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Ulla Lenze

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Beschreibung

Ein deutscher Auswanderer in New York – im Spionagenetzwerk der deutschen Abwehr Ulla Lenze legt einen wirkmächtigen Roman über die Deutschen in Amerika während des Zweiten Weltkriegs vor. Die Geschichte über das Leben des rheinländischen Auswanderers Josef Klein, der in New York ins Visier der Weltmächte gerät, leuchtet die Spionagetätigkeiten des Naziregimes in den USA aus und erzählt von politischer Verstrickung fernab der Heimat. Vor dem Kriegseintritt der Amerikaner brodelt es in den Straßen New Yorks. Antisemitische und rassistische Gruppierungen eifern um die Sympathie der Massen, deutsche Nationalisten feiern Hitler als den Mann der Stunde. Der deutsche Auswanderer Josef Klein lebt davon relativ unberührt; seine Welt sind die multikulturellen Straßen Harlems und seine große Leidenschaft das Amateurfunken. So lernt er auch Lauren, eine junge Aktivistin, kennen, die eine große Sympathie für den stillen Deutschen hegt. Doch Josefs technische Fähigkeiten im Funkerbereich erregen die Aufmerksamkeit einflussreicher Männer, und noch ehe er das Geschehen richtig deuten kann, ist Josef bereits ein kleines Rädchen im Getriebe des Spionagenetzwerks der deutschen Abwehr. Josefs verhängnisvoller Weg führt ihn später zur Familie seines Bruders nach Neuss, die den Aufstieg und Fall der Nationalsozialisten aus der Innenperspektive erfahren hat, und letztendlich nach Südamerika, wo ihn Jahre später eine Postsendung aus Neuss erreicht. Deren Inhalt: eine Sternreportage über den Einsatz des deutschen Geheimdienstes in Amerika. Stimmen zum Buch »Ulla Lenze verknüpft meisterhaft Familiengeschichte und historischen Stoff, schreibt brillant, lakonisch, zugleich mitreißend über einen freundlichen Mann, der sich schuldig macht, weil er sich wegduckt.« WDR, Claudia Kuhland »Wie keine andere Autorin und kein anderer Autor unserer Generation kann Ulla Lenze in klugen Szenen und wunderbaren Details von der inneren Verfasstheit weit entfernter Orte und ihrer Bewohner erzählen, von sozialen und zwischenmenschlichen Dynamiken und wie beides zusammenhängt. In ›Der Empfänger‹ wendet sie ihr Können erstmals auf einen historischen Stoff an und das Ergebnis ist beeindruckend.« Inger-Maria Mahlke »Wie schafft sie es bloß, über Figuren, die sich selbst verlieren, so zu schreiben, dass man beim Lesen Halt findet?« Lucy Fricke »Ulla Lenze schreibt eine tolle, empfindungsintensive, pathosfreie Prosa. Echt und wahr und ehrlich.« David Wagner »Ich will (...) mal ein Buch nennen, von einer jungen Autorin, das mich erstaunt hat: ›Die endlose Stadt‹ von Ulla Lenze. Diesem Buch merke ich an, dass es Substanz hat.« Uwe Timm zu »Die endlose Stadt«

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Seitenzahl: 324

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Ulla Lenze

Der Empfänger

Roman

Klett-Cotta

Impressum

Die Arbeit der Autorin am vorliegenden Buch wurde vom Deutschen Literaturfonds e. V., der Kulturakademie Tarabya sowie vom Land Berlin gefördert.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Das Zitat auf S. 155/156 stammt aus: Der Radio-Amateur »Broadcasting«, Ein Lehr- und Hilfsbuch für die Radio-Amateure aller Länder. Dr. Eugen Nesper, Berlin 1924

Cover: ANZINGER UND RASP Kommunikation GmbH, München

unter Verwendung eines Fotos von © Gettyimages

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96463-9

E-Book: ISBN 978-3-608-11581-9

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Dieses Buch ist ein Roman. Obwohl ich die Lebensgeschichte meines Großonkels Josef Klein zu großen Teilen verarbeitet habe, ist die literarische Figur Josef Klein meine Erfindung.

1  San José, Costa Rica, Mai 1953

Früher Abend, Dämmerung, Wolken aus Insekten. Im Fahrtwind prasseln sie in sein Gesicht, er kneift die Augen zusammen. Und doch erkennt er, als er vom grünen Fluss abbiegt, Maria. Sie steht auf den Stufen zum Haus in leicht tänzelnder Unruhe, einmal schlägt sie sich auf den Arm.

Und noch etwas erkennt er: Sie scheint auf ihn zu warten.

»Don José, Post für Sie«, ruft Maria, als er das Mofa abstellt. »Auf den Stufen«, sagt sie. »Aus Deutschland«, als er an ihr vorbeigeht. Da wird er langsamer.

Er hat seinem Bruder drei Monate nicht geschrieben. Meist wird ihm das quittiert mit Vorwürfen. Wir haben uns doch immer bemüht, das Verhältnis aufrechtzuerhalten.

»Willst du kurz reinkommen? Ich habe kalte Limonade.«

Carls Brief muss also warten.

Er tritt in den Raum aus dunklen Möbeln. Sie schaltet den Deckenventilator an, staubig riechende Luft fliegt auf. Der kleine Vogelbauer, der von einem Balken hängt, beginnt heftig zu schaukeln. Seit Tagen sucht das Eichhörnchen darin den Ausgang. Maria hat es im Garten gefangen, con mis manos, eigenhändig. Der buschige Schwanz wirbelt herum wie der Pinsel eines wütenden Malers.

»Wann lässt du es wieder frei?«

Sie schaut ihn erstaunt an. »Ich mag Tiere. Pferde, Hunde, Eichhörnchen.«

»Aber es kann nur Kreise drehen. Es ist bereits durchgedreht.«

Sie lacht über sein Wortspiel, volverse loco, und lehnt sich im Sessel zurück. Ihr Körper hat die Form eines Fässchens. Keine Taille. Fünf Kinder, alle verheiratet. Sie trägt das Hemd ihres toten Mannes, groß und eckig. Er weiß, Maria ist einsam. Die Abende liegen hier in dunkler Watte. Nirgends ein Licht. Wärme, die über das Haus streicht, und in den Mauern gefangene Hitze.

Er erzählt von seinem Flug über Santa Barbara. Dass sie die Straße, die nächstes Jahr gebaut wird, bereits miteinzeichnen müssen, darum die Treffen mit den Ingenieuren.

»Straßen«, sagt sie, »sind wichtig. Zu viel Staub hier.«

Während sie reden, sackt die Dunkelheit vollständig herab. Von Deutschland erzählt er nicht mehr. »Das Land ist jetzt geteilt?«, fragte sie einmal unsicher. Doch, ein Krieg war in Europa, natürlich wisse sie das!

»Ein Weltkrieg«, informierte er sie.

»Es gibt so viele Kriege«, verteidigte sie sich. Sie hätten auch hier viele Kriege.

Als sein Glas leer ist, steht er auf und sucht draußen im Mondlicht den Weg zum Treppenaufgang. Im Gehen greift er nach dem großen braunen Umschlag.

Oben staut sich die Hitze. Er bewohnt ein Zimmer mit Veranda, von dort geht der Blick in den Dschungel. Er kann sich nicht beklagen. Dörsam hat alles arrangiert, auch die Stelle im geographischen Institut.

Er schaltet den Ventilator an, reißt die Fenster auf, das scharfe Rasseln der Zikaden stürzt über ihn. Es gibt hier nicht viele unterschiedliche Geräusche. Eine Gegend, zugedeckt vom Grün der Plantagen und des Urwalds. Manchmal das Rumpeln eines Lastwagens auf der Bundesstraße nach San José oder der Brotjunge, der sich zum letzten Haus der Stadt strampelt und mit seiner Fahrradhupe ein paar einsame Töne in die Luft blökt.

Als er den Umschlag aufschlitzt, fällt ihm eine Zeitschrift entgegen. Wie von allein öffnet sie sich dort, wo Carl seinen Brief eingelegt hat. Und er sieht sein eigenes Gesicht.

Das Foto tauchte damals überall auf, auch in der New York Times. Er vor seiner Funkstation, neben ihm auf einem zweiten Stuhl Princess, beide schauen in die Kamera. Man denkt, entweder stimmt mit der Hündin was nicht oder mit ihm, denn sie sind gleich groß.

Lieber Josef (oder Don José? Wir alle lachten herzlich über deinen neuen Namen!), in der Zeitschrift STERN ist eine Reportage über deinen Fall erschienen. Ein Tatsachenbericht über die Aktivitäten des deutschen Geheimdienstes in Amerika. Es handelt sich um eine Serie! Es folgen noch fünf Hefte, die schicke ich dir, sobald ich sie habe. Das nur in Kürze, demnächst mehr. Es grüßen dich dein Bruder, Edith und die Kinder.

P. S. Täubchen hat nun ein eigenes Zimmer im Erdgeschoss. Sie ist inzwischen eine junge Dame!

Er breitet das Heft auf dem Tisch aus und rückt die Lampe näher. Seine Augen gehen Zeile für Zeile durch; er liest nicht, er sucht seinen Namen. Doch er findet ihn nirgends.

Jetzt liest er noch einmal von vorn, diesmal richtig. Es ist die Geschichte, die er schon kennt, nun aus Sicht der Deutschen; Vaterlandsliebe. Erzählt wie ein Krimi, als sei das alles Unterhaltung. »FBI! Sie sind verhaftet! Wie wär’s mit einem schnellen Geständnis? Wenn Sie reden, ersparen Sie sich vielleicht das Schlimmste!«

Kein Wunder, dass Carl so aufgeräumt, fast begeistert klingt. Aber es ist keine Unterhaltung. Es ist sein Leben.

Später im Bett betrachtet er nur noch die Werbung.

Torte und Gebäck, Glückskleemilch für jeden Zweck.

Schlankheitskörnchen Heumann helfen auch Ihnen.

Schauma – viel Schaum bei jedem Wasser.

Reisen und Freizeit viel mehr genießen – mit Halloo-Wachsein-Tabletten.

Deutschland scheint es wieder gut zu gehen.

Er erwacht in verschwitzter Wäsche, in grauem Dämmerlicht. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Er durchsucht sein Zimmer nach kühler Luft. Alle Türen und Fenster stehen nachts weit offen, und doch verteilt die Temperatur sich nie gleichmäßig.

Er tritt auf die Veranda, fasst an die eiserne Brüstung, umschließt das Metall mit der Hand. Nicht kalt, aber kühl.

Er schaut auf selig schlaffe Palmen. Statt New Yorker Wolkenkratzern, statt deutscher Ruinen und statt argentinischer Pampa nun diese grünen Riesen um ihn herum. Belagern und belauern ihn. Ein feines, schmatzendes Klacken, wenn ihre Fächer aneinanderstoßen.

Dahinter der grüne Fluss, heute Morgen aus Glas. Nicht eine Bewegung auf dem Wasser. Der Fluss spiegelt Palmenhaine und Bananenstauden. Mehr gibt es hier nicht. Später wird er sich anziehen und ins Geographische Institut fahren. Über Alajuela fliegen. Sie verzeichnen Costa Rica Stück für Stück: Straßen, Berge, Flüsse, Seen. Sie haben neue Maschinen erhalten, aber es fehlen Fachkräfte, Leute wie ihn nehmen sie mit Kusshand. Dörsam will nächsten Monat aus Buenos Aires hochkommen. Hat es mit der Reportage zu tun?

In Buenos Aires pafften die Deutschen dicke Zigarren, von denen ihm schlecht wurde. Es wurde geredet. Von der Verschwörung gegen Deutschland, von der Exilregierung, die die amerikanische Marionette Adenauer bald absetzen würde. Natürlich. Es war wie ein Trinklied, das immer wieder angestimmt wurde, niemand achtete noch auf den Inhalt. Man lud ihn zum Schachclub ein und zu den Tanztees im Club Union. Meist hielt er sich abseits. Als die Gelegenheit kam, in San José zu arbeiten, griff er zu.

Dörsam wird bald hier sein.

Am Waschstein unter dem Baum reibt Maria seine Hosen und Hemden. Morgens erledigt sie alles. Morgens, wenn die Hitze noch nicht wütet. Ihr Körper geht vor und zurück; sie schrubbt mit Kraft, schrubbt geduldig kleine Risse in seine Kleidung. Zugegeben, die Wäsche ist alt, das meiste noch von Carl. Noch aus Deutschland. Carls Unterhosen. Josef hat sie in Europa, Nordafrika und Südamerika getragen. Carls Unterhosen kommen rum, während Carl Deutschland noch nie verlassen hat. Er muss mit Maria mal über die Risse reden. Aber wie? Er will sie nicht kränken. Maria bügelt seine Hemden, reinigt seine Zimmer, spricht ihn mit Don an, obwohl er mit knapp fünfzig noch zu jung dafür ist. Nie eine Klage, selbst wenn er die Landkarten und Fotos vom Institut auf dem Boden liegen lässt. Respektvoll putzt sie drum herum. Es ist ihr sogar gelungen, seine alten grauen Socken wieder zu den ursprünglichen Pärchen zu vereinen. Mit Maria ist gut auskommen, sie lässt ihm alle Freiheiten, abends manchmal ein Schwätzchen, er will nicht schon wieder umziehen müssen. Wie oft er irgendwo ankam und so tun musste, als sei es sein Zuhause.

2  Neuss, Juni 1949

Das linke Auge bewegt sich nicht mit. Es ist ein Glasauge. Josef hat dieses Glasauge ein Vierteljahrhundert nicht gesehen und daher vergessen.

Sie umarmen sich kurz, nicht zu weich, mit feierlichem Nachdruck. Carl trägt trotz Hitze einen Anzug und darüber noch einen weißen Kaufmannskittel.

»Was bist du dünn geworden, mein Lieber!«, ruft Carl. »Und wir dachten, in Amerika lebt man in Saus und Braus?«

Josef lächelt und folgt dem Bruder in das Haus aus rotem Backstein, von dem er vor dem Krieg Fotos gesehen hat, schmal und hoch, aber die Steine verzogen. Es war billig, hatte Carl geschrieben, aber es war nicht arisiert, das lehnte Carl ab, »so etwas kann doch nicht gutgehen«.

Er stapft hinter dem Bruder das Treppenhaus hoch. Carl hat die graumelierten Haare über die beginnende Glatze nach hinten gekämmt, im Nacken rollen sie sich zu kleinen Löckchen. Vor der Wohnungstür bleibt er stehen.

»Wir haben so viel zu besprechen! So viel aufzuholen! Ich habe zu Edith gesagt, hoffentlich bleibt er ein bisschen länger.«

»Das heißt, dass ich nicht lange bleiben soll?«, fragt Josef augenzwinkernd und würde es gern zurücknehmen, als er Carls Blick bemerkt.

»Nein, ich meine es so, wie ich es gesagt habe«, antwortet Carl und hält ihm die Tür zur Wohnung auf. Drinnen riecht es nach Putzmittel und Kuchen.

»Edith hat gebacken. Sie ist gerade einkaufen, kommt jeden Moment zurück.«

Josef setzt seine Reisetasche auf einem Stuhl ab und bemerkt, dass Carls Blick seiner Hand folgt.

»Mehr hast du nicht?«

»Nur das hier.« Josef hebt, weil Carl weiter nichts sagt, die Tasche noch mal hoch und wagt diesmal nicht, sie zurückzustellen. Carl nimmt ihm die Tasche ab und trägt sie in den angrenzenden Raum, eine Art Salon: braune Samtvorhänge, dunkle Stilmöbel, Landschaftsbilder in Öl, die Tapete mit theatralischem Tropfenmuster.

»Das haben wir alles durch den Krieg gerettet«, hilft Carl nach, denn Josef schweigt, er kann sich zu keinem Lob durchringen. Er spürt einen Anflug von Schmerz und stemmt sich dagegen. »Komm«, sagt Carl leise. »Du schläfst in dem kleinen Zimmer dahinter.«

Das Zimmer ist zugestellt mit Sofa, Sessel und einem Sekretär. Auch hier kein Telefon. Er muss Dörsam anrufen.

»Edith macht dir aus dem Sofa ein Bett. Was meinst du, wirst du es hier aushalten können?«

»Aber natürlich. Wie gut hier alles in Schuss ist.«

»Das ist Ediths Werk! Eine tüchtige Hausfrau, so was findet man nicht leicht.«

Das Wort tüchtig tauchte in den Briefen stets auf, wenn es um Edith ging, ein anderes Wort hatte Carl für seine Frau nicht. Auf den Fotos sah er eine schöne dunkelhaarige Frau mit verwunderten Augen. Er hat den Verdacht, dass Edith ein Stück größer als Carl sein könnte, falls Carl sich wie damals schon bei Fotoaufnahmen auf die Zehenspitzen stellte.

»Hier, trink ein Glas Wasser.« Josef trinkt und schaut Carl an, der vor ihm auf- und abspaziert, nun von seinem Seifengroßhandel erzählt, das Geschäft nehme immer mehr Fahrt auf. Josef beschränkt sich auf assistierendes Nachfragen – »das neue Waschpulver ist besser, das sagen auch die Kunden?« »Ja, und das gebe ich an den Hersteller weiter. Paul ist jetzt dreizehn. Arbeitet nachmittags im Betrieb mit. Nächstes Jahr nehmen wir ihn von der Schule, dann kann er Vollzeit arbeiten.«

Carl hält kurz inne, rückt einen Bilderrahmen an der Wand gerade.

»Die Kinder wirst du gleich kennenlernen. Wollten heute am liebsten den Unterricht schwänzen, als sie gestern erfuhren, dass der Onkel aus Amerika im Land ist! Die Schokolade, die du ihnen geschickt hast, das werden sie dir nie vergessen!«

In den dreißig Paketen war mehr als Schokolade.

Paket 1: Kaffee, Schmalz, Pulvermilch, Butter, Eierpulver, Seife, Rasierseife, Tabak, Zigaretten, Nadeln und Zwirn, Aspirin, Saccharin, Maggi, Schokolade, Pfeffer, Muskatnuss, Nelken, Stopfwolle.

Paket 2: Haferflocken, Mehl, Zucker, Stärke, Reis, Gelatine, Verband, Aspirin, Backpulver, Schokolade, Zwirn, Klebeband, Nadeln, Wolle, Tabak, Kamm, Socken, Rasierklingen.

Paket 3: Linsen, Tabak, Schokolade, Schmalz, Zucker, Speck, Honig, Kaffee, Pfeffer, Gelatine.

Paket 4: Weizenmehl, Kaffee, Süßmilch, Honig, Pfannkuchenmehl, Seife, Tabak, Schokolade, Zigaretten, Salatöl.

Paket 5: Kaffee, Zucker, Süßmilch, Schmalz, Kakao, Schokolade, Rasierklingen, Schnürsenkel, Vanilleextrakt, Garn, Nadeln.

Usw.

Das Geld, das für seinen Anwalt gedacht war, 600 Dollar, ging in diese Pakete. Sein Fall war sowieso hoffnungslos. Dreißig Pakete von 1946 bis 1949; man konnte sie über eine Agentur in Auftrag geben.

Carl nimmt Platz im Ohrensessel und streichelt nachdenklich eine schon abgeschabte Stelle.

»Wir sind aus dem Gröbsten raus. Aber 47 war ein harter Winter. Volksküchen, Wärmehallen, die Nachbarn haben ihr Klavier im Ofen verfeuert. Im Sommer drauf dann Überschwemmungen und Hagelschauer, die Ernte komplett zerstört. In solchen Zeiten muss man die Zähne zusammenbeißen, verzichten, Opfer bringen, sparen. Oder nicht?«

Er schaut Josef fragend an. Die Pause schwingt wie eine Schaukel zwischen ihnen hin und her, müsste nun beladen werden mit Josefs Erklärungen, warum er aus dem reichen Amerika als armer Teufel zurückkehrt. Er ist nicht bei null, er ist im Minus. Er spürt erneut einen leichten Schmerz in der Brust.

Sie werden erlöst von den knarrenden Dielen. Beide blicken zur Tür, da steht eine Frau. »Na«, sagt Carl, »wir haben ja Zeit, wir können alles in Ruhe besprechen! Hier, lern erstmal Edith kennen.«

Sie ist mager. Zuerst ist der Eindruck mager, dann schön. Eine leicht madonnenhafte asketische Schönheit. Wäre sie ein bisschen besser genährt, könnte sie als Fotomodell arbeiten. Aber das darf er ihr nicht sagen, sehr sittsam und steif reicht sie ihm die Hand. Er drückt ihre Hand und lässt sie nicht los, wiegt sie ein bisschen; sollen sie denken, das sei amerikanisch. Er drückt noch einmal, und dann macht er etwas, das ihn selber erstaunt, er nimmt die Hand und führt sie zum Handkuss an den Mund.

»Oh, der Junge hat Manieren mitgebracht«, ruft Carl.

Edith errötet, und auch Josef spürt Röte im Gesicht.

»Habt ihr Hunger?«, fragt sie. »Ich habe Kirschkuchen gebacken. Oder lieber etwas anderes, Josef?« Er spürt, sie muss sich zum Sprechen zwingen und wendet sich bereits zur Tür, um ihr Gesicht zu verstecken.

»Kuchen klingt wunderbar«, sagt er zu ihrem schmalen Rücken.

»Er hat einen Akzent, hörst du, Edith? Du klingst wie ein Amerikaner«, lacht Carl.

»Kaffee ist in zehn Minuten fertig!«, ruft Edith aus der Küche.

Als Carl sich erhebt, drückt er kurz Josefs Schulter. Ein fester Druck, als wollte er sagen, jetzt ist alles in Ordnung. Du bist hier. Du bist hier, so war es früher, sie waren einfach da, und auf einmal ist es wieder wie früher, eine kurze knappe Sekunde lang. Dann steht er auf und folgt dem Bruder in die Küche.

Sein Blick geht immer wieder zu Edith. Sie trägt ein dünnes geblümtes Sommerkleid, das sich, wenn sie aufsteht, zwischen ihren Beinen verfängt. Sie hat in Wellen gelegtes Haar, eine altmodische Frisur, die er lange nicht mehr an einer Frau gesehen hat. Sie ist scheu und selbstbewusst zugleich, Letzteres immer dann, wenn sie auftischen und bedienen kann, beinah forsch tut sie das.

Sie essen einen recht sauren Kuchen mit sehr vielen Kirschen – »es fehlt uns an Butter und Zucker«, erklärt Edith –, die Kinder, ein Junge und ein Mädchen, sind so still und offenbar verängstigt, dass er später, als er sich aufs Sofa legt, nicht sagen kann, wie sie aussehen. Er erinnert sich aber, dass der Junge die Augen nervös zusammenkniff, offenbar ein Tick, Carl hob einmal die Hand und flüsterte: »Hör auf damit!« Aber der Sohn hörte nicht auf.

Er döst kurz weg und wird wach von Carls Stimme: »Lass das, die Hitze kommt rein! Lass die Tür zu!« Dann hört er Ediths sanfte Stimme, und dann wieder Carl brüllen: »Dann soll sie auf die Straße, wenn sie die Sonne so mag!«

Carls Geschrei. Fünfundzwanzig Jahre hat er die Stimme des Bruders nicht mehr gehört. Und nun klingt er wie der Vater.

Als sie sich vor fünfundzwanzig Jahren trennten, war da noch die frische Wunde, man hatte nach dem Betriebsunfall das Auge schnell entfernt. Genaueres zu seinem Unfall war damals aus Carl nicht herauszubekommen; ein Schrei erst, dann sein anhaltendes Gebrüll, das berichteten später die Schweißer-Kollegen, und Carl, im Krankenhausbett, schwieg. Ein stummer Vorwurf in diesem Schweigen, und der Vorwurf galt dem Leben selbst oder vielleicht den Einwanderungsgesetzen Amerikas. Das Erste, was dieses verlorene Auge bedeutete, war der Verlust seiner Einreisegenehmigung. Sie hatten gemeinsam Englisch gelernt, doch Carl würde auf Ellis Island ein weißes Kreidekreuz auf die Schulter gemalt bekommen und zurückgeschickt werden.

In seinen ersten Briefen beschränkte Josef sich darauf, wie hart das Leben als Einwanderer sei, wie unbeliebt die Deutschen, wie schwierig die Arbeitslage, wie hoch die Mieten. Und so war es ja auch.

Abends sitzen sie alle am großen Esstisch im Salon. Edith serviert eine Gemüsesuppe und erklärt in rechtfertigendem Ton, es sei alles aus dem Garten. Carl betrachtet das mit Wasser gefüllte Bierglas in seiner Hand.

»Übrigens, Josef, wir müssen in den nächsten Tagen zum Amt und dich melden.«

»Ich glaube, die wissen, dass ich hier bin«, antwortet er schief lächelnd, links ein bisschen die Zähne zeigend. Es ist sein spezielles Joe-Lächeln, und kurz schließt er die Augen. Es ist vergangen, es gehört hier nicht hin, dieses Lächeln, das spürt er.

»Es geht um die Lebensmittelkarte«, erklärt Carl ihm. »Da wird geprüft, wer du bist.« Er greift zum Bierglas und trinkt, lässt dabei Josef nicht aus dem Blick.

»Josef?« Edith steht neben ihm. Er nickt, und sie gibt ihm eine weitere Kelle Suppe. Er nimmt jetzt deutlich Ediths Geruch wahr; es ist der gleiche Kernseifenduft, der die ganze Familie umgibt, aber da ist noch etwas, das nur ihr gehört, und wenn man den Geruch berühren könnte, wäre er weich wie Samt.

»Hast du nie ans Heiraten gedacht?«, fragt Carl plötzlich.

»Gedacht schon.«

»Aber die Passende nicht gefunden?«

»Vielleicht sogar die Passende gefunden, aber es kam etwas dazwischen.«

Carl nickt und fragt nicht weiter nach. Josef wäre nun an der Reihe. Aber Josef sieht keine Möglichkeit, über eine Liebe zu sprechen, die nach Carls Maßstäben eine nutzlose gewesen wäre, eine gänzlich nutzlose und sogar schädliche.

»Schmeckt es dir?«, fragt Edith.

»Sehr, danke«, sagt er ohne Zögern und lächelt.

Schmeckt es ihm? Essen war ihm immer wichtig gewesen. Sehr sogar. Er hatte, wenn er aß, manchmal Erkenntnisse, als belebten die Aromen tote Winkel in seinem Wesen, als kitzelte ein ungewöhnliches Küchenkraut in seinem Hirn etwas wach.

»Weißt du, wie Mama dich genannt hat, nachdem du weg warst?«

»Nein. Wie denn?«

»Jö!«

Josef versteht nicht, aber lächelt. Edith wiederum lacht, sie scheint zu verstehen.

»Du hattest ihr damals doch geschrieben, dass sie dich in Amerika jetzt Joe nennen. Mama kam mit deinem Brief zu uns gelaufen und sagte, unser Josef heißt jetzt Jö! Ich habe ihr gesagt, nein Mama, das spricht man Dscho aus. Ist doch richtig, oder?«

Er nickt. Obwohl er die Geschichte lustig findet, tut irgendetwas weh. Er wird müde, während er weiterisst, immer müder und hat nichts dagegen, dass Carl mit Edith in beratende Gespräche übergeht, ein Tisch, der umgestellt werden, ein Schrank unten im Lager, der repariert und gestrichen werden muss. Das Mädchen sieht ihn die ganze Zeit an, und er fragt leise: »How are you, my little dove?« Sie lächelt und murmelt, »Good, thank you«, und schaut ihn weiterhin an.

Sie gehen früh schlafen. Nach amerikanischer Zeit ist es erst Nachmittag, aber er ist froh, sich zurückziehen zu können. Auf seinem Kopfkissen findet er einen ordentlich zusammengefalteten Schlafanzug, ein Handtuch und eine Zahnbürste. Sein Leben ist vorbei, aber es wird ihm leichtgemacht, so zu tun, als habe er eins; er muss nur mitspielen, Carl gibt die Regeln vor. Schon in den Briefen, einem Netz penibler Fragen, die aber, wenn Antworten ausblieben, den Rückzug antraten: Er habe ja ohnehin wenig Einblick in die politischen Zusammenhänge dort.

Er hat seinem Bruder in den ersten Briefen 1946 auseinanderlegen müssen, dass Ellis Island seit Kriegsbeginn ein Internierungslager für feindliche Ausländer ist.

Feindliche Ausländer?

Ich erkläre dir später alles.

Das Zimmer liegt zur Südseite, darum die Hitze. Es riecht selbst hier nach der Zigarre, die Carl nach dem Abendessen angeraucht hat. Scharf, ein bisschen nach Pisse.

Er öffnet das Fenster und hört die Eisenbahn. Er kann sich nur wundern. Vor zwei Nächten noch lag er in seinem von der Seeluft stets klammen Bett, umgeben vom Brummen der Schleppdampfer, die an der Insel vorbeifuhren, und der einschläfernden Ödnis der Gefangenschaft, einem Leben ohne Entscheidungen. Die Zeit durchdrang alles. Es gab nur Zeit, das war das Element, in dem sie lebten, Zeit als Strafe. Viel schlimmer aber waren vorher die vier Jahre in Sandstone, Minnesota, einem echten Gefängnis mit echten Verbrechern.

Dort oben im Norden immer ein Wintergefühl. Er bewegte sich im Laufschritt, das musste er, das mussten sie, nicht stehen bleiben. Don’t stop. Move! Denn sobald die Männer stehen blieben, würden die Schlägereien anfangen.

Von Sandstone weiß Carl nichts. In Deutschland waren sie mit Krieg beschäftigt, und Carl schien sich nicht zu wundern, dass auch Josef fünf Jahre schwieg.

3  Neuss, Juni 1949

Lärm weckt ihn. Geschrei kommt aus der Wand. »Wie kann er nur, hat der Junge denn gar keinen Verstand?«

Es geht also diesmal um den Sohn.

Die Uhr zeigt 6:30. Für sein zurückgelassenes Selbst in Amerika ist es erst Mitternacht, weshalb er beschließt, sich noch einmal auf die andere Seite zu drehen. Er wird das nächste Mal von Operettenmusik geweckt, Carl singt mit, wenn auch nur bei den einprägsamen Melodien. Edith sagt, »sei doch leise«, und Carl sagt, »das ist mein Haus, ich kann ja wohl«. Aber das Radio geht aus. Dann fällt die Tür zu.

Als er das nächste Mal wach wird, zeigt die Uhr zehn, und die Sonne sticht ins Fenster. Wieder Carls Stimme. In den kurzen Pausen hört er Edith etwas sagen. Er schwingt sich vom Sofa, eilt in die Küche. Carl dreht sich zu ihm um und hört mitten im Satz auf zu reden.

»Na der Herr, ausgeschlafen?«

»Ich bin sechs Stunden hinter euch.«

Carls Blick verrät Unverständnis.

»Zeitverschiebung. Für mich ist jetzt tiefe Nacht.«

»Hier. Ich habe noch nicht daraus getrunken.« Carl hält ihm eine Tasse hin. Josef trinkt, schon um Carl nicht zu kränken.

»Wenn wir deinen Kaffee nicht gehabt hätten, Josef, ernsthaft, ich hätte diesen Betrieb nicht führen können. Ich brauche Kaffee. Ich brauche Kaffee mehr als alles andere!«

Sein Blick wandert an Josef herab. »Willst du dir nicht was anziehen?«

»Ich habe doch was an.«

»Einen verschwitzten Schlafanzug. Wir befinden uns in der Küche, mein Lieber!«

Edith dreht sich um und rührt in einem Topf.

»Entschuldige bitte«, sagt Josef.

»Edith hat dir bereits Kleidung ins Zimmer gelegt. Komm, ich zeig sie dir«, und damit schiebt er Josef aus der Küche.

Im Zimmer, tatsächlich, liegen eine Anzughose, ein weißes Oberhemd, ein Jackett und eine Garnitur Unterwäsche. Es ist klar, dass die Kleidung von Carl ist. Sie haben die gleiche Größe, 1,63 cm, es sollte alles passen.

Carl schaut aus dem Fenster, während Josef den Schlafanzug abstreift. Die Hose ist ein bisschen zu weit, er muss den Gürtel auf das engste Loch ziehen. Als er das Oberhemd zuknöpft, hört er Carl sagen, wie aus großer Ferne: »Dann erzähl mal.«

»Was?«

»Warum bist du so plötzlich hier? Wie ist es möglich, einfach in ein Flugzeug zu steigen, das dich von New York nach Frankfurt fliegt? Woher hast du das Geld?«

»Das FBI kann so was, Carl.«

Er hat geglaubt, das Wort schüchtere ein. Aber Carl fragt: »FBI? Was ist das?«

»Das ist die amerikanische Staatspolizei.«

Er beginnt, die Ärmel hochzukrempeln. Hält mittendrin inne und rollt den Stoff zurück – möglicherweise findet Carl aufgekrempelte Ärmel so ungehörig wie einen Schlafanzug in der Küche.

»Hast du etwas verbrochen?«, fragt Carl.

»Es war nach 1941 schon ein Verbrechen, Deutscher zu sein, nachdem Deutschland Amerika den Krieg erklärt hatte.«

Er schließt den Knopf des linken Ärmels. Dann den rechten. Carl starrt ihn an. Wartet offenbar auf Auskunft.

»Wir waren auf Ellis Island nur noch fünf Deutsche. Fünf feindliche Ausländer. Und ein paar Italiener und ein Japaner. Sie hatten keine Lust mehr, die Insel nur für uns noch in Betrieb zu halten.«

Carl nickt und schaut zur Tür; Edith hat gerufen.

»Die Kundschaft wartet.« Im Weggehen klopft er Josef auf die Schulter. Es fühlt sich an wie eine Markierung.

Jetzt versucht er, aus Carls Schritten etwas herauszulesen. In der Küche geht das Radio an. Ein Mann singt von einer roten Sonne auf Capri, einem Fischer und dem Meer. Zwischendurch hört er Carl einmal sagen: »Alles sehr mysteriös.« Dann fällt die Wohnungstür ins Schloss. Er geht zu Edith in die Küche. Als sie ihn bemerkt, bindet sie sich eine Schürze vor und bückt sich zu einem Topf: »Du hast bestimmt Hunger. Ich kann dir Eier machen. Unsere Hühner waren fleißig.«

Sie trägt das Kleid von gestern. Es klebt ihr am Bauch fest, sie scheint am Nabel zu schwitzen.

Er kann den Blick nicht wegnehmen.

Edith ist größer als Carl, das fiel ihm am Abend auf. Sie ist bestimmt 1,70. Sie ist also auch größer als er. Sie scheint versunken in die Betrachtung der Eier, die ein ganz leises Tocken von sich geben, wenn sie im kochenden Wasser aneinanderstoßen.

Jetzt dreht sie sich endlich zu ihm um. Sie zögert kurz. Dann beginnt sie, mit großem Elan den Tisch einzudecken. Teller, Salzstreuer, ein Brotkorb, und mit vornehmem Nachdruck legt sie einen Eierlöffel neben den Teller.

Aber da ist trotzdem etwas Verschämtes in ihren Bewegungen. Ein fremder Mann in ihrer Küche. Das ist er, und plötzlich wird es ihnen beiden klar.

»Carl hat sich sehr gefreut, als wir nach dem Krieg plötzlich von dir hörten. Wir haben uns immer über deine Briefe gefreut.«

»Seine Briefe haben mir auch viel bedeutet«, sagt er. »Eine Familie zu haben.« Und denkt an die stets mutmachenden Sätze. Die er manchmal nur belächeln konnte. Aber dennoch: von seinem Bruder. Einen anderen hat er nicht. An dessen Sätzen hing er, an dieser zerfetzten Schreibmaschinenschrift auf dem schmuddeligen Nachkriegspapier, in das Carls Buchstaben Löcher schlugen.

»Ich bin in der Waschküche, falls du was brauchst.«

Er hat den Mund voll Ei und nickt ihr zu. Er hat keinen großen Hunger, denn für sein amerikanisches Selbst ist es erst sechs Uhr morgens. Aber er will sich anpassen.

Nach dem Frühstück schlägt er in seinem Notizbuch Dörsams Adresse nach. Er setzt sich an den Sekretär, nimmt Briefpapier und schreibt: Sehr geehrter Herr Dörsam, ich bin in Neuß bei meinem Bruder. Wo können wir uns treffen? Hochachtungsvoll Josef Klein (Joe).

Er findet einen Umschlag, auch Briefmarken, und schreibt Carls Adresse als Absender darauf. Doch dann faltet er den Brief ganz klein zusammen und steckt ihn in die Hosentasche.

Edith müsste im Stockwerk unter ihm sein, im Bad. Weil ihm nichts Besseres einfällt, geht er zu ihr. Sie kniet vor der Wanne, und als er sich räuspert, schaut sie sich über die Schulter zu ihm um; ihr Gesicht ist verschwitzt, dunkle Strähnen kleben an den Schläfen.

»Kann ich dir helfen, Edith?«

»Wäschewaschen ist nichts für Männer.«

»Aber auch nichts für Frauen.«

Sie reibt weiter, als habe er nichts gesagt. Er gibt nicht auf:

»Ich habe meine Kleidung einmal die Woche abholen lassen, ein Junge kam und lieferte tags drauf alles sauber und gebügelt bei mir ab.«

Sie schrubbt weiter.

»Keine große Sache. War nicht teuer.«

Wieder bereut er, was er gesagt hat. Stumm schleicht er aus der Waschküche. Kurz darauf ist er draußen auf der Straße.

Es gibt keine Gehwege. Im Schutt und in der flachgetretenen Erde hocken Kinder und spielen mit Murmeln. Die Luft riecht nach Kartoffelschalen und Staub.

Der Brief klemmt zusammengefaltet in der Hosentasche. Ein paar Straßen weiter betrachtet er den Schutthaufen eines eingestürzten Hauses. Als er sicher ist, nicht beobachtet zu werden, wagt er sich einige Schritte in das Durcheinander, geht in die Hocke und gräbt mit den Händen eine kleine Kuhle. Er zündet den Brief an und wartet, bis er in schwarze Aschescherben zerfallen ist. Er klopft sich die Hosen sauber, als er auf der Straße steht.

Am Bahnhof, von wo er Dörsam anrufen will, stehen Regierungsbeamte und kontrollieren Taschen. Er macht sofort kehrt, geht wieder zurück zum Backsteinbau in der Sternstraße.

Das Haus taucht alles in blaue Schatten. Zur Nordseite wird das Grundstück von einem Schuppen begrenzt. Daneben ein Hühnerstall, aus dem es gackert und rappelt und eine tröstlich fremde Unruhe aufsteigt. Er setzt sich auf die Bank im Garten und wartet.

Im Warten ist er gut, er hat acht Jahre nichts anderes getan. Er schließt die Augen, wird überwältigt von Traurigkeit, die etwas mit Carl zu tun hat, mit Carls auseinanderdriftendem Blick. Er würde Carl gern beruhigend über den Rücken streichen und sagen, relax, let’s have a good time.

Jemand rüttelt an seinem Arm. Er muss eingeschlafen sein.

»Wenn du länger bei uns bleiben willst, dann musst du dich registrieren lassen. Das ist Gesetz. Ich komme in Teufels Küche, wenn ich jemanden hier wohnen lasse, der nicht registriert ist.«

Josef schaut benommen zu Carl hoch, oben am Küchenfenster sieht er die Gardine zurückschaukeln.

»Ich habe keine Papiere.«

»Du hast keine Papiere?«

Josef schüttelt den Kopf.

Carl setzt an, und atmet dann aus, ohne ein Wort. Macht ein paar nachdenkliche Schritte durch den Garten, bis zum Schuppen. Ein kurzer Blick zu Josef. »Wenn du mir bitte helfen könntest, einen Tisch umzustellen, das wäre nett.«

Im Schuppen, obschon es dämmrig ist, schaltet Carl das Licht nicht ein. Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, erkennt Josef Wandregale, die mit Waschmittelkartons, Tuben, Flakons und Seifenpäckchen gefüllt sind. Zwar ordentlich, aber ein Eindruck von Chaos entsteht, vielleicht durch den starken Geruch nach Medizin, nach Lavendel, Zitrone und Zahnpasta.

Auf dem Schreibtisch ein Telefon. Er wird Dörsam von hier anrufen.

»Josef? Kommst du bitte?«, hört er die Stimme des Bruders. Er findet ihn in einem hinteren Büroraum.

»Schwer ist er ja nicht, aber sperrig«, sagt Carl, als sie sich anschicken, den Tisch seitwärts durch das Lager zu tragen.

»Soll ich rückwärtsgehen?«, bietet er an, denn er kann den Körper des Bruders durch den Tisch hindurch spüren. Das Zögern.

»Das kann ich doch auch«, entgegnet Carl barsch und schiebt sich rückwärts durch die Tür, bis seine Hände gegen den Türrahmen stoßen und das Weiterkommen verhindern. Josef schweigt.

»Der Tisch ist zu breit«, seufzt Carl.

»Greif die Tischplatte von innen. Dann sind auch deine Hände nicht im Weg.«

Carl lacht. »Meine Güte, natürlich.«

Im Garten beharrt Carl darauf, bis zur Haustür im Rückwärtsgang durchhalten zu können. Als sie endlich oben sind, wischt sich Carl mit einem Tuch über die Stirn.

»Danke fürs Helfen.«

»Keine Ursache.«

Carl zögert, dann holt er Luft und sagt: »Wir haben Radio London gehört.«

»Radio London«, wiederholt Josef.

»Der sogenannte Feindsender. Wäre das rausgekommen, ich hätte mit Haft oder gar Schlimmerem rechnen müssen.«

Josef nickt.

»Wir waren stets informiert, was wirklich in diesem Land los war. Die amerikanische Presse wird doch sicher auch kritisch berichtet haben?«

»Ja, immer. Immer kritisch.«

Carl nickt, offenbar zufrieden mit dem Ergebnis des Gesprächs.

4  Neuss, Juni 1949

Er würde Carl und Edith gern davon erzählen. Sein Leben in New York als freier Mann. Aber sie fragen nicht. Haben sie Sorge, Bedenkliches und Unanständiges von ihm zu hören? Er muss lachen. Vielleicht trauen sie ihm auch gar nichts Interessantes zu. Auch möglich. Er fügt sich ein, bleibt unauffällig. Vielleicht verwechseln sie das mit Bedeutungslosigkeit? Er konnte Wichtiges nie gut mitteilen.

Lauren wunderte sich, dass er kaum Bücher habe. »Doch, zum Amateurfunk«, er wies schüchtern auf den Stapel. Schließlich fand sie eine Erklärung: »Weißt du, warum du kein Leser bist? Weil du die Verdoppelung nicht brauchst.«

Wie sie das meine?

»Du bist immer ganz da, und das genügt dir.«

»Und dir offenbar auch.«

Sie lachte laut. Sie lachte wie ein Kind.

»Und was ist mit Thoreau?«, fragte er.

»Du und dein Thoreau.«

Da war sie noch höflich.

Später sagte sie zu ihm, er habe Thoreau nicht verstanden. Doch Walden war sein Buch. Reichte für ein ganzes Leben. Thoreaus Leben in der Waldhütte weckte Sehnsucht in ihm. Er las vom Glück, in der Natur zu sein. Er nahm die Stadt manchmal wahr wie Bäume und Gebirge, eine Landschaft aus Stein und Geometrie. In ihr konnte er verschwinden, denn sie war groß genug dafür.

Lauren fragte, ob er denn auch die anderen amerikanischen Dichter und Mystiker gelesen habe, Emerson und Whitman. Er kannte nicht einmal die Namen. Auch das Wort Mystiker verwirrte ihn.

Thoreaus Worte liefen widerstandslos in ihn hinein, und er wusste dank Thoreau, was er selber dachte. Das genügte. Über etwas zu reden, war doch meistens ein Zeichen, dass man es nicht verstanden hatte. Sein Lieblingssatz war: Den Reichtum eines Menschen kann man an den Dingen messen, die er entbehren kann, ohne seine gute Laune zu verlieren.

Selbstverständlich könnte er ihnen viel erzählen. Dass er im Cotton Club Duke Ellington live erlebt hat und dass sein Arzt Dr. Weinrebe hieß, dass er nicht mehr zur Kirche ging und niemand sich dafür interessierte. Dass er frei war, denn es gab zu viele Menschen zu unterschiedlichster Art, um irgendetwas allzu ernst nehmen zu können.

Er hatte in East Harlem gewohnt, in einem der weniger schönen Häuser, ein breiter schmuckloser Backsteinkasten, immerhin ganz oben, er konnte problemlos seine Antenne auf dem Dach befestigen. Er mochte die Gegend. Auf ihr lag kein Glanz. Jeder Zwang, etwas darzustellen, fiel hier von ihm ab. Er lief die Straßen rauf und runter, immer wieder. Die bedrohlichen Türme schienen ihn nicht mehr wie anfangs zu verhöhnen, sondern väterlich über ihn zu wachen.

Der einzige Luxus war seine Funktechnik, vielleicht auch noch Princess. Eine Schäferhündin, die den Tag über geduldig wartete, bis er abends aus der Druckerei zurückkam.

Er führte sie jeden Tag zu einer Unkrautbrache unweit des Harlem River, wo sie zwischen überwucherten Mauerresten und alten Reifen ihr Geschäft machte. Stets roch es dort ein wenig faulig und brackig, was Princess in einen Zustand hoher Erregung versetzte, sie musste alles einmal beschnuppern. Dann gingen sie einkaufen. Bis zur Lexington Avenue kämpften sie sich durch die spielenden Kinder, die Hüpfspiele, die Ballspiele, die Murmelparcours. Die Kinder streichelten Princess, riefen sie bei ihrem Namen, und Princess mit offenem Maul schien zu lächeln.

Er ging mit ihr auf den Markt, ließ sich Meerbarbe in eine riesige Schlagzeile wickeln. Im General Store kaufte er Kellogs Cornflakes und bei Idries Bean Pie, eine Spezialität, die von schwarzen Muslimen in New York entwickelt worden war. An der Kreuzung dirigierte der sonnenbebrillte schwarze Cop mit weißen Handschuhen den Verkehr, der Metzger stand im Schaufenster zwischen baumelnden Tierhälften, der italienische Hutmacher rauchend unter der Markise. Wenn er Glück hatte, sah er ein Show-Girl aus einem der Clubs, ahnte unter dem Mantel ihre kurzen paillettenbesetzten Höschen. Zu Hause legte er Ethel Waters auf, Stormy Weather, und Georgia on my mind. Ethel Waters hatte er mal auf der Lexington Avenue gesehen. Groß und edel und, obwohl sie bereits ein Star war, hatte sie zurückgelächelt.

Sein Freund Arthur hatte eines Tages vorgeschlagen, ein Funkgerät zu bauen. Tage und Wochen saßen sie zusammen, lasen einander aus den Büchern vor, sie bestrichen einen Pappzylinder mit Paraffin, drehten Draht auf einen Spulenkörper auf, malten Schaltpläne, schnitten Kabel. Öl- und Brandgeruch, ein Haufen Schrauben, Drähte und Isolierband vor ihnen auf dem Tisch, und Arthur zwirbelte an seinem rotblonden Charlie-Chaplin-Schnurrbart, als plötzlich, er wird es nie vergessen, ein Ton aufstieg. Ein dünner, jaulender Ton, ein bisschen zwitschernd. Sie drehten am Frequenzrad, und es kam etwas wie Wind auf und das Prasseln von Regen, und als sie weiter drehten, ertönten Klänge, die er noch nie gehört hatte, elektrische Klänge, pfeifend, abschmierend, aufspringend, anschmiegend, es löste ein Kribbeln in ihm aus, ein Glücksgefühl. Dann fingen sie Stimmen ein. Die Stimmen knisterten, wie Laub im Winter. CQ CQ, come quick. Eine zittrig jaulende Männerstimme sang Sweet Sally of my dreams.

Sie schauten einander an, als hätten sie Gott manifestiert.

»Überall Stimmen.«

»Man kann sich nun alles erzählen. Was wirklich auf der Welt los ist. Es gibt irgendwann keine Geheimnisse mehr.«

Arthurs Gesicht leuchtete. Er war gerade in eine Gruppe eingetreten, die sich für den Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit einsetzte und für den christlichen Glauben. Arthur war der Sohn irischer Einwanderer, aber überhaupt nicht gläubig. Er glaubte nur an Freundschaft. Und an deutschen Fleiß. Er hatte mit Josef in dieser Hinsicht eine Niete gezogen, merkte es auch bald, ließ ihn aber trotzdem in der Druckerei arbeiten und die ersten Jahre bei sich wohnen. Erst als Arthur heiratete, zog Josef nach East Harlem. In den Bars dort gab es Alkohol, trotz der Prohibition, weshalb Arthur ihn oft besuchen kam und bald sein Leid über das Eheleben klagte. »Sie kommentiert alles, was ich tue. Dass ich eine Avocado falsch aufschneide, in der Mitte, statt längs. Ich hätte besser dich geheiratet.«

»Wusstest du, dass es in Kalifornien Versuche gab, sie in Krokodilbirne umzubenennen?«

»Wirklich?«

»Wegen der Schale. Konnte sich aber nicht durchsetzen.«

»Ja, blöder Name.«

Sobald es auf der Straße ruhiger wurde, drehte er sich die Stimmen in seine Wohnung. Früher Morgen in Südafrika, in Mexiko ein Sturm, in Helsinki tote Fische am Ufer, er hörte von einem gemäßigten Nord-West-Wind in Perth und von einer Flutkatastrophe durch den gelben Fluss in China.

Er war gut im Morsen. Das tänzelnde Tuut-Tuut konnte man durch alles hindurchhören, das Geschrei der Nachbarn und den Straßenlärm. Anfangs saß er noch da mit Papier und Stift, um die Zeichen zusammenzufügen, dann geschah es von allein in seinem Kopf. Manche Geber erkannte er sofort, an gewissen Verzögerungen, Dehnungen oder einem besonders galoppierenden Rhythmus. Jeder klang ein bisschen anders, jeder hatte eine eigene Handschrift.

Er brauchte ein ganzes Jahr, bis er sich überwinden konnte, zu sprechen. Zu reden, ohne jemanden zu sehen. Vertrauen entwickeln. Vor sich herreden. Etwas von sich in die Welt senden, auf gut Glück. Und dann entdeckte er, wie befreiend es war. Niemand sah ihn. Niemand wusste etwas über ihn. Nicht, wie groß oder klein er war, ob er in einem Einfamilienhaus mit Garten in Brooklyn wohnte oder in einer Mietskaserne in Harlem.

Nur Stimme sein, überall, jeder Zeit. Anfangs wollte er sich weismachen, allein dieser kostbare Zustand schütze ihn vor Elend, wie eine Magie. Mit der Depression wurden die universalen Regeln klarer; es gab Mächte stärker als sein Innenleben.