Der Engel, der seine Flügel verlor - Aylin Duran - E-Book

Der Engel, der seine Flügel verlor E-Book

Aylin Duran

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Beschreibung

Im wolkenlosen Himmel schlägt der mächtigste Herrscher Tog alle Alarmglocken: Die Menschen auf der Erde bereiten ihm schon seit längerer Zeit Kopfschmerzen und eine richtige Lösung des Problems scheint nicht mehr in Reichweite zu sein. Zwei Welten prallen aufeinander, als der flügellose Engel Naara auf dem Planeten Erde landet. Spannende Reisen in einer friedlichen Welt des Lebens werden Naara gleich genommen, als sie den stillschweigenden Aaron, den aggressiven Leon wie auch den tollpatschigen Mex kennenlernt. Schöne Tage in einer brillanten Welt der drei jungen Menschen scheinen mittlerweile unvorstellbar. Warum ist das Leben immer so kompliziert?

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Der Engel, der seine Flügel verlor

Aylin Duran

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Impressum

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2023 – Herzsprung-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Bearbeitung: Cat creativ - www.cat-creativ.at

Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2023.

Cover © Luc.Pro + © tonda55 - Adobe Stock lizenziert

ISBN: 978-3-96074-737-6 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-738-3 - E-Book

*

Inhalt

Prolog

Kapitel 1 - Teil 1: Auf der Erde

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 1 - Teil 2: Im Himmel

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 1 - Teil 3: Ein Engel auf Erden

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Im Himmel

1 Jahr und 8 Monate später - Auf der Erde

*

Life’s just a game, it’s just one epic holiday

– Angels and Airwaves –

*

Prolog

„Sie streiten um den Himmel, da unten.“ Tog starrte auf die Erde, die von hier oben winzig klein aussah. Das Land und die Meere konnte er noch gut erkennen, doch um die Menschen zu sehen, musste Tog sich konzentrieren – und das war eine Mühe, die sich Luzifer nie machen würde.

„Nicht nur um den Himmel, mein Lieber“, erwiderte dieser gelangweilt. Die pechschwarzen Brauen über seinen strahlend blauen Augen bogen sich in die Höhe, als er fortfuhr: „Siehst du es denn nicht, Tog? Sie streiten schon lange, sie streiten sich um alles und sie geben sich keine Mühe, es zu verbergen.“

Abrupt wandte Tog seinen Blick von seinem Lieblingsplaneten ab. Wie konnte man sie nicht lieben, diese Erde mit all ihren wunderbaren Bewohnern? Die Erde war lebendig, es gab immer etwas zu bestaunen.

Jetzt sah Tog allerdings bekümmert aus, denn er musste zugeben: „Es macht mich sehr traurig, das zu sagen, aber ... du hast recht.“ Seit Tog den Menschen Leben eingehaucht hatte, war dieser Planet, auf dem sie lebten, zu einem wahren Wunder geworden. Nun waren die Menschen allerdings nicht mehr so, wie Tog sie vor langer Zeit erschaffen hatte. Er hatte sich die Menschen anders vorgestellt – freundlicher, geselliger, hilfsbereiter.

„Sie streiten um alles ... und es scheint ihnen auch noch Spaß zu machen.“ Während der Gedanke an die Zukunft seiner geliebten Menschen Tog Kopfschmerzen bereitete, konnte Luzifer sich ein süffisantes Grinsen nicht verkneifen. Schon seit geraumer Zeit beobachtete der Teufel, dass Tog sich täglich den Kopf zerbrach und dennoch keinen sinnvollen Entschluss fassen konnte.

„Was nun, mein Freund?“, fragte Luzifer gespannt. „Was wirst du tun? Jeden Einzelnen von ihnen vernichten?“

Während Luzifer in freudiger Erwartung hämisch zu grinsen begann, schüttelte Tog entschieden den Kopf. „Ich werde mit meinen Engeln sprechen“, erklärte er Luzifer.

Das gefiel dem Teufel ganz und gar nicht. Er schnaubte, kniff seine bildhübschen, hellen Augen zusammen und wirkte plötzlich sehr unzufrieden. „Nur abwarten?!“ Er warf Tog einen fassungslosen Blick zu, bevor er sich beschwerte: „Du bist so entsetzlich langweilig geworden, Tog! Deine Engel sind ja schön anzusehen, aber sie können dir jetzt auch nicht mehr helfen.“ Während der Teufel sprach, bewegte er sich mit geschmeidigen, eleganten Bewegungen auf Tog zu. „Es ist wirklich eine Schande, dass du immer das Gute in den Menschen sehen musst. Früher warst du ... zorniger. Aufregender!“ Mit seinem zarten, tiefschwarzen Teufelsschwanz sah Luzifer wie ein riesiger, wütender Panther aus. Er war immer auf der Lauer und allzeit bereit, seiner Beute mitleidlos den Kopf abzureißen. Nun bemühte sich Luzifer jedoch redlich, Tog einen verständnisvollen und bekümmerten Blick zuzuwerfen, als er sagte: „Dabei ist die Sache doch glasklar ...“ Das fiese Grinsen tauchte wieder in Luzifers Gesicht auf.

„Ach wirklich, ist das so?“, fragte Tog, während sein kritischer Blick bereits zeigte, dass er dem Teufel nicht glaubte.

„Aber selbstverständlich. Du willst sie beschützen, aber die Menschen haben einen bösen Kern.“ Luzifer lächelte triumphierend und fügte noch hinzu: „Genau wie ich!“

„Ich weiß nicht, Luzifer“, meinte Tog.

„Oh, doch!“, schrie der Teufel. „Doch, auch du weißt es!“ Langsam wurde Luzifer wütend. Er hasste es, dass Tog die Wahrheit nicht erkennen, sogar verdrängen und womöglich sogar verdrehen wollte – obwohl doch alles so deutlich zu sehen war. Die Menschen gehörten ausgelöscht, ihre Seelen mussten in der Hölle schmoren.

„Von mir aus kannst du dich im Himmel um die Tiere kümmern ... nur die Katzen lässt du mir, denn sie töten aus Spaß, nicht um zu überleben ... Aber die Menschen gehören eindeutig in die Hölle.“ Mit seinen langen, schmalen Fingernägeln strich Luzifer über Togs Rücken. Er fügte hinzu: „Alle. Gib’ sie mir und ich grill’ sie für dich.“

Entsetzt schüttelte Tog die langen, schmalen Finger des Teufels ab. Er schüttelte seinen Kopf und lehnte das Angebot des Teufels entschlossen ab. „Ich will kein Wort mehr hören, Luzifer. Ich rede mit den Engeln, gemeinsam werden wir eine Lösung finden!“

Nun wandte sich Luzifer beleidigt ab. „Ich wollte nur helfen!“, behauptete er. Anstatt jedoch weiter zu versuchen, Tog um den Finger zu wickeln, zog der Teufel seine goldene Nagelfeile hervor, um seine Teufelskrallen in Form zu bringen.

Nach einer Weile des Schweigens konnte sich Luzifer allerdings einen letzten Kommentar nicht verkneifen. „Nun gut, ganz wie du willst ...“, sagte er beschwichtigend. „Weißt du was, Tog? Sprich’ nur mit deinen schönen, dummen Engeln.“ Luzifer war eingeschnappt, das konnte er nicht verbergen. Er hatte es noch nie verstecken können. Winzige, abgefeilte Stückchen seiner schwarzen Fingernägel flogen durch die Luft, als er zischte: „Du bist naiv. Du wirst schon noch sehen, was du davon hast.“

*

Kapitel 1

Teil 1: Auf der Erde

Die Sonne brannte nicht mehr so stark wie im August. Vor wenigen Wochen waren die Strahlen noch heißer gewesen – regelrecht wütend, mitleidlos hatten sie den Menschen ihre Köpfe verbrannt. Jetzt war es anders: Verblieben waren nur warme, gnädige Sonnenstrahlen. Sie schmerzten und verbrannten die Haut nicht mehr, mittlerweile konnten die Menschen sogar ihre Köpfe heben und in die Sonne blinzeln. Es war offensichtlich, jeder wusste es: Das Blatt wandte sich, der Sommer neigte sich dem Ende zu.

Aaron war nicht unglücklich darüber, dass er heute wieder in die Schule zurückkehren musste. Mit seinem alten, stinkenden Rucksack huschte er durch die dunklen Gänge der Wohnung. Es war unglaublich, wie viele Krümel in diesem Rucksack am Boden vergessen wurden. Wie viele Cola-Flaschen bereits ausgelaufen waren und wie oft Aaron mit geschultertem Rucksack durch den Regen gestürmt war. Während Aaron über die Jahre älter und erwachsener geworden war, hatte sein Schulrucksack lediglich einen fiesen, muffigen Geruch angenommen. Es war ein übler Gestank, den Aaron nicht einmal wegbekommen hätte, wenn er es jemals versucht hätte. An diesem ersten Schultag hätte Aaron sich gewünscht, dass es in der kleinen Mietwohnung nach frischem Rührei oder warmen Brötchen duften würde, doch stattdessen stank es nach altem Schweiß. Es waren alte Körperausdünstungen, mit denen Aaron nichts zu tun hatte. Es waren Remys Ausdünstungen.

Keiner hatte sich an diesem Morgen die Mühe gemacht, die Vorhänge aufzuziehen. Am ersten Schultag nach den diesjährigen Sommerferien – an Aarons erstem Tag als Elftklässler – stand er im Wohnzimmer, starrte an die Decke und kaute auf einem trockenen Toastbrot herum. Während er sein Frühstück hinunterwürgte, fiel sein Blick auf die unzähligen, leeren Bierflaschen auf dem Tisch. Für einen winzigen Moment überlegte Aaron tatsächlich, die Flaschen wegräumen oder wenigstens die Wohnzimmervorhänge aufziehen. Doch dann verdrehte er die Augen und verwarf diese Idee. Schließlich wusste Aaron, dass es nichts ändern würde, wenn er das Wohnzimmer aufräumen würde. Deshalb blieb die Sonne weiterhin ausgesperrt. Aaron wusste es, schon bevor er sich durch den schmalen Flur quetschte: Wärme passte nicht an diesen trostlosen Ort. In diese Wohnung würde niemals wahres Licht dringen, daran würden auch eine schöne Beleuchtung oder ein warmer Sonnenstrahl nichts ändern. Die Wohnung war ihm schon immer trostlos, kalt und leer vorgekommen, und obwohl dieses Drecksloch sein Zuhause war, hatte es sich nie wie ein wahres Zuhause angefühlt.

In dieser Straße regierte der Schmutz. Direkt vor dem Plattenbau, in dem Aaron wohnte, befand sich eine kleine Bushaltestelle. Vor dem Haltestellenschild lagen unzählige Zigarettenstummel auf dem Boden und Aaron wusste ganz genau, wer diese Kippen täglich rauchte. Wenn Aaron abends einschlafen wollte, hasste er das nervige, andauernde Brummen der abfahrenden Busse. Das Geräusch hielt ihn wach. Die Bushaltestelle vor dem Mietshaus war ein heruntergekommener, schäbiger Ort und eigentlich war es unnötig gewesen, diese winzige Bank hinzustellen. Nur die Raucher freuten sich, wenn sie sich setzen konnten, während sie die Luft verpesteten.

Leon wartete schon an der Haltestelle – er wartete nicht auf Aaron, sondern auf den Bus. Mit dem Rauchen hatte er angefangen, als er vierzehn Jahre alt gewesen war, und er qualmte noch immer. Seine heutige Morgenzigarette schien Leons Laune nicht zu verbessern. Mit gerunzelter Stirn starrte er in Aarons Richtung, als dieser auf die Haltestelle zukam. Leon hatte sich auf der kleinen Bank neben dem Haltestellenschild niedergelassen. Dort versuchte er, seine Kippe fertig zu rauchen, bevor der Bus ankam. Leon hatte nicht einmal die Hälfte seiner Kippe geraucht – vielleicht war das der Grund, weshalb er so schlecht drauf war. Mit zusammengekniffenen Augen starrte Leon zu Aaron, der sich unbeeindruckt auf das Bushaltestellenschild zubewegte. Anstatt sich dann neben Leon auf der Bank niederzulassen, kam Aaron kurz vor dem Haltestellenschild zum Stehen. Es dauerte nicht lange, bis Leon seinen stinkenden Rauch absichtlich in Aarons Richtung wabern ließ. Der Geruch verpestete die Luft.

„Mistkerl“, dachte sich Aaron. „Bist schon im Kindergarten ein Mistkerl gewesen.“

Aaron versuchte, ausschließlich durch den Mund einzuatmen. Den Geruch von Zigaretten hatte er nie gemocht. Er vermied es, in Leons Richtung zu blicken, als er ihn fragte: „Dein Vater hat dich gestern wieder vermöbelt, was?“ Aus den Augenwinkeln konnte Aaron sehen, dass Leon nicht einmal mit den Wimpern zuckte. Aaron hatte einen wütenden Blick erwartet, aber Leon stieß nur ein freudloses Lachen aus. Die Kippe, die er zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt hatte, brannte langsam herunter.

„Wir sind Nachbarn“, fuhr Aaron fort. „Ich hab’s gehört. Ich hör’ alles.“ So war es nun einmal, im Drecksloch hörte man grundsätzlich alles – auch Geräusche und Stimmen, die man am liebsten vergessen würde.

Als der Bus schließlich vor Aaron und Leon zum Stehen kam, schleuderte Leon die glimmende Zigarette ins Gebüsch. Er wollte sich seine Wut nicht anmerken lassen, aber an der Art, wie Leon das glühende Gift fortwarf, sah Aaron, dass in seinem Körper etwas loderte. Er war sauer und bevor Leon hinter Aaron in den Bus einstieg, zischte er: „Halt einfach deine verdammte Fresse, Selten. Kümmer’ dich um deinen eigenen Scheiß.“

Sich einfach um seinen eigenen Scheiß kümmern – das war es doch, was die Menschen tagtäglich versuchten. So passierte es doch, dass sie alle aneinander vorbeilebten. Früher waren Aaron und Leon gute Freunde gewesen, aber sie besuchten längst nicht mehr den Kindergarten. Die beiden waren älter geworden, und obwohl Aaron und Leon im selben Mietshaus wohnten, hatten sie sich voneinander entfernt. Oft hörte Aaron wütende Schreie, Tritte oder klirrende Geräusche, wenn Leon ein Stockwerk über ihm mal wieder verprügelt wurde. Es geschah auch nicht selten, dass Teller und Tassen durch die Gegend flogen. Viel mehr bekam Aaron von seinem alten Kindergartenfreund allerdings nicht mehr mit.

An diesem neuen, ersten Schulmorgen klebte Aaron am Busfenster wie ein sterbendes Insekt. Eine Fliege, die nicht schnell oder schlau genug gewesen war, um der Fliegenklatsche rechtzeitig zu entkommen. Der Bus war überfüllt – zu viele Schüler, die angestrengt auf ihre Handys starrten und Worte tippten, obwohl sie eigentlich gar nichts zu sagen hatten. Während Aaron Leon aus den Augen verlor, breitete sich ein komisches Gefühl in ihm aus: Das Gefühl, dass die unausgesprochenen Worte der anderen Schüler geräuschlos in der Luft schwirrten. Er war froh, als er endlich aus diesem Bus aussteigen konnte.

„Guten Morgen!“, rief der neue Klassenlehrer Mr. Frömm mit donnernder Stimme. Der Lehrer schien es äußerst eilig zu haben: Sein gewaltiger Schlüsselbund klimperte in seiner Hand, als er die Klassenzimmertür aufschloss. Zumindest am ersten Schultag war die Klasse vollständig, alle waren anwesend und tummelten sich vor der Tür. Die Streber waren aufgeregt und wirkten zufrieden, alle anderen machten gequälte Gesichter. Nachdem Frömm schwungvoll die Tür aufgestoßen hatte, forderte er seine Schüler mit einem ungeduldigen Wink dazu auf, rasch einzutreten. Unter anderem war Frömm Sportlehrer, und das merkte man ihm sofort an. Zielstrebiger, gerader Gang, breites Kreuz. Isabelle, David, Julian, Sophia ... Die Elftklässler traten ein und es dauerte nicht lange, bis im Klassenzimmer aus einem schüchternen Schweigen ein lautes Stimmengewirr wurde.

Aaron blieb ruhig – er redete grundsätzlich nicht gern, deshalb hatte er schon immer Schwierigkeiten gehabt, neue Freunde oder Sitznachbarn zu finden. Das war ein Problem, das Leon nie gehabt hatte. Er hatte sein spitzbübisches Grinsen schon aufgesetzt, als er zielstrebig auf die letzte Reihe zusteuerte. Leons Freunde trotteten ihm natürlich nach wie ehrfürchtige Wackeldackel.

„Rein’ in die Höhle des Löwen!“, sagte Leon. Er sprach absichtlich laut genug, damit auch Frömm ihn hören konnte. Seinen Thron suchte Leon sich in der Mitte der letzten Reihe aus: dort, wo er alles im Blick hatte. Leon hasste es, etwas zu verpassen, er wollte stets im Mittelpunkt stehen.

Mr. Frömms Blick streifte durch den Raum und blieb für einen winzigen Moment an den Jungs in der letzten Reihe hängen. Kurz fielen dem Lehrer Leons schwarze, raspelkurze Haare und sein fieser Blick auf. Er durchbohrte Leon, David und Julian mit einem eisigen Blick, dann setzte er allerdings ein strahlendes Lächeln auf und verkündete: „Wir werden ein erfolgreiches Jahr miteinander verbringen!“

Leon kippelte bereits auf seinem Stuhl, dabei sah er äußerst entspannt aus. Zumindest machte er nicht den Eindruck, als rechne er in nächster Zeit mit harter Arbeit.

Frömm knallte seine Tasche aufs Lehrerpult, bevor er wiederholte: „Wir werden ein erfolgreiches Jahr miteinander verbringen. Dafür werde ich schon sorgen!“

Für Aaron waren Schulen schon immer interessante Orte gewesen. Schulen waren Orte, an denen man die merkwürdigsten Gestalten sah. In den Klassenzimmern fing es schon an: Neben schönen oder zickigen Mädchen und übereifrigen, unbeliebten Strebern gab es auch Gestalten wie Leon und die Wackeldackel. Störenfriede. Aaron hatte sich schon immer irgendwo in der Mitte des Getümmels befunden: Er war schweigsam, aber das war okay. Während Leon es stets darauf anlegte, im Mittelpunkt zu stehen, versteckte sich Aaron lieber. Präsentationen zu halten, war ein blanker Horror für ihn, denn es machte ihn nervös, von anderen Menschen erwartungsvoll angestarrt zu werden. Sogar die Blicke der merkwürdigsten Gestalten der Schule brachten ihn dazu, in Schweiß auszubrechen. Dann begann Aaron zu stammeln wie ein Idiot, ein sinnvolles Wort brachte er nicht mehr heraus. Die Plätze in der zweiten Reihe erschienen Aaron perfekt: Dort konnte er sich ein wenig von den Strebern abkapseln, die grundsätzlich die erste Reihe belegten. Die dritte Reihe galt es zu meiden, denn Aaron wollte weder Aufmerksamkeit erregen, noch war er auf der krampfhaften Suche nach Ärger. Bei den Späßchen, die Leon auch in diesem Jahr im Unterricht treiben würde, war der Stress mit den Lehrern bereits vorprogrammiert. Ein Platz in der zweiten Reihe erschien Aaron optimal: Wenn er sich ruhig verhielt und seine Hausaufgaben machte, würde er hoffentlich kaum Aufmerksamkeit erregen. Mit etwas Glück würde er schon bald in der Masse versinken. Schon im letzten Jahr hatte sich Aaron damit abfinden müssen, in der Schule keinen Sitznachbarn zu haben. Es war nicht schlimm – allein konnte er sich besser auf das Wesentliche konzentrieren, denn so wurde er selten abgelenkt. In der elften Klasse sollte alles genau so verlaufen wie im letzten Schuljahr. Freunde brauchte Aaron nicht – er würde täglich zur Schule gehen, hätte dann bald sein Abitur in der Tasche, dann konnte er dieser Stadt endlich den Rücken kehren.

Mit Adleraugen beobachtete Frömm, wie seine Schüler sich im Klassenzimmer ausbreiteten, quatschten, ihre Blöcke und Mäppchen auspackten. Beinahe alle hatten mittlerweile einen Platz gefunden, nur ein kleiner, moppeliger Brillenträger blieb bei Frömm stehen und machte ein unschlüssiges Gesicht.

„Womöglich ein Neuzugang“, dachte Aaron, denn er kannte ihn nicht.

„Das ist Mex Pompe“, stellte Mr. Frömm den kleinen, dicken Jungen vor.

„Fettklops“, hörte Aaron einen anderen Schüler flüstern.

„Er besucht diese Schule ab jetzt und er wurde eurer Klasse zugeordnet. Verhaltet euch anständig und seid nett zu ihm!“ Mr. Frömm fixierte Leon, der den Neuen anglotzte und sich ein Kichern nicht verkneifen konnte.

„Nicht zu übersehen, der Gute“, sagte Leon. Frömms scharfem Blick konnte Leon problemlos standhalten.

Aaron hatte gehört, dass Frömm seinen Spitznamen Sergeant schon vor einigen Jahren erhalten hatte. Dank Frömms aufrechter Haltung, seinem muskulösen Körper, seiner lauten, tiefen Stimme und seinem schnellen Schritt passte dieser Spitzname perfekt. Frömm erinnerte Aaron tatsächlich ein wenig an einen Soldaten. Im Sportunterricht hatte Aaron seinen neuen Klassenlehrer noch nicht erlebt, aber hier im Klassenzimmer sah Frömm noch nicht so aus, als müsste er sich für einen Kampf wappnen. Vielleicht hatte er Leons Bemerkung nicht gehört – oder er war stark genug, sinnlose Kommentare einfach zu überhören.

Frömm strahlte den Neuen an, als er sagte: „Mex, du kannst dich in die zweite Reihe setzen. Dort ist anscheinend noch ein Plätzchen für dich frei.“

Mit seinen kleinen, grauen Augen erinnerte der Neue an eine übergewichtige Maus. Wäre Mex eine Maus, dann konnte er mit Sicherheit nicht rechtzeitig abhauen, bevor ihn eine Katze erspähen und anschließend auffressen würde. Katzen waren anmutige, elegante Wesen. Aber schon am ersten Schultag konnte sich Aaron sicher sein, dass Mex weder eine elegante noch eine anmutige Person war.

Langsam setzte sich Mex in Bewegung. Während er sich schwerfällig auf seinen Platz zubewegte, stieß er einen tiefen, anklagenden Seufzer aus.

„Auf geht’s, Mex!“, rief Frömm ihm zu. „Schließlich haben wir nicht den ganzen Tag Zeit! Es gibt viel zu tun.“

Mex verdrehte die Augen, aber das konnte Frömm nicht sehen. Letztendlich stand Mex vor Aaron. Seinen Rucksack legte er auf dem Boden ab, dann setzte er sich auf den freien Platz zu Aarons Linken. Während Frömm damit begann, die Schüler ausführlich über die Oberstufe zu informieren, räumte Aaron sein Mäppchen aus seinem Rucksack. Er erschrak, als Mex sich zu ihm beugte und ihn plötzlich ansprach.

„Ist der immer so ... übermotiviert?“, flüsterte er.

Aaron verstand ihn und fühlte sogar die Wärme, die aus seinem Mund kam, als Mex sprach, aber er ignorierte ihn. Das gefiel Mex ganz und gar nicht. Als er keine Antwort auf seine Frage bekam, rückte Mex beleidigt von Aaron ab. Er ächzte und stöhnte, als er in seinem Rucksack nach seinem Notizblock und einem Stift kramte. Obwohl Mex eingeschnappt war, schaffte er es nicht lange, seinen Schnabel zu halten.

Sobald Mr. Frömm sich nämlich zur Tafel umdrehte, begann Mex, weiterzuflüstern. „Anscheinend bist du nicht sehr ... ähm, ja ... kommunikativ. Aber das ist okay, dafür bin ich ziemlich gesprächig“, lächelte er. „Dann werd’ ich einfach für uns beide reden. Wir werden gute Sitznachbarn werden!“

Er rückte Aaron zu nah auf die Pelle – schon jetzt.

„Kann’ ich mir nicht vorstellen“, zischte Aaron deshalb zurück. Er sah das Grinsen, das über Mex’ Gesicht huschte, als er zu Sprechen begann.

„Dankeschön!“ Nun schien er erleichtert. „Du kannst reden. Du bist nicht taubstumm. Das ist ... ein guter Anfang. Damit kann ich arbeiten.“

Nachdem Mex das gesagt hatte, wandte Aaron seinen Blick schnell wieder ab. Stattdessen beobachtete er Mr. Frömm, der gerade seinen Namen an die Tafel schrieb. „Frömm ist mein Name und für euch bin ich Mr. Frömm, weil ich Englisch und Sport unterrichte“, erklärte der Lehrer. Dann knallte er die Kreide zurück in eine Ablage am Lehrerpult. Nachdem er sich wieder umgedreht hatte, sagte er: „Damit wir uns etwas besser kennenlernen, erzählt ihr mir bitte etwas über euch.“ Erneut lächelte er seine Schüler an, dabei entblößte er eine Reihe strahlend weißer Zähne. Aus seiner Tasche holte er einen Teddybären, den er anschließend ohne Vorwarnung in Leons Richtung schleuderte. Dadurch, dass Leon auf seinem Stuhl kippelte wie ein kleiner Junge, fiel er beinahe vom Stuhl, als der Bär angeflogen kam.

„Tell me anything!“, rief Mr. Frömm dem verdatterten Leon zu und zuckte mit den Schultern.

Reflexartig hob Leon seine Arme und fing den Kuschelbären auf. Neuerdings sah er kräftiger aus, sein schmaler Jungenkörper verwandelte sich in einen breiteren, kräftigeren Körper – den Körper eines Mannes. Aaron beneidete ihn darum. Aaron war zwar groß, aber schmal gebaut. Leon starrte in die süßen Augen des dunklen Bären und sah dabei aus, als wären ihm die letzten Sekunden zu schnell gegangen.

„Ist das Ihr Ernst?“, fragte er. Anschließend blieb sein Mund einen Spalt breit geöffnet. Leon war so verwirrt, dass er nicht einmal über den Teddybären lachen konnte. Aaron hätte sich nicht einmal gewundert, wenn Leon damit angefangen hätte, den Kuschelbären zu streicheln. Im Klassenzimmer war Stille eingekehrt. Alle starrten in Leons Richtung, und alle hatten sich auf ihren Stühlen umgedreht, um nichts zu verpassen.

Mex blickte von Leon zu Aaron, bevor er flüsterte: „Wo bin ich denn hier gelandet?“

In diesem Augenblick wusste Aaron das auch nicht. „Wenn ich das nur wüsste ...“, flüsterte er deshalb zurück.

Mr. Frömms Blick fixierte Leon, der den Kuschelbären weiterhin in seinen Händen hielt. „Yes!“, rief der Lehrer und begann zu nicken – einmal, zweimal, dreimal. „You can start right now.“ Nun sah Leon aus, als würde er sich etwas unwohl fühlen. „Sie wollen also ernsthaft, dass ich mit diesem ... Bären spreche?“

Melanie saß in der ersten Reihe und Aaron sah, wie sie sich zu Leon umdrehte, um in genervtem Ton zu erklären: „Nein, du Vollidiot! Du sollst uns allen etwas über dich erzählen.“

Frömm nickte erneut und sagte: „I’m sure everybody is interested in your story.“ Dann sah er Melanie an und fügte mahnend hinzu: „And please, don’t use nasty words!“

„Okay, dann wollen wir mal“, begann Leon. „Ich bin Leon und gerade muss ich mich echt fragen, ob ich hier im Kindergarten gelandet bin.“ Er warf Mr. Frömm einen bösen Blick zu, bevor er den Kuschelbären an seinen Nebensitzer übergab.

„Das ist jetzt in der Tat etwas ... komisch“, sagte Mex zu Aaron, doch dieser zuckte nur mit den Schultern. Er hatte bereits Angst vor dem Moment, in dem der Bär bei ihm ankommen würde – schließlich hatte er keinen blassen Schimmer, was er den anderen erzählen könnte.

„Ich bin David und ich spiel’ Fußball“, hörte Aaron von David, bevor das Kuscheltier an Sophia weitergegeben wurde.

Aaron war bereits nervös gewesen, bevor der Bär bei ihm ankam. Seinen Namen kannte er natürlich, aber was sollte er sonst erzählen? Als Aaron den Bären schließlich in seinen Händen hielt, sah Mr. Frömm ihn erwartungsvoll an. Aus den Augenwinkeln sah Aaron außerdem ein graues Augenpaar, das ihn von der Seite her anglotzte.

„Ja, ähm ...“, stammelte Aaron. Er konnte spüren, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. „Ich bin Aaron und ich ... freue mich auf das Schuljahr.“

Mex sah Aaron fassungslos an, aber Mr. Frömm schenkte Aaron ein weiteres, warmes Lächeln.

„Nice to hear that, Aaron!“, sagte er mit zufriedener Stimme.

Mex streckte bereits die Hand aus und Aaron gab den Bären schnell weiter. „Mex“, knurrte Mex, nachdem er Aaron den Bären entrissen hatte. Anscheinend hatte er das Gefühl gehabt, Aaron möglichst schnell aus seiner misslichen Lage befreien zu müssen. „Ich bin siebzehn und mach’ die Elfte zum zweiten Mal. Hoffentlich hab’ ich diesmal mehr Glück.“

Nun hatte Aaron Mitleid mit Mex – sitzen zu bleiben bedeutete schließlich, ein Jahr länger zu Hause zu wohnen. Man verschwendete ein kostbares Lebensjahr, wenn man das Jahr wiederholen musste.

Aus der letzten Reihe hörte Aaron Leons Stimme, die prustete: „Ist es nicht schön?“ Er schloss die Augen und legte eine Hand auf sein Herz. „Dick und Doof haben sich endlich gefunden!“

Im Klassenzimmer ertönte Gelächter, nur Frömm, Mex und Aaron fanden Leons Aussage ganz und gar nicht witzig, weshalb sie stumm blieben. Frömms Gesichtsfarbe änderte sich. Er ging auf Leon zu, dann brüllte er: „That’s enough!“ Da gab es diese Ader an Frömms Hals, die zu pochen begann, wenn er wütend wurde. Wenn diese Ader pulsierte, sah Frömm aus, als könnte er jeden Moment explodieren. Wenn diese Ader auftauchte, hatte Aaron ein wenig Angst vor diesem Mann – von einer Sekunde zur nächsten konnte Mr. Frömm vom freundlichen Klassenlehrer zum wütenden Stier mutieren. Frömm hatte zwei Seiten und nun konnten seine Schüler die Seite des Sergeants kennenlernen. Aaron war gespannt, was das Schuljahr bringen würde.

Nachdem es schließlich zur Pause geläutet hatte, packte Mex einen Müsliriegel aus und aß ihn genussvoll. „Merkst du es nicht?“, fragte er Aaron mit vollem Mund.

„Was soll ich merken?“

Zusätzlich zum Müsliriegel holte Mex nun eine volle Brotdose aus seinem Rucksack und klappte sie auf. Aaron sah ein Fleischwurstbrötchen – sogar mit Cocktailtomaten und Gurkenscheibchen garniert. Er starrte das Brötchen an, ihm lief das Wasser im Mund zusammen.

„Jetzt glotz’ nicht so blöd!“, fuhr Mex ihn an. „Das hat meine Mutter gemacht. Obwohl sie weiß, dass es einen Kiosk gibt ... Sie denkt wohl, ich verhungere, wenn sie mir nichts einpackt.“ Mex nahm seine Brille ab, knallte sie auf den Tisch und sah Aaron direkt in die Augen. Wenn er die Brille abnahm, sahen Mex’ Augen plötzlich viel kleiner aus. „Du verstehst es echt nicht“, sagte Mex kopfschüttelnd. Er schnappte sich sein Fleischwurstbrötchen und kniff wütend seine Augen zusammen, bevor er Aaron erklärte: „Wir sind die Ausgestoßenen, Aaron. Wir sollten Zeit miteinander verbringen – einfach, weil wir sonst niemanden haben.“

„Du spinnst.“ Aaron tippte sich an die Stirn, am liebsten hätte er zusätzlich noch einen piependen Vogel imitiert, aber Mr. Frömm hatte das Klassenzimmer nicht verlassen. Er saß am Lehrerpult und schrieb ins Klassentagebuch, allerdings wusste Aaron, dass er zuhörte. Die ganze Situation war ihm unendlich peinlich.

Mex wusste auch, dass Mr. Frömm am Lehrerpult saß und lauschte, aber im Gegensatz zu Aaron schien es ihm nichts auszumachen. „Ich bin älter als du, also hör’ mir gefälligst zu“, befahl Mex. „Wir müssen uns das nicht gefallen lassen. Anstatt zwei Einzelkämpfer zu sein, sollten wir uns verbünden.“

Mit seinem Geschwafel schaffte Mex es tatsächlich, Aaron zum Lachen zu bringen. Mex’ Fleischwurstbrötchen hatte Aaron hungrig gemacht, und als er aufstand, sagte er: „Ich werd’ mir jetzt was zum Essen holen. Du kannst ja mitkommen, Verbündeter.“ Aaron zählte die Münzen in seinem Geldbeutel und Mex lächelte zufrieden, als er sich in seinem massigen Körper auf die Füße schwang.

*

Kapitel 2

„Hallo, Arschloch.“

Im Bus oder auf dem Weg nach Hause hatte Aaron Leon nicht mehr gesehen, nachdem er aber die Treppen hochgestürmt war und die Haustür aufgeschlossen hatte, musste er in Remys glasige Augen blicken. Bis zu diesem Zeitpunkt war sein Tag nicht allzu übel gewesen – ein ganz normaler, erträglicher Tag. Allerdings ahnte Aaron schon, dass dieser erste Schultag nun seinen absoluten Tiefpunkt erreichen würde. Schließlich war es nie gut, wenn Remy früh nach Hause kam. Dann kam sein Stiefvater auf dumme Gedanken, denn sobald er heimkam, ploppten die Kronkorken. Einer nach dem anderen.

Im Flur roch es bereits nach Alkohol, und als Remy um die Ecke bog, roch Aaron diesen unverkennbaren Geruch: eine Mischung aus Alkohol und altem Schweiß. Die winzigen Schweißperlen, die Aaron auf Remys Glatze erkannte, waren für ihn längst nichts Neues mehr. Schließlich war es nur Remy, sein Stiefvater – ein widerlicher Sack, der zudem ein gewaltiges Alkoholproblem hatte. Obwohl Aaron Remys Blick mied und auch nicht vorhatte, seinem Stiefvater zu antworten, sprach Remy weiter.

„Hab’ beschlossen, dich ab jetzt immer so zu nennen.“ Ein tiefes, betrunkenes Lachen erklang. „Arschloch.“

Diesen abstoßenden, stinkenden Mann würde Aaron niemals akzeptieren können. Einen Streit wollte er allerdings vermeiden, deshalb schob er sich rasch in die Wohnung. Dort konnte Aaron die Anspannung fühlen. Knisternde, leise Töne, kaum hörbar.

Remy hatte sich Aaron in den Weg gestellt, sein Körper füllte den schmalen Durchgang vollständig aus. Er warf Aaron einen provozierenden Blick zu, dann trank er einen Schluck von seinem Bier. „Wie findest du das, Arschloch?“ Er rülpste.

Die beiden standen so dicht beieinander, dass Aaron den Rülpser riechen konnte, doch er wandte sich nicht ab. Sie standen zu dicht beieinander, natürlich konnte Remy es nicht lassen. Er sagte den Ausdruck ein weiteres Mal – ganz so, als wäre es ein besonderer Genuss für ihn, die Beleidigung laut auszusprechen.

Aaron spürte, wie die Wut in ihm aufkochte. Ihm war klar, was Remy erreichen wollte: Er wollte ihn zornig machen. Aaron schluckte allerdings all die Beleidigungen herunter, die er ihm am liebsten entgegengeschleudert hätte. „Hier stinkt’s nach Alkohol“, knurrte er stattdessen. „Du stinkst nach Alkohol.“ Aaron starrte Remy an, der weiterhin seinen Weg blockierte. Als Aaron spürte, wie die Wut weiter in ihm aufkochte, schloss er kurz seine Augen. „Komm schon, Remy“, sagte er dann beherrscht. „Lass’ mich durch.“ Er hatte das Gefühl, sich nicht richtig bewegen zu können, wenn Remy so nah vor ihm stand. Remys glasige, kleine Augen blickten ihn an. Aaron spürte, wie sein Herz Blut durch seinen Körper pumpte. Sein Herzschlag war laut, sein Herz war stark. Remy hingegen war nur ein alter Säufer und Aaron hätte es geliebt, sich mit diesem widerlichen Typen anzulegen. Schließlich musste er längst nicht mehr zu Remy aufschauen, um in seine Schweinsaugen zu blicken oder seinen betrunkenen Blicken standzuhalten. Wie gern würde Aaron seine Hände zu Fäusten ballen und Remy seine breite Nase brechen!

Nach wenigen Sekunden, in denen herausfordernde Blicke ausgetauscht wurden, gab Remy Aaron schließlich den Weg frei.

---ENDE DER LESEPROBE---