Die endlose Stadt - Ulla Lenze - E-Book

Die endlose Stadt E-Book

Ulla Lenze

4,8

Beschreibung

Holle ist Künstlerin, sie fotografiert Städte, deren verborgene Energie sie auf leeren Plätzen einfängt. Ein Stipendium führt sie nach Istanbul, einer schmerzhaft schönen Stadt, wo sie eine Affäre mit dem Türken Celal beginnt. Doch existenziell wird für Holle die Begegnung mit Christoph Wanka. Der reiche Geschäftsmann repräsentiert alles, was Holle ablehnt, und doch kann sie sich nicht von ihm lösen, schwankt ständig zwischen Anziehung und Abstoßung. Als Holle schließlich einwilligt, dass Wanka ihr eine Reise nach Mumbai finanziert, beginnt ein Kräftemessen, das sie zwingt, ihren eigenen Lebensentwurf zu hinterfragen. Hals über Kopf verlässt Holle Mumbai. Theresa bezieht Holles überstürzt verlassene Wohnung. Die deutsche Journalistin kennt die kontrastreiche Metropole, in der das Überleben für viele Menschen nur am Zufall hängt. Und sie trifft auf Christoph Wanka. Während Theresa in Mumbai nach und nach in eine Stellvertreterrolle gleitet, die weiter reicht, als es in ihrer Absicht liegen könnte, möchte Holle im labyrinthischen Körper Istanbuls am liebsten verloren gehen und entdecken, wie sich all das neu zusammensetzt, was sie ihr Leben nennt. Als die Demonstrationen im Gezi-Park die Strukturen der Stadt selbst zum Bröckeln bringen, scheint die Gelegenheit günstig ... Im neuen großen Roman von Ulla Lenze begeben sich zwei Frauen auf Spurensuche in der abenteuerlichen Fremdheit zweier ferner Städte, Istanbul und Mumbai. »Die endlose Stadt« ist ein Roman voller wunderbarer Spiegelungen und geheimer Verflechtungen. Eine schwebend leichte Konstruktion, in der Zeiten, Orte und Identitäten ineinander tauchen, ein vielschichtiges Kunstwerk von unendlicher Schönheit.

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Die endlose Stadt

Holle ist Künstlerin, sie fotografiert Städte. Ein Stipendium führt sie nach Istanbul, einer schmerzhaft schönen Stadt, wo sie eine Affäre mit dem Türken Celal beginnt. Existenziell wird für Holle dort die Begegnung mit Christoph Wanka. Der reiche Geschäftsmann repräsentiert alles, was Holle ablehnt, und doch kann sie sich nicht von ihm lösen, schwankt ständig zwischen Anziehung und Abstoßung. Als Holle schließlich einwilligt, dass Wanka ihr eine Reise nach Mumbai finanziert, beginnt ein Kräftemessen, das sie zwingt, ihren eigenen Lebensentwurf zu hinterfragen.

Hals über Kopf verlässt Holle Mumbai. Theresa bezieht Holles verlassene Wohnung. Die deutsche Journalistin kennt die kontrastreiche Metropole, in der das Überleben für viele Menschen nur am Zufall hängt. Und sie trifft auf Christoph Wanka. Während Theresa in Mumbai nach und nach in eine Stellvertreterrolle gleitet, die weiter reicht, als es in ihrer Absicht liegen könnte, möchte Holle im labyrinthischen Körper Istanbuls am liebsten verloren gehen und entdecken, wie sich all das neu zusammensetzt, was sie ihr Leben nennt. Als die Demonstrationen im Gezi-Park die Strukturen der Stadt selbst zum Bröckeln bringen, scheint die Gelegenheit günstig …

Im neuen großen Roman von Ulla Lenze begeben sich zwei Frauen auf Spurensuche in der abenteuerlichen Fremdheit zweier ferner Städte, Istanbul und Mumbai. Die endlose Stadt ist ein Roman voller wunderbarer Spiegelungen und geheimer Verflechtungen. Eine schwebend leichte Konstruktion, in der Zeiten, Orte und Identitäten ineinander tauchen, ein vielschichtiges Kunstwerk von großer Schönheit.

1

ISTANBUL

ES GIBT BESTIMMT VIELE WEGE

Jemand kommt durch das Licht der tiefstehenden Sonne auf sie zu. Er bewegt sich ohne Hast, womit er ihr Stehenbleiben in ein Warten umdeutet. Sie lächelt widerstrebend. Kneift die Augen zusammen vor den Strahlen. Bis er vor ihr steht und sein Schatten auf sie fällt.

Es ist der, dem sie die vergangenen sechs Monate verdankt. Am Vortag haben sie sich die Hand geschüttelt, heute kaum Notiz voneinander genommen; nicht auf der Fähre, nicht im Topkapi-Palast oder im Museum of Modern Art. Er war Teil einer von Bodyguards umhüllten Entourage, die sich um den deutschen Außenminister scharte; alle in harmlos bunten Polohemden zu tiefernsten dunklen Anzughosen.

Sie spürt, wie sich ihr Körper anspannt.

»Hallo«, sagt sie lässig.

»Hallo«, sagt er vergnügt.

Und dann zögern sie beide – eigentlich müssten sie ihre Namen kennen. Noch einmal fragen, das geht nicht.

»Möchten Sie nicht zur Sultan-Eyüp-Moschee?« Sie zeigt zu dem unruhigen Haufen aus dreißig deutschen und türkischen Künstlern und Kulturleuten drüben bei der Fähre.

»Nein, ich will heute nichts mehr erklärt kriegen«, sagt er. »Sie?«

»Ich auch nicht.«

»Was haben Sie vor?«

»Einfach rumlaufen.« Allein wagt sie nicht zu sagen. Stattdessen schiebt sie die Sonnenbrille aus dem Gesicht. Sein Lächeln verliert die Vorsicht, schließt sich enger um sie.

Mit welcher Ausrede kommt sie von ihm los?

»Vorschlag«, sagt er und legt die Hand auf ihre Schulter. Sie dreht sich um und betrachtet gemeinsam mit ihm den kleinen Ort: pastellfarbene Häuser an einem Hügel, Minarette einer Moschee, ihr Blick folgt seiner ausgestreckten Hand. Kein Ehering – etwas, auf das sie erst seit kurzem achtet, auch bei Männern, an denen sie kein Interesse hat.

»Von oben kann man bis nach Istanbul schauen. Wollen wir das in Angriff nehmen?«

In Angriff nehmen. Dazu fallen ihr Rentenreformen, obere Tabellenplätze im Fußball ein. Spazieren gehen oder einfach rumlaufen nicht.

Seine Hand löst sich von ihrer Schulter; ihr Zögern hat er nicht bemerkt, er geht schon auf den Ort zu.

Sie spazieren durch eine Grünanlage, menschenleer und ein bisschen öde. Sie gleichen in diesen ersten Minuten ihr Wissen über Eyüp ab: viertwichtigster Pilgerort in der islamischen Welt, sonderbar versteckt hier am Ende des Goldenen Horns, und bis auf die Moschee und den Blick vom Hügel nach Istanbul wissen die Reiseführer, die sie gelesen haben, nichts zu empfehlen.

Es ist eher ein Schlendern, und das hat sie nicht erwartet, dieses langsame Gehen, das für jeden Schritt geradezu eine Entscheidung verlangt (das also nennt er in Angriff nehmen). Doch nach jedem Versuch, das Tempo anzuziehen, ist sie ihm einen Meter voraus und er mitnichten bereit, aufzuschließen.

Die Hand im Nacken, dreht sie sich um und lächelt spöttisch. Er zieht fragend die Augenbrauen hoch, und sie stellt ihr Lächeln sofort ab.

Die Bilder vom Abend kehren zurück. Die großen Lichtlachen auf den gebohnerten Dielen des deutschen Generalkonsulats. Der Festsaal. Die Parfumverwehungen wie Schneegestöber, das einen mal hier und mal dort ins Gesicht trifft. Enge Kostüme, Form. Kontrollierte Haarspray-Helmfrisuren. Formen und noch mal Formen. »Das alles passt doch gar nicht«, hat sie gestöhnt, und ihre Sitznachbarn links und rechts aufzuwiegeln versucht: »Die haben doch keine Ahnung von Kunst oder von uns, um uns geht es nicht, es geht nur …« – »Halt mal den Mund, Holle, bitte« – »… ums öffentliche Image.«

Und dann wurde der Mann, mit dem sie hier schlendern muss, ans Rednerpult gerufen: Wie viel die Stiftung ihm verdanke, ihm, dem Vorstandsmitglied einer großen Bau- oder Bankengruppe, sie hat es vergessen. Sie hatte sich nach draußen geschlichen und mit Celal telefoniert. Celal stand am Galataturm und sagte, er kriege, wenn er ihre Stimme höre, sofort eine Latte. »It is big like Galata Tower, baby!«

»Sieht aus wie Schnee«, sagt der Baugruppen- oder Bankenmensch und zeigt auf den Hang.

»Ja«, sagt sie. Es sind alte osmanische Gräber; sie weiß, dass er das weiß. Warum hat er sich ihr angeschlossen? Ist sie ihm bereits aufgefallen, als die Künstler der Reihe nach vorgestellt und ihre wichtigsten Stationen verlesen wurden? Und während der Exkursion heute hat er nur auf eine Gelegenheit gewartet, mit ihr allein zu sein? Wohl kaum. Irgendetwas muss seine Aufmerksamkeit erregt haben, als sie eilig an Land sprang. Irgendetwas daran muss ihn verwundert haben, vielleicht sogar gestört.

Das ist das Wichtigste an ihr. Nicht, bei wem sie studiert hat, in welchen Galerien ausgestellt oder ihr Geburtsjahr. Dieses Abhauen. Deine Verlorenheit aufessen, hat Celal gesagt: »I want to eat your loneliness.« Denn sie hatte gesagt: »I am lonely most of the time.«

Ein Bursche mit einer Zwanzig-Liter-Wasserflasche auf der Schulter überholt sie. Sie gehen so langsam, als nähmen sie Rücksicht auf ihr schleppendes Gespräch, das sonst vollends abgehängt werden könnte. Er beginnt eine Unterhaltung über den Stadtverkehr in Berlin und Hannover, er sucht offenbar nach universalen und unverfänglichen Themen.

»Ich fahre Fahrrad«, sagt sie.

»Ist das nicht gefährlich in Berlin?«

Sie nickt.

Eigentlich würde sie ihn gerne zu seiner Arbeit befragen. Aber mit welchen Fragen gibt sie preis, dass sie Leute wie ihn nicht kennt, aber ihnen misstraut? Es gibt nicht einmal ein gemeinsames Thema, höchstens die angestrengte Suche danach.

Sie gehen an einem muslimischen Kopftuchgeschäft vorbei, an einer Bäckerei, deren Fenster von oben bis unten mit Fladenbrot zugestopft ist, an Läden mit Schwämmen, Seifen, losen Kräutern und Tees. Sie steckt ihre Sonnenbrille in die Tasche.

»Haben Sie Lieblingsrestaurants in Berlin?«, fragt er.

»Wollen Sie mich zum Essen einladen?«

Er lacht leise. Aber kann dann gar nicht antworten. Er fragt ein paar Namen ab, Sternerestaurants allesamt, und sie schüttelt, obwohl sie ein paar davon kennt, jedes Mal den Kopf.

»Vergessen Sie nicht, dass ich arm bin, das ist technisch gesehen die Grundlage unserer Bekanntschaft.«

Er lächelt wieder, aber nun erkennt sie Rückzug in diesem Lächeln. Ihre Direktheit ist ihm unangenehm. Das versteht sie sogar. Als müsse er sich entschuldigen für das, was er ist. Muss er ja auch.

Die Geschäfte wiederholen sich, noch immer durchstreifen sie das Seifen-Schwämme-Kräuter-Viertel. Eine verschleierte Frau hält ihr Kleinkind, die Hose heruntergezogen, über einen Strauch.

Sie richtet ihren Blick auf die Auslagen, geht näher – er folgt ihr, stellt sie erleichtert fest –, sie betastet die harte Oberfläche einer graugrünen Seife, riecht daran. »Das ist Olivenölseife aus Aleppo«, erklärt sie fachmännisch, »davon nehm ich gleich zwei.«

Sie betreten ein Ladenlokal mit dunkler Holzvertäfelung, alten, fast vergessenen Gerüchen nach Heu und Harz, trockenen Sommern, Apotheke. Aus den Jutesäcken quellen Gewürze und Kräuter. »Merhaba.« Ein alter Herr begrüßt sie mit einer leichten Verbeugung. Hinter ihm Glaskaraffen mit Rosenknospen, aus denen man Tee machen kann.

Ihr Begleiter betrachtet versonnen eine alte Truhe aus Mahagoni.

»Schön hier, nicht?«, fragt sie.

»Ja«, bestätigt er, »ganz wunderbar!«

»In der Istanbuler Innenstadt verschwinden diese Läden, das wissen Sie, ja?«, hört sie sich sagen. »Stattdessen die multinationalen Firmenmonster, die ihr Filialnetz über die gesamte Welt werfen. Douglas, Body Shop, Starbucks, H&M, Restaurant Nordsee. Ja, in der Istiklal Caddesi gibt es jetzt ein Restaurant Nordsee. Alles wird gleich, und überall passiert das Gleiche.«

Was sie sagt, das weiß doch jeder. Sie hustet, mit dem Husten will sie ihn davon abhalten, zu antworten. »Besser?«, fragt er, als sie endlich das Ablenkungsmanöver beendet und auch das Glas Wasser trinkt, das ihr der alte Mann reicht. Auch Celal ist so fürsorglich. So hat sie ihn kennengelernt, als sie am ersten Abend nach ihrer Ankunft durch die nächtlichen Gassen streifte und bei seinem Eckimbiss ankam, den er gerade schließen wollte. Sie war hungrig. Er sah ihr das an, dabei stand sie nur unschlüssig herum und betrachtete verstohlen den schönsten Türken der Welt. Er kochte ihr Spaghetti mit hausgemachtem, sehr öligem Pesto, nachdem sie erklärt hatte, »I’m vegetarian, you know«. Er setzte sich zu ihr an den kleinen Bistrotisch. Die Kacheln ringsum waren beklebt mit DIN-A4-Ausdrucken, blitzlichtige Aufnahmen von Chicken-Döner, Hot Dog, Pizza und Manti, Turkish Ravioli. Sie schauten einander an, denn sein Englisch reichte nicht wirklich für eine Unterhaltung, und er strich sich verlegen immer wieder sein langes schwarzes Haar zurück. Als er nach ihrer Telefonnummer fragte, konnte sie sich mit der Wahrheit herausreden, sie habe noch keine türkische SIM-Karte, und in ihre Mailadresse baute sie absichtlich einen falschen Buchstaben ein.

Vom gespielten Hustenanfall ein bisschen geschwächt, nimmt sie die Seifen entgegen, der Verkäufer hat sie in schönes Seidenpapier gewickelt.

Er verbeugt sich wieder.

»So orientalisch, nicht wahr?«, spöttelt sie, aber ihr Begleiter weiß nicht, dass sie nur in Anführungszeichen von Orient und Okzident redet, anders als er, der ihr sofort zustimmt und von Istanbul als Brücke zwischen Ost und West schwärmt. Seit Monaten diskutiert sie mit den anderen Künstlern über dieses Problem des Schwärmens und wie damit künstlerisch umzugehen sei. Ob sie die Klischees dieser Stadt berücksichtigen müssen, um über sie hinausführen zu können, oder sich ganz auf ihren eigenen unbestechlichen Blick verlassen. Machen wir Kompromisse oder Kunst?, lautet die selbstkritische Kernfrage.

Und dann hat sie noch die Sache mit Celal begonnen. Wie ein deutscher Rentner mit einem Thaimädchen (der deutsche Rentner ist in diesem Fall sie). Sie selbst macht diese Witze, wenn auch nur, damit die anderen sie nicht machen.

Ihr Begleiter nun redet über all das hinweg, was so hochproblematisch ist. Die Verschmelzung, sagt er, sei so gelungen, dass man oft gar nicht wisse, auf welchem Kontinent man jeweils sei, schließlich befinde sich Eyüp doch auf der europäischen Seite und sei recht volkstümlich, und auf den Prinzeninseln wiederum, in Asien also, sei es wie in einer mecklenburgischen Sommerfrische vor hundert Jahren, mit den hübschen weißen Holzvillen und Pferdekutschen.

»Ach«, seufzt sie, »Orient und Okzident, eines Tages werden diese Begriffe überholt sein wie Neger und Fräulein.«

»Orient und Okzident sind geographische Bezeichnungen, daran ist nichts falsch«, sagt er nach einer Pause.

»Und wie können die dann verschmelzen? Erdteile verschmelzen nicht. Sie verwenden diese Begriffe also als Kulturbezeichnungen, und das hat etwas, entschuldigen Sie, Kulturhegemoniales.«

Wieder entsteht eine Pause. Sie sieht einem Pingpongspiel entgegen, das sie mühelos gewinnen wird.

Die Türglocke scheppert, ja, er hält ihr die Tür auf. Sie schaut ihn an, sprachlos und verletzt.

»Wir wollen doch heute nichts mehr erklärt kriegen«, sagt er.

Sie ist verwirrt, betrachtet aufmerksam ihre Umgebung – die Bettlaken, die zum Trocknen von Fenster zu Fenster gespannt sind, die Katze, die um die Ecke gleitet –, und auch er schweigt, aber schaut manchmal zu ihr hin.

Sie findet sich erst wieder, als sie aus seinem Blick gerät, sie stapft hinter ihm das osmanische Gräberfeld hoch, gewissermaßen spielt er jetzt den Anführer, männlich zügig plötzlich, einmal dreht er sich um und prüft, wo sie bleibt. Es dunkelt nun auch. Sie laufen über zerbrochene Grabplatten und durch einen Wald aus hellen, menschengroßen Stelen, die unter den Jahrhunderten ins Kippen geraten sind, in ein Muster aus Zuneigung und Abkehr. Lebensdaten und Namen in Arabisch. Wilder Wein und irgendein Gestrüpp rauschen in der Dämmerung wie ausgeschüttete Flüssigkeiten über Grabplatten und Wege.

Er steigt eine schmale, bröckelnde Steintreppe hoch, dreht sich um und schaut sie an, sagt nichts, geht weiter, sagt dann: »Es muss noch einen anderen Weg geben als diesen.«

»Es gibt bestimmt viele Wege. Es gibt sogar eine Seilbahn.«

»Aber Sie wollten doch laufen«, sagt er.

»Ja, doch«, sagt sie.

Und dann wieder Schweigen. Es ist anders als das Schweigen zu Anfang, das eher ein suchendes, tastendes Schweigen war. Ihre Belehrungen im Seifengesundheitsladen sind ihr inzwischen peinlich, sie würde nun gerne eine Erklärung anbringen, aber in seinem ganz dem Aufstieg verpflichteten Körpermodus lässt er ihr keine Möglichkeit, überhaupt nur darauf zu sprechen zu kommen.

Sie klettern mühsam über Gestrüpp. Er dreht sich um und reicht ihr die Hand. Sehr zarte Haut.

Er nimmt die nächsten Stufen beherzt, seine Füße stecken in dunkelblauen Mokassins, nackt, gebräunt. Sie verlässt die Treppe und bewegt sich leise durchs Unterholz, spürt das klebrige Kitzeln von Spinnweben in ihrem Gesicht. Will sie, dass er sie vermisst und dann sucht? Wie albern. Sie kehrt um. Er steigt weiter aufwärts, hat nichts bemerkt, sie zieht das Tempo an und bewegt sich wieder hinter ihm her, keuchend.

Er wartet oben an einem Plateau auf sie, vor einem umgefallenen Grabstein, der erschöpft gegen eine verwitterte Mauer lehnt. Er schaut in die Ferne. Istanbul liegt im letzten Licht des Tages. Sterne treten am dunkelblauen Himmel hervor. Er lächelt ihr zu, aber es ist das geduldige Lächeln für Aufsichtsratssitzungen, die schlecht laufen, Verhandlungspartner, die nicht spuren.

»Geht’s?«

»Ja«, sagt sie atemlos.

»Machen Sie keinen Sport?«

»Doch, und Sie?«

»Keinen. Bis auf Waffensport.«

Er lächelt, als amüsiere er sich über sie, die brav ein skeptisches Gesicht schneidet.

Sie denkt an Celal, an Celals Knarren. Keine Sportwaffen.

Warum sie in diesen stillen Wettbewerb mit diesem Unbekannten tritt? Nur einmal hört das kurz auf. Sie gehen Seite an Seite über einen fast stockdunklen Pfad, den er mit seinem Handylicht ausleuchtet, der Weg ist nicht ganz breit genug für zwei. Ihre Arme wischen kurz aneinander. Und dann streifen sie sich wenig später noch einmal, wie eine Impfauffrischung.

Die Erinnerung an die warme Haut wiederholt sich eine Weile in ihrem Bewusstsein, den ganzen Abstieg lang – der leichter ist als der Aufstieg. Sie erreichen den Hafen pünktlich, und nachdem er ihr seine Karte gegeben hat, sortieren sie sich wieder in ihre Gruppen ein. Dr. Christoph Wanka, so heißt er.

2

ISTANBUL

WILL YOU ACCEPT ME?

Es gab eine Zeit, da wollte sie absolut nichts haben. Vielleicht ist diese Zeit auch noch gar nicht vorbei. Seit sie in Istanbul lebt, muss alles, was sie je gedacht hat, noch einmal anders gedacht werden, und damit hat sie noch nicht einmal angefangen (weil ja alles im>mer noch stattfindet). Und es liegt vielleicht sogar an dieser vielgerühmten Istanbuler Verschmelzung von Orient und Okzident – oder an einer anderen Verschmelzung.

Hat sie nicht immer geglaubt, sie brauche jemanden zum Reden, zum Austausch? Durch Celal gerät sie in genau jenen Zustand, zu dem das Reden wohl hinführen soll: sich verstanden und geborgen zu fühlen.

You want sleep? Are you sad? You want to go home?, vergewissert er sich nach langen Ausführungen ihrerseits. Er antwortet eher auf das Gefühl, aus dem heraus sie mit ihm spricht, ein Gefühl, das ihr oft erst bewusst wird durch sein Nachfragen.

Dass sie nicht reden können, ist befreiend.

Einmal, sie sitzen am Küchentisch der Künstlerresidenz, bekommt sie diesen Wutanfall. Celal begreift offenbar nicht – hat er es vergessen? Nie verstanden, nie gewusst? –, dass sie mit einem wichtigen Künstlerstipendium in Istanbul ist, eine Auszeichnung, eine Ehre. Er hat sie gefragt, wie viel sie für ihre Wohnung zahlt. »Nothing«, schreit sie. »Nothing! I am invited!«

Er zuckt erst zurück vor so viel Wut. Dann schlägt er sich an die Stirn, als sei endlich der Groschen gefallen, und sagt mit einer Stimme, mit der man Kleinkinder lobt: »Yes, I know, you are big artist. I am very sure you are.« Er sagt es liebevoll. Immer liebevoller. Er steht auf und nimmt sie in den Arm.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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