nach drei Wochen nicht mehr hin. Zu viel Arbeit und zu wenig Geduld.
Aber nach dem Tod meines Vaters schien mir dieser Zeitungsartikel, den ich in seinem Büro fand, wie ein letzter Fingerzeig von ihm. Wie eine ausgestreckte Hand. Der Titel lautete: «Ein weiteres sardisches Geisterdorf verkauft seine Häuser für einen Euro». Und darunter war ein Foto von Botigalli, aus der Luft fotografiert. Ein spektakulärer Gebirgszug, verlassene Häuser, eine pittoreske Kirche. Der Traum für jeden Architekten, der sich für Restauration interessiert. Umso mehr noch für eine Architektin mit italienischen Wurzeln, wie ich es bin. Ich kann nicht anders, als zu glauben, dass mein Vater den Artikel für mich ausgeschnitten hat und einfach nicht mehr dazu gekommen ist, ihn mir zu geben, bevor er starb. Sein Ableben kam so plötzlich, dass es auch ein Jahr später immer noch ein Schock für mich ist.
Natürlich habe ich den Haken gesucht. Irgendwo musste es einen geben. Es verkauft einem doch niemand einfach so ein Haus für einen Euro – ein ganzes Dorf für den Preis einer Familienpizza! Aber sosehr ich auch suchte, ich fand den Tisch nicht, über den man mich hätte ziehen können.
Im Gegenteil – als ich weiterrecherchierte, ergab alles sehr viel Sinn: Mit dem Ein-Euro-Projekt sollen die aussterbenden Geisterdörfer in Italien vor dem Verfall gerettet werden. Der Wiederaufbau schafft Arbeitsplätze für die Region, nicht nur im Baugewerbe, sondern auch in den Restaurants. Man erhofft sich neue Hotels und Pensionen. Und dass das alles funktioniert, zeigt sich überall in Italien. Inzwischen gibt es ehemalige Ein-Euro-Orte, die so beliebt sind, dass ganze Reisebusse von Touristen dorthin fahren. Je tiefer ich in das Thema einstieg, desto deutlicher sah ich, wie der Plan für alle Seiten aufgehen konnte. Sogar für mich.
Alles, was ich als Käuferin tun muss, ist, der Gemeinde einen Finanzierungsplan für die Renovierung vorzulegen. Nach spätestens einem Jahr sollen die Bauarbeiten beginnen und drei Jahre danach abgeschlossen sein – wobei ich schon gehört habe, dass diese Deadline italienischen Regeln folgt und durchaus noch verlängert werden kann. Selbst für jemanden, der nicht wie ich im Baugewerbe arbeitet, ist das durchaus machbar.
Die über vierzig Dörfer, die inzwischen zum Verkauf stehen, kann man online auf einer Karte ansehen. Ich habe mich interessehalber ein wenig durchgeklickt, bin aber immer wieder zu diesem Ort zurückgekehrt, um den es in dem Artikel ging: Botigalli, an der Ostküste Sardiniens. Rund fünfzig Häuser und nur eine Straße, die schneckenhausförmig hinauf zur Kirche führt. Ein winziger Geisterort. Fast schon ein Geisternest. Und – wie ich einem anderen Online-Artikel entnahm – bisher ohne einen einzigen Käufer.
Daran ist vielleicht zum Teil die Geschichte des Ortes schuld. Ganz sicher aber ist es auch die Abgeschiedenheit. Mit einer Stunde Autofahrt zum nächsten Strand oder Supermarkt und keinerlei Restaurants in der Nähe, entspricht Botigalli nicht gerade dem Ideal von Bella Italia. Aber ich will ja auch kein Bella Italia. Ich will einfach nur meine Ruhe.
Es gibt keine Straßenlampen in Botigalli. Nicht einmal Straßennamen. Offiziell ist das kleinste Dorf Sardiniens mit rund siebzig Einwohnern die Ortschaft Baradili. Aber in der Statistik tauchen nur Dörfer auf, in denen noch Leute leben. Botigalli ist tot. Wunderbar tot und einsam. Kein Presserummel. Keine Journalisten. Keine wilden Spekulationen. Ich werde das Leben einer Einsiedlerin führen. Das ist der Gedanke, der mich antreibt, als ich in den Wochen nach der Besichtigung mit der Maklerin alle notwendigen Unterlagen zusammenstelle, Pläne für die Renovierung entwerfe und die symbolische Überweisung von einem Euro tätige. Mein Finger schwebt über der Tastatur, bevor ich die Geldsendung auslöse. Ein lächerlicher Euro. Eine Immobilie zum Preis eines italienischen Espressos. Es ist wirklich verrückt. Dann klicke ich die Entertaste, und das Haus in Italien gehört offiziell mir.
Der Nachmittag wirft lange Schatten, die wie dunkle Finger über das Kopfsteinpflaster kriechen. Die Sonne hat auch heute wieder erbarmungslos vom Himmel gebrannt. Alles hier ist verdorrt, wirkt tot und abweisend. Genau wie der Mann, zu dem ich unterwegs bin. Ich stelle das Auto auf dem Parkplatz vor der verfallenen Mauer ab und steige aus.
Den Weg durch die labyrinthischen Gassen kenne ich bereits auswendig. Unzählige Male habe ich ihn zurückgelegt. Jeden Sonntag gegen vier Uhr klopfe ich an die alte hölzerne Tür. Seine Haushaltshilfe öffnet mir, lässt mich grußlos herein und widmet sich dann wieder ihrer Arbeit. Sie wischt den Staub von ein paar alten gerahmten Fotografien im Flur, während ich die schmale Treppe nehme, die sich ins Obergeschoss hinaufwindet. Die Treppe hat eine Stufe, die immer knatscht, und ich mache einen großen Schritt darüber. In einem Haus, in dem so beharrlich geschwiegen wird, ist es mir immer ein bisschen unangenehm, Geräusche zu verursachen. Und seien sie noch leise.
Silvio sitzt auf einem Stuhl am einzigen Fenster im Raum, den Blick starr nach draußen gerichtet. Der Gardinenspalt ist in den letzten Jahren zu seinem Fernseher geworden. Eine einzige lange Kameraeinstellung in eine tote Gasse. Es muss dort etwas geben, das nur er sehen kann. Mir fällt die Zeitung auf, die auf dem Tischchen neben Silvios Sessel liegt. Es ist L’Unione Sarda. Auf diese Weise ist Silvio auf mich gekommen. Über meine Artikel. Vielleicht hat er sogar meine Aufarbeitung des Falls Alessia Bianchi gelesen?
«Guten Morgen, Silvio», grüße ich und ziehe einen Stuhl heran, um mich zu setzen. Der alte Mann reagiert erst überhaupt nicht. Dann dreht er seinen Kopf langsam in meine Richtung.
«Der Journalist», murmelt er mit einer Stimme, die so rau und alt ist wie das ganze Gebäude. «Immer noch auf der Jagd nach Geschichten, die besser unerzählt bleiben?»
«Nur nach Geschichten, die zu schade wären, um sie zu begraben.»
«Zusammen mit mir, meinst du», erwidert er lakonisch. Und so makaber das sein mag, er hat recht damit.
Der alte Mann ist ein Relikt aus einer anderen Zeit. Ein lebendes Archiv, gefüllt mit Geheimnissen, deretwegen ich hier bin. Wegen eines Geheimnisses ganz speziell.
Fast zweiundvierzig Jahre ist es her, seit das kleine sardische Dorf Botigalli quasi über Nacht ausgelöscht wurde. Beinahe sämtliche Bewohner waren erschossen oder erstochen worden. Silvio DiNardo war einer von wenigen Überlebenden. Als die Polizei am Tatort eintraf, fand sie ihn völlig verstört vor, in seiner Hand eine verbogene Gabel. «Ich habe mich verteidigt», murmelte er wieder und wieder, als die Beamten ihn befragten. Er schien von den Ereignissen gebrochen, unfähig, mehr zu erklären. Die Gabel, ein Symbol seiner letzten verzweifelten Verteidigung, wurde später von den Medien begeistert aufgenommen und landesweit verbreitet. Sie wurde zum Sinnbild dieses grotesken Ereignisses. Und Silvio zum Schlüssel einer Wahrheit, die bis heute im Dunkeln verborgen liegt.
Man hat den Fall nie aufgeklärt. Die Übriggebliebenen schwiegen beharrlich, echte Ermittlungen wurden nie eingeleitet, und irgendwann verloren die Medien das Interesse und wandten sich anderen Themen zu. Das Dorf Botigalli geriet in Vergessenheit – bis ich hier auftauchte.
Ich war schon als Jugendlicher besessen von der Geschichte jener Nacht gewesen und fragte meine Mutter nach den Ereignissen aus. Aber sie wollte nichts davon hören, schlug nur ihr obligatorisches Kreuz und mir die Küchentür vor der Nase zu. Erst jetzt, mehr als vierzig Jahre später, könnte ich endlich Licht ins Dunkel bringen. Zumindest wenn Silvio DiNardo hält, was er versprochen hat, und endlich redet. Silvio ist heute der letzte noch lebende Zeuge des Massakers. Er ist das letzte Puzzlestück, das mir noch fehlt, bevor ich endlich mein Buchprojekt beginnen kann. Ein Buch über die Geschichte von Botigalli. Ich gieße mir Wasser aus der Karaffe vom Beistelltisch ein. Es ist abgestanden und so warm wie die Luft im Zimmer.
«Wäre doch zu schade, wenn alles vergessen würde», sage ich.
«Was soll denn daran schade sein? Wenn ich könnte, dann würde ich selbst alles vergessen.»
Das glaube ich ihm nicht. Sonst hätte er sich nicht darauf eingelassen, mir seine Geschichte zu erzählen.
«Und woran würdest du dann den ganzen Tag denken, hier in deinem Zimmer?»
«An gar nichts! Das wäre doch mal was. Mir würde gar nicht auffallen, dass ich mehr und mehr zerfalle. Es ist ein verdammter Scheiß, wenn der Körper dir unter deinem Kopf wegkrepiert und nur das Denken noch funktioniert.»
«Wäre es dir andersherum etwa lieber? Meine Mutter sitzt im Altenheim und hat nicht, wie du, das Glück noch klar im Kopf zu sein.» Letzterer Umstand hat seine Gründe, aber das muss ich Silvio nicht unbedingt unter die Nase reiben.
«Ich will überhaupt nicht alt werden», erwidert er. Und aus dem Mund eines Mannes, der auf die neunzig zugeht, ist der Kommentar beinahe rührend.
Ich würde ihn gerne fragen, was es ist, das er so unbedingt vergessen will. Ob es jene Nacht ist. Die Schreie, die Schüsse, die vielen Toten. Ist es das, was er vor Augen hat, wenn er durch den Gardinenspalt auf die Straße sieht? Oder gibt es da noch etwas anderes, noch Schlimmeres?
«Außerdem, was weißt du schon übers Altern!», setzt er nach. «Du bist jung.»
«Na ja. Ich bin sechsundfünfzig», erwidere ich.
«Sag ich ja. Jung.»
«Erklär das mal meiner Tochter. Die hat mich bei unserem letzten Familientreffen ganz kritisch betrachtet und gemeint, sie könne mir die grauen Haare aus den Augenbrauen zupfen, wenn ich wollte.»
«Warum sollte sich ein Mann Haare aus den Augenbrauen zupfen lassen?»
Ich zucke die Schultern. «Weil man eine erwachsene Tochter mit einer allzeit bereiten Pinzette in der Handtasche hat?»
«Meine Tochter hatte ein allzeit bereites Mundwerk. Das war auch nicht besser.» Er macht eine Pause. Dann: «Du sagst, deine Mutter ist im Heim?»
«Seit mehr als fünf Jahren.»
«Und wieso hockst du dann hier bei mir, statt sie zu besuchen? Sind aus ihr keine Geschichten rauszuholen?»
Das Gefühl der Rührung verfliegt ebenso schnell, wie es mich überkommen hat. Es ist ein böser Kommentar. Einer, der Silvio ähnlich sieht. Der alte Mann ist durch und durch verbittert. Gefangen in diesem Zimmer. In seinem Körper. Aber sosehr ich mir das auch vor Augen halte, er trifft trotzdem einen wunden Punkt. Meine Frau hat schon mehrmals etwas ganz Ähnliches gesagt, und ich habe ein schlechtes Gewissen deswegen. Ich besuche meine Mutter immer noch oft genug, wenn man die Umstände bedenkt, die diese Besuche für uns beide unerträglich machen. Aber auf die Zahl der Stunden, die ich bereits neben Silvio gehockt habe – neben diesem Fremden, immer in der Erwartung eines weiteren Brockens seiner Geschichte –, komme ich dabei nicht. Und Silvios hämischem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ist mir mein Unbehagen darüber anzusehen.
Ich darf nicht vergessen, wen ich vor mir habe.
«Im Gegenteil, meine Mutter hätte eine sehr interessante Geschichte zu erzählen. Sie ist nur nicht mehr in der Lage dazu.»
«Und dein Vater?»
«Was soll mit dem sein?»
«Na, lebt er noch? Hast du ihn auch ins Altenheim abgeschoben?»
Heute ist er ja wirklich in Höchstform.
«Dann reden wir jetzt über mich?», frage ich, mühsam beherrscht.
«Ist doch nur fair, oder? Du kennst schon mein halbes Leben! Ich habe dir von meiner Frau erzählt, von meiner Kindheit, von meiner Ausbildung, meiner Tochter … Und jetzt frage ich im Gegenzug einmal nach deiner Familie und erfahre nichts!»
«Mein Vater ist nicht im Heim. Er ist schon vor Jahren gestorben.»
«Woran?»
«An einem Strick.»
Er sieht mich verblüfft an. Die Antwort hat er so rundheraus nicht erwartet. Es passiert nicht häufig, dass es mir gelingt, den Alten zu überrumpeln.
«Ich habe eine ziemlich verkorkste Familie, in der gefühlt jeder versucht hat, den anderen im Ableben zu überholen. Nachdem wir das also geklärt haben: Wollen wir wieder über dich reden? Was hältst du von einem Spiel? Ich habe eins mitgebracht. Es heißt: Wahrheit, Wahrheit, Lüge.»
Ich warte gespannt. Wenn man den alten Griesgram so ansieht, dann ist ein Spiel tatsächlich nicht der erste Vorschlag, der einem in den Sinn kommt. Aber ich weiß inzwischen, dass er solche Spielchen liebt. Katz und Maus. Räuber und Gendarm. Ich weiß selten, woran ich bei ihm bin. Er füttert mich stets gerade genug mit Informationen, dass ich angefixt von seiner Geschichte bin, aber nie genug, als dass ich mit dem Gefühl nach Hause gehen könnte, das große Ganze verstanden zu haben. Ich hätte meine Besuche schon längst aufgegeben, wäre das Rätsel um dieses Dorf, diese Nacht nicht so verdammt brisant.
«Was für ein Spiel soll das sein?», fragt Silvio. Unfreundlich wie immer zwar, aber immerhin. Das ist mehr Interesse, als ich an den meisten Tagen von ihm bekomme.
«Ich nenne dir einen Begriff. Du erzählst mir dann zwei Wahrheiten und eine Lüge dazu. Ich muss raten, was der Wahrheit entspricht. Bereit?»
Seinem missmutig verzogenen Gesicht nach zu urteilen, lautet die Antwort Nein.
«Das ist kein echtes Spiel», mault er. «Bei einem echten Spiel braucht es einen Einsatz.»
«Einen Einsatz? Okay … was ist der Einsatz?»
«Tausend Euro.»
Ich lache auf. «Ja klar.»
«Abgemacht.»
«Silvio, ich habe keine tausend Euro, die ich dir einfach so geben kann.»
«Du kannst sie nächstes Mal mitbringen.»
Er meint das wirklich ernst.
«Nein. Ich spiele nicht um tausend Euro. Wie wäre es mit Schokolade? Oder einer Flasche Wein?»
Er schnaubt. «So ein Einsatz muss wehtun. Sonst ist es kein echtes Spiel.»
«In Ordnung, dann machen wir es so: Wenn du verlierst, erzählst du mir ein Geheimnis aus deinem Leben, etwas Persönliches, das du noch niemandem anvertraut hast.»
«Und wenn du verlierst?»
«Mache ich dasselbe.»
«Pah! Als würde ich mich für dein langweiliges Leben interessieren.»
Aber das tut er. Das tut er sehr wohl. Immerhin hat er mich gerade danach gefragt.
«Abgemacht?» Ich strecke ihm die Hand hin. Der Alte seufzt. Es klingt widerwillig, als mache er nur deshalb mit, weil er mir einen Gefallen tun will. Aber ich kenne ihn besser. Silvio liegt nichts ferner, als mir einen Gefallen zu tun.
«In Ordnung also.»
«Gut.» Ich suche nach etwas Unverbindlichem, mit dem wir beginnen können und mit dem ich gleichzeitig dort anknüpfen kann, wo wir letztes Mal in unserem Gespräch stehen geblieben sind: «Fußball», sage ich.
Er neigt den Kopf, während er überlegt. Ich warte, bis er sich gesammelt hat. Dann sagt er: «Erstens: Als junger Mann war ich Torwart in der lokalen Fußballmannschaft von Nuoro.»
Er beobachtet meine Reaktion auf diese Information. Mit einer Verschmitztheit in den Augen, die mir verrät, dass ihm das Spiel gefällt.
«Zweitens: Mein Jugendfreund Paolo und ich haben vor einem Schulturnier mal einen Fußballpokal aus der Schule gestohlen. Als Streich.» Wieder macht er eine Pause, in der er mich listig ansieht. «Und drittens: Am Morgen nach der verhängnisvollen Nacht lag in der Nebengasse ein zerschossener Fußball. Er muss einem der Kinder gehört haben. Ich habe ihn im Zentrum des Friedhofs vergraben, als Zeichen des Friedens.»
Ich richte mich auf. Es ist das erste Mal, dass Silvio von sich aus über jene Nacht spricht. Bislang ist er all meinen Fragen in diese Richtung entweder ausgewichen oder hat sie nur widerwillig und einsilbig beantwortet. Natürlich könnte es die Lüge sein, die er mir in diesem Spiel auftischen darf. Aber wenn nicht … Ich spüre Aufregung in mir aufsteigen und versuche, mir nicht zu große Hoffnungen zu machen. Es kann nicht so einfach sein. Es kann nicht reichen, dem Alten eben mal ein improvisiertes Spiel vor die Füße zu werfen, nachdem ich mir monatelang die Zähne an ihm ausgebissen habe.
Als ich schließlich spreche, pirschen meine Worte sich geradezu an. Als sei das Thema ein Tier, das ich nicht verschrecken will. «Ich denke, Punkt zwei und drei sind die Wahrheit.»
Er grinst. Es ist kein schönes Grinsen. Beinahe zahnlos, und es erreicht seine Augen nicht. Im Gegenteil, sie verengen sich zu Schlitzen. Es lässt ihn eher fies aussehen als freundlich.
«Falsch», sagt er zufrieden. «Es ist alles drei gelogen.» Er kostet meine Verwirrung aus. Sieht zu, wie sie in Ärger umschlägt. Dann schnalzt er mit gespielter Enttäuschung die Zunge: «Ich könnte mich ja schon verletzt fühlen, dass du wirklich glaubst, ich würde einen Fußballpokal aus der Schule stehlen. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nichts gestohlen.»
«Das waren nicht die Spielregeln, Silvio», sage ich bemüht beherrscht.
«Du hast verloren», triumphiert er.
«Du hast nicht fair gespielt.»
«Unser Einsatz», erinnert er mich.
«Vergiss es.»
«Ich würde gerne wissen, warum dein Vater sich erhängt hat.»
«Ich sagte: Vergiss es, Silvio. Du hast nicht fair gespielt, also hast du auch nicht das Recht, irgendeinen Einsatz einzufordern.» Ich ärgere mich umso mehr, weil ich wie ein eingeschnappter Zweitklässler klinge.
«Waren es Probleme in der Familie?», fährt Silvio unbeeindruckt fort. «Hat dein Vater deine Mutter nicht ertragen oder dich?»
Abrupt stehe ich auf. Ich weiß schon jetzt, dass ich mir später vorwerfen werde, nicht souveräner reagiert zu haben. Gelassener. Aber Gelassenheit war noch nie meine Stärke. Sie liegt bei uns einfach nicht in der Familie. Erst recht nicht bei diesem Thema.
Ich schlage die Tür hinter mir zu, als ich das Zimmer verlasse. Ich habe mir schon einiges von dem Alten anhören müssen, aber diesmal ist er zu weit gegangen. Ich bin so aufgewühlt, dass ich fast die Pflegerin übersehe, die im Schatten der Tür steht. Sie hält einen Staubwedel in der Hand, mehr zum Schein, als dass es hier irgendetwas zu Staubwedeln gäbe. Anders als der mit Fotos vollgehängte Eingangsbereich ist dieser Flur nackt. Ich bin mir sicher, dass sie nur dagestanden hat, um zu lauschen.
Maria? Agata? Ich habe ihren Namen vergessen. Sie hat etwas Griechisches an sich, vielleicht aber auch etwas Syrisches. Doch ihr Italienisch hat ganz eindeutig den Klang der Barbagia, als sie mir nachruft: «Er wird Ihnen nicht verraten, was Sie von ihm hören wollen!»
Ich lache bitter auf. So beherrscht wie möglich drehe ich mich zu ihr um. «Signora …»
«Cossu», sagt sie. «Maria Cossu.»
Richtig, so heißt sie.
«Signora Cossu, ich will hier gar nichts hören. Ich bin nur da, um die Geschichte eines Mannes aufzuschreiben, der im Sterben liegt.»
Es ist ihrem Gesicht anzusehen, dass sie mir zu Recht kein Wort glaubt. Wie oft hat sie schon an der Tür gestanden und gelauscht?
«Sie verschwenden trotzdem Ihre Zeit. Er hält Sie hin. Er macht sich über Sie lustig. Sehen Sie das nicht?»
Mir liegt eine böse Antwort auf der Zunge, bevor ich mich daran erinnere, dass ich weniger impulsiv sein wollte. Die Meinung dieser Frau zählt nicht. Sie hat von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass sie nicht begeistert von meinen Besuchen ist.
Die Treppenstufe knarrt unter meinem Fuß, als ich mich abwende und weitergehe. Diesmal bemühe ich mich nicht, leise zu sein.
«Ich werde versuchen, es mir zu merken. Bis nächste Woche, Signora», antworte ich. Obwohl mir gerade nichts fernerliegt, als nächste Woche hierher zurückzukehren.
Draußen ist die Luft noch drückender geworden. Als ich durch die leeren Gassen zurück zu meinem Auto stapfe, innerlich und äußerlich gleichermaßen erhitzt, fühlt es sich an, als würde das Dorf mich beobachten, amüsiert über mein ständiges Scheitern, seine Vergangenheit zu entschlüsseln.
Das, was mich am meisten wurmt, ist nicht Silvios Mogelei heute Nachmittag, sondern was sie bedeutet. Denn wenn er mir schon bei einem einfachen Spiel wie Wahrheit, Wahrheit, Lüge nicht eine einzige Wahrheit auftischt – was war dann von all dem, das er mir bereits erzählt hat, noch gelogen?
Schimpfend setzt der Fahrer den Lieferwagen vor und zurück, als dieser sich stur gegen den engen Winkel des Ortseingangs wehrt. Es knirscht. Mit der Seite schrammt der Wagen an der Mauer entlang.
«Ich hab’s gleich», knurrt der Fahrer, laut genug, dass ich es durchs geöffnete Seitenfenster hören kann. Aber als er erneut versucht, um die Ecke zu kommen, knirscht es nur noch lauter.
Ich wedele mir mit dem Lieferschein Luft gegen die schier unerträgliche Hitze zu und übe mich in Geduld.
Signor Mura ist nicht der Erste, der sich an Botigalli die Zähne ausbeißt. Maurer, Dachdecker, Elektriker, Schreiner, Glaser – sie alle haben sich schon mit einer Lackspur an derselben Stelle verewigt. Aber ich weiß aus Erfahrung, wie wenig es bringt, ihnen als Frau etwas übers Rangieren und Einparken erzählen zu wollen. Daher lasse ich es jeden erst mal versuchen.
Der Mann stößt eine Reihe Flüche aus, die mir inzwischen bestens vertraut sind. Dann gibt er auf. Es ist eine Erleichterung, als er den röhrenden Motor endlich ausstellt und sich wieder Stille über den Ort legt.
Der Gehilfe auf dem Beifahrersitz ist jung, vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt. Dem Aussehen nach könnte er der Sohn sein. Er klettert vom Sitz und holt die Sackkarre, um die Fliesen damit den langen, holprigen Weg bis zum Haus zu transportieren. Aber das Kopfsteinpflaster ist ramponiert und nahezu unbezwingbar. Die Sackkarre kippt, die Pakete krachen auf den Boden. Zwei von ihnen platzen auf, und die Fliesen rutschen heraus. Sie verteilen sich auf der Straße wie umgekippte Dominosteine. Signor Mura verpasst seinem Sohn einen Schlag in den Nacken und flucht in einem Dialekt, von dem ich sogar als Halbitalienerin kein einziges Wort verstehe.
Ich gehe zu ihnen, um dabei zu helfen, die Fliesen aufzuheben.
Ich habe traditionelle Keramikfliesen bestellt, die Hälfte davon handbemalt. Leuchtend gelbe und blaue für die Küche. Blaue, rote und weiße für das Bad. Aus reiner Gewohnheit hatte ich zuerst an Marmor gedacht. Doch es hätte nicht zum Charakter des Hauses gepasst. Zum Stil eines Dorfes, in dem ein guter Teil der Gebäude einfach auf nackten Felsboden gesetzt worden ist. Außerdem hatte ich Lust auf Farbe. Und darauf, einmal alles anders zu machen als sonst.
Ein paar der Fliesen sind zerbrochen, was dem armen Sohn einen weiteren Nackenschlag beschert. Ich presse die Lippen zusammen und versuche, mich nicht einzumischen. Männer wie dieser Signor Mura sind mir zuwider. Ich kann nicht behaupten, dass mein eigener Vater immer alles richtig gemacht hätte. Er war chaotisch und konnte laut und aufbrausend werden. Aber geschlagen hätte er mich und meinen Bruder Nino nie. Obwohl der, ehrlich gesagt, hin und wieder mal einen Klaps verdient gehabt hätte.
Nino ist vier Jahre jünger als ich und in so ziemlich jeder Hinsicht das genaue Abbild meines Vaters. Nie wurde mir das deutlicher als in dem Moment, als ich nach Vaters Tod in dessen Büro stand, ein chaotisches Meer aus Papieren, leeren Kaffeetassen und vergessenen Notizen vor mir. Nicht nur Vaters Schreibtisch – der war unter den Stapeln loser Zettel, unbezahlter Rechnungen und jahrealter Werbeprospekte ohnehin kaum zu finden. Ich meine das ganze Büro. In Ninos Zimmer sah es immer schon genauso aus. Und in Ninos Kopf ebenfalls.
Vater hat uns eine Pizzeria vererbt, die wir bei näherem Blick auf die Zahlen eigentlich hätten verkaufen müssen. Er hatte nie Sinn für Papierkram gehabt. Aber dass die Pizzeria schon seit Monaten in den roten Zahlen steckte, hatte ich vor seinem Tod nicht geahnt. Die Ausgaben überstiegen die Einnahmen. Die Preise waren schlecht kalkuliert, Vater hatte sie trotz der Inflation seit Jahren nicht angepasst. Mitarbeiterlöhne standen aus. Er hatte uns ein sinkendes Schiff hinterlassen, ohne je Wort über das Leck zu verlieren. Vielleicht aus Schamgefühl oder zu unserem Schutz. Aber welchen Unterschied macht das schon?
Ich rechnete Nino vor, was es bedeuten würde, die Pizzeria weiterzuführen. Ohne eine massive Umstrukturierung gab ich dem Lokal maximal sechs Monate. Aber Nino, ohne je viel Sinn für Zahlen gehabt zu haben, bestand trotzdem darauf. Er versucht jetzt, das Restaurant am Leben zu halten. Ausgerechnet mein kleiner Bruder, der bislang nicht mehr betrieben hat als einen YouTube-Kanal. Ich schüttele den Kopf, um den Gedanken an zu Hause loszuwerden. Nino ist erwachsen. Es wird Zeit, dass ich mich einmal um mich kümmere. Und um mein neues Haus.
Ich greife mir zwei Fliesenpakete und gehe voran, ohne auf Signor Mura zu achten, der vehement versucht, meine Hilfe abzuwehren.
In Botigalli gibt es im Grunde nur eine einzige kopfsteingepflasterte Straße, die sich den Berg hinaufwindet. Alle Wege, die davon abzweigen, ranken wie wilder Efeu durch die Häuser. Sie enden in irgendeinem Hinterhof oder Hauseingang oder sind Sackgassen, deren Sinn und Zweck sich mir nicht erschließt. Vielleicht sollten es irgendwann mal Zugänge werden, die aufgegeben wurden, oder aber sie dienen einfach der Verwirrung.
Das irritiert und fasziniert mich zugleich. Ich mag das Ungeplante, das diesen Ort umgibt. Die ungeraden Linien. Hier war kein Städteplaner am Werk, der Straßen und Gebäude auf Millimeterpapier gezeichnet hat, alles strategisch, praktisch, platzeffizient. Dieser Ort ist gewachsen wie ein lebendiges, atmendes Wesen. Ich bin froh, es vorm Sterben zu bewahren. Immerhin etwas, das ich vorm Sterben bewahren kann.
Ganz am Ende der Straße gibt es eine lange, steile Treppe, die zur Kirche hinaufführt. Die Treppe ist ein weiterer Beweis dafür, dass sich hier niemand über Nutzungseffizienz Gedanken gemacht hat. Kein vernünftiger Städteplaner der Welt würde ein öffentliches Gebäude, das vor allem die Alten aufsuchen, auf eine Bergspitze setzen und durch derart viele Stufen nahezu unzugänglich machen!
Vor Anstrengung und Hitze schwitzend, biege ich ein Stück weit vor der Treppe links ein, in die Gasse, in der mein Haus liegt. Schmale Balkone hängen über der Straße, gerade breit genug für die gesprungenen Blumentöpfe, aus denen Unkraut und Ranken sprießen und die rostigen Geländer und Hauswände hinabwachsen. Die Fassaden sind dunkel verfärbt, der Putz abgebröckelt. Es müsste viel getan werden, um diesen Ort wieder bewohnbar zu machen.
Ich stelle die Fliesenpakete ächzend neben der kleinen Treppe vor dem Hauseingang ab, stütze die lahmen Arme in die Hüften und gönne mir einen Moment, um zu verschnaufen. Die Mittagshitze ist nicht auszuhalten. Es reichen schon ein paar Meter, bis mir der Schweiß an Armen und Beinen herunterläuft. Aber die körperliche Arbeit tut mir auch gut. Sie beruhigt meinen Kopf. Und es gab vor dem Umbau tatsächlich nicht vieles, das dazu in der Lage war.
Signor Mura folgt mir mit weiteren Fliesen. Er reibt sich den Schweiß von der Stirn und murmelt etwas im Dialekt, das ich nicht verstehe. Aus dem Kontext schließe ich, dass es um die Affenhitze gehen muss, die hier herrscht. Dann runzelt er die Stirn, legt den Kopf in den Nacken und betrachtet jedes einzelne Fenster.
«Das ist das Haus, in das Sie jetzt einziehen?»
«Ja. Warum?»
Er betrachtet es stumm und antwortet mir nicht. Aber ich habe den Tonfall in seiner Frage gehört. Er klang, als würde ihm die Tatsache Unbehagen bereiten.
«Warum?», hake ich noch einmal nach. Doch in diesem Moment taucht der Sohn hinter uns auf. Auch er legt den Kopf in den Nacken.
«Ist es das Haus, Papà?» Er fragt nicht: «Ist das das Haus, vor dem ich die Ware abstellen soll?» Er fragt, ob es das Haus ist, über das sie vorher schon mal gesprochen haben, über das sie irgendein gemeinsames Wissen teilen, das mir ganz klar fehlt. Ich bin ja nur diejenige, die das Haus gekauft hat.
«Was ist denn damit?», frage ich unwirsch.
«Nichts!», sagt Signor Mura, bevor sein Sohn antworten kann, und nimmt diesem hastig die Pakete ab, um sie zu den anderen zu stellen. Dann packt er seinen Sprössling am Ärmel und zieht ihn zurück zum Lieferwagen, um die restlichen Pakete zu holen. Ich muss an die Flecken im Wohnzimmer denken und an die Löcher in den Wänden, die inzwischen geschlossen sind. Außerdem habe ich einen neuen Boden über dem alten verlegt, nachdem sich die dunklen Verfärbungen selbst mit dem hartnäckigsten Reiniger nicht hatten entfernen lassen. Was ist in diesem Haus passiert? Ich schaudere trotz der Hitze und folge dann Vater und Sohn zurück zum Ortseingang.
Wir laufen hin und her, stapeln Fliesenpakete neben der Treppe und sind bald so nass geschwitzt, als kämen wir geradewegs aus der Sauna. Als ich mit den Umbauarbeiten begonnen habe, war es Frühling und die Luft hier in den Bergen stets angenehm. Aber jetzt, Ende Juni, brennt die Sonne nur noch erbarmungslos vom Himmel. Ohne meine Klimaanlage wäre ich auf der Fahrt von Deutschland hierher eingegangen.
«Wer bringt die Fliesen an?», fragt Signor Mura, als er das letzte Paket schwer auf den anderen absetzt. Sein kurzärmliges Hemd hat große Schweißringe unter den Armen.
«Das mache ich selbst.»
«Mit den Mosaiken und allem? Haben Sie denn so was schon mal gemacht?»
«Das ein oder andere Mal.»
«Da sollten Sie lieber einen Profi ranlassen. Ich mache Ihnen einen fairen Preis.»
Ich dachte mir schon, dass er auf einen Auftrag hofft. Und unter anderen Umständen würde ich ihm diesen auch erteilen, schon allein, weil es der Region guttut. Aber ich freue mich darauf, meinen Händen etwas zu tun zu geben. Endlich einziehen zu können und alles Weitere alleine zu Ende zu bringen.
Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich in den letzten Monaten zwischen Deutschland und Sardinien hin- und hergependelt bin. Mit dem Flieger ist es noch einigermaßen komfortabel. Es gibt eine direkte Flugverbindung, und von Olbia aus konnte ich einen Mietwagen nehmen. Aber gestern bin ich mit dem eigenen Auto gefahren, über Genua auf die Fähre, gut zwanzig Stunden reine Fahrzeit, und ich bin müde. Der Urlaubsverkehr, die Staus, das Leben in Hotels, die sich jetzt in der Hochsaison mit immer mehr Touristen füllen. Der Anblick glücklicher Paare macht mich traurig. Sogar der Anblick sich streitender Paare macht mich traurig – so weit ist es inzwischen schon gekommen. Noch schlimmer, wenn sie Kinder dabeihaben.
Keine einzige Nacht habe ich bislang in Botigalli verbracht. Mein Haus war immer nur «die Baustelle». Ich möchte, dass es endlich auch ein Zuhause wird, in das ich mich zurückziehen kann.
Signor Mura blickt skeptisch auf das Haus, das schief und alles andere als fertig ist, und dann auf meine Wenigkeit. Ich glaube, er würde mir nicht mal zutrauen, einen Nagel gerade in die Wand zu schlagen, geschweige denn, ein ganzes Gebäude wieder auf Vordermann zu bringen. «Was sind Sie noch gleich von Beruf?», fragt er.
«Ich habe ein kleines Unternehmen», sage ich, was vage genug ist, um keine Fragen nach sich zu ziehen, und nah genug an der Wahrheit, um mich beim Lügen nicht schlecht zu fühlen. Ich habe keine Lust, irgendwen mit der Nase auf meine Vergangenheit zu stoßen. Womöglich eine Google-Suche zu riskieren. Auch wenn diese Sorge in einer abgelegenen Region wie der hier beinahe paranoid klingen mag.
Signor Mura zieht die Augenbrauen hoch. Ein eigenes Unternehmen zu führen, hat er mir offenbar auch nicht zugetraut.
Als er und sein Sohn gefahren sind, gehe ich zu meinem Wagen und hole die Koffer und Taschen aus dem Kofferraum. Der Geruch nach Rosmarin und das Gezirpe der Grillen füllen die Luft. Ich bin zum ersten Mal allein in Botigalli. Das Haus ist keine reine Baustelle mehr. Es ist jetzt mein Haus, und ich werde ihm neues Leben einpflanzen, ihm eine neue Haut geben. Das ist es schließlich, woraus meine ganze bisherige Karriere bestand, bei weitaus größeren und schwierigeren Projekten. Was also könnte schon schiefgehen?
Ich atme ein. Die verfallenen, dunkel verfärbten Häuser bauen sich vor mir auf wie eine Gewitterwand. Dann schleppe ich die Taschen und Koffer die gewundene Straße hinauf, um meine erste Nacht in Botigalli zu verbringen.
Wir saßen auf den Steinstufen vor dem Eingang meines Elternhauses und beugten uns zu viert über das Radio: Anna, Carmela, Teresa und ich. Teresa hatte eine aufgeschlagene Sportzeitschrift auf den Knien, die sie aus dem Zimmer ihres Bruders Tommaso stibitzt hatte. In dem Artikel prangte ein Foto von Paolo Rossi, Italiens neuem Fußballgott. Wir warteten alle darauf, dass er ein Tor schoss. Weil in dieser Weltmeisterschaft sowieso nur Rossi die Tore schoss. Drei gegen Brasilien, zwei gegen Polen. Jetzt standen wir im Finale gegen Deutschland. Das ganze Land war in Aufruhr.
Doch inzwischen waren bereits mehr als fünfzig Spielminuten vergangen, und gar nichts war passiert. Die Übertragung war schlecht. Es war heiß. Eine Fliege brummte wieder und wieder an mein Gesicht heran, ohne dass ich sie erwischte. Der Hund der alten Nachbarin bellte in den Gassen. Und aus der Küche hörte man meine Mutter singen. Es war ihr Radio, das ich auf dem Schoß hielt, und ihr fehlte die Musik. Sie brauchte sie für die Zubereitung ihrer Focaccia, so wie sie Mehl, Öl und Wasser dafür brauchte. Das Essen sollte fertig sein, wenn die Männer aus Nuoro zurückkehrten. Ich wünschte, ich hätte mit ihnen gehen können.
«Wollen wir vielleicht …», setzte Anna an, brach aber erschrocken ab, als der Fußballkommentator plötzlich laut wurde. Wir hörten seine Stimme nur abgehackt. Ich schüttelte verärgert das knisternde Radio, wodurch die Verbindung auch nicht besser wurde. Das Geschrei der Menschen im Stadion brandete auf, der Sprecher brüllte.
«War das ein Tor? War es Rossi?», rief ich. Aber die anderen hatten es auch nicht gehört. Von der Stimmung im Stadion bekamen wir lediglich einen Bruchteil mit. Als würden wir versuchen, bei einer Party mitzufeiern, die wir nur durch ein Schlüsselloch beobachteten.
In der Halbzeit brachte meine Mutter uns pizzette di sfoglia. Wir aßen die kleinen Blätterteigpizzen auf den Stufen sitzend, aber richtig Appetit hatte ich nicht. Ich hätte das Spiel so gerne auf einem richtigen Bildschirm mitverfolgt. So wie die Männer.
Es gab in Nuoro einen Elektroladen mit dem einzigen funktionierenden Fernseher weit und breit. Ich sage «funktionierend», weil wir hier in Botigalli auch schon einen Fernseher hatten. Teresas Vater hatte ihn gekauft, im Dorf war er derjenige mit dem meisten Geld. Er hatte es sogar zwischen den Zähnen sitzen, golden und glänzend. Was Teresas Vater nicht bedacht hatte, war, dass es mit dem Fernseher alleine nicht getan war. Man brauchte auch einen Anschluss dafür, den er nicht hatte. Wir dachten alle, dass er ihn daraufhin zurückgebracht habe, aber Teresa hatte uns verraten, dass der Fernseher jetzt unter einer Tischdecke versteckt im Wohnzimmer stand und als Beistelltisch diente. Keine Ahnung, ob es ihm zu peinlich war, ihn zurückzugeben – oder ob Teresas Vater den Fernseher am Ende eigentlich gar nicht wirklich gekauft, sondern irgendwo abgezogen hatte. Botigalli war so ein Ort, an dem manchmal Dinge auftauchten, deren Herkunft sich letztendlich nicht mehr klar benennen ließ.
Aus diesem Grund jedenfalls drängten sich jetzt die Männer aller umliegenden Dörfer vor ebenjenem Schaufenster in Nuoro und verfolgten die Spiele mit. Natürlich waren keine Frauen dabei. Fußball war ein Männersport, für den wir uns nicht zu interessieren hatten. Wir durften nur zu Hause sitzen und Focaccia und Pasta für die Rückkehr unserer fröhlichen Ehemänner und Väter zubereiten.
Was das betraf – und eigentlich auch alles andere –, hätte man meinen können, es wären noch immer die 60er-Jahre – und nicht 1982. Unsere Mütter trugen Kopftücher und Schürzen und wärmten freitags das Badewasser auf dem Herd. Samstags hängten sie weiße Laken zum Trocknen in die Sonne und kochten das Essen für den Sonntag vor. So wie sie überhaupt immer in der Küche standen und irgendetwas kochten. Wahrscheinlich, um nicht vor Langeweile zu sterben.
Am Ende gewann Italien 3:1 gegen Deutschland, so viel immerhin bekamen wir mit. Während überall im Land gefeiert wurde, holte ich eine Klatsche aus der Küche und schlug die nervig brummende Fliege tot. Carmela ging nach Hause, um ihrer Mutter beim Kochen zu helfen. Anna und Teresa drucksten ein bisschen herum, taten dann aber das Gleiche. Danach war es noch stiller im Ort. Bis die Männer aus Nuoro zurückkamen, hatte sogar der blöde Hund sich schlafen gelegt.
Mein Vater hatte getrunken und war bester Laune. Er zog meine Mutter an sich und küsste sie so fest, dass sie lachend mit dem Kochlöffel nach ihm schlug, um sich von ihm zu befreien. Wir trugen die Focaccia und eine Unzahl von Auflaufformen durch die Gasse bergauf bis zum Platz vor der Kirche, wo die anderen Frauen bereits die Lampions angesteckt und einen langen Tisch aufgebaut hatten. Jede steuerte etwas zu dem Festessen bei.
Für den Abend taten wir so, als hätten wir selbst das Spiel gewonnen. Für diesen Abend war ganz Italien eine einzige große Mannschaft und Paolo Rossi einer von uns, ein Mann aus Botigalli. Dabei kam er in Wahrheit aus Prato in der Toskana, was emotional und kulturell ziemlich weit von Sardinien entfernt war. Wie eigentlich alle Regionen, die nicht zu unserer Insel gehörten.
Aber Rossi war rebellisch. Er war in einen Wettbetrugsskandal verwickelt und zwei Jahre zuvor für alle Spiele gesperrt worden. Es schien allen ein Witz, dass man ihn überhaupt bei der WM spielen ließ. Solch ungewöhnliche Helden liebten wir. Rebellen, die sich nicht bezwingen ließen. Seit Grazianeddu hatte niemand mehr einen ähnlichen Popstar-Status auf Sardinien erreicht. Und der war kein Fußballer, sondern Bandit.
Mein Blick fiel auf die leeren Stühle am Ende des Tisches. Im Gegensatz zu unseren Vätern waren die Jungs noch nicht aus Nuoro zurück. Die Vorstellung, dass sie wahrscheinlich irgendwo hingefahren waren, um zu feiern, richtig zu feiern, nicht nur zu essen, wie wir es hier immer taten, versetzte mir einen neidischen Stich.
Plötzlich stand mein Vater hinter mir. Seine Hände legten sich auf meine Schultern, schwer und warm wie die Nacht. «Und was hast du den Tag über gemacht, figliola?», fragte er. Figliola. Töchterchen. So hatte er mich lange nicht mehr genannt.
Früher hatten wir ein engeres Verhältnis zueinander. Im Gegensatz zu meiner Mutter hatte mein Vater sich nie darüber beschwert, dass ich ein kleines bisschen eigensinnig war und lieber mit den Jungs Ball spielte als Gummitwist mit den Mädchen. Auf den wenigen Fotos, die es von ihm und mir zusammen gab, stand ich ernst neben ihm. Ein dünnes Mädchen mit kurzen schwarzen Locken, das ihm knapp bis zum Bauch reichte, das seine dichten Brauen geerbt hatte und dazu noch einen so finsteren Gesichtsausdruck, als klagte es die Welt für alles Unrecht an, das einem an diesem Ort widerfuhr.
«Meine kleine Wilde», hatte mein Vater immer gesagt und mir liebevoll durch die wirren Haare gewuschelt. «Aus dir wird mal eine richtige Rebellin.» Aber das war lange her. Inzwischen war ich siebzehn. Und falls mein Vater wirklich noch immer denken sollte, dass aus mir mal eine Rebellin werden könnte, dann amüsierte es ihn nicht mehr. Ich glaubte sogar, dass es ihn ängstigte.
«Ich habe das Fußballspiel verfolgt», beantwortete ich seine Frage. Mein Vater lachte, als hätte ich einen Scherz gemacht. Kurz schwebte seine Hand über meinem Kopf, als wolle er mir doch noch einmal durch die Haare wuscheln. Aber dann ließ er es.
«Und wie war es in Nuoro?», fragte ich. «Waren viele Zuschauer da?»
«Die halbe Welt! Und der Besitzer des Geschäfts hat doch tatsächlich versucht, uns Geld abzuknöpfen! Dafür, dass wir vor seinem verdammten Schaufenster stehen! Das muss man sich mal vorstellen. Als würde er ein Kino führen!»
«Ihr habt das Schaufenster ja auch genutzt, als wäre es ein Kino.»
Er war kurz verblüfft, dass ich ihm widersprach. Dann sagte er unwirsch: «Ein Schaufenster ist zum Schauen da! Und außerdem war es nicht klug von ihm, sich so aufzuführen, wenn Leute wie Piga und Capo dabei sind.»
Capo war der Boss in unserem Ort und Piga sowieso immer auf Krawall aus. Man tat besser, was die beiden wollten, oder ging ihnen aus dem Weg.
«Was haben sie gemacht? Haben sie den Laden auseinandergenommen?», fragte ich, doch mein Vater drückte nur noch einmal meine Schulter und sagte: «Lassen wir das Thema. Wir haben ja gewonnen, oder?»
Dann wandte er sich ab, um zu seinem Stuhl zurückzugehen. Wir haben gewonnen, dachte ich. Wir. Dabei hatte mein Vater sonst nur Verachtung für den Rest von Italien übrig.
Lachen und Gläserklirren hallten über den erleuchteten Platz. Hinter der Kirchenmauer gaben die Grillen ein Sommerkonzert. Und in Botigalli wurde die ganze Nacht gefeiert.
Die Jungs kamen erst in den frühen Morgenstunden zurück. Sie waren nicht zu überhören, als sie mit ihren Mopeds durch die engen Gassen knatterten. Mit ihrem Gejohle und Gefeixe schreckten sie die Hunde im Ort auf, die zu bellen begannen. Das Knattern der laufenden Motoren dauerte an. Und dauerte an. Waren sie etwa direkt unter meinem Fenster stehen geblieben? Ich wälzte mich aus dem Bett, durchquerte das Zimmer und blickte durch den Gardinenspalt nach unten.
Teresas Bruder Tommaso stach mir zuerst ins Auge. Er saß auf seinem laufenden Moped und zündete sich lässig eine Zigarette an, während Antonello und Pasquale hitzig miteinander diskutierten. Luca, den Vierten im Bunde, konnte ich nirgends entdecken. Tommaso hatte sich ein Fußballtrikot gekauft, auf dem in fetten Buchstaben «Rossi» stand. Er war sicher stolz darauf, dass er und Paolo Rossi denselben Nachnamen hatten. Als könnte dadurch auch der Erfolg des Spielers auf ihn abfärben. Aber die drei wirkten nicht in Feierlaune. Eine seltsame Anspannung lag in ihren gedämpften Stimmen.
Dann tauchte Luca in meinem Blickfeld auf. Er musste nah an der Hauswand gestanden haben, darum hatte ich ihn nicht gleich gesehen. Er zischte die anderen an, ihm verdammt noch mal zu helfen, und ich trat noch näher ans Fenster, um zu sehen, wobei. Luca beugte sich zu etwas herunter,